Sonne der Wahrheit/Jahrgang 14/Heft 8/Text

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SONNE

DER

WAHRHEIT
 
Organ der Bahá’í in Deutschland und Oesterreich
 
HEFT 8 14. JAHRGANG OKTOBER 1934
 


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Die Bahá’í-Lehre,[Bearbeiten]

die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.

Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.

Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.

Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.

Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“

Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.

Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.

Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.


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SONNE DER WAHRHEIT
Organ der Bahá’í in Deutschland und Österreich
Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198
Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo
Verwaltung: Paul Gollmer Begründet von Alice Schwarz-Solivo
Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark, im Ausland 2.– Reichsmark
Heft 8 Stuttgart, im Oktober 1934
‘Ilm — Erkenntnis 91
14. Jahrgang

Inhalt: Lawh-i-Aqdas — Das Hochheilige Tablet. — Bahá’í-Glaube. — Nabíl’s Erzählung: Der Báb erklärt Seine Sendung.


Das Wesen der Religion ist, das anzuerkennen, was der Herr offenbarte und zu befolgen, was Er in Seinem mächtigen Buch verordnet hat.

Worte der Weisheit von Bahá’u’lláh


Lawh-i-Aqdas - Das Hochheilige Tablet1)[Bearbeiten]

Deutsche Übersetzung aus der französischen Übertragung des Dr. Hippolyte Dreyfus und Mírzá Habíb’u’lláh Shírází, Edition Ernest Leroux, Paris, 1905


Dies ist das Tablet Aqdas, aus dem heiligen Reiche für jenen geoffenbart, der sich dem Tempel2) der Welt genaht hat, jenem Tempel, der vom Himmel der Präexistenz mit seiner größten Herrlichkeit gekommen ist.

Im Namen des Herrn, des Herrn großer Herrlichkeit!

Dies ist eine Schrift, die von Uns ausgeht für jenen, den der Schleier der Namen von Gott, dem Schöpfer der Erde und des Himmels, nicht getrennt hat, eine Schrift, durch die seine Augen geöffnet werden können für das Licht der Tage seines Herrn, des Beschützers, des Selbstbestehenden.

Sprich: O Volk des Sohnes3), ist es Mein Name, der euch abhält, Mich zu sehen?

Warum denkt ihr nicht nach? Tag und Nacht habt ihr nach eurem Herrn, der nur von Sich Selbst abhängig ist, gerufen, und als Er vom Himmel der Präexistenz in Seiner größten Herrlichkeit kam, da habt ihr Ihm euch nicht genaht und euch nicht um Ihn gekümmert. Betrachtet doch jene, die sich vom Geiste4) abwandten, als Er mit offenbarer Macht zu ihnen kam! Wie viele Pharisäer drängten sich in Seinem Namen in die Tempel und erflehten Sein Kommen! Aber als das Tor der Einigung sich öffnete und das Licht der Morgenröte der Schönheit entquoll, da fielen sie von Gott, dem Allerhöchsten und Allerhabensten, ab und wurden Seines Kommens nicht gewahr, obwohl es ihnen im Buche Jesaias und in denen der anderen Propheten verheißen worden war.

Keiner von ihnen wandte sich dem neuen Tage der Gnade zu, mit Ausnahme der Niedrigsten im Volke, vor denen sich heute alle Träger höchster Ehren im Kreise der Herren der Erde verneigen. Erinnert euch, daß die größten Gelehrten [Seite 58] Seines Landes Ihn zum Tode verurteilten, während ein Fischer an Ihn glaubte, Seid darob erstaunt und zählet zu jenen, die daran denken! Ebenso seht heute hin! Wie viele Mönche flehten im Innersten ihrer Kirchen den Geist an, und als Er wirklich kam, da nahten sie sich Ihm keineswegs, sondern zählten zu jenen, die sich abseits halten. Gesegnet, wer ihnen den Rücken gekehrt und sich dem (großen) Ziel all dessen, was im Himmel und auf Erden ist, genähert hat! Sie lesen das Evangelium und — glauben nicht an den glorreichen Herrn, nachdem Er in Sein heiliges, mächtiges und herrliches Königreich gekommen ist!

Sprich: Wahrlich, Wir sind unter euch getreten und haben eurer Errettung wegen die Schmählichkeiten der Erde über Uns ergehen lassen. Wollt ihr vor Dem fliehen, Der Seine Seele für euer Leben geopfert hat? Fürchte Gott, o Volk des Geistes, und leiste den angeblichen Gelehrten, die in der Irre gehen, keine Gefolgschaft!

Nehmt ihr an, Er habe Seine Seele retten wollen, als die Schwerter des Feindes Ihn unausgesetzt bedrohten? Oder wohl, daß Er sich nach der Welt gesehnt habe, als Er in der verkommensten aller Städte gefangen saß? Richtet danach euer Urteil und folget nicht den Unterdrückern. Öffnet die Tore eures Verständnisses; wahrlich, der Geist wird Sich euch zeigen. Wer hält euch so sehr abseits von Jenem, Der euch der herrlichen Wohnstatt wieder hat näher bringen wollen?

Sprich: Wahrlich, Wir haben vor euch die Pforten des Königreiches geöffnet; schließt ihr die Türen eurer Wohnungen vor Meinem Antlitz? Wahrlich, dies ist ein großer Fehler.

