Sonne der Wahrheit/Jahrgang 6/Heft 9/Text

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SONNE

DER

WAHRHEIT
Heft IX NOV. 1926
ORGAN DES DEUTSCHEN BAHAI-BUNDES STUTTGART


[Seite 128] Abdu’l-Bahás Erläuterung der Bahai-Prinzipien.


1. Die ganze Menschheit muss als Einheit betrachtet werden.

Baha’u’lláh wandte Sich an die gesamte Menschheit mit den Worten: „Ihr seid alle die Blätter eines Zweigs und die Früchte eines Baumes“. Das heißt: die Menschheit gleicht einem Baum und die Nationen oder Völker gleichen den verschiedenen Aesten und Zweigen; die einzelnen Menschen aber gleichen den Blüten und Früchten dieses Baumes. In dieser Weise stellte Baha’u’lláh das Prinzip der Einheit der Menschheit dar. Baha’u’lláh verkündigte die Einheit der ganzen Menschheit, er versenkte sie alle im Meer der göttlichen Gnade.


2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.

In religiösen Fragen sollte niemand blindlings seinen Eltern und Voreltern folgen. Jeder muß mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören und die Wahrheit suchen, denn die Religionen sind häufig nichts anderes als Nachahmungen des von den Eltern und Voreltern übernommenen Glaubens.


3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.

Alle göttlichen Verordnungen beruhen auf ein und derselben Wirklichkeit. Diese Grundlage ist die Wahrheit und bildet eine Einheit, nicht eine Mehrheit. Daher beruhen alle Religionen auf einer einheitlichen Grundlage. Im Laufe der Zeit sind gewisse Formen und Zeremonien der Religion beigefügt worden. Dieses bigotte menschliche Beiwerk ist unwesentlich und nebensächlich und verursacht die Abweichungen und Streitigkeiten unter den Religionen. Wenn wir aber diese äußere Form beiseite legen und die Wirklichkeit suchen, so zeigt sich, daß es nur eine göttliche Religion gibt.


4. Die Religion muss die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.

Die Religion ist für die Menschheit die größte göttliche Gabe, die Ursache des wahren Lebens und hohen sittlichen Wertes; sie führt den Menschen zum ewigen Leben. Die Religion sollte weder Haß und Feindschaft noch Tyrannei und Ungerechtigkeiten verursachen. Gegenüber einer Religion, die zu Mißhelligkeit und Zwietracht, zu Spaltungen und Streitigkeiten führt, wäre Religionslosigkeit vorzuziehen. Die religiösen Lehren sind für die Seele das, was die Arznei für den Kranken ist. Wenn aber ein Heilmittel die Krankheit verschlimmert, so ist es besser, es nicht anzuwenden.


5. Die Religion muss mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.

Die Religion muß mit der Wissenschaft übereinstimmen und der Vernunft entsprechen, so daß die Wissenschaft die Religion, die Religion die Wissenschaft stützt. Diese beiden müssen unauflöslich miteinander verbunden sein.


6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.

Dies ist eine besondere Lehre Baha’u’lláhs, denn die früheren Religionen stellen die Männer über die Frauen. Töchter und Söhne müssen gleichwertige Erziehung und Bildung genießen. Dies wird viel zum Fortschritt und zur Einigung der Menschheit beitragen.


7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.

Alle Propheten Gottes kamen, um die Menschen zu einigen, nicht um sie zu trennen. Sie kamen, um das Gesetz der Liebe zu verwirklichen, nicht um Feindschaft unter sie zu bringen. Daher müssen alle Vorurteile rassischer, völkischer, politischer oder religiöser Art abgelegt werden. Wir müssen zur Ursache der Einigung der ganzen Menschheit werden.


8. Der Weltfriede muss verwirklicht werden.

Alle Menschen und Nationen sollen sich bemühen, Frieden unter sich zu schließen. Sie sollen darnach streben, daß der universale Friede zwischen allen Regierungen, Religionen, Rassen und zwischen den Bewohnern der ganzen Welt verwirklicht wird. Die Errichtung des Weltfriedens ist heutzutage die wichtigste Angelegenheit. Die Verwirklichung dieses Prinzips ist eine schreiende Notwendigkeit unserer Zeit.


9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung geniessen.

Alle Menschen müssen erzogen und belehrt werden. Eine Forderung der Religion ist, daß jedermann erzogen werde und daß er die Möglichkeit habe, Wissen und Kenntnisse zu erwerben. Die Erziehung jedes Kindes ist unerläßliche Pflicht. Für Elternlose und Unbemittelte hat die Gemeinde zu sorgen.


10. Die soziale Frage muss gelöst werden.

Keiner der früheren Religionsstifter hat die soziale Frage in so umfassender, vergeistigter Weise gelöst wie Baha’u’lláh. Er hat Anordnungen getroffen, welche die Wohlfahrt und das Glück der ganzen Menschheit sichern. Wenn sich der Reiche eines schönen, sorglosen Lebens erfreut, so hat auch der Arme ein Anrecht auf ein trautes Heim und ein sorgenfreies Dasein. Solange die bisherigen Verhältnisse dauern, wird kein wahrhaft glücklicher Zustand für den Menschen erreicht werden. Vor Gott sind alle Menschen gleich berechtigt, vor Ihm gibt es kein Ansehen der Person; alle stehen im Schutze seiner Gerechtigkeit.


11. Es muss eine Einheitssprache und Einheitsschrift eingeführt werden.

Baha’u’lláh befahl die Einführung einer Welteinheitssprache. Es muß aus allen Ländern ein Ausschuß zusammentreten, der zur Erleichterung des internationalen Verkehrs entweder eine schon bestehende Sprache zur Weitsprache erklären oder eine neue Sprache als Weltsprache schaffen soll; diese Sprache muß in allen Schulen und Hochschulen der Welt gelehrt werden, damit dann niemand mehr nötig hat, außer dieser Sprache und seiner Muttersprache eine weitere zu erlernen.


12. Es muss ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.

Nach dem Gebot Gottes soll durch das ernstliche Bestreben aller Menschen ein Weltschiedsgerichtshof geschaffen werden, der die Streitigkeiten aller Nationen schlichten soll und dessen Entscheidung sich jedermann unterzuordnen hat.

Vor mehr als 50 Jahren befahl Baha’u’lláh der Menschheit, den Weltfrieden aufzurichten und rief alle Nationen zum „internationalen Ausgleich“, damit alle Grenzfragen sowie die Fragen nationaler Ehre, nationalen Eigentums und aller internationalen Lebensinteressen durch ein schiedsrichterliches „Haus der Gerechtigkeit" entschieden werden können.


Baha’u’lláh verkündigte diese Prinzipien allen Herrschern der Welt. Sie sind der Geist und das Licht dieses Zeitalters. Von ihrer Verwirklichung hängt das Wohlergehen für unsere Zeit und das der gesamten Menschheit ab.

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SONNE    DER  WAHRHEIT
Organ des Bahai-Bundes, Deutscher Zweig
Herausgegeben vom Verlag des Bahai-Bundes, Deutscher Zweig, Stuttgart
Verantwortliche Schriftleitung: Alice Schwarz - Solivo, Stuttgart, Alexanderstraße 3
Preis vierteljährlich 1,80 Goldmark, im Ausland 2.– Goldmark.
Heft 9 Stuttgart, im November 1926 6. Jahrgang

Inhalt: Die Macht des Hl. Geistes. — Das Uebersinnliche in der Medizin. — Bahá’u’lláh und das Neue Zeitalter. — Ueber den Sinn des Lebens. — Brief von Shoghi Effendi.



Motto: Einheit der Menschheit — Universaler Friede — Universale Religion



„O Menschensohn! Verherrliche Meine Sache, daß Ich dir das Geheimnis Meiner Größe offenbare und über dir leuchte im ewigen Lichte”.

Bahá’u’lláh.




Der himmlische Vater verlieh dem Menschen die unschätzbare Gabe der Intelligenz, damit er zu einem geistigen Licht werden möge, das das Dunkel des Materialismus durchdringen und Güte und Wahrheit in die Welt bringen möchte. Sofern ihr die Lehren Bahá’u’lláhs ernstlich befolgt, werdet ihr in Wahrheit das Licht der Welt, die Seele für den Körper der Welt, ein Trost und eine Hilfe für die Menschheit und die Quelle der Erlösung für das ganze Universum. Befolgt daher die Gebote Bahá’u’lláh.

'Abdu'l-Bahá.

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Die Macht des heiligen Geistes.

... Durch die Macht des heiligen Geistes, welche durch die Seele wirkt, ist der Mensch fähig, die göttliche Wirklichkeit der Dinge wahrzunehmen. Alle großem Werke der Kunst und Wissenschaft sind Zeugnisse dieser Macht des Geistes. Derselbe Geist gibt uns ewiges Leben. Nur diejenigen, welche mit dem göttlichen Geist getauft sind, werden fähig sein, alle Völker in den Verband der Einigkeit zu bringen. Durch die Macht des Geistes ist es der östlichen Welt mit ihren geistigen Gedanken möglich, sich mit dem westlichen Reich der Taten zu vermischen, damit die materielle Welt göttlich werde.

Daraus geht hervor, daß alle diejenigen, welche für den Plan des Allerhöchsten arbeiten, Soldaten in der Armee des Geistes sind. Das Licht der himmlischen Welt führt Krieg gegen die Welt der Schatten und Illusionen. Die Strahlen der Sonne der Wahrheit zerteilen die Finsternis des Aberglaubens und der Mißverständnisse.

Ihr seid geistig gesinnt! Zu euch, die ihr die Wahrheit sucht, wird die Offenbarung Bahá’u’lláhs kommen und euch Glückseligkeit bringen. Diese Lehre ist vom Geist, in ihr gibt es keine Vorschriften, welche nicht vom göttlichen Geiste gegeben sind.

Der Geist kann nicht durch die materiellen Sinne des physischen Körpers wahrgenommen werden, es sei denn, daß er durch äußere Zeichen und Werke zum Ausdruck kommt. Der menschliche Körper ist sichtbar, die Seele ist unsichtbar. Aber trotzdem ist es die Seele, welche des Menschen Fähigkeiten regiert und seine wahre Menschlichkeit beherrscht...

'Abdu'l-Bahá.



Das Uebersinnliche in der Medizin.

Vortrag von Dr. H. Haug in Bad Mergentheim.

(Schluß.)

Und wie bei ihnen nicht nur das Trost- und Heilmittel wirkt, so muß bei den Leidenden eine Glaubensstimmung vorhanden sein, welche die Seele öffnet der Heilswahrheit und Wirkung. Hoffnungsstrahlen müssen von beiden ausgehen, welche das Dunkel der Not und des Leides erhellen.

Aber nicht nur in praktischer Beziehung gleichen sich Priester und Arzt, viel mehr noch in ideeller. Wie sich der Priester in Demut dem Altare nähert, so tritt der echte Wissenschaftler voll Ehrfurcht in das Feld der Probleme ein. Und wie dem Religionsmann immer größere Heimlichkeiten der durchsonnenen Innenwelt aufgehen, so gehen dem Forschenden, je mehr er sieht und ergründet, immer neue Wunder und Offenbarungen aus der durchforschten Außenwelt auf, aus dem ewig unbegreiflichen Reichtum der Natur.

