Sonne der Wahrheit/Jahrgang 6/Heft 8/Text

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SONNE

DER

WAHRHEIT
Heft VIII OKT. 1926
ORGAN DES DEUTSCHEN BAHAI-BUNDES STUTTGART


[Seite 112] Abdu’l-Bahás Erläuterung der Bahai-Prinzipien.


1. Die ganze Menschheit muss als Einheit betrachtet werden.

Baha’u’lláh wandte Sich an die gesamte Menschheit mit den Worten: „Ihr seid alle die Blätter eines Zweigs und die Früchte eines Baumes“. Das heißt: die Menschheit gleicht einem Baum und die Nationen oder Völker gleichen den verschiedenen Aesten und Zweigen; die einzelnen Menschen aber gleichen den Blüten und Früchten dieses Baumes. In dieser Weise stellte Baha’u’lláh das Prinzip der Einheit der Menschheit dar. Baha’u’lláh verkündigte die Einheit der ganzen Menschheit, er versenkte sie alle im Meer der göttlichen Gnade.


2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.

In religiösen Fragen sollte niemand blindlings seinen Eltern und Voreltern folgen. Jeder muß mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören und die Wahrheit suchen, denn die Religionen sind häufig nichts anderes als Nachahmungen des von den Eltern und Voreltern übernommenen Glaubens.


3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.

Alle göttlichen Verordnungen beruhen auf ein und derselben Wirklichkeit. Diese Grundlage ist die Wahrheit und bildet eine Einheit, nicht eine Mehrheit. Daher beruhen alle Religionen auf einer einheitlichen Grundlage. Im Laufe der Zeit sind gewisse Formen und Zeremonien der Religion beigefügt worden. Dieses bigotte menschliche Beiwerk ist unwesentlich und nebensächlich und verursacht die Abweichungen und Streitigkeiten unter den Religionen. Wenn wir aber diese äußere Form beiseite legen und die Wirklichkeit suchen, so zeigt sich, daß es nur eine göttliche Religion gibt.


4. Die Religion muss die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.

Die Religion ist für die Menschheit die größte göttliche Gabe, die Ursache des wahren Lebens und hohen sittlichen Wertes; sie führt den Menschen zum ewigen Leben. Die Religion sollte weder Haß und Feindschaft noch Tyrannei und Ungerechtigkeiten verursachen. Gegenüber einer Religion, die zu Mißhelligkeit und Zwietracht, zu Spaltungen und Streitigkeiten führt, wäre Religionslosigkeit vorzuziehen. Die religiösen Lehren sind für die Seele das, was die Arznei für den Kranken ist. Wenn aber ein Heilmittel die Krankheit verschlimmert, so ist es besser, es nicht anzuwenden.


5. Die Religion muss mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.

Die Religion muß mit der Wissenschaft übereinstimmen und der Vernunft entsprechen, so daß die Wissenschaft die Religion, die Religion die Wissenschaft stützt. Diese beiden müssen unauflöslich miteinander verbunden sein.


6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.

Dies ist eine besondere Lehre Baha’u’lláhs, denn die früheren Religionen stellen die Männer über die Frauen. Töchter und Söhne müssen gleichwertige Erziehung und Bildung genießen. Dies wird viel zum Fortschritt und zur Einigung der Menschheit beitragen.


7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.

Alle Propheten Gottes kamen, um die Menschen zu einigen, nicht um sie zu trennen. Sie kamen, um das Gesetz der Liebe zu verwirklichen, nicht um Feindschaft unter sie zu bringen. Daher müssen alle Vorurteile rassischer, völkischer, politischer oder religiöser Art abgelegt werden. Wir müssen zur Ursache der Einigung der ganzen Menschheit werden.


8. Der Weltfriede muss verwirklicht werden.

Alle Menschen und Nationen sollen sich bemühen, Frieden unter sich zu schließen. Sie sollen darnach streben, daß der universale Friede zwischen allen Regierungen, Religionen, Rassen und zwischen den Bewohnern der ganzen Welt verwirklicht wird. Die Errichtung des Weltfriedens ist heutzutage die wichtigste Angelegenheit. Die Verwirklichung dieses Prinzips ist eine schreiende Notwendigkeit unserer Zeit.


9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung geniessen.

Alle Menschen müssen erzogen und belehrt werden. Eine Forderung der Religion ist, daß jedermann erzogen werde und daß er die Möglichkeit habe, Wissen und Kenntnisse zu erwerben. Die Erziehung jedes Kindes ist unerläßliche Pflicht. Für Elternlose und Unbemittelte hat die Gemeinde zu sorgen.


10. Die soziale Frage muss gelöst werden.

Keiner der früheren Religionsstifter hat die soziale Frage in so umfassender, vergeistigter Weise gelöst wie Baha’u’lláh. Er hat Anordnungen getroffen, welche die Wohlfahrt und das Glück der ganzen Menschheit sichern. Wenn sich der Reiche eines schönen, sorglosen Lebens erfreut, so hat auch der Arme ein Anrecht auf ein trautes Heim und ein sorgenfreies Dasein. Solange die bisherigen Verhältnisse dauern, wird kein wahrhaft glücklicher Zustand für den Menschen erreicht werden. Vor Gott sind alle Menschen gleich berechtigt, vor Ihm gibt es kein Ansehen der Person; alle stehen im Schutze seiner Gerechtigkeit.


11. Es muss eine Einheitssprache und Einheitsschrift eingeführt werden.

Baha’u’lláh befahl die Einführung einer Welteinheitssprache. Es muß aus allen Ländern ein Ausschuß zusammentreten, der zur Erleichterung des internationalen Verkehrs entweder eine schon bestehende Sprache zur Weitsprache erklären oder eine neue Sprache als Weltsprache schaffen soll; diese Sprache muß in allen Schulen und Hochschulen der Welt gelehrt werden, damit dann niemand mehr nötig hat, außer dieser Sprache und seiner Muttersprache eine weitere zu erlernen.


12. Es muss ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.

Nach dem Gebot Gottes soll durch das ernstliche Bestreben aller Menschen ein Weltschiedsgerichtshof geschaffen werden, der die Streitigkeiten aller Nationen schlichten soll und dessen Entscheidung sich jedermann unterzuordnen hat.

Vor mehr als 50 Jahren befahl Baha’u’lláh der Menschheit, den Weltfrieden aufzurichten und rief alle Nationen zum „internationalen Ausgleich“, damit alle Grenzfragen sowie die Fragen nationaler Ehre, nationalen Eigentums und aller internationalen Lebensinteressen durch ein schiedsrichterliches „Haus der Gerechtigkeit" entschieden werden können.


Baha’u’lláh verkündigte diese Prinzipien allen Herrschern der Welt. Sie sind der Geist und das Licht dieses Zeitalters. Von ihrer Verwirklichung hängt das Wohlergehen für unsere Zeit und das der gesamten Menschheit ab.


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SONNE    DER  WAHRHEIT
Organ des Bahai-Bundes, Deutscher Zweig
Herausgegeben vom Verlag des Bahai-Bundes, Deutscher Zweig, Stuttgart
Verantwortliche Schriftleitung: Alice Schwarz - Solivo, Stuttgart, Alexanderstraße 3
Preis vierteljährlich 1,80 Goldmark, im Ausland 2.– Goldmark.
Heft 8 Stuttgart, im Oktober 1926 6. Jahrgang

Inhalt: Göttliche Perlen aus den Tablets von 'Abdu'l-Bahá. — Baha’u’llah und das Neue Zeitalter. - Das Streben nach Erkenntnis in der Welt draußen. — Das Uebersinnliche in der Medizin.


Motto: Einheit der Menschheit — Universaler Friede — Universale Religion



Sucht nach Wahrheit. Sucht nach der Wirklichkeit in allen Religionen. Drängt alle Vorurteile in den Hintergrund. Viele Menschen erkennen nicht die gemeinsame Wesensgrundlage der Religionen. . .

. . . Die Wirklichkeit aller ist ein und dieselbe, die Wahrheit ist eine Einheit. Alle Gottgesandten hatten das gleiche Licht zu bringen, sie sind nur verschieden in ihren Graden.

'Abdu'l-Bahá.


Aus einem Tablet.

Nun ist der Beglücker der Herzen auf Seinem Schlachtroß in die Arena der Wahrheit geritten und alles, was verborgen war, ist offenbar worden, warum da still und stumm, gedankenlos und vergeßlich sein? Die Göttliche Leuchte hat ihre Strahlen in die Welt geworfen, indessen die Gedankenlosen verhüllt und grämlich dahinsiechen und verharren in ihrem Dunkel und ihrem Irrtum. Jetzt ist die Stunde da, sich zu erheben wie eine steigende Woge des Meeres und nach den höchsten Sternen zu greifen. - Denn die Zeit entflieht und der Göttliche Bote will nicht länger zögern. Laßt uns eilen und unsere Lampen entzünden.

(sig.) 'Abdu'l-Bahá Abbas.


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Göttliche Perlen aus den Tablets von 'Abdu'l-Bahá.

(Band III, Seite 22 bis 25.)

„Wenn eine Seele zu streiten sucht, bitte du um Versöhnung.

Wenn sie dich tadelt, lobe sie.

Wenn sie dir ein tödliches Gift gibt, verabfolge ihr ein heilendes Gegenmittel.

Wenn sie den Tod herbeiführt, teile du Ewiges Leben aus.

Wenn sie ein Dorn wird, verändere du sie in Rosen und Hyazinthen.“


„Je mehr die quälenden Freunde dich meiden, desto näher gehe du zu ihnen hin.

Je mehr sie dich verlachen und tadeln, desto mehr erzeige du ihnen die größere Liebe und Zuneigung.

Siehe nicht auf ihre Engherzigkeiten.“


„Wirkliche Liebe ist unmöglich, es sei denn, man wende sein Gesicht Gott zu und werde durch Seine Schönheit angezogen.“

„Es ist ein Licht, aber in vielen Lampen. Es ist ein Wein, aber die Gläser sind verschieden, in denen er gereicht wird.”