Sprich: Wahrlich, Er ist vom Himmel gekommen, wie Er zum ersten Male dorther kam; hütet euch, dem zu widersprechen, was Er verkündet, gleichwie die Völker, die vor euch waren, Seinen Worten widersprochen haben! Also lehrt Gott euch die Wahrheit, — so ihr zu denen zählt, die verstehen.

Wahrlich, der Jordan hat sich wieder mit dem unermeßlichen Meer vereinigt und der Sohn ruft aus im heiligen Tal: „Labeick“5), ich bin bereit, o mein Gott, ich bin bereit! Und das Gebirge umgibt die Behausung und der Baum ruft aus: „Wahrlich, der Ersehnte ist gekommen in Seiner höchsten Herrlichkeit!“

Sprich: Wahrlich, der Vater ist gekommen und hat erfüllt, was euch im Königreiche Gottes verheißen wurde! Dies ist das Wort, das der Sohn verborgen hielt, als Er zu denen, die um Ihn waren, sagte, daß sie es nicht verstehen könnten; aber als die festgesetzte Zeit kam, ging das Wort strahlend am Horizonte des Willens auf!

Hütet euch, o Völker des Sohnes, es weit von euch zu werfen, und macht es euch zu eigen. Dies ist wertvoller für euch als alle irdischen Güter. Wahrlich, Er ist dem Liebevollen nahe!

Bestimmt, die Stunde ist da, die Stunde, deren Gewißheit Wir allem, was auf Erden ist, und selbst den Engeln der Gegenwart verborgen hatten.

Sprich: Wahrlich, Er legt Zeugnis für Mich ab und Ich zeuge für Ihn; in Wahrheit, Er hat nichts anderes ersehnt als Meine Person, was alle wissenden Gerechten bezeugen. Wahrlich, Wir rufen euch inmitten der Trübsale zu Gott, dem Könige der Namen. Sprich: Trachtet nach dem, was euch in den Büchern Gottes verheißen ward, und wandelt nicht auf dem Wege der Unwissenden.

Wahrlich, Mein Körper ist für eurer Seelen Rettung eingekerkert; so tretet denn Meinem Antlitz näher und folget nicht all den verstockten Hochmütigen. Wahrlich, Er hat um eurer Ehre willen die größte Erniedrigung hingenommen, und ihr geht irre im Tale der Gleichgültigkeit. Wahrlich, euretwegen lebt Er in der verkommensten aller Behausungen, und ihr wohnt in Palästen!

Sprich: Habt ihr wirklich die Stimme des Herolds nicht vernommen, die sich in der Einöde des Bayán erhob zur Verkündigung eures barmherzigen Herrn? Vermöchtet ihr nicht daran zu zweifeln, daß Er gekommen ist in der Wahrheit, in den Wolken der offensichtlichen Klarheit, mit dem Beweis und Beleg; und heute schauen die, die an die Einheit glauben, das Königreich vor ihren Augen!

Gesegnet, wer sich Ihm naht, und wehe all jenen, die Ihn lästern und anzweifeln! Tu den Priestern kund, daß das Oberhaupt in Wahrheit gekommen ist; und komm du selbst hinter dem Schleier hervor im Namen deines Herrn, des Herrn des Weltalls, und verkündige diese herrliche und erhabene Offenbarung! Wahrlich, der Geist Gottes ist gekommen, um dich in die Wahrheit zu leiten; und wahrhaftig, was Er sagt, stammt nicht von Ihm, sondern von dem Allwissenden, dem Weisen! [Seite 59]

Sprich: Er ist Der, Den der Sohn verherrlicht und dessen Gebote Er verkündet hat. Verzichtet auf das, was ihr habt, o Völker der Erde, und ergreift das, was euch von dem Mächtigen, dem Wohlmeinenden befohlen wird! Reinigt eure Ohren und lauschet aufmerksam dem lieblichen Ruf, der vom Sinai, dem Wohnort eures allerherrlichsten Herrn, gekommen ist.

Wahrlich, Er zieht euch dorthin, allwo ihr das Licht Seines Antlitzes schauen werdet, das an diesem strahlenden Horizonte erschienen ist.

Sprich: O Priestergemeinschaft, gebt eure Glocken preis und kommt heraus aus den Kirchen! An diesem Tage liegt es euch ob, diesen Namen, den größten von allen, unter den Nationen zu verkünden. Zieht ihr vor, euch stillschweigend zu verhalten in einer Zeit, da alle Bäume und alle Steine ausrufen: „Wahrlich, der Herr ist gekommen, der Träger der großen Herrlichkeit!“? Gesegnet, wer Ihm entgegeneilt! Wahrlich, er zählt zu jenen, deren Namen immerdar bewahrt bleiben und deren die allerhöchste Gemeinschaft gedenken wird. Der Befehl hiezu ergeht an euch von dem Geiste in diesem herrlichen Tablet.

Wer das Volk in Meinem Namen einlädt, zählt zu den Meinigen; und seine Taten werden übermenschliche Macht offenbaren. Geht also dem Wege des Herrn nach und nicht dem der Sorglosen! Gesegnet der Schläfer, der von diesen Kräften gestärkt erwachen und, sich unter den Toten erhebend, den Weg des Herrn einschlagen wird! Wahrlich, er ist vor Gott die Perle der Geschöpfe, und wahrlich, er zählt zu jenen, die das Ziel erreicht haben!