Und je weiter ich suchend und spürend geführt werde, immer steht am Ende das Unergründliche im letzten Sinne, und immer mehr geht mir die Erkenntnis auf, daß jeder letzten Endes über das Undefinierbare in sich mit sich selber ins Reine kommen muß. Mehr Ehrfurcht und Würdigung der nun einmal nicht entbehrlichen Methoden beider Richtungen muß bei beiden Vertretern wieder Platz greifen, sollen sie sich auswirken zum Segen der Menschheit.

In der Phantasie einigen sich wissenschaftliches und religiöses Denken. Ohne sie gäbe es keinen einzigen neuen fruchtbaren Gedanken, ohne sie wäre auch kein Glaube möglich. Wie dieser sich an das Gemüt, so wendet sich jener an den Intellekt.

Nie wird eine Wissenschaft das religiöse Empfinden auslöschen können, nie aber auch kann auf die Dauer ein Glaube sich den praktischen Resultaten der Wissenschaft entgegenstellen. Ein Mann des Gottesglaubens wie Goethe konnte ein fruchtbarer Forscher sein, und ein Mann der kühnsten Gedanken der Wissenschaft, wie Newton, konnte ein strenggläubiger Kirchgänger sein.

(Karl Ludwig Schleich.)

Von jeher erkannte man in der Medizin eine unsichtbare geheime Kraft, die dem Leben zu Grunde liegt, das Leben selbst betrachtete man nicht nur als einen veränderten Aggregatzustand, sondern als ein höher potenziertes Sein der Natur selbst. Eine höhere Ordnung der Dinge, der sich alles unterwerfen muß, was ins Leben eintritt. So entstanden zahlreiche Begriffe, wie Lebenskraft, Heilkraft, Reorganisationsfähigkeit, Reaktion, Worte, welche lediglich eine Umschreibung des unsichtbar Wirkenden darstellt. Und so wird es im Leben, in dieser Welt der Geheimnisse, Wunder, noch viele Kräfte und Stoffe geben, die wir bis jetzt noch nicht erkannt haben, ist uns doch auch die tiefste Wirkung unserer Quellen noch nicht bis zum letzten Ende klar.

Denken wir nur an das jüngste Kind der Medizin, an Suggestion und Hypnose und an ihre geheimen Wirkungen, die ja nicht nur vom Arzt, viel mehr noch vom Laien geübt werden, so sehen wir, welch ungeheure Gebiete in der Medizin sich der Spekulation, aber auch der Empire erschließen.

Wenn ich an das Krankenbett eines Herzkranken trete, dessen unregelmäßiger Puls den [Seite 131] Träger in schwerer Todesangst erschauern läßt und erlebe, wie unter dem Einfluß der streichenden Hand in wenigen Minuten dieser Puls ruhig, langsam und gleichmäßig wird, wie der Patient nach kurzer Zeit fest und für lange Stunden einschläft, wenn wir erleben, wie langwierig funktionell Gelähmte im Verlauf einer Suggestionsbehandlung sich wieder bewegen lernen, wenn wir an die Wunder der Bibel, an Lourdes, denken, so müssen wir uns fragen, sind das nicht im Grunde dieselben Funktionen unseres Seelenapparates?



Garten bei Bahajee.


Und wenn wir auch heute noch Menschen sehen, welche alle derartigen Dinge strikte, weil unbeweisbar, ablehnen, so repräsentieren sie eigentlich nur die andere Partei in der Medizin. Diese zwei Parteien werden immer da sein, wie sie immer da waren, nur, daß bald die Eine, bald die Andere vorherrschend ist, Parteien, die einstens in Hippokrates und Galenus und ihrem Gegensatz bestanden und ewig fortleben werden, dem Gegensatz von Natur und Schule, von Kunst und System, begründet in der Tiefe der menschlichen Natur und ebenso unzerstörbar wie sie.

Der Eine fühlt sich als Diener und Priester der Natur; sie ist seine Inspiration, der er dient und lebt, er ist ihr Organ, durch das sie spricht und handelt, er ist ihr Handlanger, der sein Heil und seine Bestimmung darin sucht, sie möglichst zu unterstützen.

Der Andere will nicht Diener, sondern Herr und Meister sein. Er macht sich sein System und versucht alles in es einzupressen und zu zwängen, und wundert sich, wenn die Natur nicht nach seinem Gesetz handelt.

Die Zeit der reinen Cellularpathologie war der Lehre von der Heilwirkung der Quellen, welche einen gewissen Glauben voraussetzt, nicht günstig, ja man verspottete sie, weil ihre letzte Wirkung damals so unerklärlich war wie heute.

Erst als die Forschung einsehen mußte, daß uns durch das Mikroskop doch nicht das letzte erschlossen wird, daß nicht nur die Zelle als solche, sondern auch das Zellgewebe lebt, daß die Zellhüllen nur physikalische Phasengrenzen sind, daß die Zellsäfte nicht eine leere und tote, sondern eine lebende Masse sind, hat sich die Anschauungsweise geändert.

Nur einen kleinen Ausschnitt aus der allgemeinen Entwicklung, welche die Medizin in den letzten Jahrzehnten genommen hat, stellt diese uns besonders angehende Sinnesänderung dar, diese Entwicklung zum wahren und höheren Dienst an der Natur.

Aber schon droht hier eine neue Gefahr, die Abschweifung ins Uferlose, die Entwicklung zur reinen Mystik. Sie findet so viel Nahrung in den wunderbaren übersinnlichen Erscheinungen, die uns aus der Suggestion und Suggestibilität entgegentreten. Sie trägt die Gefahr in sich, daß man glaubt, [Seite 132] es bedürfe zur rechten Ausübung der Heilkunst nur des bewußtlosen Besitzes jener Zauberkraft und keines empirischen und wissenschaftlichen Studiums mehr.

Wie die ehemalige hohe Kunst der Magier in Persien zu leeren Zauberformeln und Gestikulationen in den Händen unwissender Gaukler wurde, wie die Barbarei und Unwissenheit mittelalterlicher Heilkunst nur durch Vernachlässigung wissenschaftlicher Kultur zustande kam, so müßte diese gefährliche Entwicklung in Aberglauben, Einseitigkeit und Geistesverdunkelung enden.

Nur Umgang mit der Natur, kurzum Erfahrung, kann uns das Uebersinnliche und seine Grenzen klar erkennen lassen. Eine Bildung a priori, die reine Spekulation, kann nicht dazu führen.

Welchem erfahrenen Arzt, der gewohnt ist, besonders unklare und dunkle Fälle mit zäher Gewissenhaftigkeit zu analysieren, ist es nicht schon vorgekommen, daß er plötzlich, blitzartig, den tieferen und letzten Zusammenhang erkannte, daß er intuitiv den Weg fand, der ihn weiter führte. Und was ist dieses Eindringen schließlich anderes als ein plötzliches Hellsehen ohne alle Manipulationen, und was folgt daraus anders, daß von jeher der Arzt seinen Patienten vor allem psychisch näher getreten ist, ihn längst suggestiv oder magnetisch behandelt hat, lange ehe daraus ein großes System gemacht wurde.

Ja, der große Unterschied, der doch unbestreitbar zwischen den verschiedenen Vertretern der medizinischen Wissenschaft und der ärztlichen Kunst besteht, ist doch zweifellos der, daß der Eine viel schneller als der Andere den seelischen Rapport mit dem Kranken herzustellen imstande ist.

Der allein ist der wahre Arzt, der bei der tiefsten und gläubigsten Verehrung für die unsichtbar schaffende Kraft dennoch die sichtbare Natur in ihren Erscheinungen nicht vernachlässigt, der keinen Weg der Erkenntnis verschmäht, welchen sie uns darbietet, der seinen Geist frei und empfänglich für alle höheren Eindrücke erhält und sich dadurch vor Beschränktheit und Einseitigkeit bewahrt.

(Hufeland.)

Der sich stets bewußt bleibt, daß er einstens, wann und wo er immer Rechenschaft über sein jetziges Tun ablegen muß, nicht gefragt werden wird, wieviel Medikamente er verordnet hat, sondern was er mit der unsterblichen Psyche derer angefangen hat, die sich ihm anvertraut haben, dessen ganzes Handeln nur unter dem Gesichtspunkte steht, daß er dann ruhig vor seinen Richter treten kann.

Diese Einstellung gegenüber der Pflichterfüllung wird uns auch allein über das stets demütigende, elende Insuffizienzgefühl hinweghelfen, das uns am Sterbebett immer wieder überkommt, das uns immer wieder vor die Alternative des gläubigen Sichfügens oder des zynischen Sichauflehnens stellt. Gerade der Mediziner steht ja mehr noch als der andere Mensch dauernd vor der Frage, was ist der Tod? Was wird aus mir nach dem Ende, wird ewige Nacht, wird ewiges Licht? Und gerade wir erleben es doch stets aufs Neue, daß das letzte Rätsel nicht im Leben, sondern im Tode steckt. Um das bißchen Leben kann nicht die ganze gewaltige Symphonie der Sonne und der Sterne über uns aufgezogen sein, kann nicht die gewaltige Organisation der Schöpfermacht geschaffen sein. Unser Wahn, daß das Leben der Güter Höchstes sei, ist absurd, ist unhaltbar. Leben ist nur ein Durchgang, ein Tor, das in ein höheres Reich des Daseins führt. Ziel und Zweck des Daseins liegt im Tode.

Der Unsterblichkeitsgedanke drängt sich auch dem größten Skeptiker immer wieder auf und wird auf Grund neuester Forschungen gerade von naturwissenschaftlicher Seite ein unausweichbares Postulat, das durch zwingende Gedankengänge stützbar ist.

Ja, es gibt eine heute augenfällig bewiesene Unsterblichkeit, jene, die Weißmann unter dem Mikroskop gesehen hat, die der Einzeller. Die unversehrte Mutterzelle schnürt sich in der Mitte ab, immer mehr, bis der Augenblick gekommen ist, daß aus der Mutterzelle zwei vollkommen gleichwertige Tochterzellen geworden sind, ohne Tod und ohne Verwesung. Die Mutter stößt nicht ein Wesen ab, sondern wird selber zu zweien, und diese wieder und so weiter, bis zu einem Zellvolk von astronomischen Ziffern.

Und das alles ohne Tod, ohne jede Leichenbildung.

Ein solcher Einzeller besteht nur aus Eiweiß-Nuclein-Chromosom. Die Vielzeller aber, aus Myriaden von Einzellern zusammengesetzt, die in ihrer Einheit ein höheres Wesen bilden, unterscheiden sich von den primitiven Einzellern lediglich dadurch, daß die Masse ihrer Einzeller durch eine organisatorische Idee zu individueller Einheit zusammengehalten wird. In dem Augenblick, in dem diese Idee wegfällt, zerfällt der Körper wieder in die Masse der Einzeller. Die Seele, die im Augenblick des Todes die Zellengemeinschaft verläßt, gibt mit ihrem Verschwinden das Zeichen zum Zerfall. Jeder dieser, in Anarchie auseinanderfallenden Einzeller trägt in seinem Kern die tiefste Eigenheit, den Stempeldruck des Persönlichen, der nur durch Feuer, nicht aber durch Verwesung zerstört werden kann.

