Sonne der Wahrheit/Jahrgang 6/Heft 10/Text

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SONNE

DER

WAHRHEIT
Heft X DEZ. 1926
ORGAN DES DEUTSCHEN BAHAI-BUNDES STUTTGART


[Seite 144] Abdu’l-Bahás Erläuterung der Bahai-Prinzipien.


1. Die ganze Menschheit muss als Einheit betrachtet werden.

Baha’u’lláh wandte Sich an die gesamte Menschheit mit den Worten: „Ihr seid alle die Blätter eines Zweigs und die Früchte eines Baumes“. Das heißt: die Menschheit gleicht einem Baum und die Nationen oder Völker gleichen den verschiedenen Aesten und Zweigen; die einzelnen Menschen aber gleichen den Blüten und Früchten dieses Baumes. In dieser Weise stellte Baha’u’lláh das Prinzip der Einheit der Menschheit dar. Baha’u’lláh verkündigte die Einheit der ganzen Menschheit, er versenkte sie alle im Meer der göttlichen Gnade.


2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.

In religiösen Fragen sollte niemand blindlings seinen Eltern und Voreltern folgen. Jeder muß mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören und die Wahrheit suchen, denn die Religionen sind häufig nichts anderes als Nachahmungen des von den Eltern und Voreltern übernommenen Glaubens.


3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.

Alle göttlichen Verordnungen beruhen auf ein und derselben Wirklichkeit. Diese Grundlage ist die Wahrheit und bildet eine Einheit, nicht eine Mehrheit. Daher beruhen alle Religionen auf einer einheitlichen Grundlage. Im Laufe der Zeit sind gewisse Formen und Zeremonien der Religion beigefügt worden. Dieses bigotte menschliche Beiwerk ist unwesentlich und nebensächlich und verursacht die Abweichungen und Streitigkeiten unter den Religionen. Wenn wir aber diese äußere Form beiseite legen und die Wirklichkeit suchen, so zeigt sich, daß es nur eine göttliche Religion gibt.


4. Die Religion muss die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.

Die Religion ist für die Menschheit die größte göttliche Gabe, die Ursache des wahren Lebens und hohen sittlichen Wertes; sie führt den Menschen zum ewigen Leben. Die Religion sollte weder Haß und Feindschaft noch Tyrannei und Ungerechtigkeiten verursachen. Gegenüber einer Religion, die zu Mißhelligkeit und Zwietracht, zu Spaltungen und Streitigkeiten führt, wäre Religionslosigkeit vorzuziehen. Die religiösen Lehren sind für die Seele das, was die Arznei für den Kranken ist. Wenn aber ein Heilmittel die Krankheit verschlimmert, so ist es besser, es nicht anzuwenden.


5. Die Religion muss mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.

Die Religion muß mit der Wissenschaft übereinstimmen und der Vernunft entsprechen, so daß die Wissenschaft die Religion, die Religion die Wissenschaft stützt. Diese beiden müssen unauflöslich miteinander verbunden sein.


6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.

Dies ist eine besondere Lehre Baha’u’lláhs, denn die früheren Religionen stellen die Männer über die Frauen. Töchter und Söhne müssen gleichwertige Erziehung und Bildung genießen. Dies wird viel zum Fortschritt und zur Einigung der Menschheit beitragen.


7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.

Alle Propheten Gottes kamen, um die Menschen zu einigen, nicht um sie zu trennen. Sie kamen, um das Gesetz der Liebe zu verwirklichen, nicht um Feindschaft unter sie zu bringen. Daher müssen alle Vorurteile rassischer, völkischer, politischer oder religiöser Art abgelegt werden. Wir müssen zur Ursache der Einigung der ganzen Menschheit werden.


8. Der Weltfriede muss verwirklicht werden.

Alle Menschen und Nationen sollen sich bemühen, Frieden unter sich zu schließen. Sie sollen darnach streben, daß der universale Friede zwischen allen Regierungen, Religionen, Rassen und zwischen den Bewohnern der ganzen Welt verwirklicht wird. Die Errichtung des Weltfriedens ist heutzutage die wichtigste Angelegenheit. Die Verwirklichung dieses Prinzips ist eine schreiende Notwendigkeit unserer Zeit.


9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung geniessen.

Alle Menschen müssen erzogen und belehrt werden. Eine Forderung der Religion ist, daß jedermann erzogen werde und daß er die Möglichkeit habe, Wissen und Kenntnisse zu erwerben. Die Erziehung jedes Kindes ist unerläßliche Pflicht. Für Elternlose und Unbemittelte hat die Gemeinde zu sorgen.


10. Die soziale Frage muss gelöst werden.

Keiner der früheren Religionsstifter hat die soziale Frage in so umfassender, vergeistigter Weise gelöst wie Baha’u’lláh. Er hat Anordnungen getroffen, welche die Wohlfahrt und das Glück der ganzen Menschheit sichern. Wenn sich der Reiche eines schönen, sorglosen Lebens erfreut, so hat auch der Arme ein Anrecht auf ein trautes Heim und ein sorgenfreies Dasein. Solange die bisherigen Verhältnisse dauern, wird kein wahrhaft glücklicher Zustand für den Menschen erreicht werden. Vor Gott sind alle Menschen gleich berechtigt, vor Ihm gibt es kein Ansehen der Person; alle stehen im Schutze seiner Gerechtigkeit.


11. Es muss eine Einheitssprache und Einheitsschrift eingeführt werden.

Baha’u’lláh befahl die Einführung einer Welteinheitssprache. Es muß aus allen Ländern ein Ausschuß zusammentreten, der zur Erleichterung des internationalen Verkehrs entweder eine schon bestehende Sprache zur Weitsprache erklären oder eine neue Sprache als Weltsprache schaffen soll; diese Sprache muß in allen Schulen und Hochschulen der Welt gelehrt werden, damit dann niemand mehr nötig hat, außer dieser Sprache und seiner Muttersprache eine weitere zu erlernen.


12. Es muss ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.

Nach dem Gebot Gottes soll durch das ernstliche Bestreben aller Menschen ein Weltschiedsgerichtshof geschaffen werden, der die Streitigkeiten aller Nationen schlichten soll und dessen Entscheidung sich jedermann unterzuordnen hat.

Vor mehr als 50 Jahren befahl Baha’u’lláh der Menschheit, den Weltfrieden aufzurichten und rief alle Nationen zum „internationalen Ausgleich“, damit alle Grenzfragen sowie die Fragen nationaler Ehre, nationalen Eigentums und aller internationalen Lebensinteressen durch ein schiedsrichterliches „Haus der Gerechtigkeit" entschieden werden können.


Baha’u’lláh verkündigte diese Prinzipien allen Herrschern der Welt. Sie sind der Geist und das Licht dieses Zeitalters. Von ihrer Verwirklichung hängt das Wohlergehen für unsere Zeit und das der gesamten Menschheit ab.

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SONNE    DER  WAHRHEIT
Organ des Bahai-Bundes, Deutscher Zweig
Herausgegeben vom Verlag des Bahai-Bundes, Deutscher Zweig, Stuttgart
Verantwortliche Schriftleitung: Alice Schwarz - Solivo, Stuttgart, Alexanderstraße 3
Preis vierteljährlich 1,80 Goldmark, im Ausland 2.– Goldmark.
Heft 10 Stuttgart, im Dezember 1926 6. Jahrgang

Inhalt: Shoghi Effendi an die Freunde, Bekenntnis der Königin Marie von Rumänien. — Aus: „Das Geheimnis der göttlichen Zivilisation“ von 'Abdu'l-Bahá. — Baha’u’llah und das Neue Zeitalter. — Professor Charles Baudouin’s Artikel.


Motto: Einheit der Menschheit — Universaler Friede — Universale Religion



Die Bahai-Bewegung verleiht dem Menschen einen neuen Geist, eine neue Erleuchtung und neuen Fortschritt. Sie erweitert die Sphäre der Gedanken. Sie erleuchtet den Horizont der Vernunft. Sie vergrößert das Feld des Verständnisses. Sie erweitert das Begriffsvermögen.

»O Volk Gottes! Sei nicht mit dir selbst beschäftigt, sondern beschäftige dich allen Ernstes mit der Besserung der Welt und der Erziehung der Nationen.

Bahá’u’lláh.


Der Freund, der seinesgleichen nicht hat, spricht: Der Weg zur Freiheit steht offen, o eilt, eilt dahin! Der Quell der Erkenntnis bricht hervor, trinkt alle davon.

Sprecht: O ihr Freunde, das Zelt der Einheit ist errichtet, schaut euch nicht mit fremden Augen an, denn ihr seid alle die Frucht eines Baumes und die Blätter eines Zweigs.

Wahrlich ich sage, alles was die Unwissenheit verringert und Wissen fördert, ist vor dem allmächtigen Schöpfer angenehm.

Bahá’u’lláh.




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Shoghi Effendi an die Freunde.

Liebe Mitarbeiter im göttlichen Weinberg!

Es wird einen jeden von Euch beruhigen und erfreuen zu erfahren, daß aus verschiedenen Zentren kürzlich ins heilige Land Nachrichten von neuen Entwicklungen kamen, die einen deutlichen Beweis dafür bilden, daß jene verborgenen und alles umgestaltenden Einflüsse aus Bahá’u’lláhs geheimer Macht mit zunehmender Lebenskraft immer tiefer in das gequälte Herz der Welt strömen.

Sowohl in den weiteren Gebieten Seiner geistigen Eroberung, wo Sein unbezwinglicher Geist am Werk ist, die Höhen zu erobern und die Massen zu durchdringen, als auch in der allmählichen Vereinigung der Verwaltungen, deren Erhebung u. Festigung Seine erklärten Nachfolger in der ganzen Welt ausarbeiten, verspricht der Glaube an Bahá’u’lláh, wie wir mehr und mehr wahrnehmen können, jene Stärke anzunehmen, die, obwohl bis jetzt noch nicht universell anerkannt, dennoch von niemand verkleinert oder übergangen werden kann.

Bei der mutigen und wiederholten Zeugenschaft, die Ihre Majestät die Königin Marie von Rumänien vor der ganzen Welt abgelegt hat, — ich füge Abschrift ihrer letzten Kundgebung hier bei — erkennen wir deutlich die Wahrzeichen jener unwiderstehlichen Macht, jener zunehmenden Lebenskraft, jenes außergewöhnlichen Wirkens eines Glaubens, der dazu bestimmt ist, die Welt zu erneuern. Das überraschende Tribut, das Ihre Majestät der erleuchtenden Macht der Lehre Bahá’u’lláhs und 'Abdu'l-Bahás zollt, kann wohl eine völlige Umwandlung in der Haltung vieler hervorrufen, einem Glauben gegenüber, der so oftmals mißverstanden und schwer vernachlässigt worden ist. Es wird den Erleuchteten und Kultivierten als neue Anregung dienen, selbst mit offenem Sinn der Wahrheit dieser Botschaft und der Quelle ihrer lebenspendenden Prinzipien nachzuforschen.