Sprich: Wahrlich, Er hat sich im Osten strahlend erhoben, und Seine Zeichen sind im Westen sichtbar geworden. Denkt daran, o Völker, und gleicht nicht jenen, die des Gesandten nicht achteten, der aus der Gegenwart des Mächtigen, des Gepriesenen zu ihnen kam! Wachet auf beim Wehen des Hauches Gottes! Wahrlich, er ging durch die Welt. Gesegnet, wer seinen Duft wahrgenommen und durch ihn Stärkung erfahren hat!

Sprich: O Gemeinschaft der Bischöfe! Ihr seid die Sterne am Himmel Meines Wissens. Meine Gunst möchte nicht, daß ihr zur Erde fallet, aber Meine Gerechtigkeit sagt, daß dies das Schicksal ist, das euch durch den Sohn bestimmt ward, und daß jedes Wort, das aus Seinem reinen, zuverlässigen und wahren Munde kam, ungeändert bleibt. Wahrlich, die Glocke erschallt in Meinem Namen und klagt um Meiner Seele willen, aber der Geist ist in der offenbaren Freude!

Sprich: Der Körper des Vielgeliebten sehnt sich nach dem Kreuze und Sein Haupt verlangt nach dem Speere auf dem Pfade des Barmherzigen. Wahrlich, der Ansturm der Unterdrücker bringt Ihn nicht ab vom Ziele Seiner Sehnsucht, denn Wir haben alles für die Begegnung mit deinem Herrn, dem Träger der Namen, vorgesehen. Gesegnet, wer sich Gott, dem Herrn des Tags des Gerichtes, nähert.

O Schar der Mönche! Wenn ihr Mir folgt, will Ich euch zu Erben Meines Reiches machen; hört ihr aber nicht auf Mich, dann werde Ich es auch in Geduld ertragen: wahrlich, Ich bin der Verzeihung Gewährende, der Barmherzige.

O Syrerland! Wo ist deine Redlichkeit? Du bist wahrhaftig geehrt worden durch die Schritte deines Herrn. Hast du den Duft der Einigung wahrzunehmen vermocht, oder bist du wohl noch unter den Sorglosen? Bethlehem ist noch verwirrt von dem Hauche Gottes, und Ich höre es rufen: „O großmütiger Herr, wo hast Du Deine große Herrlichkeit aufgerichtet? Hat doch der Hauch Deiner Einigung mich bereits wieder belebt, nachdem Dein Weggang mich niedergeschmettert hatte. Preis sei Dir, denn Du hast die Schleier gelüftet und bist machtvoll und strahlend in Herrlichkeit erschienen!“ Und von der Höhe des Zeltes der Majestät und Größe aus riefen Wir ihm zu: „O Bethlehem! Dieses Licht ist im Osten schon erschienen und es hat sich gen Westen gewandt, um in Seinen letzten Tagen zu dir zu gelangen. So sage mir denn erkennen die Kinder ihren Vater und glauben sie an Ihn, oder verwerfen sie Ihn wohl, wie andere Ihn einstens verworfen haben?“ Da rief es aus: „Du bist der Allwissende!“

Wahrlich, Wir versichern, daß alle Dinge für Uns zeugen; die einen wissen es, andere wissen es nicht. Der Sinai, schon durchbebt von der Erschütterung durch die Begegnung, hat seine liebliche Stimme zum Gedächtnisse seines Herrn, des Herrlichsten, erhoben in dem Rufe: „O mein Herr, ich nehme den Wohlgeruch Deines Gewandes wahr, denn Du hast Dich mit den offenbaren Zeichen genaht und hast dieses Land mit Deinen Schritten geehrt. Gesegnet sei Dein Volk, so es Dich erkennt und Deines Wohlgeruches gewahr wird, und wehe denen, die schlafen!“ [Seite 60]

Sei gesegnet, o du, der du dich dem Antlitz genähert hast, denn du hast die Schleier zerrissen, die Götzen zerbrochen und deinen Herrn von Ewigkeit her erkannt. Wahrlich, das Volk des Koran hat sich ohne irgendwelchen Beleg oder Beweis gegen Uns gewandt und auferlegt Uns jeden Augenblick neue Qual in der wahrhaftigen Einbildung, die Leiden würden Uns vom Ziele Unseres Sehnens abbringen; groß aber ist sein Irrtum! Wahrlich, dein Herr vermag, was Er will!

An keinem einzigen Baume bin Ich vorübergegangen, ohne daß Mein Geist zu ihm sprach: „Möchtest du in Meinem Namen gefällt und Mein Körper an dir gekreuzigt werden.“ Dies haben Wir in der Sultansschrift6) geoffenbart, auf daß das Volk der Religionen sich bei diesen Worten Meiner erinnere. Wahrlich, dein Herr ist der Wissende, der Weise.

Sei nicht betrübt über ihre Handlungen. Sie sind tot und nicht lebendig; so laß sie bei den Toten und wende dich Dem zu, Der alle Geschöpfe ins Leben zurückruft. Laß dich durch die Worte der Abtrünnigen nicht beeinflussen, sei unerschütterlich in der Sache und lehre die anderen mit großer Weisheit. Also befiehlt es dir der Herr der Erde und des Himmels. Wahrlich, Er ist der Mächtige, der Großmütige!

