Schriften zur Bahá’í-Erziehung
herausgegeben
von der Weltgemeinschaft, Wandsbek
von der Weltgemeinschaft, Wandsbek
Nr. 1
Dr. Hermann Grossmann:
Bahä’i-Erziehung.
Referat gehalten gelegentlich des 3. Deutschen Bahä’i- Kongresses
Stuttgart 1924.
Stuttgart 1924.
Weltgemeinschaft
Deutscher Zweig
Wandsbek (Hamburg)
1924,
Deutscher Zweig
Wandsbek (Hamburg)
1924,
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Es ist einer der ganz großen Gedanken der Bahá’ílehre, daß sie überall in unserem Erkenntniskreis das beherrschende Gesetz der Entwickelung nachweist. Dadurch, daß sie diese Entwickelung in Zyklen lehrt, von denen jeder als geschlossener Kreis ein Glied wiederum von einem größeren Zyklus ist, wird für unser Erfassen die Welt zu einem großen Rädergetriebe, worin ein Rad das andere antreibt. Alles befindet sich in Bewegung, wird unter dem Gesetz von Ursache und Wirkung fortgerissen. Aber während diese Entwickelung sonst in der Natur gleichsam automatisch erfolgt, wird sie für den Menschen bis zu einem gewissen Grade zu einer leitbaren, indem er mit seinem Willen einzugreifen vermag. Allein nur bis zu einem gewissen Grade, das die Handlungsfreiheit des Menschen ebenfalls dem Gesetz von Ursache und Wirkung unterliegt. Seine Natur bedingt verschiedene Notwendigkeiten, zu denen er hinstreben muß (als Notwendigkeit erkennen wir heute unter dem großen allgemeinen Entwickelungsgesetz den Frieden und die Harmonie). Die Naturveranlagung ist hier also die Ursache und ihre Wirkung muß die Erreichung und Verwirklichung dieser Notwendigkeiten sein. Hieran kann kein Dagegenstemmen der Menschen etwas ändern. Sie werden dadurch nur auf die verschiedensten Umwege geraten, aber gerade diese Umwege werden es jedesmal sein, wodurch sie schließlich den eigentlichen Weg erreichen und umso sicherer erkennen. Die Tatsache, daß wir wohl in der Wahl des Weges, nicht aber in der unseres letzten Zieles frei sind, ergibt für den erkennenden Menschen die Notwendigkeit, in jeder Weise auf dem kürzesten Wege dem gegebenen Ziele zuzustreben, will er den Wirrnissen ausweichen, durch die er sonst hindurchgehen müßte. Hierin finden wir in wundervoll verfeinerter Form die Lehre Buddhas wieder, daß alles in der Welt Leid ist und wir nur durch Ueberwindung des Leids frei werden.
Diesen kürzesten Weg zum Ziele zu finden aber bedarf es für den Menschen der Erziehung. Er muß zur Erkenntnis des Zieles sowohl als auch dessen gebracht werden, was ihn auf seinem Wege dorthin abzulenken vermag und wie er es zu überwinden im Stande sein wird. So wird es uns klar, daß die Bahá’ílehre ohne Erziehung undenkbar ist, ja, daß Erziehung ihr fundamentales Gesetz ist. Louise Waite hat sie geradezu die Religion der Erziehung genannt*), und wir können die Freunde überall in der Welt nicht oft genug daran erinnern, daß hier der Angelpunkt und die Vor-
*) Star of the West, 15,2 S. 24.
aussetzung für eine wirkliche und unverfälschte Ausbreitung der Lehre ist. Jeder, der den Namen eines Nachfolgers Bahá’u’lláh’s annimmt, sollte sich darüber klar sein, daß er damit eine doppelte gewaltige Pflicht übernimmt: zuerst (und das ist das schwerste) sich selbst zu erziehen auf Grund der Erkenntnis, die uns durch Bahá’u’lláh und ‘Abdu’l-Bahá geschenkt worden ist, und dann selber zum Erzieher der andern zu werden. Das ist der tiefe Sinn, der in den ständigen Mahnungen Bahá’u’lláh’s und ‘Abdu’l-Bahá’s liegt, unsere Taten über unsere Worte zu stellen, denn die Tat ist es, die den Grad der Erziehung allein nach außen hin erkennen läßt.