Wenn aber der Einzeller, der Baustein, unsterblich ist; sollte es dann die höhere Idee, der Geist, die Seele, nicht erst recht sein?

Dieser Unsterblichkeitsgedanke führt zu den [Seite 133] gewaltigsten Perspektiven, die der Arzt Karl Ludwig Schleich aufgezeichnet hat:

Verwesen, Verdauen, Sterben ist nichts als die Zurückforderung der im Lebenskampfe gesteigerten, im Dienste des Individuums höher geprägten Ursubstanz an die kosmische Funktion der Lebenssteigerung überhaupt. Tod ist die Uebernahme des persönlichen Anteils an der Fortbildung der Idee vom Leben an das All.

Auch an dieser Steigerung des Wesens der Ursubstanz mitzuwirken, ist die vornehmste Aufgabe des wahren Arztes; darin findet er seine wahre Berufung, diese Berufung aber zeigt auch, welch ungeheure Rolle spielt das Uebersinnliche in der Medizin.



Baha’u’lláh und das Neue Zeitalter.

Von Dr. J. E. Esslemont. Uebersetzung v. W. Herrigel.

X. Kapitel.

Der Weg zum Frieden.

„Wahrlich, heute ist dieser Diener gekommen, um die Welt zu beleben und um alle, die auf dieser Erde sind, zur Einigkeit zu führen. Gottes Wille wird erfüllt werden, und du wirst die Erde sehen als das Abhá (das allerherrlichste) Paradies.“

Bahá’u’lláh im Tablet an Ra’is.


Kampf gegen die Eintracht.

Im Laufe des letzten Jahrhunderts haben die Wissenschaftler den Kampf ums Dasein in der Pflanzen- und Tierwelt nach allen Richtungen hin studiert und inmitten der Verwirrungen des sozialen Lebens haben viele geglaubt, diejenigen Prinzipien als Richtschnur ansehen zu müssen, die man in der niederen Welt der Natur für gut erfunden hatte. Auf diese Weise kamen sie dahin, Wetteifer und Kampf als Notwendigkeiten des Lebens zu betrachten und das unbarmherzige Vernichten der schwächeren Glieder der Gesellschaft als ein gesetzmäßiges oder sogar notwendiges Mittel zur Verbesserung der Rasse zu halten. Demgegenüber sagt uns Bahá’u’lláh, daß sofern wir auf der Stufenleiter des Fortschritts emporklimmen wollen, wir anstatt rückwärts auf die Tierwelt zu blicken, unseren Blick vorwärts und aufwärts richten müssen. Wir sollen nicht die Tiere, sondern die Propheten zu unseren Führern wählen. Die Prinzipien der Einigkeit, der Eintracht und des Mitgefühls, gelehrt durch die Propheten, sind die wahren Gegensätze zu diesem im Tierreich herrschenden Ringen um die Selbsterhaltung, und wir müssen zwischen ihnen wählen, denn sie können nicht miteinander versöhnt werden. 'Abdu'l-Bahá sagt:

„Im Reich der Natur spielt der Kampf ums Dasein die herrschende Rolle — das Resultat davon ist das Ueberleben des Stärkeren. Das Gesetz des Ueberlebens des Stärkeren ist der Ursprung aller Schwierigkeiten. Es ist die Ursache von Krieg, Streit, Haß und Erbitterung unter den Menschen. Im Reich der Natur herrschen Tyrannei, Selbstsucht, Angriffslust, Ueberlegenheit, Aneignung der Rechte anderer und andere tadelnswerte Eigenschaften, welche die Mängel der Tierwelt sind. Solange daher die Forderungen der Natur die Hauptrolle unter den Menschenkindern spielen, sind Erfolg und Wohlergehen unmöglich. Die Natur ist kriegerisch, blutdürstig und tyrannisch, denn die Natur weiß nichts von Gott dem Allmächtigen. Daher kommt es, daß diese grausamen Eigenschaften in der Tierwelt die natürlichen Eigenschaften sind.

„Aus großer Liebe und Barmherzigkeit veranlaßte daher der Herr der Menschheit das Erscheinen der Propheten und das Offenbaren der heiligen Bücher, auf daß die Menschheit durch göttliche Erziehung aus der Fehlerhaftigkeit der Natur und der Finsternis der Unwissenheit erlöst, mit idealen Tugenden und geistigen Eigenschaften ausgestattet und zum Dämmerungsort barmherziger Regungen werde.

„Leider, ach hunderttausendmal sei es geklagt! werden jetzt irrtümliche Vorurteile, unnatürliche Meinungsverschiedenheiten und gegnerische Grundsätze innerhalb der Nationen der Welt verbreitet und verschulden so die Verzögerung des allgemeinen Fortschritts. Dieser Rückschritt ist der Tatsache zuzuschreiben, daß die Prinzipien der göttlichen Zivilisation gänzlich abgetan und die Lehren der Propheten vergessen sind.“


Der höchste und größte Friede.

In jedem Zeitalter weissagten die Propheten Gottes das Kommen einer Zeit des „Friedens auf Erden und des Wohlwollens unter den [Seite 134] Menschen (den Menschen ein Wohlgefallen)“. Wie wir bereits gesehen haben, hat Bahá’u’lláh diese Prophezeiungen in den glühendsten und zuversichtlichsten Worten bestätigt und erklärt, daß nun ihre Erfüllung vor der Türe stehe. 'Abdu'l-Bahá sagt:

„In diesem wunderbaren Zyklus wird die Erde umgestaltet und die Menschheit in Friede und Schönheit gekleidet. Anstelle von Zank, Streit und Mordtaten werden Harmonie, Wahrheit und Schönheit treten; unter den Nationen, Völkern, Rassen und Ländern wird Liebe und Freundschaft zustande kommen. Gemeinschaftliches Zusammenarbeiten und eine allgemeine Harmonie wird erreicht, und der Krieg zuletzt gänzlich beseitigt werden... Der universale Friede wird sein Zelt auf der Erde errichten und der gesegnete Baum des Lebens wird seine Zweige so weit ausbreiten, daß er den Osten und den Westen überschatten wird. Stark und Schwach, Reich und Arm, gegnerische Sekten und feindliche Nationen, die zueinander stehen wie der Wolf zum Lamm, der Leopard zum Zicklein, der Löwe zum Kalb, werden miteinander verkehren in vollkommener Liebe, Freundschaft, Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit. Die Welt wird erfüllt sein mit Wissen, mit der Erkenntnis der Wirklichkeit der Geheimnisse des Seins und mit der Erkenntnis Gottes.“

Some answered Questions, S. 73.


Religiöse Vorurteile.

Um klar zu sehen, wie der höchste und größte Friede errichtet werden kann, wollen wir vor allem einmal die Hauptursachen des Krieges untersuchen und sehen, was Bahá’u’lláh vorschlägt, um diese zu beseitigen.

Eine der furchtbarsten Ursachen des Krieges waren die religiösen Vorurteile. Was diese betrifft, so zeigt die Baháilehre klar, daß von jeher Erbitterung und Streit zwischen Menschen verschiedener Religionen und Gemeinschaften nicht der wahren Religion, sondern dem Mangel an ihr zuzuschreiben waren. Sie kamen daher, daß falsche Vorstellungen, Nachahmungen und falsche Auslegungen an die Stelle wahrer Religion getreten sind.

In einer Seiner Reden in Paris sagte 'Abdu'l-Bahá:

„Die Religion sollte alle Herzen einigen und verursachen, daß die Kriege und Streitigkeiten von der Erdoberfläche verschwinden. Sie sollte der geistigen Natur zum Leben verhelfen und jeder Seele Licht und Kraft geben. Wenn die Religion zur Ursache der Abneigung, des Hasses und der Spaltung wird, dann wäre es besser ohne sie zu sein und sich von einer solchen Religion fernzuhalten, wäre eine wahre religiöse Handlung; denn es ist klar, daß es der Zweck eines Heilmittels ist, zu heilen; wenn aber die Arznei das Leiden nur verschlimmert, dann ist es besser, diese wegzulassen. Eine Religion, die nicht die Ursache der Liebe und Einigkeit ist, ist keine Religion.“

Ansprachen 'Abdu'l-Bahás S. 140.

'Abdu'l-Bahá sagte ferner:

„Von Anbeginn der Menschheitsgeschichte bis auf unsere Zeit haben verschiedene Religionen der Welt einander in den Bann getan und einander als falsch angeklagt. Die einen haben die andern streng gemieden und Erbitterung und Groll gehegt. Betrachtet die Geschichte der Religionskriege. Einer der größten Religionskriege, bekannt als Kreuzzug, dauerte über 200 Jahre. Zuweilen waren die Kreuzfahrer siegreich, sie töteten und plünderten die Mohammedaner und machten sie zu Gefangenen; zuweilen siegten die Mohammedaner und brachten umgekehrt Blutvergießen und Verderben über die Kreuzfahrer.

„So ging es zwei Jahrhunderte lang fort, sie bekämpften einander mit Wut und schwächten sich aufs äußerste, bis sich die europäischen Religionskämpfer vom Osten zurückzogen und die Asche der Verwüstung hinter sich lassend ihre eigenen Nationen in einem Zustand der Verwirrung und des Aufruhrs vorfanden. Doch dies war nur einer der ‚Heiligen Kriege‘."

„Es gab viele Religionskriege. Neunhunderttausend Märtyrer in der Sache des Protestantismus waren das Ergebnis des Streites und der Meinungsverschiedenheiten zwischen dieser Christengemeinschaft und den Katholiken. Wie viele schmachteten in den Gefängnissen! Wie unbarmherzig war die Behandlung der Gefangenen! Und dies alles im Namen der Religion!

„Die Christen und die Mohammedaner betrachteten die Juden als satanische Wesen und als die Feinde Gottes; daher verfluchten und verfolgten sie dieselben. Eine große Anzahl der Juden wurde getötet, ihre Häuser wurden ausgeplündert und verbrannt und ihre Kinder in die Gefangenschaft geführt. Umgekehrt betrachteten die Juden die Christen als Ungläubige und die Mohammedaner als ihre Feinde und als die Zerstörer des Gesetzes Moses; daher flehten sie Unglück [Seite 135] auf sie herab und verfluchten sie bis auf den heutigen Tag.

„Als das Licht Bahá’u’lláhs im Osten aufging, verkündigte Er die verheißene Einheit der Menschheit. Er wandte sich an die gesamte Menschheit und sprach: ‚Ihr seid alle die Früchte eines Baumes. Es gibt nicht zwei Bäume in dem Sinn, daß der eine der Baum der göttlichen Barmherzigkeit und der andere der Baum des Satans wäre‘. Daher müssen wir einander die größte Liebe erzeigen. Wir dürfen kein Volk als das Volk des Satans betrachten, sondern müssen alle als Diener des einen Gottes erkennen und anerkennen. Meistens ist es so: Die einen haben keine Erkenntnis, sie müssen geführt und erzogen werden. Manche sind wie die Kinder, man muß ihnen dazu verhelfen, die Reife zu erlangen. Wieder andere sind leidend, ihr moralischer Zustand ist ein schlechter, diese müssen behandelt werden, bis ihre Moral gereinigt ist. Man darf aber den Kranken nicht hassen, weil er krank ist; man darf das Kind nicht meiden, weil es ein Kind ist, auch darf man den Unwissenden nicht verwerfen, weil ihm das Wissen mangelt; ihnen muß vielmehr Behandlung, Erziehung und liebevoller Beistand zuteil werden. Es muß alles getan werden, um dahin zu kommen, daß die ganze Menschheit in größter Sicherheit und im höchsten Grad der Glückseligkeit unter dem Schatten Gottes leben kann.“

Star of the West, Jahrg. VIII, S. 76.