Ferner kommt aus Bagdad, wo die geheiligte Wohnstätte Bahá’u’lláhs von einem erbitterten Feind entwürdigt u. zu einem Mittelpunkt des Spottes für die Bestechlichen, die Verstockten und die Fanatiker gemacht wurde, eine Botschaft, die uns alle des befriedigenden Fortschritts der Verhandlungen versichert, die, wie uns hochstehende und maßgebende Persönlichkeiten zusichern, baldigst zu einer Zwangsversteigerung des Besitzes durch den Staat führen werden und zur gegebenen Zeit ihrer Bestimmung, der Besitznahme durch die siegenden Nachfolger in Gottes heiligem Glauben gipfeln werden. Die Angelegenheit der Häuser, die so geschickt vertreten ist, so beharrlich verfolgt und vor allem unterstützt wird von der wachsamen und schützenden Macht unseres verewigten Meisters, wird schließlich siegen und durch ihre Rückkehr nach Persien, wie in der Welt überhaupt, eine mächtige Triebkraft für die Freiwerdung jener Kräfte sein, die die Lehre ihrer letzten Bestimmung zuführen werden. Ich werde, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, die Gläubigen durch ihre Geistigen Nationalräte benachrichtigen, damit sie Dankschreiben und den Ausdruck ihrer Ergebenheit an die maßgebenden Autoritäten in Anbetracht ihrer ungezählten Bemühungen zum Sieg für Recht und Gerechtigkeit senden.

Für den Augenblick können wir uns nur freuen und, da wir von so vielen Seiten die willkommenen Zeichen der allmählichen Befreiung des sich durchsetzenden Glaubens Bahá’u’lláhs bezeugen können, die zunehmende Erkenntnis sowohl Seiner hohen wie untergeordneten universalen Prinzipien dankbarst empfinden, die alle so reich sind in ihrer Verheißung des endlichen Sieges.

Euer treuer Bruder

gez. Shoghi.

Haifa, Palästine, 29. Oktober 1926.


An die Geliebten Gottes und die Dienerinnen des Gnadenreichen im Westen.

Wenn man natürlich den Standpunkt vertritt, daß die Schöpfung kein Endziel hat, so ist es leicht, die Frage von Leben und Tod mit einem Achselzucken abzutun und zu sagen „alles geht zu Ende, und nichts kommt hinterher“.

Wie schwer ist es aber, das Universum unserer Welt, das Tier-, das Pflanzenreich und die Menschen aufgeben zu müssen. Wie deutlich sieht man einen Plan in allen Dingen. Wie unausdenkbar ist es, daß die wunderbare Entwicklung aufhören sollte, die den menschlichen Körper, sein Gehirn und sein Geist zu dem gemacht hat, was er ist. Warum sollte sie auch aufhören? Warum ist es nicht logisch, daß sie weiterbesteht? Nicht der Körper, der nur als Werkzeug dient, sondern der unsichtbare Funke oder das Feuer, das in diesem Körper wohnt, das den Menschen mit dem umfassenden Plan der Schöpfung eins macht.

[Seite 147] Meine Worte sind zu schwach, und warum sollte ich mich um Ansichten verkämpfen, wenn ich die Worte des Einen anführen kann, der dies so restlos erklärt hat. 'Abdu'l-Bahá, den ich kenne, würde die Anführung Seiner Worte genehmigen.

„Die ganze materielle Schöpfung ist vergänglich, die materiellen Körper sind aus Atomen zusammengesetzt. Wenn diese Atome sich zu trennen anfangen, so setzt die Auflösung ein. Dann tritt das ein, was wir den Tod nennen.




An der Meeresbucht zwischen Haifa und Akka. (Im Hintergrund der Karmel.)


Diese Zusammensetzung von Atomen, die den Körper darstellt, oder das vergängliche Element aller erschaffenen Lebewesen, ist zeitlich. Wenn die Anziehungskraft, welche die Atome zusammenhält, aufgehoben wird, so hört der Körper als solcher zu bestehen auf.

Mit der Seele verhält es sich anders. Die Seele ist keine Zusammensetzung von Elementen, sie ist nicht aus vielen Atomen zusammengefügt, sie besteht aus einer unsichtbaren Substanz und ist deshalb ewig. Sie steht gänzlich außerhalb den Gesetzen der [Seite 148] materiellen Welt; sie ist unvergänglich! Die Seele ist eine unsichtbare, unteilbare Substanz, die weder der Auflösung noch der Zerstörung unterliegt. Es liegt deshalb keine Ursache vor, daß sie ein Ende erleiden sollte.

Ziehen wir den Zweck der Schöpfung in Betracht: ist es möglich, daß alles geschaffen wurde, um sich durch zahllose Zeitläufe hindurch zu entfalten mit nur diesem kurzen Ziel und für einige wenige Jahre des menschlichen Lebens auf Erden? Ist es nicht undenkbar, daß dies das Endziel der Existenz sein sollte. Hört ein Mensch auf zu bestehen, wenn er seinen Körper verläßt? Wenn sein Leben zu Ende ginge, dann wäre alle vorhergegangene Entwicklung zwecklos. Alles wär umsonst. Alle diese Aeonen von Entwicklungen umsonst. Können wir uns vorstellen, daß die Schöpfung kein größeres Ziel als dies hätte?

Allein schon die Existenz des menschlichen Verstandes beweist seine Unsterblichkeit. Sein Verstand ist der Vermittler zwischen seinem Körper und seinem Geist. Wenn der Mensch seinem Geist durch seine Seele einräumt, sein Verständnis zu erleuchten, dann enthält er in sich die ganze Schöpfung, da der Mensch der Kulminationspunkt alles dessen ist, was vorausgegangen ist und somit über allen vorherigen Entwicklungen stehend, alle niedrigere, bereits entwickelte Welt in sich selbst trägt. Erleuchtet durch den Geist vermittelst des Instruments der Seele, macht die leuchtende Erkenntnis des Menschen ihn zur Krone der Schöpfung!“

So erklärt uns 'Abdu'l-Bahá die Seele - die höchste überzeugendste Aufklärung, die ich kenne.

von Marie, Königin von Rumänien.

aus The Toronto Daily Star, 28. Sept. 1926.



Aus: „Das Geheimnis der Göttlichen Zivilisation“

von 'Abdu'l-Bahá.

„Wenn wir überlegen, wird es gewiß in uns klar, daß in der Daseinswelt, innerlich oder äußerlich, die Religion die dauerndste Gründung ist, der edelste und mächtigste Bau, der die ganze Schöpfung überragt, der die Ausgießung des Geistes und der menschlichen Eigenschaften sichert und die Menschen zur Herrschaft des wahren Glückes und Wohlergehens führt. Einige Unwissende mögen immerhin ein ernstes tiefes Studium des Urwesens und der göttlichen Offenbarung unterlassen und als Flagge die falsche Führung und die Ablehnung erkoren haben, sie haben herausgeklügelt, daß Religion ein Hindernis des wahren Fortschrittes ist, ja sogar der eigentliche Grund des Streites und der Uneinigkeit und die Quelle tiefsten Hasses und der Feindseligkeit der verschiedenen Staaten der Welt. Wie schwer sie darin auch fehlen mögen, der Grundgedanke der Gotteslehre kann in keiner Weise an ihren Taten gemessen werden, da alles Gute auf der Welt, einerlei, ob auch einzig dastehend im Wesen, der Mißdeutung und dem Mißbrauch ausgesetzt ist. Eine leuchtende Lampe z.B. wird, wenn sie in den Händen von Toren, Irren oder Unreifen ist, ihren Glanz einbüßen, wird aufhören das Dunkel zu erhellen, kann sogar ihren Hüter in Brand setzen und sich selbst verzehren. Kann nun gesagt werden, daß die Lampe schuld daran sein soll? Bei Gottes Güte! Die Lampe zeigt den Weg und ist der Lichtspender dem Einsichtsvollen! Wie traurig ist also der Zustand des Blinden.

Es ist offenbar und tatsächlich, daß das größte aller Mittel zum Fortschritt und zum Vorwärtskommen aller Völker, wie auch das mächtigste Werkzeug, um die wahre Civilisation in die Welt zu bringen, vollendete Liebe, Zusammenhalt und Eintracht unter den Menschen ist. Nichts auf der Welt kann begriffen oder vollbracht werden ohne die Kraft der Einheit, der Harmonie und der Eintracht, der beste Weg hierzu ist der wahre Gottesglaube.

Bedenke, wie sehr die Macht der wahren Einheit bei der Mission der Gotteslehre die Menschen und Völker der Erde zusammengeschlossen hat und unter den Schatten des Einzigen Wortes Gottes vereinigt. Wo immer wahre Religion, die Ursache der Civilisation, des Ruhmes, des Glückes, der Ehre, der Erleuchtung und des Fortschrittes für die zurückgebliebenen, versklavten und unwissenden Völker, in die Hände törichter, fanatischer Priester kam, wurde sie so sehr mißbraucht, daß das große Licht sich in tiefste Finsternis verwandelte. Bei dem einzigen wahren Gott! Die kleinsten Elemente der materiellen Welt verdanken ihr Dasein der unerschöpflichen Gottesgnade der Propheten. Was kann in der Welt [Seite 149] erdacht werden, laut oder still, was nicht in der heiligen Schrift schon niedergelegt ist? Aber was nützt dies alles? Solange die Waffe in der Hand von Memmen ist, ist weder Leben noch Eigentum sicher, die Macht des Wegelagerers nimmt dadurch nur zu.“

Übers. Getrud Bauer.



Bahá’u’lláh und das Neue Zeitalter.

Von Dr. J. E. Esslemont. Uebersetzung v. H. Küstner.

XI. Kapitel.

Verschiedene Anordnungen und Lehren.

„Wisse, daß in jedem Zeitalter und bei jeder Ausgießung alle göttlichen Regeln geändert und dem Erfordernis der Zeit entsprechend gewandelt wurden, das Gesetz der Liebe ausgenommen, das einer Quelle gleich immer floß, und das nie einer Aenderung unterworfen wird.“

(Bahá’u’lláh)


Mönchsleben.

Wie schon Mohammed, verbietet auch Bahá’u’lláh Seinen Nachfolgern, ein Leben mönchischer Abschließung zu führen.

Im Tablet an Napoleon III lesen wir:

„Sage: O, ihr Mönche allzumal! Sondert euch nicht ab in Zellen und Klöstern; nein, verlaßt sie auf mein Geheiß, und verpflichtet euch zu dem, was euern Seelen und den Seelen der Menschen nützt...

Tretet ein in die Ehe, damit ihr Nachkommen habt, denn Wir haben die Unreinheit beseitigt und Euch Treue auferlegt. Ihr seid euern eigenen Weg gegangen und habt dem Weg des Herrn den Rücken gekehrt. Fürchtet den Herrn und seid nicht töricht. Was aber die Menschen anbetrifft, wer sonst könnte Meiner Erwähnung tun in Meinem Lande, und wie sonst könnten Meine Merkmale und Eigenschaften geoffenbart werden? Denket darüber nach, und seid nicht von denen, die verschleiert sind und schlafen. Er, der sich nicht verheiratete, (d. i. Jesus), fand keinen Ort, wo er hätte wohnen können, noch ein Obdach, wohin er hätte sein Haupt legen können, und dies der Verräterei wegen, der er ausgesetzt war. Die Heiligkeit seiner Seele hing nicht von dem ab, was ihr euch an eitler Einbildung zurecht gelegt habt und heget, sondern davon, was Wir haben. Fraget, damit ihr seine Stufe erkennet, die über die Vorstellungen aller hinausgeht, die auf Erden sind. Gesegnet sind die, die sie erkennen!“

Erscheint es nicht seltsam, daß christliche Sekten das Mönchsleben und das Cölibat für die Geistlichkeit eingeführt haben angesichts der Tatsache, daß Christus verheiratete Männer zu seinen Jüngern erwählte, und er selbst sowohl wie seine Apostel ein Leben tätigen Wohltuns lebten, in enger Verbindung und vertrautem Umgang mit den Menschen ?