Zwiefach ist die Erziehung, wie sie uns Bahá’u’lláh lehrt: physisch und geistig. Die physische Erziehung ist eine Notwenigkeit für den Menschen im physisch gebundenen Zustand und umfaßt die äußere Erziehung, die der Entwickelung und Verfeinerung unseres Körpers dient, wie auch die menschliche Erziehung, deren Ziel der Kulturfortschritt ist. Im Gegensatz zu ihr steht die geistige, göttliche Erziehung, durch die der Mensch dazu geführt werden soll, sich über die Materie zu erheben, das heißt, jenes Ziel zu erreichen, das er seiner Natur nach erreichen muß. Sie ist nicht an den physischen Zustand des Menschen gebunden. Was die physische Entwicklung anbelangt, so vermag der Mensch hier durch seinen Verstand selber Fortschritte zu erzielen: er studiert den menschlichen Organismus und die Notwendigkeiten zu seiner Erhaltung, schafft ein geordnetes und weises Staatswesen, macht Erfindungen und Entdeckungen. Infolgedessen vermag der Mensch auch den Plan für seine physische Erziehung bis zu einem gewissen Grade selbst zu entwerfen und durchzuführen
Anders dagegen bei der geistigen Erziehung. Vergegenwärtigen wir uns, daß die Menschheit zu ihrer geistigen Entwickelung Jahrtausende bedarf, so erkennen wir, daß der Plan zu einer entsprechenden Erziehung unmöglich von Menschen ausgedacht werden kann, da sie selber im Verlauf der Entwickelung das große Endziel noch nicht zu erkennen, geschweige denn zu erfassen vermöchten und infolgedessen auch den ganzen Weg, der zu ihm hinführt, nicht überschauen konnten. Der geistige Erziehungsplan muß daher göttlichen Ursprungs sein, und die Vermittler der göttlichen Erziehung sind Seine Manifestationen. Daraus ergibt sich für uns die Pflicht, den Erziehungsboten der Manifestationen zu gehorchen und unsere geistige Erziehung nach ihnen zu richten. Für unsere gegenwärtige[Seite 5]
Zeit sind Bahá’u’lláh und ‘Abdu’l-Bahá die göttlichen Erzieher und Ihre Gebote uns vorgeschrieben.
Die verschiedenen Manifestationen waren indessen in der Regel zur gleichen Zeit auch Gesetzgeber für die physische Erziehung der Menschen. Dank ihrer größeren Erkenntnis vermochten sie besser die Zeitnotwendigkeiten zu erkennen, als dies den Menschen ihrer Epoche möglich war. Darum sollten die Menschen auch diese physische Dinge betreffenden Gebote sich zu eigen machen. Auch Bahá’u’lláh und ‘Abdu’l-Bahá haben unsrer Zeit in klarer Weise einen Weg zur physischen Erziehung vorgezeichnet, den wir in erster Linie bei allen physischen Erziehungsplänen zu beachten haben.
Betrachten wir kurz die hauptsächlichsten die Erziehung betreffenden Gebote Bahá’u’lláh’s. Professor Standwood Cobb**) faßt sie nach ihren charakteristischen Merkmalen folgendermaßen zusammen:
- 1. DIE ERZIEHUNG MUß UNIVERSAL UND UMFASSEND SEIN. Umfassend sowohl in Bezug auf die von ihr vermittelten Kenntnisse als auch darauf, daß alle Menschen in gleicher Weise an den Segnungen der Erziehung teil haben sollen.
- 2. DIE ERZIEHUNG SOLL IN STÄRKEREM MAßE, ALS DIES BISHER ÜBLICH WAR, EINE PRAKTISCHE SEIN. Der Wert theoretischen Unterrichts ist gering, wenn er nicht die Anleitung zur Umsetzung in die Praxis enthält. Der Schulunterricht soll unter anderem die Lust zum Beruf wecken und das Verständnis für ihn vorbereiten.
- 3. DIE ERZIEHUNG SOLLTE SICH NUR MIT SOLCHEN DINGEN BEFASSEN, DIE DEM MENSCHLICHEN FORTSCHRITT UND WOHLERGEHEN DIENEN. Eine weise Auswahl der Fächer wird dann verhüten, daß über dem Allzuviel das Wertvolle zum Nebensächlichen wird.