Völkische und patriotische Vorurteile.

Die Baháilehre, die Lehre von der Einheit der Menschheit schlägt an die Wurzel einer anderen Kriegsursache, nämlich an die des Rassenvorurteils. Gewisse Rassen maßten sich an, höher zu sein als andere und stützten diesen Anspruch mit dem Prinzip des „Ueberlebens des Stärkeren“. Sie behaupten die Ueberlegenheit gebe ihnen das Recht, die schwächeren Rassen zu ihrem eigenen Vorteil auszubeuten oder sie gar auszurotten. Viele der dunkelsten Seiten der Weltgeschichte sind Beispiele der unbarmherzigen Anwendung dieses Prinzips. Nach der Ansicht der Bahái sind die Menschen jeder Rasse vor den Augen Gottes gleichwertig. Sie alle haben wunderbare, angeborene Fähigkeiten, die zu ihrer Entwicklung nur eine angemessene Erziehung benötigen, alsdann vermag jeder eine Rolle zu spielen, und anstatt das Leben ärmer zu machen, werden sie das Leben aller andern Glieder des Körpers der Menschheit bereichern und vervollständigen. 'Abdu'l-Bahá sagt:

„Das Rassenvorurteil ist eine Einbildung, reiner Aberglaube, denn Gott erschuf uns alle von einer Rasse... Im Anfang gab es auch keine Grenzen und Grenzpfähle zwischen den verschiedenen Ländern; kein Teil der Erde gehörte einem Volk mehr als dem andern. In den Augen Gottes besteht kein Unterschied zwischen den verschiedenen Rassen, warum sollte der Mensch ein solches Vorurteil erfinden? Wie können wir den Krieg aufrecht erhalten, wenn er durch eine derartige Einbildung verursacht wird? Gott erschuf die Menschen nicht, damit sie einander umbringen sollen. Alle Rassen, Stämme, Klassen und Bekenntnisse haben gleichen Anteil an den Gaben ihres himmlischen Vaters.

Der einzige Unterschied liegt im Grad ihrer Aufrichtigkeit, die Gebote Gottes zu befolgen. Es gibt einige Menschen, die sind wie entzündete Fackeln, und andere, die wie Sterne am Himmel der Menschheit leuchten. Diejenigen, welche die Menschheit lieben, sind die vortrefflichsten Menschen, einerlei welcher Nation, welchem Bekenntnis oder welcher Farbe sie auch angehören mögen.

Ansprachen 'Abdu'l-Bahás in Paris, S. 162.

Genau so nachteilig, wie das Rassenvorurteil, ist das politische oder patriotische Vorurteil. Die Zeit ist nun gekommen, da der nationale Patriotismus in dem erweiterten Patriotismus, dessen Land die Welt ist, untergehen sollte. Bahá’u’lláh sagt:

„Früher sagte man: ‚Sein Vaterland zu lieben ist Treue‘, aber am Tage dieser Offenbarung sprach der Mund des Höchsten: ‚Ruhm gebührt nicht dem, der sein Vaterland liebt, sondern dem, der die gesamte Menschheit liebt.“ Mit diesen erhabenen Worten lehrte Er die Seelenvögel einen neuen Flug und tilgte die Beschränkungen und blinden Nachahmungen aus dem Buche.“

(Tablet of the World.)


Ländergier.

Viele Kriege wurden ausgefochten eines Stück Landes wegen, dessen Besitz von zwei oder mehreren rivalisierenden Nationen begehrt wurde. Die Gier nach Besitz war von jeher eine Ursache des Streites zwischen den Völkern und den Einzelnen. Nach der Ansicht der Bahái gehört das Land von rechtswegen weder dem einzelnen Menschen noch einzelnen Nationen, sondern der Menschheit als ein Ganzes; ja noch mehr, es gehört Gott allein, und alle Menschen sind weiter nichts als Pächter.

[Seite 136] Zur Zeit der Schlacht bei Benghasi, sagte 'Abdu'l-Bahá:

„Die Nachrichten von der Schlacht bei Benghasi bekümmern mein Herz. Ich wundere mich darüber, daß es in der Welt immer noch so viel menschliche Grausamkeit gibt. Wie ist es den Menschen möglich, vom Morgen bis zum Abend zu kämpfen, einander zu töten und das Blut ihrer Nebenmenschen zu vergießen? Um ein Stück Land zu erobern und es in Besitz zu nehmen, tun sie dies. Wenn Tiere miteinander kämpfen, so haben sie eine unmittelbare und begreifliche Ursache für ihre Angriffe. Wie schrecklich ist es, daß Menschen, die doch dem höheren Reiche angehören, so tief sinken, daß sie einander erschlagen und Elend über ihre Nebenmenschen bringen, nur um ein Stückchen Land mehr zu besitzen! Die höchsten aller erschaffenen Wesen kämpfen um den Besitz der niedersten Form der Materie, die Erde.

„Der Erdboden gehört nicht einem Volk, sondern allen Völkern. Die Erde ist nicht des Menschen Heimat, sondern sein Grab...

„Wie mächtig ein Sieger auch sein mag, wie viele Länder er auch unterjocht, er ist doch nicht imstande, irgend einen Teil dieser verwüsteten Länder dauernd zu behalten, ausgenommen ein sehr kleines Stück — sein Grab.

„Wenn mehr Land nötig ist zur Verbesserung der sozialen Zustände, zur Verbreitung der Zivilisation, so wird es sicherlich auch möglich sein, dies auf friedlichem Wege zu erlangen. Aber der Krieg wird geführt, um den menschlichen Ehrgeiz zu befriedigen. Wegen des weltlichen Gewinns weniger Menschen wird das schrecklichste Elend über die Heimstätten vieler gebracht; es werden die Herzen hunderter von Männern und Frauen gebrochen...

„Ich gebiete euch allen und jedem einzelnen, alle Gedanken auf Liebe und Einigkeit zu konzentrieren. Wenn Kriegsgedanken in euch aufsteigen, so begegnet ihnen mit den stärkeren Gedanken des Friedens. Ein Gedanke des Hasses muß zerstört werden durch einen viel mächtigeren Gedanken der Liebe... Wenn die Soldaten dieser Welt ihre Schwerter ziehen um zu töten, dann müssen die Soldaten Gottes einander die Hand reichen. Auf diese Weise werden durch die Barmherzigkeit Gottes, die durch die reinen Herzen und die aufrichtigen Seelen wirkt, alle Grausamkeiten der Menschen verschwinden. Denket nicht, der Friede auf Erden sei ein Ideal, das nie verwirklicht werden könne. Der göttlichen Güte ist nichts unmöglich. Wenn ihr Freundschaft mit allen Völkern und Rassen auf Erden von ganzem Herzen wünscht, dann werden sich eure Gedanken sicherlich verbreiten; euer Wunsch wird auch der Wunsch anderer sein, er wird immer stärker und stärker werden, bis er in den Geist aller Menschen eingedrungen ist.“

(Ansprachen 'Abdu'l-Bahás in Paris S. 23-25.


Universale Sprache.

Da wir nun einen Blick auf die Hauptursachen des Krieges geworfen und gesehen haben, wie sie zu vermeiden sind, wollen wir gewisse aufbauende Vorschläge, die Bahá’u’lláh in der Absicht, den dauernden Frieden herbeizuführen, machte, näher betrachten.

Der erste dieser Vorschläge betrifft die Einführung einer Welthilfssprache. Bahá’u’lláh schreibt hierüber in dem Buch Aqdas und in vielen Tablets.

So lesen wir in dem Tablet Ischrakat:

„Das sechste Ischrak bezieht sich auf die Vereinigung und die Harmonie unter den Menschen. Durch die Strahlen der Einigung wurden die Regionen der Welt stets erleuchtet und das beste aller Mittel hierzu ist, einander in einer einheitlichen Sprache und Schrift zu verstehen. Wir haben schon in früheren Tablets befohlen, daß die Vertrauensmänner des "Hauses der Gerechtigkeit“ aus den bestehenden Sprachen eine als Weltsprache auswählen oder eine neue Sprache als solche einführen müssen. In gleicher Weise bestimmten Wir, daß man unter den verschiedenen Schriftarten eine auswählen und diese die Kinder in den Schulen der ganzen Welt lehren solle, damit dadurch die Welt werde wie ein Land und eine Heimat.“

Zur Zeit, da Bahá’u’lláh der Welt diese Anregung gab, wurde in Polen ein Knabe namens Ludwig Zamenhof geboren, der dazu bestimmt war, in der Ausführung dieses Vorschlags eine führende Rolle zu spielen. Von seiner Kindheit an wurde das Ideal einer universalen Sprache ein vorherrschendes Motiv in Zamenhofs Leben, und das Ergebnis seiner hingebenden Arbeit war die Ausarbeitung und alsdann die Annahme der nun weitverbreiteten Sprache, bekannt als Esperanto, die nun den Prüfungen bereits fünfunddreißig Jahre standhielt und sich als ein sehr befriedigendes Mittel für den internationalen Verkehr erwiesen hat. Diese Sprache hat den Vorteil, daß es, um sie zu beherrschen, nur den zwanzigsten Teil [Seite 137] der Zeit erfordert, die dazu notwendig ist, andere Sprachen, wie beispielsweise Englisch, Französisch oder Deutsch zu beherrschen. Gelegentlich eines Esperantofestes im Februar 1913 in Paris sprach 'Abdu'l-Bahá folgendes:

„Eine der Hauptursachen der Schwierigkeiten heute in Europa ist die Verschiedenheit der Sprachen. Wir nennen diesen einen Deutschen, jenen einen Italiener, dann begegnen wir einem Engländer, dann wieder einem Franzosen. Obwohl sie alle derselben Rasse angehören, bildet doch die Sprache die größte Schranke zwischen ihnen. Wäre eine universale Hilfssprache eingeführt, dann würden sie alle als zusammengehörig betrachtet werden.

„Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh schrieb vor mehr als vierzig Jahren über diese internationale Sprache. Er sagte, solange keine internationale Sprache eingeführt sei, werde es nicht zu einer völligen Einigung der verschiedenen Teile der Welt kommen, denn wir sehen, daß die Mißverständnisse die Völker von einer rechten Verbindung abhalten und diese Mißverständnisse werden auf keine andere Weise beseitigt werden als durch eine internationale Hilfssprache.