Im Koran Mohammeds lesen wir:

„Jesus, dem Sohn der Maria, gaben wir das Evangelium, und wir legten in die Herzen derer, die ihm nachfolgten, Freundlichkeit und Mitleid: was aber das Mönchsleben anbelangt, das haben sie selbst erfunden. Den Wunsch nach Gottes Wohlgefallen allein schrieben Wir ihnen vor, und daran hielten sie sich nicht so, wie es sich gebührt hätte.“

(Koran Sure 57, V. 27).

Welche Berechtigung für das Mönchsleben auch immer in alten Zeiten und vergangenen Verhältnissen bestanden haben mag, Bahá’u’lláh erklärt, daß solch eine Berechtigung nicht länger vorhanden ist; und in der Tat, es ist unverkennbar, daß der Austritt einer großen Zahl der Frömmsten und Gottesfürchtigsten der Bevölkerung aus der Gemeinschaft mit ihren Mitmenschen und ihr Zurückweichen vor den Pflichten und der Verantwortlichkeit der Elternschaft eine geistige Verarmung der Rasse zufolge hat.


Verheiratung.

Die Baháilehren anempfehlen die Einehe, und Bahá’u’lláh macht die Heirat abhängig von der Zustimmung beider Beteiligten und ihrer Eltern. Er sagt in dem Buch Aqdas:

„Wahrlich, im Buch Beyan (geoffenbart vom Báb) ist die Sache abhängig gemacht von der Zustimmung der beiden (der Braut und des Bräutigams). Weil wir wünschten, Liebe und Freundschaft und die Einigkeit unter den Menschen zustandezubringen, fügten wir als weitere Bedingung auch die Zustimmung der Eltern hinzu, damit Feindschaft und Uebelwollen vermieden würden.“


[Seite 150] Ueber diesen Punkt schrieb 'Abdu'l-Bahá an einen Fragesteller:

„Was die Frage der Verheiratung in Beziehung auf das Gesetz Gottes betrifft: Zunächst mußt du deine Wahl treffen, und dann hängt es ab von der Zustimmung von Vater und Mutter. Ehe du nicht gewählt hast, haben diese kein Recht, sich darein zu mischen.“

(Tablets v. 'Abdu'l-Bahá Band III S. 563)

'Abdu'l-Bahá sagt, daß infolge dieser Vorsichtsmaßregel Bahá’u’lláhs die gespannten Beziehungen zwischen Angeheirateten, die in christlichen und mohammedanischen Ländern sprichwörtlich geworden sind, unter den Baháis beinahe unbekannt seien, und daß die Ehescheidung ein ebenso seltenes Ereignis sei. Er schreibt über die Ehe:

„Die Baháiverlobung bedeutet vollkommene Zustimmung und völlige Einwilligung beider Teile. Sie müssen einander die größte Aufmerksamkeit erweisen, und eins sich mit dem Charakter des andern vertraut machen. Der feste Bund zwischen ihnen muß eine ewige Bindung werden, und ihr Vorsatz muß dauernd Verwandtschaft, Freundschaft, Einigkeit auf Lebenszeit sein.

Der Bräutigam muß vor dem Brautführer und einigen Andern sagen: „Wahrlich, wir sind zufrieden mit Gottes Willen“, und die Braut muß erwidern: „Wahrlich, es genüge uns, was Gott wünscht.“

Die Heirat von Baháis bedeutet, daß Mann und Frau geistig und physisch eins werden müssen, damit sie ewig geeinigt sind in allen göttlichen Welten und einander im geistigen Leben vervollkommnen. Dies ist Bahái-Ehe.“

(Tablets v. 'Abdu'l-Bahá, Bd. II S. 325)


Scheidung.

Im Punkt der Scheidung wie in dem der Heirat sind die Anweisungen der Propheten den Zeitverhältnissen entsprechend voneinander abgewichen. 'Abdu'l-Bahá stellt die Baháilehre bezüglich der Scheidung folgendermaßen dar:

„Die Freunde (Baháis) müssen sich streng einer Scheidung enthalten, ehe etwas vorgekommen ist, das sie zwingt, sich aus gegenseitiger Abneigung zu trennen; in solchem Falle mögen sie sich mit Kenntnis der Geistigen Arbeitsgemeinschaft entschließen, sich zu trennen. Sie müssen dann geduldig sein und ein volles Jahr warten. Wenn während dieses Jahrs die Harmonie zwischen ihnen nicht wieder hergestellt wird, dann mag ihre Scheidung vor sich gehen... Die Grundlage des Königreichs Gottes ist Harmonie und Liebe, Einheit, Verwandtschaft und Einigkeit, nicht Zwietracht, besonders nicht Uneinigkeit zwischen Mann und Frau. Wer von beiden die Schuld an der Scheidung trägt, wird unfehlbar in große Schwierigkeiten geraten, wird das Opfer schrecklichen Unglücks werden und wird tiefe Gewissensbisse leiden.“

(Tablets an die Bahái in Amerika)

Im Punkt der Scheidung wie in andern Angelegenheiten werden die Baháis natürlich nicht allein durch die Baháilehre gebunden sein, sondern auch durch die Gesetze des Landes, in dem sie leben.


Der Bahái-Kalender.

Bei den verschiedenen Völkern und zu den verschiedenen Zeiten wurden verschiedene Systeme gewählt für die Zeitrechnung und für das Festlegen von Daten, und noch heute sind verschiedene voneinander abweichende Kalender in täglichem Gebrauch, wie der gregorianische in Westeuropa, der julianische in manchen Ländern Osteuropas, der jüdische bei den Juden, und der mohammedanische bei den Gemeinschaften des Islam.

Der Báb kennzeichnete die Wichtigkeit des Zeitalters, als dessen Herold er kam, durch die Einführung eines neuen Kalenders. In diesem ist wie im gregorianischen Kalender der Mond-Monat fallen gelassen und das Sonnenjahr gewählt.

Das Bahái-Jahr besteht aus 19 Monaten zu je 19 Tagen (was 361 Tage ergibt), mit der Hinzunahme gewisser „eingeschobener Tage" (vier im gewöhnlichen und fünf im Schaltjahr) zwischen dem 18. und dem 19. Monat, um den Kalender dem Sonnenjahr anzupassen. Der Báb nannte die Monate nach den Attributen Gottes. Das Bahái-Neujahr ist, gleich dem alten Persischen Neujahr, astronomisch festgelegt, beginnend beim März-Aequinoktium (21. März). Das Bahái-Zeitalter beginnt mit dem Jahr der Erklärung des Báb (1844 n. Chr., 1260 nach der Hedschra).

In nicht ferner Zeit wird es nötig werden, daß alle Völker der Welt sich auf einen gemeinsamen Kalender einigen.

Es erscheint daher durchaus angebracht, daß das neue Zeitalter der Einheit auch einen neuen Kalender bringt, frei von den Einwendungen und Zusammenhängen, die jeden der älteren Kalender unannehmbar für weitere Teile der Weltbevölkerung machen, und es ist schwer, abzusehen, welch andere Anordnung sich durch die gleiche [Seite 151] Einfachheit und Bequemlichkeit auszeichnen könnte, wie die, welche der Báb vorschlug.*)

  • ) Hier folgen die Monate nach dem Bahái-Kalender:


Monat Arabischer Name Uebersetzung Die ersten Tage fallen auf:

1. Bahá Glanz 21. März

2. Jalal Herrlichkeit 9. April

3. Jamal Schönheit 28. April

4. Azamat Größe 17. Mai

5. Nur Licht. 5. Juni

6. Rahmat Barmherzigkeit 24. Juni

T. Kalimat Worte 13. Juli

8. Asma Namen 1. August

9. Kamal Vollkommenheit 20. August

10. Izzat Macht 8. September

11. Mashiyyat Wille 27. September

12. Ilm Erkenntnis 16. Oktober

13. Qudrat Stärke 4. November

14. Qawl Sprache 23. November

15. Masa’il Fragen 12. Dezember

16. Sharaf Ehre 31. Dezember

17. Sultan Herrschaft 19. Januar

18. Mulk Oberherrschaft 7. Februar

Eingeschobene Tage, 26. Februar bis 1. März einschl.

19. Ula Erhabenheit 2. März


Anmerkung des Übersetzers:

Wie man liest, ist kürzlich in Genf eine Kalenderreform-Kommission im Auftrag des Völkerbunds zusammengetreten zur Herbeiführung einer zweckmäßigeren und den Lebensbedingungen der Jetztzeit besser entsprechenden Einteilung des Kalenderjahrs. Einer der Reformpläne, mit denen sich diese Völkerbunds-Kommission zu beschäftigen haben wird, geht dahin, ein symmetrisches Jahr zu schaffen, das aus 12 Monaten mit je 5 Wochen zu sechs Tagen bestehen soll.

Wohl jeder von uns Bahái hat sich schon einmal Gedanken gemacht, wie sich wohl der Befehl Bahá’u’lláhs, Monate mit 19 Tagen einzuführen, in die Wirklichkeit umsetzen lassen wird. Die Einsetzung der Sechstagewoche würde hier sofort Bahn schaffen und auch die Durchführung eines anderen Gebots der Bahái-Lehre ermöglichen, nämlich die Feier des Monatsersten (Einigkeitsfest). Dieser würde dann eben keiner Woche zugewiesen.


Geistige Arbeitsgemeinschaften.

An jedem Punkt, wo sich mehr als neun Bahái befinden, ist vorschriftsgemäß eine „Geistige Arbeitsgemeinschaft" oder ein Geistiger Rat zu wählen, der in diesem Gebiet die Tätigkeit der Freunde regelt und ineinander einordnet. Der folgende Bericht über die Geistigen Arbeitsgemeinschaften in den Städten Persiens wurde dem Verfasser von Jinab-i-Asadu’llah Fadil (von Mazindaran) zur Verfügung gestellt. Er zeigt überaus klar die Art und Weise der Bahái-Organisation auf.

„Die Hauptpflichten der Geistigen Arbeitsgemeinschaft sind folgende:

1. Veranstaltungen zu treffen zur Verbreitung der Lehre unter den Leuten mittelst Versammlungen, Literatur usw.

Hauptversammlungen, bei denen auch Nicht-Gläubige willkommen sind, finden mehrmals die Woche statt zum Lehren und Anleiten der Menschen und zur Anziehung und Stärkung für die neuen Baháis.

2. Vorkehrungen zu treffen zur Unterstützung für Arme und Bedürftige, aus Kreisen der Bahái wie der Nicht-Bahái. Wenn sich einer der Freunde in irgend einer Not befindet, häuslicher, geschäftlicher oder geistiger Art, so kann er sich an die Geistige Arbeitsgemeinschaft wenden, die ihm Rat und Hilfe zuteil werden lassen wird.

3. Erziehung, Kunst und Wissenschaft zu fördern. Die Geistige Arbeitsgemeinschaft macht sich verantwortlich, darnach zu sehen, daß ein jedes Bahái-Kind eine gute Erziehung erhält.