„Durch den Regen der Frohen Botschaften der Sache Gottes ist ein kleines Senfkorn zu einem fruchtbaren Baum geworden, dessen Wurzeln in den Herzen der Menschen ruhen.“

„Strenge dich Tag und Nacht an, bis geistige Kräfte in Dein Herz und Deine Seele eindringen können. Gib den Körper und die Materie auf, bis die barmherzigen Einflüsse geoffenbart werden. Nicht eher als bis das Ackerland ausgejätet ist, wird es durch die Himmlische Schönheit fruchtbar. Nicht eher, als bis das Herz geläutert ist, wird der Strahl der Sonne der Wahrheit hinein scheinen.“

„Ergreife den Saum des Gewandes Gottes und verkündige das Königreich Gottes und taufe die Geister mit den Düften Gottes, welche die Horizonte erfüllt haben.“

„Wahrlich, ich sage euch, daß dieser heilige Wohlgeruch das Wasser des Lebens ist, das Feuer der Liebe, das in dem Baum von Sinai gelodert hat, und der Geist des Lebens, der vom Tode wieder zum Leben führt. Dieser Tag ist nicht ein Tag der Ausschließung und der Absonderung, sondern ein Tag der Verkündung der Manifestation des Lichtes der Schönheit des Höchsten Herrn. Daher gebe dein Schweigen und deine Zurückgezogenheit im einsamen Winkel auf und gehe hinaus in die Arena der Verständigung. Tritt heraus aus der Einsamkeit gleich einem strahlenden Stern, der von Seinem Horizont leuchtet!“

„Die Tore des Königreiches sind geöffnet, und die Schönheit Gottes ist dem Frühlingsregen gleich. Obgleich die Zeichen der materiellen Gnade groß sind, ist doch die wahre Güte die des Himmels, die geistig ist und Ewiges Leben verleiht. Folge dieser, und dein Herz wird so schön wie ein Garten werden, deine Augen werden leuchten, dein Geist wird glücklich und deine Gedanken ein Trost für die Seele sein.“

„Wenn die Herzen der Menschen der Göttlichen Gnade — der Liebe Gottes — beraubt werden, wandern sie in der Wüste der Unwissenheit, sinken zu den Tiefen des Verfalls und stürzen in den Abgrund der Verzweiflung, wo es keine Zuflucht gibt! Sie sind dem Ungeziefer gleichzurechnen, das auf der niedrigsten Ebene vegetiert.

Bedenke, in was für einem großen Zeitalter du in die Welt des Daseins und unter den Schatten getreten bist, und was für ein Zeichen der Führung dich schützen wird und daß sich die Hoffnung und der größte Wunsch der Heiligen erfüllte.“

„Die Ketten des Daseins enthalten unzählige Glieder, jedes mit dem anderen verbunden. Diese Verbindung ist die Ursache des Erscheinens der unsichtbaren Macht in der Welt der sichtbaren Dinge.“

„Wenn die verschiedenen, fortschreitenden Schulen sich mit der Allumfassenden Universität des Königreiches verbinden, werden solche Kenntnisse und Wissenschaften zu Tage treten, daß man sehen wird, daß die Möglichkeiten des „Offenen Tablets" der Existenz ungeheuer sind; wird dies zu Stande gebracht, so werden alle erschaffenen Dinge wie Buchstaben und Wörter sein.”

„So bald ein Vogel flügge ist, hält ihn nichts mehr am Boden zurück. Nein, er schwingt sich vielmehr zu dem Höchsten Gipfel auf — ausgenommen die Vögel, deren Füße gebunden sind, deren Flügel beschnitten und deren Federn ausgerissen sind, und die mit Wasser und Staub beschmutzt sind.“

„O Sucher nach Wahrheit! Das Gebot des Königreiches ist die Einheit!

Das Herabkommen des „Neuen Jerusalem“ ist die Himmlische Religion, die das [Seite 115]




Stadttor von Akka in Palästina.


Gedeihen der menschlichen Welt sichert, und der Glanz des Lichtes des Reiches Gottes ist.

Das Himmlische Jerusalem, das auf dem Gipfel der Welt gegründet ist, und das Allerheiligste des Allmächtigen, das sein Banner gehißt hat, faßt und schließt all die Vollkommenheiten und Lehren der früheren Verkündigungen in sich ein.“

„Opfere dich selbst für die Wohlfahrt der Menschen, und sei du allen Bewohnern der Welt ein liebreicher Tröster.“

[Seite 116] Jeder Seele, die auf dem Pfade der Führung wandert, harren zweifellos viele Mühsale.“

„Schaue dich um in der Welt der Existenz! Es kann keine irdische Handlung vorgenommen werden, es sei denn dadurch, daß viele Hindernisse überwunden werden müssen.“

„Ihr seid ein Volk der Erde - Werdet Engel des Himmels!

Ihr seid aus dem Westen - Ziehet die Güte aus dem Osten an!“

„Sei erleuchtet! Werde himmlisch! Werde mitleidsvoll! Und beweise allen Menschen Deine Freundlichkeit!“

„Durch Glauben zuerst wird bewußte Kenntnis verursacht und zweitens durch die Ausübung guter Taten.“

Eine Forderung der Hingabe ist, daß du dich selbst opfern und auf dem Göttlichen Pfade deine Augen gegen jedes Vergnügen schließen mögest und mit ganzer Seele darnach strebst, daß du verschwindend und selbstlos seiest wie ein Tropfen in dem Ozean der Liebe Gottes.“

(Uebersetzt von Karl Klitzing.)


Baha’u’lláh und das Neue Zeitalter.

Von Dr. J. E. Esslemont. Uebersetzung v. W. Herrigel.

IX. Kapitel.

Wahre Zivilisation.

„O Volk Gottes! Sei nicht mit dir selbst beschäftigt, sondern befasse dich allen Ernstes mit der Besserung der Welt und der Erziehung der Nationen.“ — Bahá’u’lláh.


Die Religion als Grundlage der Zivilisation.

Nach der Ansicht der Bahái sind die Probleme des menschlichen Lebens, sowohl die des Einzelnen als die der Gesellschaft, derart unbegreiflicher und verwickelter Natur, daß sie der gewöhnliche menschliche Verstand nicht richtig zu lösen vermag. Nur der Allwissende kennt den Zweck der Schöpfung vollkommen und weiß, wie dieser Zweck erreicht werden kann. Durch die Propheten zeigt Er der Menschheit das wahre Ziel des menschlichen Lebens und den rechten Weg zum Fortschritt. Der Aufbau einer wahren Zivilisation hängt davon ab, daß man sich gläubig an die Führung der prophetischen Offenbarung hält. Bahá’u’lláh sagt:

„Die Religion ist das vortrefflichste Mittel für die Ordnung der Welt und für die Ruhe aller existierenden Wesen. Die Schwäche, welche die Träger der Religion aufweisen, hat die Unwissenden dreist und anmaßend gemacht. Wahrlich, Ich sage, alles, was die erhabene Stellung der Religion erniedrigt, vermehrt die Nachlässigkeit bei den Gottlosen und hat zuletzt Anarchie zur Folge...

„Betrachtet die Zivilisation des Westens, wie hat sie Erregung und Gärung unter den Völkern der Welt hervorgerufen! Höllenwerkzeuge hat man ersonnen, und es hat sich eine derartige Abscheulichkeit in der Zerstörung des Lebens entfaltet, daß Aehnliches weder von den Augen der Welt gesehen, noch von den Ohren der Nationen vernommen wurde. Es ist unmöglich, diese heftigen, überwältigenden Uebel zu mildern oder ganz zu beseitigen, es sei denn, daß die Völker der Welt in allen Angelegenheiten oder in einer Religion geeinigt werden...

„O Volk Bahás! jedes der geoffenbarten Gebote ist eine starke Festung zum Schutz der Welt.“ Bahá’u’lláh.

(Worte des Paradieses.)

Der gegenwärtige Zustand Europas und der Welt im allgemeinen bestätigt zur Genüge die Wahrheit dieser Worte, die schon so viele Jahre zuvor geschrieben wurden. Die Nichtbeachtung der Gebote der Propheten und das Vorherrschen der Religionslosigkeit wurden begleitet von Unordnung und Zerstörung schrecklichster Art, und ohne eine gründliche Veränderung der Menschenherzen und ihrer Ziele, was die Hauptcharakteristik wahrer Religion ist, scheint die Besserung der menschlichen Gesellschaft eine absolute Unmöglichkeit zu sein.


Gerechtigkeit.

In dem Büchlein „Verborgene Worte“, in dem uns Bahá’u’lláh kurz das Wesentlichste der prophetischen Lehren gibt, bezieht sich Sein erster Rat auf das Leben des Einzelnen; dort lesen wir:

„Besitze ein reines, ein gütiges und strahlendes Herz.“

Der nächste Rat zeigt uns das fundamentale Prinzip für das wahre Gemeinschaftsleben:

„Von allem ist die Gerechtigkeit in Meinen Augen das Wesentlichste. Wünschest du Mich, dann wende dich nicht von ihr ab und vernachlässige sie nicht, damit Ich Mein Vertrauen in Dich setzen kann. [Seite 117] Mit Hilfe der Gerechtigkeit wirst du fähig werden, die Dinge mit Deinen eigenen Augen und nicht mit den Augen anderer zu sehen, sie mit deiner eigenen Erkenntnis zu unterscheiden und nicht mit der deines Nebenmenschen.“

Das Wichtigste für das soziale Leben ist, daß der Einzelne fähig wird, das Wahre vom Falschen und das Recht vom Unrecht zu unterscheiden, und daß er die Dinge stets in ihrem richtigen Verhältnis sieht. Die größte Ursache der geistigen Blindheit den Mitmenschen gegenüber und der größte Feind des gemeinschaftlichen Fortschritts ist die Selbstsucht. Bahá’u’lláh sagt:

„O Söhne der Intelligenz! Das dünne Augenlid verhindert das Auge, die Welt und was in ihr ist zu sehen. Denket nun aber, wie es sein wird, wenn der Vorhang der Habgier das Gesicht des Herzens bedeckt!