- 4. ALLE ERZIEHUNG MUß MIT FREUDIGKEIT GEPAART SEIN. Die Schule muß aufhören, den Schülern zur Last zu sein. Wenn sie die wünschenswerte Auswahl der Fächer trifft, so wird es sich nicht mehr nötig erweisen, die Schüler mit Wissen zu überfüttern, und die Zahl der täglichen Unterrichtsstunden ließe sich herabsetzen, wodurch unnötige Ermüdung der Schüler vermieden würde. Die Schule müßte ferner aufhören, die Kinder uniformieren, in eine bestimmte Form zwän-
**) Star of the West, 14,1 S. 4 f.
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gen zu wollen, statt ihren individuellen Veranlagungen Rechnung zu tragen und diese zu entwickeln.
In diesen vier Punkten ruht das ganze Erziehungsprogramm der Zukunft. Vor allem aber sollte jeder Erzieher stets dessen eingedenk sein, welche große Verantwortung im Erziehungswerk liegt, sind doch die Kinder, wie Bahá’u’lláh lehrt, unbeschriebenen Blättern zu vergleichen, in die der Erzieher die Schrift schreibt. An ihm liegt es, aus den weichen, formbaren Kinderseelen Menschen zu schaffen, die in sich die Gebote wahren geistigen Strebens zu verwirklichen bemüht sein werden. Er muß sich immer bewußt bleiben, daß ihm die Verantwortung für die Entwickelung der kommenden Generation liegt.
Aus dem Geist der Lehren Bahá’u’lláh’s heraus ergeben sich zahlreiche Regeln allgemeiner Natur, die für die Erziehung von Wichtigkeit sind. Betrachten wir das Verhältnis vom Lehrer zum Lernenden. Zunächst die Auswertung, die sich für den Lehrer ergibt:
- 1. JEDER MENSCH IST IN GEWISSEM SINNE LEHRER ABER ZUGLEICH AUCH LERNENDER. Daraus folgt einmal, daß wir uns stets so verhalten müssen, daß unsere Worte und Handlungen anderen zur Lehre dienen können, und zum andern, daß wir stets bereit sein müssen, selber zu lernen und uns erinnern, daß unsere Anschauungen durch Neugelerntes berichtigt werden könnten.
- 2. WAHRE BELEHRUNG MUß DURCH WORTE UND TATEN ERFOLGEN. Schlechte Taten entkräftigen gute Worte, die Handlungen werden jedem offensichtlich, die Worte aber nicht. Daraus ergibt sich, daß der Lehrer in seinen Handlungen verwirklichen muß, was seine Worte lehren und daß er sich der guten Handlungen zuerst befleißigen muß.
- 3. DER LERNENDE SCHAUT IN ALLEM, WAS ER LERNEN MÖCHTE, AUF DEN LEHRER. Daher muß der Lehrer ein Vorbild sein können. Er muß sich hüten, in Einseitigkeit zu verfallen, um in allem als Vorbild zu dienen.
- 4. DER PERSÖNLICHE EINFLUß DES LEHRERS IST ERFORDERLICH, um Liebe und Vertrauen des Lernenden zu gewinnen, doch muß es stets die Sache und nicht die Person sein, die den Lernenden anzieht, da nur so von ihm Selbständigkeit und Gewinn aus der Lehre erlangt werden kann.
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In Bezug auf den Lernenden läßt sich folgendes sagen:
- 1. DER LERNENDE IST ALS WERDENDE PERSÖNLICHKEIT ZU BETRACHTEN. Er muß zunächst zur Höhe des Lehrers erzogen werden, dann aber soll die Erziehung ihm eine solche Selbständigkeit gegeben haben, daß er über den Lehrer hinauszuwachsen vermag. Dies stellt große Anforderungen an die Selbstüberwindung des Lehrers, solange er jedoch dieses Gebot nicht zu verwirklichen gelernt hat, solange er noch den geringsten geistigen Vorrang bewahren möchte, ist er nicht im Stande, ein wahrer Erzieher und Lehrer zu sein.
- 2. DIE INDIVIDUALITÄT DES LERNENDEN MUß DURCH DEN LEHRER IN WEITESTEM MAßE BERÜCKSICHTIGT WERDEN. Dies bedeutet die bereits erwähnte Forderung, die Schüler nicht durch schematischen Unterricht zu uniformieren, dann die Notwendigkeit, auf das Fassungsvermögen des einzelnen Rücksicht zu nehmen, sodaß nicht nur einige wenige den Nutzen des Unterrichts und der Erziehung genießen, während die übrigen dem Lehrer nicht zu folgen vermögen und so in der Erziehung zurückbleiben.