Gott wird in Bälde dein Andenken erhöhen und mit Seiner allerhöchsten Feder auf immer all das festlegen, was du aus Liebe zu Ihm verkündet hast. Wahrlich, Er steht den Liebevollen bei!

Rufe Mich jenem ins Gedächtnis zurück, der den Namen Murad trägt, und sage ihm: „Gesegnet seist du, o Murad, der du deine Wünsche von dir geworfen und dich der (großen) Sehnsucht aller Geschöpfe hingegeben hast!“

Sprich: Gesegnet der Schläfer, den Mein Säuseln wieder aufweckt; gesegnet der Tote, den Mein Odem wieder belebt; gesegnet die Augen, die Meine Schönheit erleuchtet; gesegnet der Sucher, der nach dem Zelte Meiner Majestät und Meiner Größe forscht; gesegnet der Geängstigte, der im Schatten Meiner Dome Zuflucht sucht; gesegnet der Durstige, der sich dem Salsabil7) Meiner Gunst zugewendet; gesegnet der Hungrige, der aus Liebe zu Mir seine Begierden aufgegeben und an der Tafel Platz genommen hat, die für Meine Erwählten vom Himmel Meiner Gnade herniederkam; gesegnet der Demütige, der das Seil Meiner Macht ergriffen, und der Arme, der sich in den Schatten der Zelte Meines Reichtums geflüchtet hat; gesegnet der Unwissende, der sich nah dem Kawthar8) Meines Wissens gesehnt, und der Achtlose, der sich am Seile Meiner Erinnerung festgehalten hat; gesegnet der Geist, der von Meinem Hauche belebt wurde und der in Mein Königreich eingetreten ist; gesegnet die Seele, die der Duft Meiner Einigung belebt und zum Dämmerungsort Meines Gebotes hingezogen hat; gesegnet das Ohr, das gehört, und die Zunge, die Zeugnis abgelegt, und das Auge, das geschaut und erkannt hat die Seele des Herrn, des Trägers der Glorie und der Kraft, des Herrn der Herrlichkeit und der Macht; gesegnet jene, die ans Ziel gelangt sind; gesegnet, wen immer die Sonne Meines Wortes erleuchtet; gesegnet, wer seine Stirn mit der Krone Meiner Liebe geschmückt hat; gesegnet, wer Mein Klagen vernommen und sich aufgemacht hat, um Mir inmitten Meines Volkes zur Seite zu stehen; gesegnet, wer sich auf Meinem Wege als Lösegeld gegeben und um Meines Namens willen gelitten hat; gesegnet, wer an Mein Wort geglaubt und sich inmitten der Toten zu Meinem Gedächtnis erhoben hat; gesegnet, wer von Meinen Melodien angezogen worden ist und die Schleier durch Meine Macht zerrissen hat; gesegnet, wer Mein Bündnis gehalten und wen die Welt nicht daran gehindert hat, in den Hof Meiner Heiligkeit vorzudringen!

Gesegnet, wer sich losgelöst hat von allem, was nicht Ich ist, wer sich in den Äther Meiner Liebe aufgeschwungen hat, wer in Mein Königreich eingetreten ist, wer die Bereiche Meiner Herrschaft kennengelernt, wer den Kawthar Meiner Gunst und den Salsabil Meiner Gnade getrunken, wer Meinen Befehl vernommen hat und all das, was in den Schatzkammern Meiner Worte versiegelt lag, und wer sich zum Himmel der verborgenen Bedeutung erhoben hat, zu Meiner Erwähnung und Meinem Lobpreis!

Wahrlich, er zählt zu den Meinen: Meine Barmherzigkeit, Meine Gunst und Mein Segen ruhen auf ihm!


1) „Aqdas“ bedeutet „Hochheilig”. Dieses Lawh-i-Aqdas (zu unterscheiden vom Kitáb-i-Aqdas, dem Hochheiligen Buch, dem Hauptgesetzeswerk der Bahá’í-Offenbarung) wurde von der Gesegneten Vollkommenheit, Bahá’u’lláh, während Seines Baghdáder Exils (1853—1863) geoffenbart und stellt, wenngleich an eine einzelne Person gerichtet, einen Aufruf an die ganze Christenheit dar.

2) Vgl. „Sonne der Wahrheit“ XIII. Jahrgang, Heft 3, Seite 31.

3) Gemeint sind die Christen.

4) Christus.

5) „Ja.“

6) Gemeint ist das Sendschreiben der Gesegneten Vollkommenheit an den Schah von Persien; s. „Sonne der Wahrheit“ XIII. Jahrgang, Seite 92.

7) Strom im Paradies.

8) Strom im Paradies.