„Allgemein gesprochen, alle Völker des Ostens sind nicht völlig über die Ereignisse im Westen unterrichtet und die Bewohner des Westens können sich nicht in eine sympathische Verbindung mit den Orientalen setzen; ihre Gedanken sind in einer Kassette verschlossen — und diese zu öffnen, wird die internationale Sprache der Hauptschlüssel sein. Hätten wir eine internationale Sprache im allgemeinen Gebrauch, dann könnten die Bücher des Westens leicht in diese Sprache übersetzt werden und die östlichen Völker würden von ihrem Inhalt unterrichtet werden. In gleicher Weise könnten die Bücher des Ostens zum Nutzen der westlichen Völker in diese Sprache übersetzt werden. Das beste Mittel für den Fortschritt hinsichtlich der Vereinigung des Ostens und des Westens wird eine allgemeine Sprache sein; sie wird die ganze Welt zu einer Heimat machen und der stärkste Antrieb für den menschlichen Fortschritt sein. Sie wird die Fahne der Einheit der Menschheit hochhalten. Sie wird die Erde zu einem universalen Gemeinwesen machen. Sie wird die Ursache der Liebe zwischen den Menschenkindern. Sie wird gute Gemeinschaft schaffen zwischen den verschiedenen Rassen.

„Preis sei Gott, daß Dr. Zamenhof die Esperantosprache erfunden hat. Diese hat alle die wirksamen Eigenschaften, die erforderlich sind, um das internationale Verbindungsmittel zu werden. Wir müssen ihm alle sehr dankbar sein für seine edlen Bemühungen, denn damit hat er seinen Nebenmenschen hervorragende Dienste geleistet. Durch die unermüdlichen Bemühungen und die Selbstaufopferung von seiten seiner Anhänger wird Esperanto universal werden. Deshalb müssen wir alle diese Sprache erlernen und so weit wie möglich verbreiten, damit sie Tag für Tag mehr Anerkennung findet, von allen Völkern und Regierungen angenommen und ein Teil des Lehrstoffs in allen öffentlichen Schulen wird. Ich hoffe, daß Esperanto angenommen wird als die Sprache für alle künftigen internationalen Konferenzen und Kongresse, damit alle Menschen nur zwei Sprachen zu erlernen brauchen - - ihre Muttersprache und die internationale Sprache. Alsdann wird eine völlige Vereinigung zwischen allen Menschen der Welt hergestellt sein. Seht, wie schwierig es heute ist, mit verschiedenen Völkern zu verkehren. Wenn jemand fünfzig Sprachen erlernt, so mag es dennoch vorkommen, daß er durch ein Land reist, dessen Sprache er nicht kennt. Deshalb hoffe ich, daß ihr die größten Anstrengungen machen werdet, damit die Esperantosprache weit verbreitet wird.“

Obwohl 'Abdu'l-Bahá sehr die Verbreitung des Esperanto unterstützt, so führt Er doch aus, daß diese Hilfssprache noch erweitert, entwickelt und vervollkommnet werden müsse, bevor sie alle Anforderungen, die man an eine Universalsprache stellt, erfüllen kann. In einer Seiner Ansprachen in London sagte Er:

„Die Liebe und der Dienst am Esperanto werden nicht verloren gehen, aber es kann nicht ein Mensch allein eine Universalsprache schaffen. Sie muß gebildet werden von einem Abgeordnetenrat aller Länder und muß Worte der verschiedenen Sprachen enthalten.“

('Abdu'l-Bahá in London, S. 95.

Die Entwicklung der Esperantosprache schreitet jetzt vorwärts unter der Führung eines internationalen Sprachkommitees „Lingva Komitato“ und Jahr für Jahr wird die Sprache bereichert und ihr Vokabelschatz durch Wortstämme aus den verschiedenen Sprachen erweitert.


Völkerbund.

Ein anderer Vorschlag, den Bahá’u’lláh machte, und den Er nachdrücklich verfocht, lautete, daß zur Errichtung und Behauptung des „Internationalen Friedens“ ein allumfassender Völkerbund gegründet werden soll. In einem Brief, [Seite 138] den Bahá’u’lláh im Jahre 1865 an die Königin Victoria schrieb, steht geschrieben:

„O Regenten der Erde! Schlichtet eure Streitfragen auf friedlichem Wege, dann habt ihr keine Scharen von Kriegern, noch deren Ausrüstung mehr nötig, sondern nur noch so viele, als zum Schutz eurer Reiche und eurer Völker erforderlich sind. Vereinigt euch, o Herrscher der Erde, denn dadurch werden die Stürme der Uneinigkeit gelegt und eure Völker finden Ruhe... Sollte sich einer von euch gegen einen anderen erheben, so tretet allesamt gegen ihn auf, denn ein solches Vorgehen ist gerechtfertigt.“

Im Jahr 1875 gab 'Abdu'l-Bahá einen Ausblick auf die Errichtung eines Völkerbundes, was besonders in der jetzigen Zeit, angesichts der eifrigen Versuche, einen Völkerbund zu gründen, von besonderem Interesse ist. Er schrieb damals:

„Ja, die wahre Zivilisation wird ihr Banner inmitten der Welt erheben, wenn einige edle Regenten mit hohem Ehrgeiz, als glänzende Sonnen der Welt der menschenfreundlichen Begeisterung, sich für das Gute und die Glückseligkeit der menschlichen Rasse aufmachen und mit festem Entschluß und starker Kraft des Geistes eine Konferenz über die Frage des Weltfriedens halten. Wenn sie ihre Absichten durchführen, dann werden sie eine Vereinigung unter den Staaten der Welt schaffen, einen endgültigen Vertrag und ein festes Bündnis unter sich schließen und zwar auf Bedingungen beruhend, die nicht umgangen werden können. Wenn die ganze Menschheit durch ihre Repräsentanten befragt und eingeladen würde, diesen Vertrag zu unterzeichnen, der alsdann ein Vertrag des Weltfriedens wäre, den alle Völker der Erde heilig zu halten hätten, dann wäre es Pflicht der vereinigten Mächte der Welt darauf zu sehen, daß dieser wichtige Vertrag immer mehr erstarken und zum dauernden Vertrag unter den Völkern würde.

„In einem solchen allumfassenden Vertrag müßten die Grenzen eines jeden Staates festgesetzt und die Gebräuche und Gesetze jeder Regierung berücksichtigt werden. Alle Fragen über Staatsangelegenheiten sowie über Abkommen zwischen den verschiedenen Regierungen müßten vorgelegt und in gebührender Form erledigt werden. Ueber den Umfang der Kriegsrüstungen jeder Regierung müßten gleichfalls bestimmte Uebereinkommen getroffen werden, weil die Vergrößerung der Kriegsrüstung eines Staates einen Alarm für die anderen Staaten bedeuten würde. Die Grundlagen dieses mächtigen Bundes müßten so gefestigt sein, daß sofern einer der Staaten irgend einen Punkt des Vertrages verletzen würde, sich die übrigen Nationen der Welt erheben und ihn zum Gehorsam zurückführen müßten. Ja, die ganze Menschheit müßte ihre Kräfte verbinden, um eine solche Regierung in Schach zu halten.

„Ein solch bedeutendes Heilmittel auf den kranken Körper der Welt angewendet würde sicherlich, besonders, wenn man allgemein die Mäßigung betont, das Mittel für seine dauernde Heilung sein.“

(„Mysterious Forces of Civilisation“, S. 134-140.)


Internationales Schiedsgericht.

Bahá’u’lláh trat auch für die Errichtung eines Internationalen Schiedsgerichtshofs ein, damit Meinungsverschiedenheiten zwischen den Nationen anstatt durch den Appell an das Gottesurteil der Schlacht, nach Gerechtigkeit und Vernunft beigelegt werden.

In einem Brief an den Sekretär der Mohonk Konferenz schrieb 'Abdu'l-Bahá im August 1911 über einen Internationalen Schiedsgerichtshof:

„Vor mehr als fünfzig Jahren befahl Bahá’u’lláh der Menschheit im Buch der Gesetze, den Weltfrieden aufzurichten und rief alle Nationen zu dem göttlichen Fest eines internationalen Vergleichs, damit die Grenzfragen, sowie die Fragen nationaler Ehre, nationalen Eigentums und internationaler Lebensinteressen durch ein Schiedsgericht entschieden werden können und damit es keine Nation wagen würde, sich zu weigern, die auf diese Weise erlangte Entscheidung anzunehmen. Wenn sich ein Streit zwischen zwei Nationen erhebt, so muß dieser vor den internationalen Gerichtshof gebracht und von diesem entschieden werden, gleich wie über die Streitigkeiten zweier Privatpersonen vom Richter das Urteil gefällt wird. Wenn eine Nation es jemals wagen sollte, eine solche Entscheidung zu übertreten, müßten sich alle anderen Nationen erheben und diese rebellierende Nation in die Schranken weisen.“

Ferner, in einer Seiner Pariser Reden von 1911 sagte 'Abdu'l-Bahá:

„Alle Völker und Regierungen sollen ein höchstes Schiedsgericht wählen, in dem Abgeordnete jedes Landes und jeder Regierung vertreten sind, die sich in Einigkeit zu versammeln haben. Alle internationalen Streitfragen müssen vor diesen höchsten [Seite 139] Gerichtshof gebracht werden, dessen Arbeit es ist, alles, was sonst zur Ursache des Krieges würde, durch seine Entscheidung zu schlichten. Die Aufgabe eines solchen Gerichtshofes würde also sein, den Krieg zu verhindern.“

(Ansprachen 'Abdu'l-Bahás in Paris, S. 143.)

Während des Vierteljahrhunderts, das der Errichtung eines Völkerbundes vorausging, wurde im Haag (1900) ein ständiger Schiedsgerichtshof errichtet, in dem manche Vergleichsverträge unterzeichnet wurden; aber die meisten dieser Entscheidungen waren noch weit entfernt von den umfassenden Vorschlägen Bahá’u’lláhs. Es wurde kein schiedsgerichtlicher Vertrag zwischen zwei Großmächten geschlossen, der alle Streitfragen enthalten hätte. Streitfragen, wie die „Lebensinteressen“, die „Ehre und Unabhängigkeit“ betreffend waren ausdrücklich ausgeschlossen. Aber nicht nur dies, sondern auch wirkliche Garantien, daß sich die Nationen an die Forderungen der Verträge halten würden, fehlten. In den Vorschlägen Bahá’u’lláhs sind aber Grenzfragen, Fragen über nationale Ehre und Lebensinteressen eingeschlossen, und diese Verträge werden die beste Gewähr für den Völkerbund bieten. Nur wenn diese Vorschläge vollständig durchgeführt werden, wird der Internationale Schiedsgerichtshof völligen Spielraum für seine segensreichen Möglichkeiten haben und der Fluch des Krieges wird endlich von der Welt genommen werden.


Abrüstung.

'Abdu'l-Bahá sagt:

„Alle Regierungen der Welt müssen durch ein allgemeines Uebereinkommen gleichzeitig abrüsten. Es würde nichts helfen, wenn die eine ihre Waffen niederlegte und die anderen würden sich weigern, dasselbe zu tun. Die Nationen der Welt müssen hinsichtlich dieser wichtigsten Angelegenheit übereinstimmen, damit sie zusammen die tödlichen Waffen für Menschenschlächterei endgültig niederlegen. Solange ein Volk seine Rüstungen zu Wasser und zu Lande vergrößert, werden andere Nationen gezwungen sein, diesen zermalmenden Wettbewerb infolge ihrer natürlichen und eingebildeten Interessen mitzumachen.“

Aus Tagebuchblättern von Mirza Ahmad Sohrab vom 11.-14. Mai 1914.