- 3. ES MUß DER UMGEBUNG DES LERNENDEN, DEN GEWOHNTEN LOKALEN, NATIONALEN, SOZIALEN UND RELIGIÖSEN EIGENARTEN RECHNUNG GETRAGEN WERDEN. Jedes Herausreißen aus diesen Eigenarten ist zu vermeiden, statt dessen muß der Lehrer den Lernenden, wo es sich als nötig erweist, allmählich darüber hinauswachsen lassen.
Besondere Beachtung verdient, was wir aus den Lehren Bahá’u’lláh’s über FÜHRERSCHAFT entnehmen können. Jeder wahre Lehrer ist ein Führer, und es sollte unser Gebet sein, daß wir alle die Eigenschaften erlangen dürfen, durch die wir uns zu Führern auswachsen, aber wir müssen uns vor dem Führenwollen hüten. Der wahre Führer führt durch die Macht seiner Persönlichkeit, er kennt kein Wollen sondern nur ein Dienen und muß jederzeit bereit sein, zurücktreten zu können, dann aber wird er weder durch Ränke noch durch Hinterlist von irgend jemandem seiner Führerschaft beraubt werden können.
Große Aufmerksamkeit und Sorgfalt ist dem Weg der Erziehung zuzuwenden. Erziehung ist gleichbedeutend mit Entwickelung. Daraus folgt, daß alle Erziehung organisch erfolgen muß,[Seite 8]
das heißt, sie muß eines aus dem andern und nach dem andern entwickeln. Sprunghafte Erziehung kann keinen wahrhaften Nutzen bringen, wie auch der Baum keine Früchte hervorbringen kann, ohne vorher geblüht zu haben, und die Blüte sich wieder aus der Knospe entwickeln muß. Aus der Entwickelung folgt ferner, daß es für die Erziehung keinen Abschluß gibt, da nach den Lehren Bahá’u’lláh’s alle Entwickelung in Zyklen erfolgt und somit für unser Begreifen unbegrenzt ist.
Eine weitere praktische Anweisung auf dem Erziehungswege ist es, das Allzuviel zu meiden. Vom Allzuviel im Unterricht war bereits die Rede. Aber nicht nur der Lehrer, sondern jeder einzelne sollte sie sich zu Nutze machen. Er wird sich dadurch vor mancher Verzagtheit, die ihn sonst so leicht befällt, bewahren. Wenn der Wunsch zur geistigen Entwickelung in uns wach wird, so pflegen wir uns das, was uns ändernswert an uns erscheint, nebeneinander zu vergegenwärtigen und uns vorzunehmen, alles zu überwinden. Aber dann machen wir meistens die Erfahrung, daß wir immer und immer wieder das eine und das andere von unserem Vorsatz aus dem Gedächtnis lassen und dagegen handeln. Das liegt am Allzuviel in unserem Vorsatz, wodurch uns die Uebersicht verloren geht. Wenden wir stattdessen unsern ganzen Wunsch und unser Gebet dem großen Ziele zu, das wir erreichen möchten, so werden wir uns nicht in Einzelheiten verlieren. Unsere Entwickelung wird organisch erfolgen und uns auf unserm Wege all das schicken, was zu der Ueberwindung auch der Einzelheiten nötig ist. Denn wir selber können nicht ermessen, wessen wir bedürfen.
Und noch eines sollten wir erinnern, wenn wir glauben, stets neu in alte Fehler zu verfallen: es ist nie der alte Fehler, der sich wiederholt. Unbewußt haben wir beim letzten Mal gelernt und darum diesmal, wenn auch kaum merklich, anders gehandelt. Der scheinbare Rückfall zeigt uns nicht, daß wir seit dem letzten Mal nicht gelernt, sondern nur, daß wir noch nicht genug gelernt haben. Die Rückfälle sind die Meilensteine an unserem Entwicklungsweg. Viele hundert Kilometer ist er lang und auf jeden Kilometer gehen zehn Meilensteine. Wenn auch der Weg von einem Meilenstein zum andern nur kurz ist, so erkennen wir doch an jedem, daß wir voran kamen. Nur Geduld ist nötig. Aus jedem neuen Mal zu lernen suchen und mit dem Wunsch zu wachsen freudig und voll Vertrauen zu dem Ziele voranschauen, so werden wir den Weg zu Ende gehen, von sichrer Hand geführt.