„O Menschenkinder! Die Finsternis der Habgier und des Neides verdunkelt das Licht der Seele, wie die Wolke die Sonnenstrahlen am Durchdringen hindert.“

(Tablet an einige persische Zoroaster-Bahái.)

Die Erfahrung überzeugt den Menschen zuletzt von der Wahrheit der prophetischen Lehren, daß selbstsüchtige Ansichten und selbstsüchtige Handlungen unvermeidlich zu sozialem Unheil führen, und daß jeder, wenn die Menschheit nicht schimpflich umkommen will, auf das, was seines Nebenmenschen ist, mit derselben Wichtigkeit sehen muß, wie auf sein eigenes Interesse, daß er überhaupt seine eigenen Interessen denen der Menschheit als ein Ganzes unterordnen muß. In dieser Weise werden zuletzt die Interessen eines jeden und aller am besten gewahrt. Bahá’u’lláh sagt:

„O Sohn des Menschen! Willst du die Barmherzigkeit beachten, dann sieh nicht nur auf das, was dir Nutzen bringt, sondern halte dich an das, was deinem Nebenmenschen nützt. Siehst du auf Gerechtigkeit, dann wähle für andere nur das, was du für dich selbst wählst.“

(Worte des Paradieses.)


Regierung.

Während Bahá’u’lláh diese fundamentalen, so außerordentlich klaren Prinzipien der sozialen Organisation festsetzte, die für tausend oder tausende von Jahren die Grundlage wahrer Zivilisation bilden werden, bis ein anderer Prophet mit einer neuen Botschaft kommt, legte Er keine harten und starren Regeln für die Einzelheiten des sozialen Lebens nieder. In einer sich entwickelnden menschlichen Gesellschaft müssen die Gesetze stets entsprechend den sich ändernden Erfordernissen der Zeit angepaßt werden, und das System, das von den Gründern der Baháibewegung ins Auge gefaßt ist, ist elastisch genug, um dieser Notwendigkeit gerecht werden zu können. Obschon Bahá’u’lláh die Form einer sogenannten konstitutionellen Monarchie nicht unbedingt verlangt, lautet Sein Rat in den Frohen Botschaften doch wie folgt:

„Obgleich eine demokratische Regierungsform allen Völkern der Welt nützt, so ist doch die Majestät des Königtums eines der Zeichen Gottes. Wir wünschen nicht, daß die Länder der Welt desselben beraubt werden. Wenn die Staatsmänner diese zwei Regierungsformen in eine vereinigen könnten, so würde die Belohnung von seiten Gottes groß sein.“

Als dies Thema eines Tages in Anwesenheit des Verfassers erörtert wurde, sagte Allah-u Abha, im wesentlichen folgendes:

„Eine despotische Regierung ist schlimm. Eine republikanische Regierung, wie sie die Vereinigten Staaten haben, ist gut, aber eine konstitutionelle Form der Monarchie ist noch besser, weil sie die Vorzüge beider, der Republik und des Königtums, in sich vereinigt. Ein König besitzt eine Würde, die ein auf eine gewisse Anzahl von Jahren gewählter Präsident nicht hat. Das Königtum sollte vom Vater auf den Sohn übergehen. Dies gibt der Regierung eine dauernde Festigkeit, die einer Republik abgeht. Wenn das Oberhaupt der Regierung immer in wenigen Jahren wieder gewählt wird, so wird in dieser Wahlzeit das ganze Land in politische Kämpfe und Aufregungen gestürzt. Wenn sich aber das Land in einem solchen Zustand befindet, wird keine Gerechtigkeit herrschen.

Frage: „Wenn sich ein König als unwürdig erweist, hat alsdann das Parlament die Macht, ihn zu entthronen?"

Antwort 'Abdu'l-Bahás:

„Gewiß, das Parlament kann ihn entthronen und einen neuen König bestimmen. In einer konstitutionellen Monarchie hat der König keine gesetzgebende Macht. Alle Angelegenheiten werden durch das Kabinett und das Parlament erledigt.“

Frage: „Wenn es eine erbliche Monarchie gibt, soll es alsdann auch einen erblichen Adel geben?“

'Abdu'l-Bahá:

„Ein Mensch, der seinem Lande dient, soll auch mit entsprechender Ehrung belohnt werden. Es sollte aber keinem möglich sein, eine Auszeichnung für sich zu beanspruchen, weil beispielsweise sein Vater ein großer General war. Auf jemand, der seinem Lande nicht dient, sollte keine [Seite 118] Auszeichnung übertragen werden. Er darf wohl seines Vaters Verdienste wegen geachtet werden, sofern aber Aemter dabei in Betracht kommen, darf er keinen Vorzug genießen.“

Aufgabe der Regierung ist es, das Gesetz mit Gerechtigkeit und Unparteilichkeit zu erfüllen.

'Abdu'l-Bahá sagt:

„Vor dem Gesetz als solchem sind alle Menschen gleich.

„Wenn in jedem Land im Osten und im Westen vollkommene Gerechtigkeit herrscht, dann wird die Erde ein Ort der Schönheit sein, es wird die Würde und Gleichberechtigung aller Diener Gottes anerkannt werden. Das Ideal der Solidarität der menschlichen Rasse, die wahre Bruderschaft der Menschen, wird verwirklicht sein und das herrliche Licht der Sonne der Wahrheit wird die Seelen aller Menschen erleuchten.“

(Ansprachen 'Abdu'l-Bahás S. 169/70.)


Politische Freiheit.

Obschon Bahá’u’lláh den idealen Zustand einer völlig demokratischen oder vielmehr einer parlamentarischen Regierungsform, lokal, national und international, befürwortet, lehrt Er doch, daß diese nur dann möglich ist, wenn die Menschen einen genügend hohen Grad individueller und sozialer Entwicklung erreicht haben. Dem noch unerzogenen, von selbstsüchtigen Begierden beherrschten Volk, das in der Führung der öffentlichen Angelegenheiten noch keine Erfahrung hat, plötzlich eine Selbstregierung zu geben, würde unheilvoll sein. Es ist nichts gefährlicher als Freiheit für Menschen, die nicht tauglich sind, diese weise zu gebrauchen. Bahá’u’lláh schreibt im Buche Aqdas:

„Wir sehen, daß manche Leute nach Freiheit suchen und sich dessen rühmen, diese aber befinden sich in unverkennbarer Unwissenheit. Freiheit führt solche Leute in Verwirrung — deren Feuer niemand zu löschen vermag. Daher warnt euch der Allwissende, der Erkennende: Wisset, daß nur die Tiere Offenbarungen der absoluten Ungehemmtheit sind. Was den Menschen betrifft, so ist es für ihn Pflicht, unter den Gesetzen zu stehen, die ihn vor seiner eigenen Unwissenheit und vor der Unbill der Ungetreuen beschützen. Die Freiheit veranlaßt den Menschen, die einfachsten Erfordernisse der Höflichkeit und Würde außer acht zu lassen, und gestattet ihm, ein Bösewicht zu sein. Wir können die Menschen mit Schafen vergleichen. Es muß ein Hirte für sie da sein. Wahrlich, dies ist eine unantastbare Gewißheit. Wir billigen die Freiheit unter gewissen Umständen, aber nur unter solchen. Höret! Freiheit besteht im Befolgen Meiner Gebote, gehörtet ihr doch zu denen, die dies erkennen. Wenn die Menschen befolgen würden, was Wir vom Himmel der Inspiration offenbarten, dann würden sie gewiß erkennen, daß sich ihre Seele in vollkommener Freiheit befindet... Wisset: Die Freiheit, die euch fördert, besteht im Dienst für den wahren Gott, und der, welcher einmal ihre Süßigkeit verspürt hat, wird sie nicht für das Reich des Himmels und der Erde mehr vertauschen.“

Für die Hebung der Zustände rückständiger Rassen und Nationen sind die göttlichen Lehren das vornehmste Heilmittel. Wenn sowohl Volk als Politiker diese Lehren studieren und annehmen, dann werden die Völker von allen Fesseln und Bürden befreit.


Regenten und Untertanen.

Bahá’u’lláh verbietet in nachdrücklichster Weise Tyrannei und Unterdrückung. In den Verborgenen Worten schreibt Er:

„O ihr Unterdrücker auf Erden!

Hütet eure Hände vor der Begehung von Unterjochung, denn Ich habe gelobt, keine durch Menschen verübte Ungerechtigkeit unbeachtet zu lassen.“

Wem die Formgebung und die Handhabung der Gesetze anvertraut ist, muß sich, wie Bahá’u’lláh sagt,

„fest an das Seil der Beratung halten und entscheiden und zur Durchführung bringen, was zu des Volkes Sicherheit und Wohlstand, zu seiner Wohlfahrt und Ruhe dient; denn sofern die Angelegenheiten anders gehandhabt werden, so wird dies zu Uneinigkeit und Aufruhr führen.“

(Aus Tablet an die Welt.)

Das Volk andererseits muß gesetzestreu und einer gerechten Regierung ergeben sein. Um bessere Zustände in den Angelegenheiten der Nationen zu zeitigen, muß sich das Volk auf gute erzieherische Systeme und auf die Macht des guten Beispiels stützen und nicht auf Gewalttätigkeiten, um einen besseren Zustand in den Angelegenheiten der Völker zu schaffen.

Bahá’u’lláh sagt:

„In welchem Land sich auch Baháigemeinden befinden mögen, der betreffenden Regierung gegenüber müssen sie sich stets vertrauenswürdig, aufrichtig und wahrhaftig erweisen.“

(Tablet: Frohe Botschaften S.9).

„O Volk Gottes! Schmücke deinen Tempel (Körper) mit dem Mantel der [Seite 119] Vertrauenswürdigkeit und der Redlichkeit; alsdann hilf deinem Herrn mit einer großen Anzahl guter Taten und mit guten Sitten. Wahrlich, in Meinen Büchern und Niederschriften, in Meinen Episteln und Tablets haben Wir euch Aufruhr und Streit verboten und dabei beabsichtigten Wir nur eure Hebung und Erhöhung.“

(Ischrakat.)