4. Unterricht in den Baháigesetzen. Die Geistige Arbeitsgemeinschaft bestimmt zuverlässige Lehrer, in den Hauptversammlungen die Gesetze auszulegen und die Menschen anzuhalten, sie zu befolgen. Wenn von denen, die mit den Freunden verkehren und erklären, Bahái zu sein, welche als Heuchler befunden werden und nicht ihrem Bekenntnis entsprechend leben, so veranstaltet die Geistige Arbeitsgemeinschaft besondere Versammlungen für diese Leute, und Lehrer, die weise, treu und erfahren sind, erklären ihnen ihre Pflichten und wirken auf sie ein.

5. Die Sammlung und Verwaltung der Gelder. Sammlungen werden nicht veranstaltet bei Hauptversammlungen, und das Publikum wird nicht gebeten, beizusteuern. Das Geld wird gegeben von solchen, die wahre Bahái sind. Die Geistige Arbeitsgemeinschaft führt Buch über die Namen der Beisteuernden und über die von ihnen zur Verfügung gestellten Beträge. Für die Annahme der Beiträge und die Ausstellung der Quittungen sind bestimmte Tage vorgesehen. Häufig werden auch anonyme Beiträge gestiftet. Die Geistige Arbeitsgemeinschaft bestimmt, wie die Gelder verwendet werden sollen, wieviel davon zum Lehren verwendet, wieviel zur Unterstützung der Armen genommen werden soll, usw.

6. Die Veranstaltung von Festen. Die Geistige Arbeitsgemeinschaft bestimmt ein Komitee zur Leitung der Feste. Feste werden gehalten von Gruppen von Freunden alle neunzehn Tage. Das Komitee führt über die Veranstaltung der Feste Buch. Wenn jemand ein Fest zu geben wünscht, so vereinbart er mit dem Komitee Tag, Zeit und Ort. Der eine Freund mag drei Feste das Jahr geben, der andere mehr, der andere weniger. Das Komitee führt ein zweites Buch, worin die Anordnungen für den Besuch solcher Feste durch die Bahái verzeichnet sind. Ist ein Fest auf einen bestimmten Tag festgesetzt worden, so erhält der Gastgeber Nachricht, wieviele Bahái-Besucher am Ort vorhanden sind. Kann sie der Gastgeber nicht alle bewirten, so verfahren andere Bahái ebenso. Feste für alle Bahái an einem Ort gemeinsam finden nur an bestimmten Festtagen statt, wie an Nawruz (Neujahr) und an Ridwan.

Alle Tätigkeit der Bahái in einem Distrikt sollte der Billigung durch die Geistige Arbeitsgemeinschaft unterworfen sein, und die Geistige [Seite 152] Arbeitsgemeinschaft sollte der Brennpunkt sein, von welchem das Licht des Geistes ausstrahlt. Wenn die Geistige Arbeitsgemeinschaft nicht rein und geistig ist, so kann die Sache an solchem Ort nicht gedeihen. Die Freunde müssen sich vor Augen halten, daß sie der Geistigen Arbeitsgemeinschaft in allen Dingen gehorchen müssen, die sich auf die Sache beziehen. Bei jeder Sitzung der Geistigen Arbeitsgemeinschaft wird ein Tablet vorgetragen, worin 'Abdu'l-Bahá die verschiedenen Aufgaben der Arbeitsgemeinschaft darlegt.

Die Wahl der Geistigen Arbeitsgemeinschaft wird folgendermaßen vorgenommen:

„Wenn eine Wahl erfolgen soll, wird eine Ankündigung an alle Freunde versandt. Erfahrene Bahái legen den Leuten dar, welche Eigenschaften von den Mitgliedern der Geistigen Arbeitsgemeinschaft zu verlangen sind. 'Abdu'l-Bahá sagt, das erste Erfordernis für solch ein Mitglied der Geistigen Arbeitsgemeinschaft sei die Festigkeit im Bunde. Er sollte auch erfahren sein in der Sache und hinreichend gebildet, und sein Charakter muß gut sein. Es sollten Leute gewählt werden, die in Eintracht zusammenarbeiten. Niemand sollte gewählt werden, der zur Ursache von Disharmonie werden könnte.

Die Freunde wählen eine Anzahl Vertreter, vielleicht 38, zu einem Wahlkomitee,*) und dieses Komitee bestimmt die Geistige Arbeitsgemeinschaft, deren Mitglieder nicht weniger als neun zählen sollten. In Persien haben die Frauen noch eine getrennte geistige Arbeitsgemeinschaft, aber 'Abdu'l-Bahá sagt, im Westen sollen Männer und Frauen der gleichen Arbeitsgemeinschaft angehören. Die Mitglieder werden für eine Periode von zwei oder drei Jahren gewählt. Alle treten am Ende ihrer Dienstzeit zurück und es wird dann eine neue Geistige Arbeitsgemeinschaft gewählt.“

  • ) Anm. d. Uebers.: für örtl. geistige Arb.Gemeinschaften ist

von Shoghi Effendi direkte Wahl vorgeschrieben (s.S.d.W. II S. 67 und III S. 37.


Feste.

Die ganz besondere Freudigkeit der Bahái-Religion findet ihren Ausdruck in zahlreichen Festen und Festtagen im Verlaufe des Jahrs.

In einer Ansprache beim Nawruz-Fest in Alexandria, Aegypten, sagte 'Abdu'l-Bahá im Jahre 1912:

„In jedem Zyklus und Zeitalter gibt es in den geheiligten Gesetzen Gottes gesegnete Feste, Festtage und arbeitsfreie Tage. An solchen Tagen sollten alle Arten von Beschäftigungen, Handel, Industrie, Landbau usw. unterlassen werden.

Alle sollten sich miteinander freuen, allgemeine Versammlungen abhalten, werden wie eine Gemeinschaft, damit die nationale Einheit, Einigkeit und Harmonie den Augen aller vorgeführt wird.

Weil es gesegnete Tage sind, sollten sie nicht mißbraucht oder ihres Segens beraubt werden, indem man sie zu Tagen macht, an denen man sich nur dem Vergnügen hingibt.

Das Werk solcher Tage sollte für die Menschen von dauerndem Wert und Nutzen sein.

Heute trägt nichts größeren Erfolg oder größere Frucht als die Führung der Menschen. Unzweifelhaft müssen an solch einem Tag von den Freunden Gottes fühlbar menschenfreundliche oder ideale Spuren zurückbleiben, die in die Welt hinausdringen und nicht nur den Baháis zugute kommen. In diesem wundervollen Zeitalter gelten philanthropische Angelegenheiten für die ganze Menschheit ohne Ausnahme, weil es die Manifestation der Barmherzigkeit Gottes ist. Es ist daher meine Hoffnung, daß die Freunde Gottes, jeder einzelne von ihnen, zur Gnade Gottes für alle Menschen werde.“

Die Feste von Nawruz (Neujahr) und Ridwan, die Jahrestage der Geburt des Báb und Bahá’u’lláh’s sowie der Jahrestag der Erklärung des Báb (der auch der Geburtstag von 'Abdu'l-Bahá ist), sind für die Bahái die großen Freudentage. In Persien werden sie mit einem Mahl im Freien und festlichen Versammlungen gefeiert, bei denen Musik, Singen von Liedern und Tablets geboten und kurze Ansprachen je nach der sich bietenden Gelegenheit von den Anwesenden gehalten werden. Die eingeschobenen Tage zwischen dem 18. u. dem 19. Monat (26. Febr. — 1. März einschl.) sind ganz besonders der Bewirtung der Freunde, dem Geschenkegeben und der Fürsorge für die Armen und Kranken gewidmet, usw.

Die Jahrestage vom Märtyrertum des Báb und vom Heimgang Bahá’u’lláhs und 'Abdu'l-Bahás werden durch geeignete Zusammenkünfte und Unterredungen, durch Singen von Gebeten und Tablets feierlich begangen.


Fasten.

Der neunzehnte Monat, der unmittelbar auf die Gastlichkeit der eingeschobenen Tage folgt, ist der Monat des Fastens. Neunzehn Tage lang wird vom Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gefastet, indem man sich des Essens und Trinkens enthält. Da der Monat des Fastens mit der Tag-und-Nacht-Gleiche des März endet, so fällt das Fasten immer in die gleiche Jahreszeit, nämlich in den Frühling im Norden, in den Herbst im Süden, niemals in die höchste Glut des Sommers oder in die strengste Kälte des Winters, wo gleicherweise sich [Seite 153] daraus Schwierigkeiten ergeben würden. Ueberdies ist in dieser Jahreszeit die Zeit zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang annähernd die gleiche auf dem ganzen bewohnten Teil der Erde, nämlich von etwa 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends. Das Fasten ist nicht bindend für Kinder und Kranke, für Reisende, oder für solche, die zu alt und zu schwach sind (einschließlich der Frauen, die ein Kind erwarten oder die die Kleinen selbst nähren).

Es ist leicht zu beweisen, daß ein periodisches Fasten, wie es die Baháilehre vorschreibt, eine wohltätige Maßnahme zur Erhaltung körperlicher Gesundheit ist; aber ebenso, wie der wahre Wert des Bahái-Festes nicht im Genuß natürlicher Speise liegt, sondern in der Erwähnung Gottes, die unsere geistige Speise ist, so besteht die Wirklichkeit des Baháifastens nicht in der Enthaltung von natürlicher Speise, obgleich dies zur Reinigung des Körpers beiträgt, sondern in der Enthaltsamkeit von sinnlichen Begierden und in der Trennung von allen andern außer Gott. 'Abdu'l-Bahá sagt:

„Das Fasten ist ein Symbol. Fasten bezeichnet die Enthaltsamkeit von der Sinnlichkeit. Physisches Fasten ist ein Symbol dieser Enthaltung und soll uns daran erinnern; d. h., wie sich jemand von physischen Gaumenreizen enthält, soll er sich enthalten von Selbstsucht und selbstischen Begierden. Bloße Enthaltung von Speise aber hat keinen Einfluß auf den Geist. Sie ist nur ein Symbol, ein Erinnerungsmittel. Sonst hat sie keinen Wert. Das Fasten aus diesem Grund bedeutet nicht die völlige Enthaltung von Speise. Die goldene Regel für das Essen ist: nicht zuviel und nicht zuwenig. Mäßigung ist nötig. In Indien gibt es eine Sekte, die äußerste Enthaltsamkeit beobachtet und ihre Speise stufenweise verringert, bis sie von beinahe nichts leben. Aber ihre Intelligenz leidet darunter. Ein Mensch ist nicht fähig, Gott mit Gehirn und Körper zu dienen, wenn er durch Nahrungsmangel geschwächt ist. Er kann nicht klar sehen.“

(Angeführt von Miss E.S. Stevens, in Fortnightly Review, Juni 1911).


Versammlungen.

'Abdu'l-Bahá mißt die größte Wichtigkeit den regelmäßigen Versammlungen der Gläubigen zur vereinigten Anbetung, zur Erklärung und zum Studium der Lehren und zur Beratung über den Fortschritt der Bewegung bei. In einem Seiner Tablets sagt Er:

„Der Wunsch Gottes ist dahin zum Ausdruck gekommen, daß Einigkeit und Harmonie Tag für Tag wachsen mögen unter den Freunden Gottes und den Dienerinnen des Barmherzigen. Ehe dies nicht bewirkt ist, werden die Dinge nicht gedeihen, welche Mittel man auch anwenden mag. Und die besten Mittel für die Einheit und Harmonie aller sind geistige Versammlungen. Dieser Punkt ist sehr wichtig und ist ein Magnet, um göttliche Bestätigung anzuziehen.“

(Tablets 'Abdu'l-Bahás Bd. I S. 125.)