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Bahá’i-Glaube[Bearbeiten]

Aus den Reden 'Abdu'l-Bahá’s in Paris, 1911


Die Liebe ist die Grundlage von Gottes Absicht den Menschen gegenüber, und Er hat uns befohlen, einander zu lieben, wie Er uns geliebt. Alle Uneinigkeit und Streitigkeiten, von denen wir heute auf allen Seiten hören, pflegen nur den Materialismus zu vergrößern, die Welt ist größtenteils im Materialismus versunken, und die Segnungen des göttlichen Geistes bleiben unbeachtet. Es gibt so wenig wirklich geistiges Empfinden, und der Fortschritt der Welt ist zumeist nur materieller Natur. Vielfach sind die Menschen vertiert, weil ihnen oft die geistigen Gefühle fehlen. Sie wenden sich Gott nicht zu, sie besitzen keine Religion. Geistige Gefühle sowohl als auch die Religion sind nur dem Menschen eigen, besitzt er sie nicht, so ist er ein Sklave der Natur und darum nicht viel besser als ein Tier.

Wie kann sich der Mensch damit zufrieden geben, nur ein tierisches Dasein zu führen, wenn Gott ihn zu einem so hohen Geschöpfe gemacht hat?

Gottes Macht ist allen Menschen sichtbar, und doch schließen sie ihre Augen und sehen diese Macht nicht. Die Sonne der Wahrheit scheint in vollem Glanz, aber mit seinen festgeschlossenen Augen kann der Mensch ihre Herrlichkeit nicht erblicken.

Der Mensch muß alle Vorurteile abtun und sich von den Folgen seiner Einbildungen frei machen, damit er ungehindert nach Wahrheit zu suchen vermag.

Der ernstlich Suchende wird die Wahrheit finden. Nach Wahrheit suchen, heißt alles hinwegräumen, was wir vorher gelernt haben, was unsere Schritte auf dem Weg zur Wahrheit hemmt. Wenn es nötig ist, so dürfen wir nicht davor zurückschrecken, unsere Erziehung von vorn zu beginnen.

Suchet die Wahrheit, denn „die Wahrheit wird euch freimachen“. Auf diese Weise werden wir Wahrheit in allen Religionen erkennen, denn Wahrheit ist in allen zu finden, und es gibt nur eine Wahrheit!

Die erste Entdeckung, die wir auf unserer Suche nach Wahrheit machen, wird uns zur weiteren Grunderkenntnis der Einheit des Menschengeschlechtes führen. Alle Menschen sind Diener des einen Gottes. Ein Gott herrscht über allen Völkern der Welt und hat Freude an allen seinen Kindern. Alle Menschen entstammen einer Familie, die Krone der Menschheit ruht auf dem Haupte eines jeden menschlichen Wesens.

In den Augen des Schöpfers sind alle seine Kinder gleich. Seine Güte ist über alle ausgegossen.

Der einzige Unterschied, der zwischen den Gliedern der menschlichen Familie besteht, ist der Unterschied im Grad ihrer Entwicklung: manche sind unwissend wie die Kinder und müssen erzogen werden, bis sie die Reife erlangt haben, andere sind wie Kranke und müssen gut und sorgfältig behandelt werden.

Das göttliche Gesetz der Anziehung, der Harmonie und der Einigkeit hält diese wunderbare Schöpfung zusammen. Wie es mit dem Ganzen ist, so ist es auch mit den Teilen. Dies gilt von der Blume wie vom menschlichen Körper: wenn das Gesetz der Anziehung aus ihnen zurückgezogen wird, so stirbt die Blume wie auch der Mensch. Es ist deshalb klar, daß Anziehung, Harmonie, Einigkeit und Liebe die Ursache des Lebens sind, während Abstoßung, Uneinigkeit, Haß und Trennung zur Ursache des Todes werden.

Das gleiche Gesetz wirkt in gleicher Weise in der geistigen Welt. Darum sollte jeder Diener des einen Gottes dem Gesetz der Liebe gehorchen und allen Haß, alle Uneinigkeit und allen Streit meiden.

Die wahre Liebe zeigt sich in Taten, nicht bloß in Worten. Worte haben allein keine Wirkung.

Wir müssen einen Weg finden, auf dem wir die Liebe unter der Menschheit verbreiten können. Die Liebe ist unbegrenzt, unbeschränkt und unendlich. Materielle Dinge sind begrenzt, beschränkt und endlich. Mit begrenzten Mitteln könnt ihr die unendliche Liebe nicht hinreichend zum Ausdruck bringen.

Wenn ihr ein Glied eurer Familie oder einen Landsmann liebt, so tut dies mit einem Strahl der unendlichen Liebe. Tut es in Gott und für Gott! Liebet jede Person, in der ihr die Eigenschaften Gottes findet, gleichviel, ob sie eurer Familie oder einer anderen angehört.

Das Unrecht besteht in der Welt deshalb weiter, weil die Menschen nur von ihren Idealen reden, und nicht darnach streben, sie in die Tat [Seite 62] umzusetzen. Würden Taten an Stelle der Worte treten, so würde das Elend in der Welt bald in Wohlergehen verwandelt werden. Ein Mensch, der viel Gutes tut und nicht davon spricht, ist auf dem Wege zur Vollkommenheit. Der Mensch, der nur wenig Gutes getan hat und es in seinen Reden rühmt, ist sehr wenig wert.

Strebt darnach, daß eure Taten Tag für Tag herrliche Gebete seien. Wendet euch Gott zu und suchet immer zu tun, was recht und edel ist. Helfet den Armen, richtet die Gefallenen auf, tröstet die Betrübten, heilet die Kranken, beruhigt die Furchtsamen, macht die Bedrückten frei, bringt Hoffnung zu den Verzweifelnden und gewähret den Verlassenen Zuflucht.