Anstellung und Beförderung.

Bei Anstellungen darf nur die Tauglichkeit für die betreffende Stellung ausschlagsehend sein. Vor diesem obersten Beweggrund muß alles andere, wie höheres Dienstalter, soziale oder finanzielle Stellung, Familienverbindungen oder persönliche Freundschaft, ausgeschaltet werden. Bahá’u’lláh sagt im Tablet Ischrakat:

„Das fünfte Ischrak (Glanz) bestimmt, daß die Regierungen mit den Verhältnissen der Beamten vertraut sein müssen und daß sie Amt und Würde nach Verdienst verleihen sollen. Dieser Angelegenheit Beachtung zu schenken, ist unbedingt gesetzlich und jedem Regierungsoberhaupt zur Pflicht gemacht. Auf diese Weise mag vielleicht vermieden werden, daß sich Treulose die Stellungen der Vertrauenswürdigen aneignen oder Diebe die Stellen der Wächter einnehmen.“

Es bedarf wohl kaum einer Ueberlegung, um zu zeigen, daß wenn diese Prinzipien einmal allgemein angenommen und getätigt werden, die Umwandlung unseres sozialen Lebens eine erstaunliche sein wird. Wenn jedem Einzelnen die Stellung eingeräumt wird, für die er durch seine Talente besonders befähigt ist, so wird er mit Herz und Seele bei seiner Arbeit sein und zu seinem eigenen Vorteil und zum Wohl der übrigen Welt ein Künstler in seinem Berufe werden.


Wirtschaftliche Probleme.

Die Bahailehre besteht in den schärfsten Ausdrücken auf der Notwendigkeit der Reform in den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Reich und Arm. 'Abdu'l-Bahá sagt in den Pariser Ansprachen S. 165.

„Die Verhältnisse des Volkes müssen so geordnet werden, daß die Armut verschwindet und jedermann, soweit es möglich ist, seinem Rang und Stand entsprechend am allgemeinen Wohlergehen teilnehme.

Wir sehen einerseits Menschen, die mit Reichtümern überladen sind, und andererseits jene Unglücklichen, die nichts besitzen und hungern. Wir sehen einerseits Besitzer herrlicher Paläste und andererseits solche, die nicht haben, wo sie ihr Haupt hinlegen können.

Diese Zustände sind schlimm, sie müssen verbessert werden. Die anzuwendenden Mittel müssen aber sorgfältig erwogen werden. Diese Zustände können nicht dadurch verbessert werden, daß man vollständige Gleichheit zwischen den Menschen herstellt: Gleichheit ist ein Hirngespinst und gänzlich undurchführbar, Selbst wenn eine Gleichheit durchgeführt werden könnte, so wäre diese nicht von Dauer, denn dadurch würde die Ordnung der ganzen Welt umgestürzt werden. Das Gesetz der Ordnung muß für immer unter den Menschen bestehen bleiben. Der Himmel hat dies in der Schöpfung des Menschen so verordnet...

Mit der Menschheit ist es wie mit einer großen Armee. Man braucht Generäle, Hauptleute, Unteroffiziere und Soldaten; sie alle haben ihre bestimmten Pflichten. Gewisse Stufen oder Grade sind erforderlich, um eine geordnete Organisation zu sichern. Eine Armee könnte nicht nur aus Soldaten ohne Befehlshaber zusammengesetzt sein.

Es ist ja wahr, manche sind ungeheuer reich und andere beklagenswert arm; es ist daher eine Organisation erforderlich, der die Aufgabe zufällt, diese Zustände zu prüfen und zu bessern. Es ist ebenso wichtig, die Reichtümer einzuschränken, als die Armut zu begrenzen. Jedes Extrem ist vom Uebel...

Wenn die Armut zum Hungerleiden wird, so ist dies ein sicheres Zeichen, daß irgendwo Unterdrückung herrscht. Die Menschen müssen sich mit dieser Angelegenheit befassen, sie dürfen nicht länger solche unhaltbaren Zustände dulden, die eine große Anzahl Menschen in Not und in bitterste Armut bringen.

Der Reiche muß von seinem Ueberfluß abgeben, muß sein Herz sprechen lassen und das Mitgefühl in sich ausbilden; er muß für die Darbenden und für die, denen es am Notwendigsten fürs Leben fehlt, sorgen.

Es müssen besondere Gesetze geschaffen werden, die sich mit diesem Extrem des Reichtums und des Mangels befassen... Die Regierungen der verschiedenen Länder sollten ihre Gesetze mit dem göttlichen Gesetz, das allen gleiche Gerechtigkeit verleiht, in Uebereinstimmung bringen... Dies ist der einzige Weg, auf dem der beklagenswerte Ueberfluß des großen Reichtums und die jämmerliche, entmutigende und erniedrigende Armut ausgeglichen werden kann. Solange dies nicht vollbracht ist, wird auch das Gesetz Gottes nicht befolgt.“


Oeffentliche Finanzen.

'Abdu'l-Bahá bestimmte, daß, soweit es möglich ist, jede Stadt, jedes Dorf oder Bezirk mit der [Seite 120] Verwaltung finanzieller Angelegenheiten innerhalb ihres eigenen Bezirks betraut werde und ihren Teil zu den Ausgaben der allgemeinen Regierung beizutragen habe. Eine der hauptsächlichen Einkommensquellen soll in einer gestaffelten Einkommenssteuer bestehen. Das Einkommen, das die notwendigsten Ausgaben eines Menschen nicht überschreitet, soll nicht besteuert werden; aber in allen Fällen, in denen das Einkommen die nötigen Existenzmittel überschreitet, soll eine Steuer erhoben werden. Der Prozentsatz der Steuer erhöht sich in dem Verhältnis, wie das Einkommen die notwendigen Existenzmittel übersteigt.

Wenn es aber andererseits jemand durch Krankheit, Mißernte oder aus anderen Ursachen, die er nicht verschuldet hat, unmöglich ist, die notwendigen Existenzmittel für ein Jahr aufzubringen, so muß ihm der Teil, der ihm und seiner Familie fehlt, aus dem öffentlichen Fond gewährt werden.

Es gibt aber noch weitere öffentliche Einnahmequellen z. B. aus Vermächtnissen, aufgefundenen Schätzen, Bergwerken und freiwilligen Zuwendungen. Zu den Ausgaben der Gemeinde gehören die Mittel, die für die Unterstützung der Schwachen, der Waisen, der Tauben und Blinden, für Schulen und für die Erhaltung der Volksgesundheit aufzuwenden sind. Auf diese Weise ist das Wohl und das Wohlergehen aller ins Auge gefaßt.*)

  • ) Weitere Einzelheiten hierüber sind aus den Ansprachen 'Abdu'l-Bahás, besonders

aus denen, die Er in Amerika hielt, zu ersehen.


Freiwilliges Teilen.

In einem Brief an die Zentralorganisation für den Dauerfrieden, geschrieben im Jahr 1919, sagte 'Abdu'l-Bahá:

„Eine weitere Lehre Bahá’u’lláhs ist das freiwillige Teilen des Besitztums mit anderen Menschen. Dieses freiwillige Teilen steht hoch über einem (durch Gesetze aufgezwungenen) allgemeinen Gleichmachen allen Besitzes. Es besteht in der Befolgung des Gebotes, daß sich keiner über den andern erheben soll; es soll vielmehr jeder sein Leben und seine Besitztümer für andere opfern. Dies soll aber nicht zwangsweise durch Gesetz eingeführt und der Mensch dadurch gezwungen werden, es zu befolgen. Nein, der Mensch sollte vielmehr freiwillig und aus eigenem Antrieb seinen Besitz und sein Leben für andere opfern; er soll den Armen freiwillig geben, wie dies unter den Bahái in Persien geschieht.


Arbeit für Alle.

Eine der wichtigsten Unterweisungen Bahá’u’lláhs in bezug auf die wirtschaftliche Frage ist die Betätigung aller in nützlicher Arbeit. Es dürfen im sozialen Leben keine Müßiggänger, keine körperlich tauglichen Menschen als Parasiten der menschlichen Gesellschaft vorhanden sein. Er sagt:

„Jedem einzelnen von euch ist es zur Pflicht gemacht, sich in irgend einem Beruf — sei es die Kunst, das Gewerbe usw. — zu betätigen. Wir veranlaßten, daß die gewissenhafte Erfüllung eurer Berufspflicht dem Dienste Gottes, des Wahrhaftigsten, gleich geachtet wird. Denket, o Menschenkinder, über die Barmherzigkeit Gottes und Seine Begünstigungen nach; alsdann danket Ihm am Morgen und am Abend!

„Vergeudet eure Zeit nicht mit Müßiggang und Trägheit, sondern beschäftigt euch damit, was euch selbst und anderen Nutzen bringt! Dies wurde vom Horizont, von dem die Sonne der Weisheit und der göttlichen Aeußerung strahlt, in diesem Tablet verordnet. Der Träge, der nichts tut und nur bittet, ist vor Gott am meisten verabscheut. Haltet euch an das Seil der Mittel — d.h. tut eure Arbeit im Vertrauen auf Gott, den Schöpfer aller Dinge!“ (Frohe Botschaften.)

Wie viele der heutzutage in der Geschäftswelt aufgewandten Kräfte werden dazu gebraucht, die Bemühungen anderer Leute im nutzlosen Streit und Wettbewerb zu durchkreuzen und wirkungslos zu machen! Und wie oft geschieht dies auf ganz häßliche Weise! Wenn alle Menschen arbeiten müßten und alle sei es Kopf- oder Handarbeit verrichteten, die, wie Bahá’u’lláh befiehlt, der Menschheit ohne weiteres von Nutzen wäre, dann würden auch die für ein gesundes, behagliches und edles Leben vorhandenen Mittel vollauf für alle genügen. Alsdann würde kein Betrug, kein Hungerleiden, keine Entbehrung, keine industrielle Sklaverei und keine gesundheitsschädigende Ueberarbeitung mehr vorkommen.