In den geistigen Versammlungen der Baháis muß streitsüchtige Beweisführung und die Erörterung von politischen und weltlichen Dingen vermieden werden: die einzige Absicht der Gläubigen sollte sein, die göttliche Wahrheit zu lehren und zu lernen, die Herzen mit göttlicher Liebe zu erfüllen, zu streben nach vollkommenerem Gehorsam dem Willen Gottes gegenüber, und das Kommen des Königreichs Gottes zu fördern. In einer Ansprache in New-York im Jahr 1912 sagte 'Abdu'l-Bahá:

„Die Bahái-Versammlung muß die Versammlung der himmlischen Heerscharen sein. Sie muß erleuchtet sein von den Lichtern der himmlischen Heerscharen. Die Herzen müssen wie Spiegel sein, darin sich die Strahlen der Sonne der Wahrheit offenbaren. Jede Brust muß wie eine Telegraphenstation sein: das eine Ende des Drahtes soll in der Seele, das andere bei den himmlischen Heerscharen sein, damit so Botschaften zwischen ihnen ausgetauscht werden können. Auf diese Weise wird vom Abhá-Königreich Inspiration herabfließen und in allen Erörterungen wird Harmonie herrschen... Je mehr Uebereinstimmung, Einheit und Liebe unter euch ist, desto mehr werden euch die Bestätigungen Gottes helfen, und die Hilfe und der Beistand der Gesegneten Schönheit - Bahá’u’lláh, euch unterstützen.“

In einem Tablet sagt Er:

„In diesen Versammlungen muß die Unterhaltung über Außendinge gänzlich vermieden werden, und die Zusammenkunft muß ausgefüllt werden mit dem Singen vor Versen und dem Lesen von Worten, und mit Dingen, die sich auf die Sache Gottes beziehen, wie der Erklärung von Beweisen, dem Anführen klarer und offensichtlicher Beweise, und dem Aufsuchen der Zeichen des Geliebten der Geschöpfe. Wer die Versammlung besucht, muß sich vor ihrem Betreten schmücken mit äußerster Sauberkeit und sich zum Königreich Abhás wenden, und dann in die Versammlung gehen in aller Sanftmut und Demut; und während die Tablets verlesen werden, muß es ruhig und still sein, und wenn jemand zu sprechen wünscht, [Seite 154] so muß er dies in aller Höflichkeit tun, mit der Billigung und Erlaubnis der Anwesenden, und muß geläufig und mit Beredsamkeit sprechen.“


Mashriqu’l-Adhkar.1)

Bahá’u’lláh hinterließ Anweisungen, daß Tempel zur Anbetung von Seinen Anhängern in jedem Land und jeder Stadt gebaut werden sollten. Diesen Tempeln gab Er den Namen „Mashriqu’l-Adhkar‘, was „Dämmerungsplatz von Gottes Lobpreis“ heißt. Der Mashriqu’l-Adhkar muß ein neunseitiger Bau sein, überragt von einem Dom, und so herrlich wie möglich in Entwurf und Ausführung. Er soll in einem weiten Garten stehen, der geschmückt ist mit Brunnen, Bäumen und Blumen, und umgeben sein von einer Anzahl ergänzender Bauten, die erzieherischen, wohltätigen und sozialen Zwecken dienen sollen, damit die Anbetung Gottes im Tempel immer innig verbunden sein möchte mit andächtiger Freude an den Schönheiten der Natur und der Kunst, und mit praktischer Arbeit für die Verbesserung der sozialen Zustände. 2)

In Persien sind die Bahái bis jetzt daran gehindert gewesen, Tempel für die öffentliche Anbetung zu bauen, und so wurde der erste große Mashriqu’l-Adhkar in Ishkabad in Rußland gebaut. Der zweite ist im Begriff zu erstehen in Wilmette, am Seeufer bei Chicago, U.S.A. Hier wurde ein wundervoller Platz erworben, Pläne wurden ausgewählt, Architekt ist Mr. Louis Bourgois, und der Bau ist jetzt in der Ausführung. In verschiedenen Tablets schreibt 'Abdu'l-Bahá bezüglich dieses „Muttertempels“ des Westens Folgendes:

„Preis sei Gott, daß augenblicklich aus jedem Land der Welt im Verhältnis der Mittel unausgesetzt Beiträge gesandt werden zum Baufond des Mashriqu’l-Adhkar in Amerika. Seit den Tagen Adams bis heute ist so etwas unter den Menschen nicht vorgekommen, daß vom fernsten Lande Asiens Beiträge nach Amerika gehen. Dies geschieht durch die Macht des Bündnisses Gottes. Wahrlich, für die Menschen, die nachdenken, ist dies eine Sache zum Erstaunen. Hoffentlich beweisen die Gläubigen Gottes Großherzigkeit und bringen eine große Summe für den Bau auf... Ich wünsche, daß jedermann freiwillig handle, wie er will. Wenn jemand sein Geld in andere Dinge stecken will, so laßt ihn dies tun. Menget euch nicht in irgend einer Weise darein, seid versichert, daß das Wichtigste in dieser Zeit der Bau des Mashriqu’l-Adhkar ist.

Der Mashriqu’l-Adhkar muß neun Seiten haben, neun Tore, neun Brunnen, neun Wege, neun Pforten, neun Säulen und neun Gärten, mit Erdgeschoß, Galerien und Kuppeln, und in Entwurf und Ausführung muß er herrlich sein. Das Mysterium des Baus ist groß, und kann jetzt noch nicht enthüllt werden, aber seine Errichtung ist die wichtigste Unternehmung dieses Tages. Der Mashriqu’]-Adhkar hat wichtige Ergänzungsgebäude, welche bei der Gründung schon mit in Rechnung gezogen werden. Dies sind: Waisenhäuser, Hospitäler, Armenapotheke, Heim für die Arbeitsunfähigen, Hochschule für höhere wissenschaftliche Bildung, und ein Hospiz. In jeder Stadt muß nach diesem Befehl ein großer Mashriqu’l-Adhkar gegründet werden. Im Mashriqu’l-Adhkar werden jeden Morgen Gottesdienste gehalten. Eine Orgel wird im Mashriqu’l-Adhkar nicht sein. In den Beibauten werden Feste, Gottesdienste, Zusammenkünfte, öffentliche Versammlungen und geistige Versammlungen gehalten werden, aber im Tempel wird das Singen und der Gesang unbegleitet sein. Oeffnet die Tore des Tempels allen Menschen.

Wenn diese Einrichtungen, Hochschule, Hospital, Hospiz und Anstalt für Unheilbare, Universität zum Studium der höheren Wissenschaften und für Fortbildungskurse, und andere philanthropische Bauten erstellt sein werden, so werden die Tore allen Nationen und Religionen offen stehen. Es wird durchaus keine Trennungslinie gezogen werden. Ihre Wohltaten werden ohne Berücksichtigung der Farbe und Rasse erwiesen werden. Ihre Tore werden allen Menschen weit offen stehen; Vorurteil gegen niemand, Liebe für alle. Der Zentralbau wird dem Gebet und der Anbetung gewidmet sein. So... wird Religion mit Wissenschaft in Harmonie gebracht werden, und die Wissenschaft wird die Dienerin der Religion sein, und beide werden ihre materiellen und geistigen Gaben der ganzen Menschheit zugute kommen lassen.“

1) Ausgesprochen Askar. 2) In Verbindung mit dem Mashriqu’l-Adhkar ist es von Interesse, sich Tennysons Zeilen ins Gedächtnis zurückzurufen :

„Ich träumte, daß Stein um Stein ich türmte einen heiligen Bau, einen Tempel, nicht Pagode, nicht Moschee noch Kirche, aber erhabener, einfacher, zugänglich allem Odem des Himmels. Und Wahrheit und Friede und Liebe und Gerechtigkeit kamen und wohnten darin.“

Akbar’s Traum, 1892.


Das Leben nach dem Tod.

Bahá’u’lláh sagt uns, daß das Leben im Körper nichts anderes ist als ein embryonaler Zustand unserer Existenz, und daß das Entrinnen aus dem Körper einer neuen Geburt zu [Seite 155] vergleichen ist, durch die der menschliche Geist in ein vollkommeneres, freieres Leben eintritt. Er schreibt:

„Wisse, daß der Geist nach seinem Heimgang aufsteigen wird, bis er in die Gegenwart Gottes eintritt in einer Gestalt, die ewig sein wird wie die Ewigkeit des Reiches Gottes, Seine Herrschaft, Kraft und Macht; an ihr werden sich die Zeichen Gottes, Seine Eigenschaften, Seine Gnade und Gunst zeigen. Die Hand der Göttlichen Güte wird den Geist in eine Stufe eintreten lassen, für die es keinen Ausdruck gibt und die durch alle Geschöpfe der Existenz nicht erklärt werden kann. Segen sei auf dem Geist, der den Körper verläßt, gereinigt von den Zweifeln und dem Aberglauben der Völker. Wahrlich, er bewegt sich in der Atmosphäre von Gottes Heiligem Willen und tritt ein in das höchste Paradies. Alle Engel des Höchsten Paradieses behüten und umgeben ihn, und er wird Gemeinschaft haben mit den Propheten Gottes und Seinen Heiligen, und mit ihnen sprechen, und ihnen erzählen, was ihm in der Sache Gottes, des Herrn der Welt, begegnete.

Wenn jemand ahnen könnte, wie es im Königreich Gottes, des Herrn des Thrones und des Staubes, aussieht, so würde er sich sogleich mit großem Verlangen sehnen nach diesem unveränderlichen, erhabenen, heiligen und herrlichen Zustand. Was die Gestalt des Geistes anbelangt, so kann diese nicht beschrieben werden, noch besteht irgend eine Notwendigkeit, sie näher zu erklären; nur etwas davon muß man kennen; die Boten kamen nur, um die Geschöpfe den geraden Pfad Gottes zu führen, und damit die Menschen erzogen würden.

Bei der Wesenheit Gottes, die Strahlen dieser (aufgestiegenen) Geister sind die Ursache für die Entwicklung der Menschen und für die Hebung der Völker. Sie sind der Sauerteig der Existenz. Die Geister standen und stehen für immer über uns, und die Unterschiede zwischen diesem irdischen Reich und dem andern sind gleich dem Unterschied zwischen der Welt des Embryo und dieser Welt.“

(Tablet, übersetzt von Ali Quli Khan um 1903.)

Aehnlich schreibt 'Abdu'l-Bahá:

„Die Geheimnisse, deren sich der Mensch in der irdischen Welt nicht bewußt wird, wird er in der himmlischen Welt entdecken, und hier wird er auch über die Geheimnisse der Wahrheit unterrichtet werden; wie viel mehr wird er auch Personen wiedererkennen und entdecken, mit denen er verbunden war. Unzweifelhaft werden die heiligen Seelen, die ein reines Auge erhalten und mit Einsicht begnadet werden, im Reich des Lichts mit allen Geheimnissen bekannt werden und werden nach der Gunst streben, die Wirklichkeit einer jeden großen Seele kennen zu lernen. Sie werden sogar in jener Welt die Schönheit Gottes offenbar schauen. Ebenso werden sie alle Freunde Gottes, aus den früheren und den neueren Zeiten, in dieser himmlischen Versammlung finden.