Kein Widerstand.

Als eine religiöse Körperschaft haben die Bahái den ausdrücklichen Befehl von Bahá’u’lláh, sich in ihrem eigenen Interesse jeden Gebrauchs von Waffen, selbst zu Verteidigungszwecken, zu enthalten. In Persien haben viele Tausende von Bábis und Baháis den Tod für ihren Glauben auf die greulichste Weise erduldet. In den frühesten Tagen dieser Bewegung verteidigten die Bábis bei verschiedenen Gelegenheiten sich selbst und ihre Familien mit dem Schwert und zwar mit großem Mut und großer Tapferkeit.

Doch Bahá’u’lláh verbot dies.

'Abdu'l-Bahá schrieb: 'Abdu'l-Bahá „Als Bahá’u’lláh auftrat, erklärte Er, daß die Verbreitung der Wahrheit durch solche Mittel keinesfalls erlaubt sei, auch nicht zum Zweck der Selbstverteidigung. Er schaffte die Herrschaft des Schwertes ab und hob die Verordnung Mohammeds betreffs des „Heiligen Krieges“ auf und sagte: „Erschlagen zu werden ist besser für euch, als jemand zu erschlagen. Es ist die Festigkeit und Standhaftigkeit der Gläubigen, durch die die Sache des Herrn verbreitet werden muß. Wenn sich die Gläubigen furchtlos und unerschrocken und mit absoluter Entschiedenheit erheben, um das Wort Gottes hochzuhalten, wenn sie sich mit Augen, die von dieser Welt abgekehrt sind, in den Dienst der Sache des Herrn stellen und durch Seine Macht wirken, dann werden sie verursachen, daß das Wort der Wahrheit den Sieg davon trägt. Diese gesegneten Seelen bekennen sich mit ihrem Lebensblut zu der Wahrheit der Sache und sie bezeugen sie durch die Aufrichtigkeit ihres Glaubens, durch ihre Hingebung und Standhaftigkeit. Der Herr kann uns helfen, Seine Sache zu verbreiten und die Eigensinnigen zu vernichten. Wir wünschen keinen anderen Verteidiger als Ihn, und mit unserem Leben in der Hand bieten wir den Feinden die Stirne und begrüßen das Märtyrertum.“

(Geschrieben von 'Abdu'l-Bahá für dieses Buch.)

Bahá’u’lláh schrieb an einen der Verfolger Seiner Sache:

„Großer Gott! Diese Gemeinschaft hat keine Waffen nötig. All ihre Anstrengungen sind auf den Frieden der Welt gerichtet. Ihre Armeen sind gutes Benehmen, ihre Waffen, gute Taten; ihr General die Gottesfurcht. Glücklich ist der, welcher gerecht ist.

Bei Gott! Diese Menschen sind durch ihre Geduld, ihre Ruhe, ihre Ergebung und ihre Zufriedenheit Offenbarungen der Gerechtigkeit geworden. Ihre Selbstverleugnung [Seite 140] hat den Grad erreicht, daß sie sich lieber töten lassen, als selber zu töten und dies deshalb, weil diese Unterdrückten der Erde sich in einer Weise selbst verleugnet haben, wie es noch in keiner Weltgeschichte berichtet ist und wie es das Auge der Nationen noch niemals gesehen hat.

Wie hätten sie solch schreckliche Mißgeschicke erdulden können, ohne auch nur eine Hand auszustrecken, um sich selbst zu schützen? Was war die Ursache ihrer Ergebung und ihrer Ruhe? Es war das beständige Verbot aus der Feder der Herrlichkeit, denn diese Unterdrückten haben die Zügel der Befehle mit der Kraft und Macht des Meisters der Welt ergriffen.“

(L’Epitre au Fils du Loup.)

Das Gesunde an Bahá’u’lláhs Politik des Nichtwiderstandleistens hat sich schon durch Resultate bewiesen, denn für jeden Gläubigen, der in Persien den Märtyrertod erlitt, haben sich der Baháigemeinde hundert neue Gläubige zugesellt. Und die Freudigkeit und Unerschrockenheit, mit der diese Märtyrer die Krone ihres Lebens zu Füßen ihres Herrn warfen, lieferte der Welt den klarsten Beweis, daß diese Märtyrer ein neues Leben gefunden haben, für das der Tod keine Schrecken hat, ein Leben von unaussprechlicher Fülle und Freude, mit denen verglichen die Freuden der Erde sind wie Staub in der Wegschale und die teuflischsten körperlichen Foltern wie spielendes Licht, wie Luft.


Gerechte Kriegführung.

Obschon Bahá’u’lláh gleich Christus Seinen Gläubigen als Einzelmenschen und als religiöse Körperschaft rät, ihren Feinden keinen Widerstand zu leisten, sondern vielmehr ihnen zu vergeben, so lehrt Er doch, daß es Pflicht der Gesamtheit sei, Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu verhindern. Wenn die Einzelnen verfolgt werden und ihnen Unrecht geschieht, so sei es recht für sie, zu vergeben und sich der Vergeltung zu enthalten, es wäre aber unrecht von der Gesamtheit, Plünderung und Mordtaten innerhalb ihrer Grenzen ungehindert geschehen zu lassen. Es ist Pflicht einer guten Regierung, Uebeltaten zu verhindern und die Schuldigen zu bestrafen.*)

So ist es auch mit der Gesamtheit der Nationen. Wenn eine Nation die andere unterdrückt oder ihr Unrecht zufügt, so ist es Pflicht aller anderen Nationen, sich zusammenzuschließen, um eine solche Unterdrückung zu verhindern. 'Abdu'l-Bahá sagt:

„Es mag vorkommen, daß zu gegebener Zeit kriegerische und wilde Horden den politischen Körper eines Volkes wütend angreifen, in der Absicht, seine Glieder niederzumachen; unter solchen Umständen ist eine Verteidigung notwendig.“

Ansprachen in Paris.

Bisher war es unter der Menschheit üblich, daß, wenn ein Volk das andere angriff, die anderen Nationen der Welt neutral blieben und sofern ihre eigenen Interessen nicht berührt oder bedroht wurden, sie keine Verantwortung in diesen Angelegenheiten auf sich nahmen. Die ganze Bürde der Verteidigung wurde der angegriffenen Nation überlassen, so schwach und hilflos sie auch sein mochte. Die Lehren Bahá’u’lláhs kehren diese Stellungnahme um und werfen die Verantwortung der Verteidigung nicht nur auf die angegriffene Nation, sondern ebenso auf alle andern. Da die ganze Menschheit eine Gemeinschaft ist, so ist ein Angriff auf eine Nation ein Angriff auf die Gesamtheit und sollte daher von der Gesamtheit abgewiesen werden. Wenn diese Lehre allgemein anerkannt und nach ihr gehandelt würde, so wüßte eine Nation, die einen Angriff im Sinn hätte, schon im voraus, daß sie mit dem Widerstand nicht nur dieses Volkes, sondern mit dem aller anderen Nationen der Welt zu rechnen hätte. Diese Erkenntnis würde genügen, selbst die keckste und kriegslustigste Nation abzuschrecken. Wenn sich eine genügende Anzahl friedlicher Nationen zu einem starken Bund zusammen geschlossen haben, dann wird der Krieg der Vergangenheit angehören. In der Uebergangszeit von dem alten Zustand der internationalen Gesetzlosigkeit zu dem neuen Zustand der internationalen Solidarität werden Angriffskriege immer noch möglich sein und unter diesen Umständen mag militärische oder andere zwangsweise Tätigkeit in Sachen der internationalen Gerechtigkeit, der Einigkeit und des Friedens eine gegebene Pflicht sein. 'Abdu'l-Bahá schreibt:

„Selbst der Krieg ist zuweilen das große Fundament des Friedens und Zerstörung die Ursache des Wiederaufbaus... dieser Krieg mag der Auftakt zu den Melodien des Friedens sein; und wahrlich, alsdann wird diese Raserei als gut, diese Unterdrückung als gerecht und dieser Krieg als Quelle der Versöhnung erkannt werden. Heute ist die wahre Pflicht eines mächtigen Königs, den universalen Frieden zu fördern; denn [Seite 141] wahrlich, dies bedeutet die Freiheit aller Völker der Welt.“

(Mysterious Forces of Civilisation.)

  • ) Siehe auch den Abschnitt über die Behandlung der Verbrecher, Kapitel 9.


Die Vereinigung des Ostens und des Westens.

Ein anderer Faktor, der dazu verhelfen wird, den universalen Frieden zustandezubringen, ist die Vereinigung des Ostens und des Westens. Der höchste und größte Friede besteht nicht nur im Aufhören der Feindseligkeiten, sondern in einer fruchtbaren Vereinigung und in einem herzlichen Zusammenarbeiten der bisher getrennten Völker der Erde, was köstliche Früchte tragen wird. In einer Seiner Reden in Paris sagte 'Abdu'l-Bahá:

„Sowohl in der Vergangenheit als in der Gegenwart hat die Sonne der geistigen Wahrheit immer vom Horizont des Ostens geleuchtet. Abraham erschien im Osten, Mose trat im Osten auf, um das Volk zu führen und zu lehren. Es war der östliche Horizont, an dem das Licht Jesu aufging. Mohammed wurde zu einer Nation des Ostens gesandt. Der Bab und Bahá’u’lláh traten ebenfalls im Orient (in Persien) auf. Alle großen geistigen Lehrer erhoben sich im Orient.

„Aber, obschon die Sonne von Christus im Osten aufging, waren ihre Strahlen doch im Westen sichtbar, wo der Glanz ihrer Herrlichkeit noch klarer erkannt wurde. Das göttliche Licht seiner Lehren schien mit einer größeren Kraft im Westen, wo es sich schneller verbreitete, als in dem Lande seiner Geburt.

„In diesen Tagen hat der Osten einen materiellen Fortschritt nötig, und der Westen braucht ein geistiges Ideal. Es wäre gut, wenn sich der Westen, um Erleuchtung zu erlangen, an den Osten wenden und diesem dann seine wissenschaftlichen Errungenschaften dafür in Tausch geben würde. Dieser Austausch, der an beide verliehenen Gaben muß vor sich gehen. Ost und West müssen sich vereinigen, um einander im Austausch das Mangelnde zu geben. Diese Vereinigung wird eine wahre Zivilisation hervorbringen, bei welcher das Geistige im Materiellen zum Ausdruck kommt. Wenn so die einen von den andern empfangen, wird die größte Harmonie herrschen; alle Völker werden dadurch geeinigt und ein Zustand der größten Vollkommenheit wird erreicht werden. Eine solche Vereinigung wird ein festes Band bilden, und die Welt wird ein glänzender Spiegel werden, der die Eigenschaften Gottes widerstrahlt.

„Wir alle, die östlichen und die westlichen Nationen, müssen mit Herz und Seele Tag und Nacht darnach streben, dies hohe Ideal -— die Einigkeit zwischen allen Nationen der Erde — zu verwirklichen. Jedes Herz wird dann erfrischt, und jedes Auge wird erfreut sein; die wunderbarste Macht wird den Menschen gegeben werden und das wahre Glück der Menschheit wird gesichert sein... Dies wird das „Paradies auf Erden“ sein, in welchem alle Menschen unter dem Zelt der Einigkeit in dem Königreich der Herrlichkeit versammelt werden.“

Ansprachen 'Abdu'l-Bahás, S. 15.