Die Ethik des Reichtums.

Nach der Baháilchre ist ein rechtmäßig erworbener und richtig angewandter Reichtum ehrenwert und lobenswert. Geleistete Dienste sollten entsprechend belohnt werden. Bahá’u’lláh sagt im Tablet Ischrakat:

„Die Bahäi dürfen sich nicht weigern, jedermann die ihm gebührende Belohnung zukommen zu lassen. Sie müssen die Talentvollen schätzen... Jedermann muß gerecht sein in seinen Aussagen und den Wert des Segens, der aus der Arbeit hervorgeht, anerkennen.“ [Seite 121]

In bezug auf Zinsen aus Geld schreibt Bahá’u’lláh im Tablet Ischrakat:

„Man finde, daß die meisten Menschen hierauf angewiesen sind; denn wenn kein Nutzen aus geliehenem Geld erlaubt wäre, würden die Geschäfte gehemmt und ins Stocken geraten. Es wird selten jemand zu finden sein, der in geschäftlichen Angelegenheiten derart auf seinen Nebenmenschen Rücksicht nimmt, daß er bereit ist, ihm nach dem Prinzip „Qard i. hasan“ (d.h. gütiges Darlehen ohne Zinsen, das nach Gutdünken des Leihenden zurückbezahlt werden kann) Geld auszuleihen. Daher haben Wir als eine Gunst für die Menschen verordnet, daß, so wie bei anderen Geschäftsunternehmungen, die unter den Menschen gebräuchlich sind, auch ein Nutzen aus ausgeliehenem Geld zulässig ist... d.h. es ist den Menschen erlaubt und gilt als gesetzmäßig und rein, einen bescheidenen Nutzen aus ausgeliehenem Geld zu fordern... Aber in dieser Angelegenheit muß Mäßigung und Gerechtigkeit walten. In göttlicher Weisheit, und um es den Dienern leicht zu machen, hat es die erhabene Feder unterlassen, hierin Grenzen zu ziehen. Wir ermahnen aber die Freunde Gottes, derart gerecht und billig zu handeln, daß dadurch die Güte Seiner Geliebten, ihr Mitgefühl füreinander zutage tritt...

„Die Ausführung dieser Angelegenheiten ist der Sorgfalt der Mitglieder des Hauses der Gerechtigkeit anbefohlen, damit sie durch jene stets in Uebereinstimmung zeitentsprechend und weise durchgeführt werden.“


Keine industrielle Versklavung.

In dem Buch Aqdas verbietet Bahá’u’lláh die Versklavung und 'Abdu'l-Bahá erklärte, daß nicht nur die allgemeine Sklaverei, sondern auch die industrielle Versklavung dem Gesetz Gottes zuwider ist. Als Er im Jahre 1912 in den Vereinigten Staaten Amerikas weilte, sagte Er zu den Amerikanern:

„In den Jahren 1860-1865 habt ihr ein wunderbares Werk verrichtet; ihr habt die Sklaverei abgeschafft. Heute aber müßt ihr noch etwas Bedeutenderes tun: ihr müßt die industrielle Versklavung abschaffen...

„Die Lösung der sozialen Frage wird nicht dadurch geschaffen, daß das Kapital der Arbeit und die Arbeit dem Kapital im Streit und Kampf gegenüber stehen, sondern durch eine freiwillige Einstellung auf beiderseitigen guten Willen. Dann, und nur dann, wird eine wirkliche und dauernde Richtigstellung der Zustände gesichert werden...

„Unter den Bahái gibt es kein erpresserisches, gezwungenes und ungerechtes Vorgehen, keine rebellischen Ansprüche, kein revolutionäres Auftreten gegen die vorhandene Regierung...

„Es wird in der Zukunft für die Menschen nicht möglich sein, sich durch die Arbeit anderer große Reichtümer anzuhäufen. Die Reichen werden willig teilen. Sie werden allmählich, auf natürlichem Wege durch ihren eigenen freien Willen zu dieser Entschließung kommen. Dies wird niemals durch Krieg und Blutvergießen erreicht werden.“

(Star of the West Jahrg. VII, Nr. 15, S. 147.)

Nur durch freundliche Aussprache und gegenseitiges Zusammenwirken, durch eine gerechte Teilhaberschaft und eine ebensolche Beteiligung am Gewinn wird den Interessen des Kapitals und der Arbeit am besten gedient. Die schroffe Wehr des Streiks und der Aussperrung sind ungerecht und zwar nicht nur für den unmittelbar davon betroffenen Handel, sondern für die Allgemeinheit als Ganzes. Es ist daher Aufgabe der Regierung, Mittel zu ersinnen, um zu verhindern, daß man seine Zuflucht zu solch barbarischen Methoden der Streitbeilegung nimmt. 'Abdu'l-Bahá sagte in Dublin, New Hampshire 1912:

‚Nun möchte ich über das Gesetz Gottes sprechen. Nach dem göttlichen Gesetz sollte die Arbeit nicht nur mit Lohn bezahlt werden. Nein, die Arbeiter sollten vielmehr Teilhaber des Unternehmens sein. Die Frage der Sozialisierung ist sehr schwieriger Natur. Sie wird nicht durch Streiks um Lohn gelöst. Alle Regierungen der Welt müssen sich vereinigen und eine Kommission organisieren, deren Mitglieder aus den Parlamenten und den edelsten Menschen der Nationen zu erwählen sind. Diese müssen mit Weisheit einen wirkungsvollen Plan ausarbeiten, nach dem weder die Kapitalisten allzugroße Verluste erleiden, noch die Arbeiter in Not geraten können. Mit größter Mäßigung sollen sie das Gesetz entwerfen und dann öffentlich bekannt machen, daß die Rechte der Arbeiterschaft wirkungsvoll zu vertreten sind; in gleicher Weise sind auch die Rechte der Arbeitgeber zu wahren. Wenn ein solches allgemeines Gesetz durch den beiderseitigen Willen angenommen ist, und dennoch ein Streik ausbricht, so müssen ihm alle Regierungen der Welt entgegentreten. Geschieht dies nicht, so wird die Arbeit, besonders in Europa, zu [Seite 122] großen Zerstörungen der Anlaß werden; es werden sich alsdann schreckliche Dinge ereignen.’

Eine der Hauptursachen eines allgemeinen europäischen Krieges wird diese Frage sein. Die Minen- und Fabrikbesitzer und andere Unternehmer sollten ihren Gewinn mit ihren Arbeitern teilen und ihnen einen angemessenen Prozentsatz zukommen lassen, damit dem Arbeiter neben seinem Lohn auch ein Anteil an dem allgemeinen Einkommen des Unternehmens zufällt, wodurch er auch mit seiner Seele ein Interesse an der Arbeit gewinnt.“

(Star of the West, Jahrg.8, Nr.1, S. 7.)


Vermächtnis und Erbschaft.

Bahá’u’lláh bestimmte, daß es jedermann frei stehe, bei Lebzeiten über sein Vermögen zu verfügen, wie es ihm beliebe; Er machte es aber jedem zur Pflicht, testamentarisch über sein Vermögen zu verfügen. Wenn jemand stirbt, ohne seinen letzten Willen hinterlassen zu haben, so soll sein Vermögen festgestellt und in gewissem festgesetzten Verhältnis unter sieben Erbschaftsklassen verteilt werden. Zu diesen gehören: die Kinder, Frau oder Mann, Vater, Mutter, Brüder Schwestern und Lehrer. Die Anteile eines jeden sind von den Erstgenannten bis zu den Letzten zu vermindern. Fehlt eine oder mehrere dieser Klassen, so fließt deren Anteil in die öffentliche Kasse und soll für die Armen, die Vaterlosen, die Witwen oder für sonstige nützliche Zwecke verwendet werden.

Es ist nichts im Gesetz Bahá’u’lláhs enthalten, das jemand daran hindern könnte, sofern es ihm beliebt, sein ganzes Vermögen einer einzigen Person zu vermachen, aber beim Abfassen ihres letzten Willens werden sich die Bahái natürlich nach dem Modus richten, den Bahá’u’lláh für diesen Fall aufstellte, wenn jemand stirbt, ohne ein Testament gemacht zu haben. Dieser Modus sichert die Verteilung der Hinterlassenschaft eine beträchtliche Anzahl von Erben zu.


Die Gleichstellung von Mann und Frau.

Eines der sozialen Prinzipien, dem Bahá’u’lláh große Bedeutung zumißt, ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Die Frauen sollen sich gleicher Rechte, gleicher Erziehung und gleicher Gelegenheiten, ihre Talente zu verwerten, erfreuen.

Das sicherste Mittel, auf das sich Bahá’u’lláh zur Erhebung der Frauen stützt, ist die universale Erziehung. Die Mädchen sollen die gleich gute Erziehung genießen wie die Knaben. In der Tat, die Erziehung der Mädchen wird noch für wichtiger betrachtet als die der Knaben, denn die Mädchen werden später Mütter und als Mütter sind sie die ersten Erzieher der kommenden Generation. Kinder gleichen den grünen und zarten Zweigen; wenn ihre erste Erziehung gut und richtig ist, wachsen sie gerade, wenn diese schlecht ist, geraten sie krumm. Der Mensch ist bis zum Ende seines Lebens von der Erziehung seiner erster Jahre beeinflußt. Wie wichtig ist es daher, daß die Mädchen eine gleich gute Erziehung genießen wie die Knaben!

'Abdu'l-Bahá hatte bei Seinen Reisen durch die westlichen Länder häufig Gelegenheit, die Baháilehren bezüglich dieses Themas zu erläutern. In einer Versammlung der Frauenliga für Friede und Freiheit in London, im Januar 1913, sagte Er:

„Die Menschheit gleicht einem Vogel mit seinen zwei Schwingen -— eine derselben ist das männliche, die andere das weibliche Geschlecht. Sofern nicht beide Schwingen stark sind und durch eine gemeinsame Kraft angetrieben werden, kann sich der Vogel nicht himmelwärts schwingen. Dem Geist dieses Zeitalters entsprechend müssen die Frauen Fortschritte machen und ihre Aufgaben in allen Zweigen des Lebens erfüllen, um den Männern gleich zu werden. Sie müssen auf die gleiche Höhe gelangen wie die Männer, und sich gleicher Rechte erfreuen. Dies ist mein ernstes Gebet, auch ist es eines der grundlegenden Prinzipien Bahá’u’lláhs.