Der Unterschied und die Verschiedenheit unter den Menschen wird natürlich nach ihrem Abscheiden von dieser sterblichen Welt zutage treten. Aber dieser Unterschied besteht nicht hinsichtlich des Orts, sondern hinsichtlich der Seele und des Bewußtseins. Denn das Königreich Gottes steht hoch über Zeit und Ort; es ist eine andere Welt und ein anderes Universum. Und sei dessen gewiß, daß in den göttlichen Welten die geistigen Geliebten einander wiedererkennen werden, und daß sie Vereinigung miteinander suchen werden, aber eine geistige Vereinigung. Auch eine Liebe, die man für jemand gehegt hat, wird in der Welt des Königreiches nicht vergessen werden, noch wirst du dort das Leben vergessen, das du in der materiellen Welt besaßest.“

(Tablets 'Abdu'l-Bahás Bd. I, S. 204).


Himmel und Hölle.

Bahá’u’lláh und 'Abdu'l-Bahá betrachten die Beschreibungen von Himmel und Hölle, wie sie in manchen der älteren Religionsschriften gegeben werden, als symbolisch, gleich der biblischen Erzählung von der Schöpfung, und nicht als wörtlich wahr. Nach ihnen ist der Himmel der Zustand der Vollkommenheit, und Hölle der Zustand der Unvollkommenheit; Himmel ist Harmonie mit Gottes Willen und mit unsern Mitmenschen, und Hölle ist das Fehlen dieser Harmonie; Himmel ist der Zustand geistigen Lebens, Hölle der des geistigen Todes. Ein Mensch kann im Himmel oder in der Hölle sein, während er sich noch im Körper befindet. Die Freuden des Himmels sind geistige Freuden, und die Qualen der Hölle bestehen darin, dieser Freuden beraubt zu sein.

'Abdu'l-Bahá sagt:

„Wenn die Menschen vom Licht des Glaubens und von der Dunkelheit der Sünden befreit werden u. erleuchtet werden vom Strahl der Sonne der Wahrheit und geadelt durch alle Tugenden, so erachten sie dies für den größten Lohn, und sie wissen, daß dies das Paradies ist. Ebenso erachten sie, der Welt der Natur unterworfen zu sein, für eine geistige Bestrafung; Gott gegenüber verhüllt zu [Seite 156] sein, gewalttätig und unwissend zu sein, in sinnliche Lust zu verfallen, mit tierischen Fehlern behaftet zu sein, mit schlechter Charaktereigenschaft gezeichnet zu sein,. .. dies sind die größten Strafen und Qualen.

Die Belohnungen der andern Welt sind die Vollkommenheiten und der Friede, die man in den geistigen Welten erlangt, nachdem man diese Welt verlassen hat..., die geistigen Gnaden, die verschiedenen geistigen Gaben im Reich Gottes, die Erfüllung der Wünsche des Herzens und der Seele, und die Begegnung mit Gott in der Welt der Ewigkeit. In gleicher Weise bestehen die Strafen der andern Welt darin, der besonderen göttlichen Segnungen und der absoluten Gnaden beraubt zu sein und in die niedersten Stufen der Existenz zu versinken. Wer dieser göttlichen Gnaden beraubt ist, wird, obgleich er nach dem Tod weiterbesteht, vom Volk der Wahrheit für tot gehalten.

Der Reichtum der andern Welt ist die Nähe Gottes. Daraus folgt mit Sicherheit, daß es denen, die nahe dem Göttlichen Hof sind, erlaubt ist, Fürsprache einzulegen, und dieser Fürsprache wird von Gott entsprochen. Es ist sogar möglich, daß der Zustand solcher, die in Sünden und Unglauben dahingegangen sind, gewandelt wird, d.h. sie werden zum Gegenstand für die Vergebung seitens der Gnade Gottes, nicht Seiner Gerechtigkeit; denn Gnade gibt ohne Verdienst, und Gerechtigkeit, wessen man wert ist. Wie wir die Macht haben, für diese Seelen hier zu beten, so werden wir die gleiche Kraft in der andern Welt besitzen, die das Reich Gottes ist. Sie können also in jener Welt ebenfalls Fortschritte machen. Wie sie hier durch die eigenen Gebete Licht erlangen können, so können sie auch dort um Vergebung flehen, und auf Bitten und Flehen Licht erhalten.

Sowohl vor wie nach dem Ablegen dieser materiellen Form gibt es Fortschritte in der Vollkommnung, aber nicht in der Stufe. Es gibt kein höheres Geschöpf, denn einen vollkommenen Menschen. Der Mensch kann, wenn er diese Stufe erreicht hat, noch Fortschritte in der Vervollkommnung machen, aber nicht in der Stufe, weil es keine höhere Stufe gibt, als die eines vollkommenen Menschen, in die er sich selbst versetzen kann. Er macht nur Fortschritte in der Stufe der Menschheit, denn die menschlichen Vollkommenheiten sind endlos. So können wir uns, mag ein Mensch noch so gelehrt sein, einen immer noch gelehrteren vorstellen. Weil also die Vollkommenheiten der Menschheit endlos sind, können wir auch nach dem Verlassen dieser Welt Fortschritte in Vervollkommnung machen.“

(Some answered Questions, S. 259—274.)


Einheit der zwei Welten.

Wie von Bahá’u’lláh gelehrt ist, umfaßt die Welt der Menschheit nicht nur die Menschen, die noch im Körper wandeln, sondern alle menschlichen Wesen, ob sie noch im Körper sind, oder diesen schon verlassen haben. Nicht nur alle Menschen, die noch auf der Erde leben, sind Teile eines und desselben Organismus, sondern auch alle in den geistigen Welten, und diese zwei Teile hängen innig miteinander zusammen. Geistige Gemeinschaft der einen mit der andern ist, nicht nur nicht unmöglich oder unnatürlich, ist vielmehr beständig und unvermeidlich vorhanden. Die, deren geistige Fähigkeiten noch unentwickelt sind, sind sich dieser lebendigen Verbindung nicht bewußt, aber wie sich des Menschen Fähigkeiten entwickeln, wird er sich der Verbindung mit den im Jenseits Befindlichen nach und nach mehr bewußt und klar. Den Propheten und Heiligen ist diese geistige Gemeinschaft so vertraut und wirklich, wie das gewöhnliche Schauen und der gewöhnliche Verkehr den übrigen Menschen.

'Abdu'l-Bahá sagt:

„Die Visionen der Propheten sind keine Träume; nein, es sind geistige Entdeckungen und sie haben Wirklichkeit. Sie sagen z.B.: „Ich sah eine Person in einer gewissen Gestalt, und ich sagte so und so, und er gab mir die und die Antwort.“ Diese Vision geht in der Welt des wachen Zustands vor sich, nicht in der des Schlafs; es ist eine geistige Entdeckung.

Die geistigen Seelen besitzen geistiges Verstehen, bei ihnen gibt es geistiges Entdecken, eine Gemeinschaft, die über Einbildung und Wahn steht, einen Verkehr, der geheiligt ist über Raum und Zeit. So steht im Evangelium geschrieben, daß auf dem Berg Tabor Moses und Elias zu Christus traten, und es ist klar, daß dies keine materielle Zusammenkunft war. Es war ein geistiger Zustand. Solcher Verkehr ist wirklich und bringt wundervolle Wirkungen in den Herzen und Gedanken der Menschen hervor und zieht ihre Herzen an.“

(Some answered Questions, S. 290—292.)

Während Er die Wirklichkeit „übernormaler“ seelischer Fähigkeiten bestätigt, wehrt Er von Versuchen ab, ihre Entwicklung vorzeitig zu erzwingen. Diese Fähigkeiten werden sich naturgemäß zur rechten Zeit entfalten, wenn wir nur dem Pfad geistigen Fortschritts folgen, den die Propheten uns vorgezeichnet haben. Er sagt: [Seite 157]

„Sich mit übersinnlichen Kräften abzugeben, während man auf dieser Welt weilt, wirkt störend auf den Zustand der Seele in der nächsten Welt. Diese Kräfte sind wirklich, treten aber normalerweise auf dieser Ebene nicht in Erscheinung. Das Kind im Mutterleib hat seine Augen, Ohren, Hände, Füße usw., aber sie treten nicht in Tätigkeit. Der ganze Zweck des Lebens in der materiellen Welt ist, hindurchzudringen zur Welt der Wirklichkeit, wo diese Kräfte dann in Tätigkeit treten. Sie gehören jener Welt zu.“

(Aus Miß Buckton’s von 'Abdu'l-Bahá überprüften Notizen.)

Verkehr mit Geistern Abgeschiedener sollte nicht um seiner selbst willen, noch um eitler Neugierde willen gesucht werden. Es ist aber sowohl ein Vorrecht wie eine Pflicht für die, die sich auf der einen Seite des Schleiers befinden, die auf der andern Seite zu lieben, ihnen zu helfen und für sie zu beten. Gebete für die Toten sind den Baháis zur Pflicht gemacht. 'Abdu'l-Bahá sagt:

„Die Gnade wirkungsvoller Fürbitte ist eine der Vollkommenheiten, die die vorgeschrittenen Seelen haben, wie auch die Manifestationen Gottes. Jesus Christus hatte die Macht, um Vergebung für seine Feinde zu bitten, als er auf der Erde weilte, und sicher hat er diese Macht jetzt noch. 'Abdu'l-Bahá erwähnte niemals den Namen einer verstorbenen Person, ohne zu sagen: „Möge Gott ihm vergeben!“, oder Worte, die das Gleiche bewirken. Auch Nachfolger von Propheten haben die Macht, für Seelen um Vergebung zu beten. Wir dürfen daher nicht denken, daß manche Seelen zum Dauerzustand des Leidens und des Untergangs verdammt sind, die in absoluter Unkenntnis von Gott hinübergegangen sind. Die Kraft wirksamer Fürbitte für sie ist immer vorhanden...

Wer in der andern Welt reich ist, kann dem Armen helfen, wie hier der Reiche dem Armen helfen kann. In allen Welten sind alle die Geschöpfe Gottes. Sie sind immer von ihm abhängig. Sie sind nie unabhängig und können es nie sein. Weil sie ihre Bedürfnisse bei Gott suchen, werden sie, je mehr sie flehen, desto reicher. Was ist ihre Ware, was ihr Wohlstand? Was ist in der andern Welt Hilfe und Beistand? Es ist Fürbitte. Unentwickelte Seelen müssen den Fortschritt durch die Gebete der geistig Reichen zu gewinnen suchen; hernach können sie auch durch ihre eigenen Gebete Fortschritte machen.“

(Gespräch mit Miß E.J. Rosenberg im Jahr 1904.)

Ferner sagt Er:

„Die Hinübergegangenen haben Eigenschaften, die sich von denen derjenigen, die noch auf der Erde sind, unterscheiden, doch gibt es hier keine wirkliche Trennung. Im Gebet gibt es eine Mischung der Stufe und eine Vermischung des Zustands. Bete für sie, wie sie für dich beten.“

('Abdu'l-Bahá in London, S. 97.)