Dies ist die Arbeit eines wahren Bahá’i, dies ist es, was ich von ihm erwarte. Wenn wir darnach streben, so sind wir wahre Bahá’i, wenn wir es vernachlässigen, so sind wir keine Kinder des Lichts und haben kein Recht auf diesen Namen.

Gott, der in alle Herzen sieht, weiß, wie fern noch unser Leben von der Verwirklichung unserer Worte ist.



Nabíl’s Erzählung[Bearbeiten]

Übersetzung aus „The Dawn-Breakers“, Nabíl’s Narrative of the early days of the Bahá’i Revelation, New York 1932

(Fortsetzung 3. Kapitel: Der Báb erklärt Seine Sendung)


„Ich fuhr fort zu suchen, bis ich sie fand. Wutentbrannt fügte ich Mullá ‘Alí unsagbares Unrecht zu. Die Schläge, welche heftig auf ihn fielen, nahm er mit größter Gelassenheit und diesen Worten auf: ‚Halte ein mit deiner Hand, o ‘Abdu’l-Majíd, denn die Augen Gottes schauen auf dich. Ich nehme Ihn zu meinem Zeugen, daß ich für das Verhalten deines Sohnes in keiner Weise verantwortlich bin. Ich mache mir nichts aus den Qualen, welche du über mich bringst, denn ich bin vorbereitet, die schwersten Heimsuchungen auf dem von mir erwählten Pfade zu ertragen. Deine Schläge sind im Vergleich zu dem, was mir in Zukunft zu widerfahren bestimmt ist, wie ein Tropfen, verglichen mit dem Ozean. Wahrlich, ich sage, du wirst mich überleben und dazu kommen, meine Unschuld zu erkennen. Groß wird dann deine Reue und tief dein Kummer sein.‘ Über seine Bemerkungen spottend und seine Bitte nicht beachtend, schlug ich so lange auf ihn ein, bis ich erschöpft war. Schweigend und tapfer ertrug er diese völlig unverdiente Strafe aus meinen Händen. Schließlich befahl ich meinem Sohn mir zu folgen und überließ Mullá ‘Alí sich selbst.

„Auf unserem Rückweg nach Shíráz erzählte mir mein Sohn seinen Traum. Ein Gefühl tiefen Bedauerns erfüllte mich in wachsendem Maße. Die Unschuld Mullá ‘Alí ’s war in meinen Augen gerechtfertigt und der Gedanke an meine grausame an ihm begangene Tat bedrückte meine Seele noch lange. Diese Bitterkeit hielt in meinem Herzen bis zu der Zeit an, da ich mich gezwungen sah, meinen Wohnsitz von Shíráz nach Baghdád zu verlegen. Von Baghdád zog ich nach Kázimayn, wo ‘Abdu’l-Vahháb sein Geschäft errichtet hatte. Ein seltsames Geheimnis lag auf seinem jugendlichen Antlitz. Er schien vor mir ein Geheimnis zu verbergen, welches sein Leben offenbar verändert hatte. Und als im Jahre 1267 A.H.1) Bahá’u’lláh nach dem ‘Iráq reiste und Kázimayn besuchte, verfiel ‘Abdu’l-Vahháb sofort dem Zauber Seiner Erscheinung und gelobte Ihm unsterbliche Ergebenheit. Einige Jahre später, als mein Sohn in Tihrán Märtyrertum auf sich nahm und Bahá’u’lláh nach Baghdád verbannt wurde, erweckte Er mich mit unendlicher Liebesgüte und Barmherzigkeit aus dem Schlafe der Nachlässigkeit und Er selbst lehrte mich die Botschaft des Neuen Tages, mit den Wassern der Göttlichen Vergebung die Schandfllecken jener grausamen Tat wegwaschend.“