„Manche Wissenschaftler erklärten, das Gehirn des Mannes wäge schwerer als das des Weibes und sie führten dies als Beweis für die Ueberlegenheit des Mannes an. Wenn wir jedoch um uns blicken, so sehen wir Leute mit kleinem Kopf, deren Gehirn leicht sein muß, die jedoch eine große Intelligenz aufweisen. Wir sehen ebenso andere mit großem Kopf, deren Gehirn schwer sein muß, die aber dennoch einfältig sein können. Deshalb ist das Gewicht des Gehirns kein zuverlässiger Maßstab für die Intelligenz oder die Ueberlegenheit.

„Wenn die Männer als zweiten Beweis ihrer Ueberlegenheit die Behauptung aufstellen, die Frauen hätten nicht so viel geleistet wie die Männer, so führen sie armselige Beweise an, bei denen die Geschichte außer Betracht gelassen wird. Wenn sie sich geschichtlich besser informiert hätten, dann würden sie wissen, daß große Frauen lebten, die in der Vergangenheit große Dinge vollbrachten und daß auch heute viele leben, die Großes vollbringen.“

Hier erzählte 'Abdu'l-Bahá die Geschichte der Zenobia und was sie und andere bedeutende Frauen vollbrachten; dabei spendete Er besonderes Lob der mutigen Maria Magdalena, deren [Seite 123] Glaube fest blieb, während der der Apostel ins Wanken geraten war. Dann fuhr Er fort:

„Unter den Frauen unserer Zeit ragt besonders Qurratu’l-Ayn, die Tochter eines mohammedanischen Priesters, hervor. Zur Zeit des Auftretens des Báb zeigte sie einen solchen Mut und eine so ungewöhnliche Energie, daß alle, die sie hörten, erstaunt waren. Sie warf ihren Schleier beiseite, trotzte den alten Gebräuchen der Perser und obschon es als ungehörig galt, mit Männern zu sprechen, unternahm es diese heldenhafte Frau, sich mit den gelehrtesten Männern auseinander zu setzen und trug auch in jeder derartigen Zusammenkunft den Sieg davon. Die persische Regierung nahm sie gefangen; sie wurde in den Straßen mit Steinen beworfen, mit dem Kirchenbann belegt, von einer Stadt zur anderen verbannt, mit dem Tode bedroht, aber dies alles hinderte sie nicht, mit aller Entschiedenheit für die Freiheit ihrer Schwestern einzutreten. Sie ertrug jegliche Verfolgung und alles Leiden mit dem größten Heldenmut und Stärke und selbst im Gefängnis machte sie noch Bekehrungen. Zu einem persischen Minister, in dessen Haus sie gefangen war, sagte sie: „Du kannst mich töten, sobald es dir beliebt, aber du kannst die Befreiung und Hebung der Frauen nicht aufhalten.“ Endlich kam das Ende ihres tragischen Lebens; sie brachten diese Frau in einen Garten und erdrosselten sie. Zu ihrem letzten Gang zog sie ihr schönstes Kleid an und schmückte sich, als ob sie eine Brautfahrt machen wollte. Sie gab ihr Leben mit einem solchen Heldenmut auf, daß alle, die sie sahen, dadurch ergriffen und innerlich erschüttert wurden. Sie war wirklich eine große Heldin. Auch heute gibt es unter den Frauen in Persien solche, die gleichen Mut zeigen und dichterisch sehr begabt sind. Sie sind meist sehr beredt und sprechen vor großen Versammlungen.

„Die Frauen müssen fortschrittlich gesinnt sein, und ihre Kenntnisse müssen sich zur Vervollkommnung der Menschheit auf Wissenschaft, Literatur u. Geschichte erstrecken. Binnen kurzem werden sie zu ihrem Rechte kommen. Die Männer werden sehen, wie die Frauen würdig an der Besserung des zivilen und politischen Lebens arbeiten, wie sie sich dem Krieg widersetzen und das allgemeine Stimmrecht und gleiche Anteilnahme bei allem erlangen. Ich hoffe, daß ihr Frauen in allen Phasen des Lebens Fortschritte macht; dann werden eure Stirnen mit dem Diadem des ewigen Ruhmes gekrönt sein.“


Die Frauen und das neue Zeitalter.

Wenn der Gesichtspunkt der Frau gebührende Beachtung findet und es der Frau erlaubt wird, ihren Willen in der Handhabung der sozialen Angelegenheiten in angemessener Weise zum Ausdruck zu bringen, dann dürfen wir einen großen Fortschritt in jenen Angelegenheiten erwarten, die unter der alten Regierungsform der männlichen Herrschaft oft sehr vernachlässigt wurden. Zu solchen gehören die Gesundheitspflege, Mäßigkeit, der Friede und die Hochschätzung des Wertes des individuellen Lebens. Eine Besserung in dieser Hinsicht wird sehr weitreichende und segensreiche Wirkungen haben.

'Abdu'l-Bahá sagt:

In der Vergangenheit wurde die Welt durch Kraft und Gewalt regiert und der Mann herrschte über die Frau, weil er sowohl körperlich als geistig kräftiger ist und mehr zum Angriff neigende Eigenschaften besitzt. Aber die Zunge der Wage wendet sich schon; die Kraft verliert ihre Herrschaft und geistige Regsamkeit, das Erkenntnisvermögen und die geistigen Eigenschaften der Liebe und des Dienstes, in denen die Frau stark ist, gewinnen an Einfluß. Daher wird das neue Zeitalter weniger ein ausschließlich männliches sein; es wird vielmehr von den weiblichen Idealen durchdrungen werden oder, um mich genauer auszudrücken, es wird ein Zeitalter sein, in dem die männlichen und weiblichen Elemente in der Kultur besser ausgeglichen werden.“

(Star of the West, Jahrg, VIII, Nr.3, S.4.)


Gewaltsame Methoden sind aufzugeben.

Auch in der Herbeiführung der Befreiung der Frauen, wie in andern Angelegenheiten, rät Bahá’u’lláh Seinen Anhängern, gewaltsame Methoden zu vermeiden. Ein ausgezeichnetes Bild von der sozialen Bahái-Reform zeigten uns die Baháifrauen in Persien, Aegypten und Syrien. In diesen Ländern ist es Brauch der mohammedanischen Frauen, außerhalb ihres Hauses verschleiert zu gehen. Der Báb weist darauf hin, daß die Frauen in dem „Neuen Zeitalter" von diesem lästigen Zwang befreit werden; aber Bahá’u’lláh anempfiehlt Seinen Gläubigen, sofern keine wichtige Frage in Bezug auf die Moral mitspielt, sich den herrschenden Bräuchen zu fügen, bis dieses Volk erleuchtet wird. Dies sei weiser, als Anstoß und unnötigen Widerstand unter ihren Mitmenschen zu erregen. Obschon sich die Baháifrauen wohl bewußt sind, daß der alte Brauch des Schleiertragens für neuzeitliche Menschen unnötig und lästig ist, finden sie sich doch ruhig mit dieser Unbequemlichkeit ab und vermeiden es, durch schleierloses [Seite 124] Ausgehen einen Sturm fanatischen Hasses und erbittertste Gegnerschaft hervorzurufen. Dieses Beachten eines herrschenden Brauches ist keineswegs der Furcht zuzuschreiben, sondern einem sicheren Vertrauen in die Macht der Erziehung und in die umwandelnde und lebengebende Wirkung der wahren Religion. Die Bahái in jenen Ländern widmen ihre Kräfte der Erziehung ihrer Kinder, besonders der Mädchen. Ebenso der Verbreitung und Förderung der Baháiideen, denn sie sind sich dessen wohl bewußt, daß in demselben Verhältnis, wie das neue geistige Leben wächst und sich unter den Menschen verbreitet, die alten Bräuche und Vorurteile nach und nach so natürlich und unvermeidlich fallen werden, wie die Knospenschalen im Frühling, wenn sich die Blätter und Blüten im Sonnenschein entfalten.


Erziehung.

Die Erziehung, d. h. die Unterweisung und Führung der Menschen und die Entwicklung und Schulung der ihnen innewohnenden Fähigkeiten, war von Anbeginn der Welt das höchste Ziel aller Propheten, und in den Baháilehren ist sowohl die große Wichtigkeit als auch die unbegrenzte Möglichkeit der Erziehung klar und deutlich vor Augen geführt. Der Lehrer ist der mächtigste Faktor in der Zivilisation und seine Tätigkeit ist die höchste, zu der sich der Mensch aufzuschwingen vermag. Die Erziehung beginnt im Mutterleib und ist so endlos, wie das Leben der Menschen. Sie ist eine dauernde Notwendigkeit für ein richtiges Leben und die Grundlage der Wohlfahrt sowohl für den Einzelnen als für die Gesamtheit. Wenn die richtige Erziehung Allgemeingut wird, dann wird die Menschheit verwandelt und die Welt ein Paradies werden.