Ueber den Sinn des Lebens.

Von Paul Häcker, Stuttgart.

Was ist das Leben?

Bewegung, pulsierende Kraft! Und da, wo wahres Leben ist, ist der Kontakt mit dem Ewigen und Göttlichen eingeschaltet. An beiden Kontaktpunkten steht elementare Kraft, die alles in Schwung versetzt. Strömt durch die beide Teile „Gott und Mensch“ verbindenden Kanal unbehindert der Strom des Lebens, dann wird es uns möglich sein, im wahrsten Sinne zu leben und der tiefste Sinn des Lebens wird sich uns wie eine Selbstverständlichkeit erschließen.

Aber wir sind durch Sünde und Not von dem wahren Leben teils getrennt und doch wieder mit ihm verbunden. Wir sind mit andern Worten: zwiespaltig geworden und bergen in unserem Busen Gott und Teufel zugleich. Das, was wir sein sollen: in der Kraft Gottes lebender und wirkender Mensch, ist uns durch eigene Schuld zum Verhängnis geworden, indem wir uns eher auf das animalische und deshalb in der Form vergängliche, anstatt ausschließlich auf das Geistige und deshalb unvergängliche einstellen.

Doch wie konnte die Leitung mit dem Göttlichen überhaupt gestört werden? — Das gab Gott in weisester Absicht selbst in unsere Hand, nämlich den Willen, der täglich von göttlicher Kraft in uns zeugt, dem es aber überlassen bleibt, diesen oder jenen Weg zu gehen, der allerdings an die starken Gefühlsbewegungen unseres Unbewußten mehr oder weniger gebunden sein kann. [Seite 142]

Aber wir gehen nach unserem eigenen Willen den Weg, den wir heute gehen. Gott zwingt uns nicht, unseren freien Willen aufzugeben und zu brechen, denn er gab uns ja die Freiheit des Willens so zu tun und zu handeln wie es mit unserem Leben übereinstimmt. Würden wir nun unser Leben so leben, daß es mit den Naturgesetzen in und um uns übereinstimmte, dann wäre unser Wille die Bewußte Betätigung des göttlichen Willens.

Wir sind jedoch im Laufe der Entwicklung uns selbst wesensfremder geworden und haben auch deshalb die tiefinnere Fühlung mit der Natur verloren und mit dem, der sie nach ewigen Gesetzen bewegt. Unsere vornehmste Aufgabe muß nun vor allen Dingen die sein, uns selbst wieder zu finden. So wie wir uns verloren haben, konnte sich nicht einmal das Tier verlieren, das sich seinen Instinkt immer noch treu bewahrt hat. Dagegen bei uns ging sogar der tiefste und feinste Instinkt, mit dem Naturganzen sich vertraut zu fühlen, verloren, d. h. wir können uns auch auf ihn nicht mehr verlassen, denn unser instinktives Denken und Fühlen hat sich durch eine Verbildung des Geistes so getrübt, daß es nicht mehr als untrüglich bezeichnet werden kann. Bis tief hinab in die tiefsten und feinsten und geheimsten Gründe unseres Unterbewußten herrscht Chaos, jedoch nicht in dem übelsten Sinne eines „Tohu wabohu“, sondern der gärenden und übersprudelnden Masse, aus der sich allmählich ein wunderbarer Kosmos entfaltet mit allen verheißungsvollen Anzeichen eines neuen Werdens. Und so wie sich aus vergehenden Welten neues Werden entfaltet und sei es nur, daß im Vergehen Teile des Untergegangenen dem Zukünftigen „Späne“ reichen aus loderndem Brand, so daß es nur noch des Funken bedarf die Glut zu entfachen: gilt dasselbe beim Geistigen und Vergehen geistiger Welten.

Um jedoch dem Sinn des Lebens näher zu kommen, müssen wir uns zu allererst ergründen und hernach als Teil des Universums ins All hineindenken und fühlen. Selbst Chaos und Kosmos zugleich in fortwährender Wechselwirkung von Tod und Geburt sind wir mit all unserem Sein dem All mit seinem wunderbaren Reichtum an Schönheit, Liebe und Güte verhaftet. — Jedoch nicht allein nur dies: Wir haben auch Teil an allem Vergänglichen, Bösen und Dämonischen und sind für alles mitverantwortlich im Weltgeschehen des ganzen Alls, im Geschehen der Völker wie der Individuen. Also wir sind alles in allem ein Universum im Kleinen, das sich genau dem großen Universum einfügt, wie die Welten und Sonnensysteme.

Und daraus ergibt sich auch der Sinn des Lebens. Wenn wir uns im Zentrum unseres Innern zuerst erkennen, dann lernen wir Gott schauen. Daraus ergibt sich eine Kreisbewegung von Innen nach außen, die immer weitere Kreise zieht und sich immer tiefer ins All hineinbewegt.


Brief von Shoghi Effendi an die Gläubigen in ganz Deutschland.

Geliebte Brüder und Schwestern in 'Abdu'l-Bahá!

Im Lauf der vergangenen Monate, seit meiner letzten Zuschrift an Euch über die entsetzlichen Begebnisse in Jahrum haben sich Dinge von größtem Einfluß für das künftige Wohlergehen unserer geliebten hl. Sache zugetragen und mit erstaunlicher Schnelligkeit Trost und Zuversicht denen gebracht, die immer noch unter dem Terror und der unverminderten schamlosen Unterdrückung zu leiden haben.

Ihr habt wohl zum größten Teil mit Ergriffenheit aus einem der letzten Hefte des „Star of the West“ den erfreulichen Bericht entnommen, den unsere geliebte Schwester Miß Martha Root veröffentlichte, worin sie in ihrer charakteristischen Klarheit und Bescheidenheit ihre Erlebnisse, das ergreifende Zwiegespräch mit der Königin Marie von Rumänien berichtet und von der herzlichen und prompten Antwort, die ihre höfliche und doch überzeugende Darlegung der Prinzipien des Bahái-Glaubens im Herzen dieser geschätzten Königin ausgelöst hat. Eine sichtbare und mächtige Auswirkung dieser historischen Zwiesprache war der bemerkenswerte Aufruf in Form eines offenen Briefes, den die Königin aus sich selbst und spontan veröffentlichte als eine weitere Zeugenschaft verfaßt in einer Sprache von besonderer Schönheit über die Macht und Erhabenheit der Botschaft von Bahá’u’lláh.

Es war in der Tat ein unvergeßlicher Augenblick, als wir mit einigen Freunden anläßlich des Todestags von Bahá’u’lláh vereint an Seiner Grabstätte für die verfolgten Bahái in Persien beteten, und die freudige Botschaft von dem wunderbaren Sieg, den die unermüdliche Energie von Martha Root für unsere geliebte hl. Sache errang, erhielten.

Gesenkten Hauptes und dankbaren Herzens [Seite 143] erkennen wir das flammende Tribut an, das die Königin von Rumänien offen kund gibt, und das denen zuteil wird, die in dieser epochemachenden Zeit Bahá’u’lláhs diese erschütternde Begebenheit verkünden. Wie 'Abdu'l-Bahá es uns gesagt hat, wird mit der Zeit der Sieg des hl. Glaubens Gottes hervorgehen.

Wer kann da noch zweifeln, daß die Taten dieser tapfern Pioniere unseres Glaubens, die ohnegleichen dastehen, wie wir sie an Zahl und ebenso unerreicht in ihrer hohen Tapferkeit finden, zum Sieg führen, und die trotzdem nur ein kleiner Schimmer dessen sind, was uns von der göttlichen Vorsehung verheißen ist, und was diese standhaften Nachfolger noch bestimmt sind, zu erfüllen. Diese heldenmütigen Kämpfer, die die Namen ihrer einfachen Vorgänger unsterblich gemacht haben, werden fortfahren, die Seiten ihrer blutgedrängten Geschichte zu erleuchten und zu schmücken. Doch dürfen wir nicht vergessen, daß die Zeit der vollen Ernte mit allen Verheißungen der Weltbeglückung und dem niegeträumten Vollbringen sich wirklich allmählich erfüllen wird und sich das goldene Zeitalter entfaltet. Wirklich, wie erhebend für unser Bewußtsein, wie anregend für unsere Begeisterung, wenn wir für einen Augenblick inmitten der vielen Ablenkungen, die uns die Welt bringt, nachsinnen in unserem Herzen über die Unermeßlichkeit, die zwingende Dringlichkeit, über die unaussprechliche Herrlichkeit, die noch zu erfüllen ist.

Laßt uns alle aber dessen eingedenk sein in diesem Zusammenhang, daß über allen faßbaren Maßnahmen, die dazu bestimmt sind, die Leistungsfähigkeit unserer Verwaltungstätigkeit lebendiger als jedes Schema zu gestalten, — die der, dem die meisten Hilfsquellen zur Verfügung stehen, unter uns allen erfinderisch entdeckt, — und daß weise über der arbeitsamen Struktur, welche die beratschlagenden Bemühungen der organisierten Gemeinschaften sich erhoffen und instand setzen können, die Verwirklichung im tiefinnersten Herzen eines jeden wahren Gläubigen steht, und die verjüngende Kraft, die erhabene Notwendigkeit, die unfehlbare Leistungsfähigkeit ist, die in der Botschaft liegt, die er verkündet.

Ich versichere Euch, liebe Freunde, daß nichts geringeres als solch eine unerschütterliche Ueberzeugung in vergangener Zeit die geliebte Sache aufrecht erhalten konnte; eine Sache, über deren Geschichte die schwersten Stürme hingegangen sind. Nichts anderes als dies kann heutigentags die vielfache Fähigkeit der zahllosen Jünger des Glaubens mehr belieben, nichts anderes kann die treibende Kraft anfachen und die erhaltende Macht, die beide so wesentlich zum Erfolg der schließlichen und dauernden Erfüllung führen. Es ist dieser Geist, den wir uns vor allem unverdrossen bewahren müssen und mit aller Macht zu stählen und zu bewahren haben bei allen unseren Unternehmungen.

Getragen von einem ruhelosen Impuls, habe ich an ihre Majestät die Königin Marie von Rumänien im Namen der Bahái im Morgen- und Abendland den schriftlichen Ausdruck unserer freudigen Bewunderung und Dankbarkeit für das königliche Tribut entrichtet, das die Königin der Schönheit und Vornehmheit der Bahái-Sache gezollt hat.