Dieses Geschehnis bezeichnet die erste Heimsuchung, welche einen Jünger des Báb nach der Erklärung Seiner Sendung befiel. Durch diese Erfahrung wurde es Mullá ‘Alí bewußt, wie tief und dornig der Pfad war, welcher ihn schließlich zu seiner Erfüllung der Verheißung führen sollte, die ihm sein Meister gegeben hatte. Völlig in Seinen Willen ergeben und darauf vorbereitet, sein Lebensblut für Seine Sache zu vergießen, setzte er seine Reise fort, bis er Najaf erreichte. In der Gegenwart des Shaykh Muhammad-Hasan, eines der höchstverehrten [Seite 63] Geistlichen des schiitischen Islám, und vor einem Kreis seiner hervorragendsten Schüler, verkündete Mullá ‘Alí furchtlos die Offenbarung des Báb, des Tores, dessen Erscheinen sie sehnsüchtig erwarteten. „Sein Beweis“, so erklärte er, „ist Sein Wort; Sein Zeugnis kein anderes als das Zeugnis, durch welches der Islám seine Wahrheit zu verteidigen sucht. Aus der Feder dieses ungeschulten haschimitischen Jünglings Persiens ist innerhalb achtundvierzig Stunden eine ebenso große Anzahl Verse, Gebete, Homilien2) und wissenschaftliche Abhandlungen geflossen wie sie dem Umfang des ganzen Qur’án entspricht, den zu offenbaren Muhammad, der Prophet Gottes, dreiundzwanzig Jahre beanspruchte!“ Anstatt in einem Zeitalter der Finsternis und des Vorurteils diese lebensspendenden Beweise einer neuen Offenbarung willkommen zu heißen, bezeichnete dieser stolze und fanatische Führer ihn sofort als einen Ketzer und vertrieb ihn aus der Versammlung. Seine Schüller und Anhänger, sogar die Scheichisten, welche Mullá ‘Alí’s Frömmigkeit, Aufrichtigkeit und Gelehrsamkeit bereits bestätigt hatten, schlossen sich ohne Zögern dem Urteil gegen ihn an. Die Schüler des Shaykh Muhammad-Hasan leihten ihren Gegnern Unterstützung und überhäuften ihn mit ungezählten Beschimpfungen. Schließlich übergaben sie ihn, seine Hände in Ketten gebunden, einem türkischen Regierungsbeamten, bei dem sie ihn als einen Vernichter des Islam, als einen Verleumder des Propheten, als einen Anstifter von Unheil und als einen Schandfleck für den Glauben anklagten, der die Todesstrafe verdiene. Er wurde unter Bedeckung von Regierungsbeamten nach Baghdád gebracht und durch den Gouverneur dieser Stadt ins Gefängnis geworfen.

Hájí Háshim mit dem Beinamen ‘Attár, ein berühmter Kaufmann, welcher in den Schriften des Islams sehr bewandert war, erzählte folgendes: „Ich war bei einer Gelegenheit im Regierungsgebäude anwesend, als Mullá ‘Alí in die Gegenwart der versammelten Würdenträger und Regierungsbeamten der Stadt befohlen wurde. Er wurde öffentlich beschuldigt, ein Ungläubiger und ein Übertreter der islamitischen Gesetze zu sein, der gegen ihre rituellen und anerkannten Vorschriften verstoße. Nachdem alle seine Verstöße und Missetaten aufgezählt waren, wandte sich der Muftí, der höchste Erklärer des islamitischen Gesetzes dieser Stadt, an ihn mit den Worten: ‚O Feind Gottes!' Da ich einen Platz neben dem Mufti einnahm, flüsterte ich ihm ins Ohr: ‚Bis jetzt bist du mit dem unglücklichen Fremden noch nicht bekannt. Warum richtest du an ihn solche Worte? Ist dir nicht bewußt, daß durch derartige Worte, wie du sie an ihn gerichtet hast, der Zorn des gemeinen Volkes gegen ihn hervorgerufen wird? Es geziemt dir, die unverbürgten Beschuldigungen, die von diesen zudringlichen Menschen gegen ihn vorgebracht werden, nicht zu beachten, ihn selbst zu befragen und das Urteil über ihn gemäß den anerkannten Rechtsregeln auszusprechen, wie sie durch den Glauben des Islams eingeschärft sind.‘ Der Mufti war sehr ungehalten, erhob sich von seinem Sitz und verließ die Versammlung. Mullá ‘Alí wurde von neuem ins Gefängnis geworfen. Nach einigen Tagen erkundigte ich mich nach ihm, in der Hoffnung, seine Befreiung durchzusetzen. Ich erfuhr, daß er in der Nacht dieses gleichen Tages nach Konstantinopel verschickt worden sei. Ich stellte weitere Nachforschungen an und bemühte mich, herauszufinden, was mit ihm zuletzt geschah. Ich konnte jedoch die Wahrheit nicht erfahren. Einige glaubten, daß er auf dem Wege nach Konstantinopel erkrankt und gestorben sei. Andere behaupteten, daß er den Märtyrertod erlitten habe!3) Was auch sein Ende gewesen sein mag, Mullá ‘Alí hat durch sein Leben und seinen Tod die unsterbliche Auszeichnung erworben, der erste Dulder auf dem Pfade dieses neuen Glaubens Gottes gewesen zu sein, der erste, der sein Leben auf den Altar des Opfers niederlegte.