Eine wirklich gute Erziehung gehört gegenwärtig zu den seltensten Erscheinungen, denn nahezu jedermann hat Vorurteile, verkehrte Ideen, irrtümliche Vorstellungen und schlechte Gewohnheiten, die ihm von Kind auf anerzogen sind. Wie wenige sind von ihrer frühesten Kindheit an gelehrt, Gott von ganzem Herzen zu lieben und Ihm ihr Leben zu weihen, den Dienst der Menschheit gegenüber als das höchste Ziel des Lebens aufzufassen und die Kräfte zum Nutzen des Allgemeinguts für alle Menschen zu entwickeln. Dies sind aber sicherlich die Hauptelemente einer guten Erziehung. Bloßes Ueberlasten des Denkens mit Arithmetik, Grammatik, Geographie, Sprachen usw., hat verhältnismäßig wenig zu tun mit der Gestaltung eines edlen und nutzbringenden Lebens. Nach Bahá’u’lláhs Verordnungen muß die Erziehung allumfassend sein. Er schreibt:

„Wir verordnen, daß jeder Vater seinen Söhnen und Töchtern eine gute Schulbildung, sowie alles, was in dem Tablet verordnet ist, angedeihen lassen muß. Wird dies von jemand vernachlässigt, so ist es Pflicht der Vertrauensmänner des Hauses der Gerechtigkeit, den für die Erziehung der Kinder erforderlichen Betrag von den Eltern, sofern sie bemittelt sind, einzuziehen. Sind aber die Eltern unbemittelt, dann soll die Angelegenheit dem Haus der Gerechtigkeit übertragen werden. Wahrlich, Wir machten das Haus der Gerechtigkeit zu einem Zufluchtsort für die Armen und Bedürftigen.

„Wenn jemand seinen Sohn oder Kinder eines andern erzieht, so ist es, als erziehe er Meine Kinder.“

(Tablet Ischrakat S. 113).

„Männer und Frauen müssen einen Teil ihres Einkommens aus dem Handel, der Landwirtschaft oder einem andern Geschäft in die Verwaltung eines vertrauenswürdigen Menschen geben, damit dieser für die Erziehung der Kinder verwendet wird. Diese Geldsammlung muß unter der Anleitung der Vertrauensmänner des Hauses der Gerechtigkeit für die Erziehung der Kinder angelegt werden.

(Tablet of the World.)


Die angeborenen Unterschiede in der Wesensart.

Nach Ansicht der Bahái ist das Wesen des Kindes nicht wie Wachs, das nach dem Willen des Lehrers beliebig nach einer Form modelliert werden kann. Nein, jedes einzelne der Kinder hat seinen eigenen, ihm von Gott verliehenen Charakter und seine Eigentümlichkeit, die nur in einer besonderen Weise zu seinem Vorteil entwickelt werden kann, und dieser Weg ist in jedem Fall einzig in seiner Art. Keine zwei Menschen haben genau dieselben Fähigkeiten und Talente, und der wahre Erzieher wird nie versuchen, zwei Naturen in ein und dieselbe Form zu zwingen. In der Tat, er wird nie den Versuch machen, irgend eine Natur in eine Form zu pressen, sondern er wird vielmehr die sich entwickelnden Kräfte der jungen Wesen ehrfurchtsvoll pflegen, sie ermutigen, beschützen und ihnen die nötige geistige Ernährung und Hilfe zukommen lassen. Seine Arbeit gleicht der eines Gärtners, der verschiedene Pflanzen pflegt. Eine Pflanze liebt den strahlenden Sonnenschein, die andere den kühlen Schatten; eine liebt das Bachufer, eine andere die trockene Bergesspitze; eine gedeiht am besten in sandigem Boden, eine andere in fetter Lehmerde. Jede muß die ihrer Natur angemessene Pflege haben, andernfalls kann ihre Schönheit nicht völlig offenbar werden. [Seite 125]

'Abdu'l-Bahá sagt:

„Die Propheten bestätigen, daß die Erziehung eine große Wirkung auf die menschliche Rasse ausübt, aber sie erklären, daß des Menschen Geist und sein Begriffsvermögen ursprünglich verschieden sind. Wir sehen, daß gewisse Kinder desselben Alters, desselben Landes und derselben Rasse, ja derselben Familie, unter der Aufsicht desselben Lehrers im Geist und in der Fassungskraft verschieden sind. Die Schale mag poliert werden, so viel man will, eine glänzende Perle kann sie niemals werden. Der schwarze Stein wird nicht zum leuchtenden Edelstein. Der stachlige Kaktus kann durch Pflege und Entwicklung niemals zum gesegneten Baume werden. Das heißt, die Erziehung verändert die Wesenheit der Natur des menschlichen Edelsteins nicht, aber sie bringt eine wunderbare Wirkung hervor. Durch diese wirkungsvolle Macht der Erziehung werden alle, in der menschlichen Wirklichkeit verborgen liegenden Tugenden und Fähigkeiten ans Licht gebracht.“

Tablete 'Abdu'l-Bahás, Band 3, S. 577.


Charaktererziehung.

Das allerwichtigste in der Erziehung ist die Charakterbildung. In bezug auf diese wirkt das Vorbild mehr als die Vorschrift. Das Leben und der Charakter der Eltern, der Lehrer und der allgemeinen Umgebung sind Faktoren von allergrößter Wichtigkeit.

Die Propheten Gottes sind die Haupterzieher der Menschheit und ihr Rat und ihre Lebensgeschichte sollten dem Geist der Kinder eingeflößt werden, sobald sie dazu aufnahmefähig sind. Besonders wichtig sind die Worte des erhabenen Lehrers Bahá’u’lláh, der die Grundsätze offenbarte, auf der die künftige Kultur aufgebaut werden muß. Er sagt:

„Lehret eure Kinder, was durch die Feder der Herrlichkeit geoffenbart wurde. Unterrichtet sie in dem, was vom Himmel der Größe und Macht herabkam. Laßt sie die Tablete des Barmherzigen hersagen und mit melodischer Stimme in den Hallen des Maschriqu’l Adhkar singen.“

(Star of the West, 9, Jahrg., Nr.7, S.81.)


Kunst, Wissenschaft, Gewerbe.

Die Erziehung in der Kunst, in Wissenschaften, im Gewerbe und in sonstigen nützlichen Berufen ist als wichtig und notwendig betrachtet.

Bahá’u’lláh sagt:

„Erkenntnis bildet gleichsam die Schwingen für die menschlichen Wesen; sie ist eine Leiter für ihren Aufstieg. Sich Wissen anzueignen, ist allen zur Pflicht gemacht. Es sollen dies aber solche Wissenschaften sein, die der Menschheit Nutzen bringen und nicht solche, die nur mit Worten beginnen und mit Worten endigen. Wer Wissenschaften und Künste besitzt, hat einen großen Vorzug unter den Menschen... In der Tat, der wirkliche Schatz des Menschen sind seine Kenntnisse. Sie sind das Mittel, um Ehre, Wohlergehen, Freude, Fröhlichkeit und Glückseligkeit zu erlangen.“

(Tablet Taschalliat S. 74.)


Die Behandlung der Verbrecher.

In einer Rede über die richtige Art der Behandlung von Verbrechern äußerte Sich 'Abdu'l-Bahá unter anderem wie folgt:

„Die Hauptsache ist aber, die Menschen so zu erziehen, daß überhaupt keine Verbrechen mehr begangen werden; denn es ist möglich, die Massen so zu erziehen, daß sie sich vor der Verübung von Verbrechen hüten werden und zwar derart, daß ihnen das Verbrechen selbst als die größte Strafe, als äußerste Verdammung und als Qual erscheint. Alsdann wird daher kein Verbrechen mehr begangen werden, das Bestrafung erfordern würde...

„Wenn jemand einen Mitmenschen bedrückt, ihm Schaden zufügt und Unrecht tut und der, dem dies zugefügt wird, vergilt es ihm, so ist dies Rache und ein solches Tun ist tadelnswert. Wenn der Sohn Amrus den Sohn des Zaid tötet, so hat Zaid kein Recht, den Sohn Amrus zu töten; tut er dies, so ist dies eben Rache. Wenn Amrus den Zaid beschimpft, so hat letzterer kein Recht, den Amrus ebenfalls zu beschimpfen; tut er es, so ist dies Rache, und diese ist sehr tadelnswert. Nein, er muß das Böse vielmehr mit Gutem vergelten und nicht nur vergeben, sondern, wenn irgend möglich, seinem Bedrücker noch gute Dienste leisten. Ein solches Benehmen ist des Menschen würdig, denn, welchen Vorteil hat er davon, wenn er Rache nimmt? Beide Handlungen sind sich gleich; wenn eine Handlung tadelnswert ist, so ist es die andere auch. Der einzige Unterschied besteht darin, daß die eine zuerst und die andere nachher begangen wurde.

„Aber die Gesamtheit hat das Recht, sich zu verteidigen und sich zu beschützen; sie hegt aber keinen Haß oder Erbitterung gegen den Mörder, sie hält ihn nur gefangen und bestraft ihn zum Schutz und zur Sicherheit der andern... [Seite 126]

„Wenn daher Christus sagte: „So dich jemand schlägt auf deinen rechten Backen, dem biete den linken auch dar“, so sagte Er dies in der Absicht, die Menschen zu lehren, daß sie sich nicht persönlich rächen sollen. Er wollte damit nicht sagen, daß man einen Wolf, der in eine Schafherde einfällt, um sie zu vernichten, noch dazu ermutigen sollte. Nein, wenn Christus gewußt hätte, daß ein Wolf in seine Heerde eingefallen wäre, um die Schafe zu töten, so würde er dies ganz sicher verhindert haben.

„Die Konstitution der menschlichen Gesellschaft ist abhängig von Gerechtigkeit und nicht von Vergebung. Wenn Christus von Vergebung und Verzeihung sprach, so meinte Er damit nicht, daß ihr ruhig zusehen sollt, wenn euch andere Nationen angreifen, eure Heimstätten verbrennen, euere Habe plündern, euere Frauen, Kinder und Verwandte überfallen und euere Ehre verletzen. Nein, die Worte Christi beziehen sich auf das Verhalten von Mensch zu Mensch; wenn eine Person eine andere angreift, so soll ihr die angegriffene Person vergeben. Aber die Gesamtheit muß die Rechte des Menschen schützen...