Ueberdies habe ich die Königin des weitgehenden Eindrucks versichert, den ihre hohe Zeugenschaft unvermeidlich zur Folge hatte, und daß durch sie eine willkommene Tröstung an die stillen Dulder in dem zerrütteten Land gelangte. Auf meine Zuschrift der Anerkennung und Dankbarkeit ist kürzlich eine schriftliche Antwort eingetroffen, unterzeichnet von der Königin, die ergreifend einfach in ihrem Ausdruck ist und zugleich eine sehr bezeichnende Zeugenschaft enthält. Aus diesem königlichen Tribut an das Göttliche Ideal führe ich folgende bedeutungsvolle Worte an:

„Es ist wirklich ein großes Licht mit der Botschaft von Bahá’u’lláh und 'Abdu'l-Bahá zu mir gelangt. Sie kam wie alle großen Botschaften in einer Stunde des Leids, der inneren Zerrissenheit und der Verzagtheit und so fiel der Same tief... Wir geben die Botschaft weiter von Mund zu Mund, und allen geben wir sie, damit sie plötzlich ein Licht vor sich aufleuchten sehen und vieles, was dunkel und verwirrend war, wird einfach, leuchtend und hoffnungsvoll wie nie zuvor. Daß mein veröffentlichter Brief Balsam für diejenigen war, die für die Sache dulden, ist wirklich ein großes Glück für mich, und ich nehme es als Zeichen hin, daß Gott mein geringes Tribut annahm. — — — Demütig gebeugten Hauptes erkenne ich, daß ich nur ein Instrument in großen Händen bin und freue mich dieses Wissens..."

Liebe Freunde, mit tiefer Bewegung rufen wir uns die leuchtende Verheißung zurück, die so oft von den Lippen unseres dahingegangenen Meisters fiel und mit pochendem Herzen sind wir über die Verwirklichung Seines meist gehegten Wunsches beglückt. Wenn wir uns die Umstände zurückrufen, die zu einem bemerkenswerten Fortschritt führten, so sind wir von Bewunderung erfüllt für die einzigartige, große Jüngerin, die geliebte Martha Root, die unter mißlichen Umständen und beinahe alleinstehend in ihren Bemühungen so wundervoll den Weg bereitet hat zu der universalen Erkenntnis der Sache Gottes. In ihrem Fall haben wir wirklich in unverkennbarer [Seite 144] Weise gesehen, was die Macht furchtlosen Glaubens, verbunden mit edlem Charakter, erreichen kann, welche Kräfte freigemacht werden und zu welcher Höhe man gelangen kann. Laßt uns von Zeit zu Zeit solch bemerkenswerte Erhebung der Wirklichkeit und der Bestätigung der göttlichen Absichten an Seinen schwachen Kindern vor Augen führen, und welche Stärke unser Glaube an Ihn verleiht. Er läßt den Schauer des vergänglichen Unglücks hinter uns und erfüllt uns mit göttlichen Fähigkeiten, die uns allen die Kraft schenken den Stürmen und Gewalten, die das Leben in Seinem Dienste bringt, schlechterdings zu begegnen.

Euer aufrichtiger Bruder

(sig.) Shoghi.

Haifa, Palästina, 17. Oktober 1926.



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In unserem Verlag sind erschienen:

1. Die Geschichte der Bahai-Bewegung, von S. S. Deutsch von Wilhelm Herrigel. Dritte Ausgabe . . . -.20

2. Bahai-Perlen, Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . . -.20

3. Ehe Abraham war, war Ich, v. Thornton Chase. Deutsch v. W.Herrigel . . . . -.10

4. Das heilige Tablet, ein Sendschreiben Baha’o’llahs an die Christenheit. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . -.10

5. Die Universale Weltreligion. Ein Blick in die Bahai-Lehre von Alice T, Schwarz . . . . -.50

6. Die Offenbarung Baha’u’llahs, von J.D. Brittingham. Deutsch von Wilhelm. Herrigel . . . -.50

7. Verborgene Worte von Baha o’llah. Deutsch v. A. Braun u. E. Ruoff . . . 1.--

8. Baha’u’llah, Frohe Botschaften, Worte des Paradieses, Tablet Tarasat, Tablet Taschalliat, Tablet Ischrakat. Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Halbleinen gebunden . . . 2.--

in feinstem Ganzleinen gebunden . . . . . 2.50

9. Einheitsreligion. Ihre Wirkung auf Staat, Erziehung, Sozialpolitik, Frauenrehte und die einzelne Persönlichkeit, von Dr. jur. H. Dreyfus, Deutsch von Wilhelm Herrigel. Neue Auflage . . . -.50

10. Die Bahaibewegung im allgemeinen und ihre großen Wirkungen in Indien, von Wilhelm Herrigel . . . . -.50

11. Eine Botschaft an die Juden, von Abdul Baha Abbas. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . -.15

12. Abdul Baha Abbas, Ansprachen über die Bahailehre. Deutsch von Wilhelm Herrigel,

in Halbleinen gebunden . . . . . 2.50

in feinstem Ganzleinen gebunden. . . . . 3.--

13. Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahaireligion, von Mirza Abul Fazl. Deutsch von W. Herrigel,

in Halbleinen geb. . . . . 4.--

In Ganzleinen gebunden . . . . 4.50

14. Abdul Baha Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps.

Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Ganzleinen gebunden . . . . 3.50

15. Das Hinscheiden Abdul Bahas, ("The Passing of Abdul Baha") Deutsch von Alice T. Schwarz . . . -.50

16. Das neue Zeitalter von Ch. M. Remey. "Deutsch von Wilhelm Herrigel —.50

17. Die soziale Frage und ihre Lösung im Sinne der Bahailehre von Dr. Hermann Grossmann . . —.20

18. Die Bahai-Offenbarung, ein Lehrbuch von Thornton Chase, deutsch von W. Herrigel, kartoniert M. 4.--, in Halbleinen gebunden M. 4.60


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Anfragen, schriftliche Beiträge und alle die Schriftleitung betreffenden Zuschriften beliebe man an die Schriftleitung: Stuttgart, Alexanderstr. 3 zu senden :-: Bestellungen von Abonnements, Büchern und Broschüren sowie Geldsendungen sind an den Verlag des Deutschen Bahaibundes Stuttgart, Hölderlinstraße 35 zu richten.


Druck: Wilhelm Heppeler, Stuttgart.


[Seite 145] Geschichte und Bedeutung der Bahailehre.

Die Bahai-Bewegung tritt vor allem ein für die „Universale Religion" und den „Universalen Frieden“ — die Hoffnung aller Zeitalter. Sie zeigt den Weg und die Mittel, die zur Einigung der Menschheit unter dem hohen Banner der Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit führen. Sie ist göttlich ihrem Ursprung nach, menschlich in ihrer Darstellung, praktisch für jede Lebenslage. In Glaubenssachen gilt bei ihr nichts als die Wahrheit, in den Handlungen nichts als das Gute, in ihren Beziehungen zu den Menschen nichts als liebevoller Dienst.

Zur Aufklärung für diejenigen, die noch wenig oder nichts von der Bahaibewegung wissen, führen wir hier Folgendes an: „Die Bahaireligion ging aus dem Babismus hervor. Sie ist die Religion der Nachfolger Baha ’Ullahs, Mirza Hussein Ali Nuri (welches sein eigentlicher Name war) wurde im Jahre 1817 in Teheran (Persien) geboren. Vom Jahr 1844 an war er einer der angesehensten Anhänger des Bab und widmete sich der Verbreitung seiner Lehren in Persien. Nach dem Märtyrertod des Bab wurde er mit den Hauptanhängern desselben von der türkischen Regierung nach Bagdad und später nach Konstantinopel und Adrianopel verbannt. In Bagdad verkündete er seine göttliche Sendung (als „Der, den Gott offenbaren werde") und erklärte, daß er der sei, den der Bab in seinen Schriften als die „Große Manifestation", die in den letzten Tagen kommen werde, angekündigt und verheißen hatte. In seinen Briefen an die Regenten der bedeutendsten Staaten Europas forderte er diese auf, sie möchten ihm bei der Hochhaltung der Religion und bei der Einführung des universalen Friedens beistehen. Nach dem öffentlichen Hervortreten Baha ’Ullahs wurden seine Anhänger, die ihn als den Verheißenen anerkannten, Bahai (Kinder des Lichts) genannt. Im Jahr 1868 wurde Baha ’Ullah vom Sultan der Türkei nach Akka in Syrien verbannt, wo er den größten Teil seiner lehrreichen Werke verfaßte und wo er am 28. Mai 1892 starb. Zuvor übertrug er seinem Sohn Abbas Effendi (Abdul Baha) die Verbreitung seiner Lehre und bestimmte ihn zum Mittelpunkt und Lehrer für alle Bahai der Welt.

Es gibt nicht nur in den mohammedanischen Ländern Bahai, sondern auch in allen Ländern Europas, sowie in Amerika, Japan, Indien, China etc. Dies kommt daher, daß Baha ’Ullah den Babismus, der mehr nationale Bedeutung hatte, in eine universale Religion umwandelte, die als die Erfüllung und Vollendung aller bisherigen Religionen gelten kann. Die Juden erwarten den Messias, die Christen das Wiederkommen Christi, die Mohammedaner den Mahdi, die Buddhisten den fünften Buddha, die Zoroastrier den Schah Bahram, die Hindus die Wiederverkörperung Krischnas und die Atheisten — eine bessere soziale Organisation.

In Baha ’Ullah sind alle diese Erwartungen erfüllt. Seine Lehre beseitigt alle Eifersucht und Feindseligkeit, die zwischen den verschiedenen Religionen besteht; sie befreit die Religionen von ihren Verfälschungen, die im Lauf der Zeit durch Einführung von Dogmen und Riten entstanden und bringt sie alle durch Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Reinheit in Einklang. In der Bahaireligion gibt es keine Priesterschaft und keine religiösen Zeremonien. Ihr einziges Dogma ist der Glaube an den einigen Gott und an seine Manifestationen (Zoroaster, Buddha, Mose, Jesus, Mohammed, Baha ’Ullah),

Die Hauptschriften Baha ’Ullahs sind der Kitab el Ighan (Buch der Gewißheit), der Kitab el Akdas (Buch der Gesetze), der Kitab el Ahd (Buch des Bundes) und zahlreiche Sendschreiben, genannt „Tablets“, die er an die wichtigsten Herrscher oder an Privatpersonen richtete. Rituale haben keinen Platz in dieser Religion; letztere muß vielmehr in allen Handlungen des Lebens zum Ausdruck kommen und in wahrer Gottes- und Nächstenliebe gipfeln. Jedermann muß einen Beruf haben und ihn ausüben. Gute Erziehung der Kinder ist zur Pflicht gemacht und geregelt. Niemand ist mit der Macht betraut, Sündenbekenntnisse entgegenzunehmen oder Absolution zu erteilen.

Die Priester der bestehenden Religionen sollen den Zölibat (Ehelosigkeit) aufgeben, durch ihr Beispiel predigen und sich im praktischen Leben unter das Volk mischen. Monogamie (die Einehe) ist allgemein gefordert, Streitfragen, welche nicht anders beigelegt werden können, sind der Entscheidung des Zivilgesetzes jeden Landes und dem Bait’ul’Adl oder „Haus der Gerechtigkeit“, das durch Baha ’Ullah eingesetzt wurde, unterworfen. Achtung gegenüber jeder Regierungs- und Staatseinrichtung ist als einem Teil der Achtung, die wir Gott schulden, gefordert. Um die Kriege aus der Welt zu schaffen, ist ein internationaler Schiedsgerichtshof zu errichten. Auch soll neben der Muttersprache eine universale Einheits-Sprache eingeführt werden. „Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die Tropfen eines Meeres“ sagt Baha ’Ullah.

Es ist also weniger die Einführung einer neuen Religion, als die Erneuerung und Vereinigung aller Religionen, was heute von Abdul Baha erstrebt wird. (Vgl. Naveau Larousse, illustré supplement, p. 66.)