Gefragt, ob es möglich sei, durch Glauben und Liebe die Neue Offenbarung zur Kenntnis der Abgeschiedenen zu bringen, ohne daß diese bei Lebzeiten von ihr gehört haben, erwiderte 'Abdu'l-Bahá:

„Ja, sicherlich! Weil aufrichtiges Gebet immer seine Wirkung hat, und es hat eine große Wirkung in der andern Welt. Wir sind nie abgeschnitten von jenen, die dort sind. Der wirkliche und wahre Einfluß liegt nicht in dieser, sondern in der andern Welt.“

(Notizen von Mary Handford Ford: Paris 1911.)

Andererseits schreibt Bahá’u’lláh:

„Wer entsprechend dem lebt, was für ihn vorgesehen wurde, für den werden die himmlischen Heerscharen, und das Volk des allerhöchsten Paradieses, und die, die im Dome der Größe wohnen, beten, nach einem Befehl Gottes, des Teuersten, des Preiswürdigsten.“

(Tablet, übersetzt von Ali Quli Khan.)

Als 'Abdu'l-Bahá gefragt wurde, wie es zugehe, daß sich das Herz öfters instinktiv an Freunde wende, die in das nächste Leben eingegangen sind, antwortete Er:

„Es ist Gesetz in Gottes Schöpfung, daß sich der Schwache an den Starken anlehnt. Die, zu denen du dich wendest, mögen Vermittler der göttlichen Kraft für dich sein, wie wenn sie auf Erden wären. Aber es ist der Heilige Geist, der allen Menschen Kraft verleiht.

('Abdu'l-Bahá in London $. 97.)


Nichtvorhandensein des Uebels.

Nach der Baháiphilosophie folgt aus der Lehre von der Einheit Gottes, daß es etwas, wie positives Uebel, nicht geben kann. Es kann nur eine Unendlichkeit geben. Gäbe es im Universum eine andere Kraft außerhalb dem Einen, oder entgegengesetzt dem Einen, dann würde der Eine nicht unendlich sein. Wie Dunkelheit nur das Fehlen oder ein geringerer Grad von Licht ist, so ist Uebel nichts als das Fehlen des Guten oder ein geringerer Grad davon, der unentwickelte Zustand. Ein schlimmer Mensch ist ein Mensch, bei dem die höhere Seite seiner Natur noch unentwickelt ist. Wenn er eigenliebig ist, so liegt das Uebel nicht in seiner Liebe zum eigenen Selbst — alle Liebe, selbst Eigenliebe, ist gut, ist göttlich. Das Uebel liegt darin, daß er solch [Seite 158] eine arme, unangebrachte, mißleitete Liebe zum eigenen Selbst, und solchen Mangel an Liebe für die andern und für Gott hat. Er blickt auf sich, als ob er allein eine höhere Art von Geschöpf wäre, und hätschelt törichterweise seine niedere Natur, wie man seine Lieblingspuppe hätschelt — mit schlimmeren Folgen für ihn, als wenn man eine Puppe hätschelt.

In einem Seiner Briefe schreibt 'Abdu'l-Bahá:

„Was deine Bemerkung anbetrifft, daß 'Abdu'l-Bahá zu verschiedenen der Gläubigen gesagt hat, daß es nie ein Uebel gäbe, daß es vielmehr nichtexistierend sei, so ist dies nur die Wahrheit, weil es das größte Uebel ist, daß die Menschen vom richtigen Weg abweichen und für die Wahrheit verhüllt sind. Irrtum ist ein Mangel an Führung; Dunkelheit ist das Fehlen von Licht; Unwissenheit ist der Mangel an Erkenntnis; Falschheit ist der Mangel an Wahrhaftigkeit; Blindheit ist der Mangel an Gesicht und Taubheit ist der Mangel an Gehör. Daher sind Irrtum, Blindheit, Taubheit und Unwissenheit nichtexistierende Dinge.“

Ferner sagt Er:

„In der Schöpfung gibt es kein Uebel; alles ist gut. Gewisse Eigenschaften und Naturen, die manchen Menschen angeboren und offensichtlich tadelnswert sind, sind es in der Wirklichkeit nicht. Ihr könnt z. B. beim Beginn des Lebens eines Säuglings die Zeichen der Begierde, des Zorns und der Laune wahrnehmen. Ihr mögt dann sagen, daß Gut und Uebel der Wirklichkeit des Menschen angeboren seien, und dies stehe im Gegensatz zu der reinen Güte in Natur und Schöpfung. Die Antwort ist, daß Begierde, das Verlangen nach mehr von etwas, eine lobenswerte Eigenschaft ist, wenn sie richtig angewendet wird. Wenn jemand den Wunsch hat, sich Wissenschaft und Erkenntnis anzueignen, oder mitleidig, edel und gerecht zu werden, so ist dies überaus preisenswert. So ist es auch zu preisen, wenn er seinen Zorn und Grimm gegen die blutdürstigen Tyrannen richtet, die reißenden Tieren gleichen; wenn er aber diese Eigenschaften nicht in der richtigen Weise anwendet, so ist es tadelnswert... Das Gleiche ist es mit allen natürlichen Eigenschaften des Menschen, welche das Kapital des Lebens bilden; wenn sie gebraucht und entfaltet werden auf ungesetzlichem Weg, so werden sie tadelnswert. Deshalb ist es klar, daß die Schöpfung ausschließlich gut ist.“

(Some answered Questions, S. 250.)

Uebel ist immer der Mangel an Leben. Wenn die niedere Seite der menschlichen Natur unverhältnismäßig entwickelt ist, so ist das Heilmittel nicht weniger Leben für diese Seite, sondern mehr Leben für die höhere Seite, damit das Gleichgewicht wieder hergestellt wird. „Ich bin gekommen“, sagte Christus, „damit ihr Leben habt, und damit ihr es im Ueberfluß habt.“ Das ist’s, was wir alle brauchen, Leben, mehr Leben, das Leben, das in der Tat Leben ist! Bahá’u’lláhs Botschaft ist dieselbe wie die von Christus. „Heute“, sagt er

„ist dieser Diener wirklich gekommen, der Welt Leben zu geben.“

(Tablet an den Ra’is)

und zu Seinen Nachfolgern sagt Er:

„Kommt, damit wir Euch befähigen, der Welt Leben zu geben.“

(Tablet an den Papst)



Professor Charles Baudouin’s Artikel.

Aus Star of the West vom Januar 1926.

Professor Charles Baudouin an der Universität Genf veröffentlichte in der Zeitschrift „Coenobium“ in Lugano und Mailand einen Artikel über die Baháibewegung. Später erschien derselbe Artikel in seinem Buch „Contemporary Studies“ (Zeitgemäße Studien). Folgendes ist ein Auszug dieses Artikels.

„Wir westlichen Völker sind so leicht geneigt, uns einzubilden, der ungeheure Kontinent Asiens liege in einem tieferen Schlafe als eine Mumie. Wir lächeln über die Eitelkeit der alten Hebräer, die sich einbildeten, das auserwählte Volk zu sein. Wir sind erstaunt über die Unduldsamkeit der Griechen und Römer, welche die Angehörigen aller anderen Rassen als Barbaren betrachteten. Dessen ungeachtet machen wir es wie die Hebräer, die Griechen und die Römer. Als Europäer glauben wir, Europa sei die einzige Welt von Bedeutung, obwohl wir von Zeit zu Zeit einen väterlichen Blick nach Amerika hinüber tun und unsere Abkömmlinge in der Neuen Welt mit gemischten Gefühlen von Herablassung und Stolz betrachten.

Wie dem auch sei, die große verheerende Umwälzung, die mit dem Jahr 1914 einsetzte, veranlaßte verschiedene von uns, das unverletzliche Dogma, daß die europäischen Nationen die Auserwählten seien, einer kritischen Untersuchung zu unterziehen. Hat sich in den späteren Jahren nicht die Nichtigkeit einer solchen modernen Zivilisation herausgestellt — die Nichtigkeit, die schon von Rousseau, Carlyle, Ruskin, Tolstoi und Nitsche verkündigt wurde? - Jetzt sind wir geneigt, aufmerksamer auf das Wispern vom Osten [Seite 159] zu lauschen. Durch Aeusserungen, wie sie Rabindranath Tagore am 18. Juni 1916 in der Imperial Universität zu Tokio tat, und mit denen er Asien eine große Zukunft verhieß, ist unserer Selbstgefälligkeit Einhalt geboten. Die Tendenz der politischen Zivilisation Europas war kannibalisch. Der Osten war geduldig und konnte sichs leisten, zu warten, bis der Westen, aus Mangel an Brot, eiligst nach dem Hilfsmittel Ausschau hielt.

Wenn wir unsern Blick nach Asien wenden, so sind wir erstaunt, zu finden, wie sehr wir diesen Erdteil mißverstanden haben, und wir erröten, wenn wir alsdann unsere Unwissenheit über die Tatsache einsehen, daß um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Asien der Geburtsort einer großen religiösen Bewegung war, einer Bewegung, die sich auszeichnet durch geistige Reinheit, einer Bewegung, die Tausende von Märtyrern hatte und von der auch Tolstoi schrieb. Dr. H. Dreyfus-Barney, der französische Historiker dieser Bewegung, sagte: „Dies ist keine neue Religion, sondern eine Erneuerung der Religion“ und ferner, „sie gibt uns die einzig mögliche Grundlage für ein gegenseitiges Verständnis zwischen Religion und freien Gedanken“. Einen tiefen Eindruck macht aber die Tatsache auf uns, daß in unserer Zeit eine solche Offenbarung überhaupt möglich war und daß der neue Glaube bereits eine Entfaltung erreicht hat, der die des Christentums, im gleichen Zeitabschnitt, vor nahezu 2000 Jahren, weit übertrifft.“

Professor Baudouin gibt dann einen ausgezeichneten geschichtlichen Bericht über die Baháibewegung, geht auf die Lehre selbst ein und schreibt: „Die Baháisache ist kein methaphysisches System. Sie hat weder Priester noch Dogmen. Bahá’u’lláh (der Stifter dieser Lehre) sagt, es sei intellektuelle Pflicht eines jeden, in allen Dingen seiner Vernunft und der Führung des geistigen Lichts zu folgen.

Eine Idee, die in Bahá’u’lláhs Lehren eine führende Rolle spielt, ist die der Prophetenschaft, die in gleicher Weise in den jüdischen und den mohammedanischen Lehren vorherrscht. Aber der Begriff „Prophet“ ist bei einem Bahái ein viel weiterer und freierer, als in den früheren Bekenntnissen. Der Prophet, der Weise, wird uns hier nicht kenntlich gemacht durch die materiellen Zeichen, die den Leichtgläubigen Zeugnis gaben von der prophetischen Mission Moses, Jesus und Mohammeds. An diesem Tag ist er ein Mensch, der trotz seines edlen vergangenen Lebens und trotz seiner hohen sozialen Stellung, wie die früheren, von den Stolzen verworfen wurde. Ein Mensch, wie Jesus, wurde ohne Bedenken als ein Ungläubiger behandelt und schleunigst umgebracht. Obschon ihn heute hunderttausende verkündigen, werden doch die meisten Leute leugnen, daß der Sohn eines Unbekannten der Messias sein könne.

Es ist gesagt, daß Sokrates erklärte, die Philosophie käme vom Himmel. Bahá’u’lláh erhebt denselben Anspruch für die Religion. Er betont, daß die großen Offenbarungen der Vergangenheit heute erneuert werden. Die in den hl. Schriften berichteten Wunder sind geistiger Natur, sie sind aber deshalb nicht weniger wunderbar, als vor alters.