Nachdem der Báb Mullá ‘Alí auf seine Mission ausgesandt hatte, rief er die übrigen Buchstaben des Lebens in Seine Gegenwart, gab jedem einzelnen einen besonderen Befehl und stellte jedem eine besondere Aufgabe. Er richtete an sie diese Abschiedsworte: „O Meine geliebten Freunde! Ihr seid die Träger des Namens Gottes an diesem Tag. Ihr seid als die Verwahrungsorte Seines Geheimnisses erwählt worden. Es geziemt jedem einzelnen von euch, die Eigenschaften Gottes zu offenbaren und durch eure Taten und Worte für die Zeichen Seiner [Seite 64] Gerechtigkeit, Seiner Macht und Herrlichkeit als Beispiel zu dienen. Selbst die Glieder Eures Körpers müssen von der Erhabenheit eures Ziels, der Rechtschaffenheit eures Lebens, der Wirklichkeit eures Glaubens und dem hohen Charakter eurer Ergebenheit Zeugnis ablegen. Denn wahrlich, Ich sage, dies ist der Tag, von dem Gott in Seinem Buch4) gesprochen hat: ‚An jenem Tage werden Wir einen Siegel auf ihren Mund setzen; doch ihre Hände werden zu Uns sprechen und ihre Füße werden davon Zeugnis ablegen, was sie getan haben.‘ Denket über die Worte Jesu nach, welche Er an Seine Jünger richtete, als Er sie aussandte, um die Sache Gottes zu verkünden. Mit Worten wie diese forderte Er sie auf, sich zu erheben und ihre Mission zu erfüllen: ‚Ihr seid selbst wie das Feuer, welches in der Dunkelheit der Nacht auf der Spitze des Berges entzündet worden ist. Lasset euer Licht leuchten vor den Augen der Menschen. So groß muß die Reinheit eures Charakters und der Grad eurer Loslösung sein, daß die Menschen der Erde durch euch den himmlischen Vater, welcher die Quelle der Reinheit und Gnade ist, erkennen und näher zu Ihm hingezogen werden. Denn niemand hat den Vater gesehen, welcher im Himmel ist. Ihr, die ihr Seine geistigen Kinder seid, müßt durch eure Taten Seine Tugenden beweisen und Zeugnis Seiner Herrlichkeit sein. Ihr seid das Salz der Erde; wenn aber das Salz faul wird, womit soll man salzen? So hoch muß die Stufe eurer Loslösung sein, daß, in welche Stadt ihr auch eintreten werdet, um die Wahrheit Gottes zu verkünden und zu lehren, ihr in keiner Weise weder Speise noch Lohn von ihren Einwohnern erwartet. Nein, vielmehr, wenn ihr die Stadt verlasset, so sollt ihr den Staub von euren Füßen schütteln. Ebenso rein und makellos, wie ihr eingekehrt seid, müsset ihr die Stadt auch wieder verlassen. Denn wahrlich, Ich sage euch, der himmlische Vater ist stets mit euch und wacht über euch. Wenn ihr Ihm treu seid, so wird Er sicherlich alle Schätze der Erde in eure Hand legen und euch über alle Regenten und Könige der Erde erheben. 'O Meine Buchstaben! Wahrlich, Ich sage, unermeßlich ist dieser Tag über die Tage der Apostel jener Zeit erhöht. Nein, unmeßbar ist der Unterschied! Ihr seid die Zeugen des Anbruchs des verheißenen Tages Gottes. Ihr habt teil an dem geheimnisvollen Kelch Seiner Offenbarung. Gürtet eure Lenden mit Eifer und seid eingedenk der Worte Gottes, wie sie in Seinem Buch5) geoffenbart sind: ‚Siehe, der Herr, dein Gott ist gekommen und mit Ihm die Zahl Seiner Engel, die vor Ihm hergehen!‘ Reiniget eure Herzen von weltlichen Wünschen und lasset engelhafte Tugenden Euren Schmuck sein. Ringet darnach, daß eure Taten Zeugnis ablegen mögen von der Wahrheit dieser Worte Gottes, und achtet darauf, daß nicht durch ‚Zurückschauen‘ Er euch gegen ein anderes Volk tauschen möge‘, ‚welches nicht euresgleichen ist‘ und welches das Königreich Gottes von euch nehmen wird. Die Tage, wo inhaltsloser Gottesdienst als ausreichend erachtet wurde, sind vorüber. Die Zeit ist gekommen, wo nichts als die lautersten Beweggründe, getragen von Taten unbefleckter Reinheit, zu dem Throne des Höchsten emporsteigen können und von Ihm angenommen werden. ‚Das gute Wort erhebt sich zu Ihm und die gerechte Tat wird zur Ursache der Erhöhung vor Ihm.‘ Ihr seid die Niedrigen, von denen Gott in Seinem Buch5) solcherweise gesprochen hat: ‚Und Wir wünschen jenen, welche im Lande niedrig geboren sind, Güte zu erweisen, sie zu geistigen Führern unter den Menschen und zu Unseren Erben zu machen! Zu dieser Stufe seid ihr berufen worden; ihr werdet sie nur dann erlangen, wenn ihr euch erhebt, um jeden weltlichen Wunsch unter eure Füße zu treten und um euch zu bemühen, jene 'geehrten Diener vor Ihm‘ zu werden, ‚welche nicht eher sprechen, als bis Er gesprochen hat, und die Seine Befehle befolgen‘. Ihr seid die ersten Buchstaben, die aus dem Ersten Punkt6) hervorgegangen sind, die ersten Quellen, welche der Quelle dieser Offenbarung entsprungen sind.

(Fortsetzung folgt.)-


1) 1850—51.

2) Heilige Texte erläuternde Betrachtungen.

3) Nach Muhammad Mustafá hatte Mullá ‘Alí auf Befehl Najíb Páshá’s, des Gouverneurs der Stadt, eine sechsmonatige Gefangenschaft in Baghdád auf sich zu nehmen. Von dort aus mußte er sich nach Konstantinopel begeben, entsprechend den von der Türkischen Regierung erhaltenen Weisungen. Er kam durch Mosul, wo er für die neue Offenbarung Interesse erwecken konnte. Seine Freunde konnten jedoch nicht in Erfahrung bringen, ob er schließlich seinen Bestimmungsort erreichte.

4) Der Qur’án.

5) Der Qur’án.

6) Einer der Namen des Báb.




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