Der Prophet wird uns nicht durch Zeichen enthüllt, die allen Menschen in die Augen springen. Weit entfernt hiervon, der Prophet ist ein Protestant (gegenüber dem Seitherigen), ein Neuerer oder Umgestalter, und dies Unvermeidliche macht ihn verhaßt bei denen, die unter der Herrschaft der herkömmlichen Ansichten stehen.“

Es scheint, daß die in der Bahaibewegung zum Ausdruck kommende Tendenz im Einklang ist mit den Bedürfnissen unseres Zeitalters. Nach Bahá’u’lláh ist das Gesetz der Liebe etwas Weitergehenderes als eine Vorschrift für die Lebensführung des Einzelnen. Es ist hauptsächlich sozial, denn sein Ziel ist die Regelung der ganzen Entwickelung des sozialen Lebens. Aus diesem Grunde ist er (Bahá’u’lláh) so heftiger Kritik ausgesetzt von seiten des Patriotismus, der im nationalen Leben unserer Tage eine so große Rolle spielt. Die Vaterlandstiebe ist Pflicht, aber sie darf nicht exclusiv sein. Das Dogma eines jeden Patrioten ist, man soll sein Vaterland mehr lieben als sein Haus. Bahá’u’lláh aber fügt dem hinzu, der Mensch soll die göttliche Welt mehr lieben, als sein Vaterland. Von diesem Standpunkt aus betrachtet ist der Patriotismus eine Zwischenstufe auf der Straße der Entsagung, er ist ein etwas, über das wir hinwegkommen müssen; unvollkommen und zwitterhaft ist eine Religion, die in ihm verstrickt bleibt. Während seines ganzen Lebens betrachtete Bahá’u’lláh das Ideal des Universalen Friedens als eines seiner wichtigsten Ziele.

Bahá’u’lláh ist nicht nur Prophet, sondern auch ein Poet. Gleich allen großen Mystikern gebraucht er häufig eine Bildersprache, und seine Symbole, mit ihrem uns fremden Wohlgeruch, geben dem, was er zu sagen hat, noch einen besonderen Reiz.“

Der Artikel schließt mit folgenden Worten:

„Dies ist die neue Stimme, die zu uns von Asien her ertönt. Dies ist die neue Morgendämmerung im Osten. Wir sollten ihr unsere volle Aufmerksamkeit zuwenden; wir sollten unsern hochmütigen Ueberlegenheitsdünkel ablegen. Wenn Bahá’u’lláhs Prinzipien unsere geistige Nahrung werden sollen, dann müssen sie aufleben in dem religiösen Geist Europas, sie müssen die Gemüter der nach westlichem Gedankenmodus [Seite 160] Geschulten durchdringen. Aber in ihrer jetzt vorhandenen Art mag die Baháilehre inmitten unseres gegenwärtigen Chaos dazu dienen, uns eine Straße zu öffnen, die zum Trost und zur Ermutigung führt, so daß durch die Baháilehre unser Vertrauen an die geistige Bestimmung des Menschen wiederhergestellt wird. Die Baháilehre offenbart uns auch, wie sehr sich der menschliche Geist heute in Geburtswehen befindet; sie gibt uns auch eine Andeutung von der Tatsache, daß nicht dies die größten Ereignisse unserer Tage sind, die wir so gerne als die Wichtigsten betrachten, und auch nicht die, welche das größte Geschrei machen.“

Aus dem Englischen übersetzt von Wilh. Herrigel.


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In unserem Verlag sind erschienen:

1. Die Geschichte der Bahai-Bewegung, von S. S. Deutsch von Wilhelm Herrigel. Dritte Ausgabe . . . -.20

2. Bahai-Perlen, Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . . -.20

3. Ehe Abraham war, war Ich, v. Thornton Chase. Deutsch v. W.Herrigel . . . . -.10

4. Das heilige Tablet, ein Sendschreiben Baha’o’llahs an die Christenheit. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . -.10

5. Die Universale Weltreligion. Ein Blick in die Bahai-Lehre von Alice T, Schwarz . . . . -.50

6. Die Offenbarung Baha’u’llahs, von J.D. Brittingham. Deutsch von Wilhelm. Herrigel . . . -.50

7. Verborgene Worte von Baha o’llah. Deutsch v. A. Braun u. E. Ruoff . . . 1.--

8. Baha’u’llah, Frohe Botschaften, Worte des Paradieses, Tablet Tarasat, Tablet Taschalliat, Tablet Ischrakat. Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Halbleinen gebunden . . . 2.--

in feinstem Ganzleinen gebunden . . . . . 2.50

9. Einheitsreligion. Ihre Wirkung auf Staat, Erziehung, Sozialpolitik, Frauenrehte und die einzelne Persönlichkeit, von Dr. jur. H. Dreyfus, Deutsch von Wilhelm Herrigel. Neue Auflage . . . -.50

10. Die Bahaibewegung im allgemeinen und ihre großen Wirkungen in Indien, von Wilhelm Herrigel . . . . -.50

11. Eine Botschaft an die Juden, von Abdul Baha Abbas. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . -.15

12. Abdul Baha Abbas, Ansprachen über die Bahailehre. Deutsch von Wilhelm Herrigel,

in Halbleinen gebunden . . . . . 2.50

in feinstem Ganzleinen gebunden. . . . . 3.--

13. Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahaireligion, von Mirza Abul Fazl. Deutsch von W. Herrigel,

in Halbleinen geb. . . . . 4.--

In Ganzleinen gebunden . . . . 4.50

14. Abdul Baha Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps.

Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Ganzleinen gebunden . . . . 3.50

15. Das Hinscheiden Abdul Bahas, ("The Passing of Abdul Baha") Deutsch von Alice T. Schwarz . . . -.50

16. Das neue Zeitalter von Ch. M. Remey. "Deutsch von Wilhelm Herrigel —.50

17. Die soziale Frage und ihre Lösung im Sinne der Bahailehre von Dr. Hermann Grossmann . . —.20

18. Die Bahai-Offenbarung, ein Lehrbuch von Thornton Chase, deutsch von W. Herrigel, kartoniert M. 4.--, in Halbleinen gebunden M. 4.60


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Druck: Wilhelm Heppeler, Stuttgart.


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Geschichte und Bedeutung der Bahailehre.

Die Bahai-Bewegung tritt vor allem ein für die „Universale Religion" und den „Universalen Frieden“ — die Hoffnung aller Zeitalter. Sie zeigt den Weg und die Mittel, die zur Einigung der Menschheit unter dem hohen Banner der Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit führen. Sie ist göttlich ihrem Ursprung nach, menschlich in ihrer Darstellung, praktisch für jede Lebenslage. In Glaubenssachen gilt bei ihr nichts als die Wahrheit, in den Handlungen nichts als das Gute, in ihren Beziehungen zu den Menschen nichts als liebevoller Dienst.

Zur Aufklärung für diejenigen, die noch wenig oder nichts von der Bahaibewegung wissen, führen wir hier Folgendes an: „Die Bahaireligion ging aus dem Babismus hervor. Sie ist die Religion der Nachfolger Bahá’u’lláhs. Mirza Hussein Ali Nuri (welches sein eigentlicher Name war) wurde im Jahre 1817 in Teheran (Persien) geboren. Vom Jahr 1844 an war er einer der angesehensten Anhänger des Bab und widmete sich der Verbreitung seiner Lehren in Persien. Nach dem Märtyrertod des Bab wurde er mit den Hauptanhängern desselben von der türkischen Regierung nach Bagdad und später nach Konstantinopel und Adrianopel verbannt. In Bagdad verkündete er seine göttliche Sendung (als „Der, den Gott offenbaren werde") und erklärte, daß er der sei, den der Bab in seinen Schriften als die „Große Manifestation", die in den letzten Tagen kommen werde, angekündigt und verheißen hatte. In seinen Briefen an die Regenten der bedeutendsten Staaten Europas forderte er diese auf, sie möchten ihm bei der Hochhaltung der Religion und bei der Einführung des universalen Friedens beistehen. Nach dem öffentlichen Hervortreten Bahá’u’lláhs wurden seine Anhänger, die ihn als den Verheißenen anerkannten, Bahai (Kinder des Lichts) genannt. Im Jahr 1868 wurde Bahá’u’lláh vom Sultan der Türkei nach Akka in Syrien verbannt, wo er den größten Teil seiner lehrreichen Werke verfaßte und wo er am 28. Mai 1892 starb. Zuvor übertrug er seinem Sohn Abbas Effendi ('Abdu'l-Bahá) die Verbreitung seiner Lehre und bestimmte ihn zum Mittelpunkt und Lehrer für alle Bahai der Welt.

Es gibt nicht nur in den mohammedanischen Ländern Bahai, sondern auch in allen Ländern Europas, sowie in Amerika, Japan, Indien, China etc. Dies kommt daher, daß Bahá’u’lláh den Babismus, der mehr nationale Bedeutung hatte, in eine universale Religion umwandelte, die als die Erfüllung und Vollendung aller bisherigen Religionen gelten kann. Die Juden erwarten den Messias, die Christen das Wiederkommen Christi, die Mohammedaner den Mahdi, die Buddhisten den fünften Buddha, die Zoroastrier den Schah Bahram, die Hindus die Wiederverkörperung Krischnas und die Atheisten — eine bessere soziale Organisation.

In Bahá’u’lláh sind alle diese Erwartungen erfüllt. Seine Lehre beseitigt alle Eifersucht und Feindseligkeit, die zwischen den verschiedenen Religionen besteht; sie befreit die Religionen von ihren Verfälschungen, die im Lauf der Zeit durch Einführung von Dogmen und Riten entstanden und bringt sie alle durch Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Reinheit in Einklang. Das einzige Dogma der Lehre ist der Glaube an den einigen Gott und an seine Manifestationen (Zoroaster, Buddha, Mose, Jesus, Mohammed, Bahá’u’lláh).

Die Hauptschriften Bahá’u’lláhs sind der Kitab el Ighan (Buch der Gewißheit), der Kitab el Akdas (Buch der Gesetze), der Kitab el Ahd (Buch des Bundes) und zahlreiche Sendschreiben, genannt „Tablets“, die er an die wichtigsten Herrscher oder an Privatpersonen richtete. Rituale haben keinen Platz in dieser Religion; letztere muß vielmehr in allen Handlungen des Lebens zum Ausdruck kommen und in wahrer Gottes- und Nächstenliebe gipfeln. Jedermann muß einen Beruf haben und ihn ausüben. Gute Erziehung der Kinder ist zur Pflicht gemacht und geregelt.

Streitfragen, welche nicht anders beigelegt werden können, sind der Entscheidung des Zivilgesetzes jeden Landes und dem Bait’ul’Adl oder „Haus der Gerechtigkeit“, das durch Bahá’u’lláh eingesetzt wurde, unterworfen. Achtung gegenüber jeder Regierungs- und Staatseinrichtung ist als einem Teil der Achtung, die wir Gott schulden, gefordert. Um die Kriege aus der Welt zu schaffen, ist ein internationaler Schiedsgerichtshof zu errichten. Auch soll neben der Muttersprache eine universale Einheits-Sprache eingeführt werden. „Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die Tropfen eines Meeres“ sagt Bahá’u’lláh.

Es ist also weniger die Einführung einer neuen Religion, als die Erneuerung und Vereinigung aller Religionen, was heute von 'Abdu'l-Bahá erstrebt wird. (Vgl. Nouveau, Larousse, illustré supplement, p. 66.)