„Etwas bleibt aber noch zu sagen übrig, und das ist: Die menschliche Gesellschaft ist Tag und Nacht damit beschäftigt, Strafgesetze zu erlassen und Mittel und Wege zur Bestrafung zu ersinnen. Sie baut Gefängnisse, macht Ketten und Fesseln, richtet Verschiebungs- und Verbannungsorte ein, ersinnt verschiedene Arten von Bedrückungen und Foltern, und glaubt mit diesen Mitteln die Verbrecher erziehen und bessern zu können, während sie in Wirklichkeit mit diesen Mitteln die Moral vernichtet und die Charaktere verdirbt. Die menschliche Gesellschaft sollte im Gegenteil mit größtem Eifer Tag und Nacht darnach streben, die Erziehung der Menschen zu vervollkommnen, sie zu veranlassen, Tag für Tag Fortschritte zu machen, sich in Wissenschaft und Erkenntnis zu verbessern, Tugenden und gute Sitten zu erlangen und das Laster zu meiden, damit Verbrechen überhaupt nicht mehr begangen werden.“

(Some answered Questions, S. 307-312.)


Der Einfluss der Presse

Die Wichtigkeit der Presse als Mittel zur Verbreitung von Wissen, zur Erziehung des Volkes sowie ihre zivilisierende Macht, sofern sie richtig geleitet wird, sind von Bahá’u’lláh völlig anerkannt. Er schreibt:

„An diesem Tag sind die Geheimnisse der Erde enthüllt und sichtbar, und die Seiten der Tageszeitungen sind wirklich der Spiegel der Welt. Sie veröffentlichen und erläutern die Taten und Handlungen der verschiedenen Völker, und sie sorgen dafür, daß diese allgemein bekannt werden. Die Zeitungen gleichen einem Spiegel, der mit Gehör, Gesicht und Sprache ausgestattet ist; sie sind eine wunderbare Einrichtung und eine große Sache.

„Es ist aber dringend notwendig, daß die Schriftleiter der Zeitungen frei sind von Vorurteilen, Selbstsucht und Begierden und daß sie sich schmücken mit dem Schmuck der Unparteilichkeit und der Gerechtigkeit. Alle Angelegenheiten müssen sie zuvor eingehend erforschen, damit sie von den wirklichen Tatsachen unterrichtet und imstande sind, darüber wahrheitsgetreu zu berichten. Was die Zeitungen über diesen Unterdrückten (Bahá’u’lláh) schrieben, beruht meistens auf Unwahrheit. Gute Rede und Wahrhaftigkeit gleichen in der Erhabenheit ihrer Stellung und ihres Ranges der Sonne, die am Horizont des Himmels der Erkenntnis aufging.“

(Tablet Tarasat S. 59-60.)



Das Streben nach Erkenntnis in der Welt draußen.

Aufsatz von Heinrich Küstner. (Schluß.)

2. So beschämend es für das Menschengeschlecht ist, daß es notwendig ist, über Gott überhaupt reden zu müssen und daß Er nicht Seine uneinnehmbare Burg in jedes Menschen Herzen hat, so erfreulich sind bei der herrschenden Lage doch die stattfindenden Auseinandersetzungen der bejahenden und der verneinenden Richtung. Im Monistenbund Stuttgart hielt kürzlich ein Professor Hartwig einen Vortrag über das Thema: „Gott, wie er lebte und starb“. Ueber diesen Vortrag ist weiter nichts zu sagen. Das Thema allein schon verurteilt ihn. So recht auch der Monismus damit hat, daß er die Zweiheit „Geist und Materie“ verneint, so falsch ist er beraten, daß er die Einheit und das Primäre in der Materie sucht, statt im Geist. Wichtig für uns zu vermerken ist aber, daß der Vortrag einen Gegenvortrag hervorgerufen hat über das Thema: „Gott lebt und wirkt“. Auch bei diesem Vortrag würde es zu weit führen, auf Einzelheiten einzugehen. Es genüge uns, die Tatsache festzuhalten. Der zweite Vortrag hat gezeigt, daß die allgemeine Erkenntnis im Fortschreiten begriffen ist. In seinem Verlauf kam auch zum Ausdruck, daß Religion und [Seite 127] Kirche nicht miteinander verwechselt werden dürfen.

3. Zur Einheit der Welt wird das gegenseitige Verständnis für die Eigenart der andern Völker führen. Diesem gegenseitigen Verstehen zwischen alter und neuer Welt — Europa und Amerika - stand aber bisher noch ein gewisser geistiger Hochmut der alten Welt entgegen. Man hat sich in Europa lange gesträubt, Amerika eine eigene, selbständige Kultur und Geistesrichtung zuzugestehen. Man hielt an der These fest, daß das Neue, das Amerika zu dem alten, guten Geist der Mutterländer seiner Einwohner hinzugefügt habe, in einem öden Nützlichkeitsstreben bestehe, das die guten Grundelemente der überkommenen europäischen Kultur beinahe aufhebe. Die Erkenntnis nun, daß dem nicht so ist, daß vielmehr umgekehrt das alte Europa auch auf geistigem, oder gerade auf geistigem Gebiet viel von Amerika zu lernen hat, bricht sich auch in Deutschland Bahn.

Das „Stuttgarter Neue Tagblatt“ schreibt zu diesem Thema am 12. Februar d. J.:

„Falsch und durchaus abwegig wäre es, die so in Kriegs- und Nachkriegszeit auf uns eingedrungene und die Auseinandersetzung des deutschen Volkes schlechthin erzwingende westliche Welt mit der Wertung nur als „Zivilisation“, lediglich als Entfaltung und Verfeinerung der materiellen Lebensgüter abzutun, nicht aber verstehen zu wollen, daß es sich bei ihr um eine neuartige Kulturwelt voll hoher Bildungsgüter handelt. Es ist die Welt der unbedingten Anerkennung des Rechts der freien unvoreingenommenen Forschung, des unbedingten Rechts der freien Persönlichkeit, der vorbehaltlosen Herrschaft des Grundsatzes der Gleichheit aller für die gesamte staatliche und gesellschaftliche Schichtung; des Grundsatzes der Billigkeit als der obersten Maxime des menschlichen Handelns in Gesellschaft, Staat und Wirtschaft und demzufolge auch des der Selbstverwaltung und des Selbstbestimmungsrechts.

... Es ist die Welt, die die Menschheit von Erfolg zu Erfolg in der Durchforschung der Natur- und Geisteskräfte getragen, die uns die versiegelten Bücher der vergangenen Menschheitsgeschichte und der verborgenen Naturkräfte öffnen ließ, die den Bann von Wahnvorstellungen, Dogmen und Voreingenommenheiten brach und den Menschen frei der Umwelt gegenübertreten ließ; die die Grundlagen der Staaten- und Völkerwelt umbaute; die die Sklavenketten brach und sich mit gutem Gewissen der aufsteigenden kapitalistischen Wirtschaft verband, während Luthertum und Katholizismus sich ihr verschlossen; die deshalb märchenhafte, industrielle und wirtschaftliche Entfaltung in die Völker trug, und den Gedanken einer Friedensorganisation im Völkerbund fassen ließ. Sie wurzelt nicht in einem öden Utilitarismus und Amerikanismus, sondern in einer festgefügten Weltanschauung...“

Es genügt, diese Worte festzuhalten, um zu verstehen, wie der Geist des Zeitalters die Menschheit zwingt, sich gegenseitig zu achten, und zu sehen, wie aus dieser Achtung die Ueberzeugung mit Notwendigkeit sich entwickeln wird, daß die ganze Menschheit eine untrennbare Einheit ist und daß alle Menschen Gottes Kinder sind und unter dem Einfluß Seines allgewaltigen Geistes stehen.



Das Uebersinnliche in der Medizin.

Vortrag von Dr. H. Haug in Bad Mergentheim.

Bei der Einweihung der neu entdeckten Albertquelle hat Herr Kurarzt Dr. Haug einen äußerst interessanten und lehrreichen Vortrag gehalten, der bei den Zuhörern allgemeinen Beifall fand, und bei dem der vielfache Wunsch entstand, ihn im ganzen Wortlaut zu besitzen. Wir haben demselben nachstehend entsprochen.

„Des wundertätigen Brunnens Haus wäre Tempel geworden, der Arzt hätte den Kranken die priesterliche Hand aufgelegt. Opfermilch wäre aus dem Weihgefäß geflossen und des Gottes Pokal hätte sich mit der Feuergabe gefüllt.

Das wäre bei den alten Griechen geworden.

Ich weiß, die da heut kommen, sehen nur das Trinkglas des bitter schmeckenden Wassers und wollen davon nichts als nüchtern und leiblich gesund werden. Sie denken kaum, daß es tief aus Urzeit und Schoß der Erde kommt.

So Hans Heinrich Ehrler in seinem Festbuch.

Und es ist wahr, ein Mysterium ist es, dieser neu erbohrte Brunnen, ein Mysterium, wie alle die Gaben, die uns die Natur aus ihrem Schoß spendet, oft Produkte einer hunderttausendjährigen Entwicklung. Ganze Zeitalter sind notwendig gewesen, um die riesigen Salzlager in den Schoß der Erde zu betten, die wir heute als Salzquell wieder gelöst gespendet erhalten. Eine Welt mußte versinken, damit wir heute in dem ewigen Hinaufbildungsprozeß Hilfsmittel an die Hand bekommen. Was in der Sonne und in den meisten selbstleuchtenden Sternen heute noch in Glutenform dampft, das bietet uns die Erde in fester Form. Dort oben kreisen Metalle, Salze, Säuren, Gase in weißer Glut, hier unten finden wir sie geformt durch Temperatur, durch Druck und Bewegung, erschlossen der Menschheit durch ein gütiges Geschick. Das bunte Band des Prismas beweist die Richtigkeit der Lehre des Königsberger Philosophen: Die Erde ist Fleisch vom Fleisch der Sonne.

[Seite 128] Nur zum kleinen Teil können wir wissenschaftlich die Wunder der Erde begreifen. Die Lehre von der physikalisch-chemischen Begreifbarkeit der Welt und ihrer Probleme ist erst durch den Materialismus, der jetzt auf der ganzen Linie geschlagen ist, zur unsäglich öden Weltanschauung geworden. Geist, Seele und Gemüt galten ihm nur noch als ein Destillat des Hirns, genau so wie die Drüsen des Körpers, wie Niere und Leber, die Abfallstoffe menschlichen Stoffwechsels als Sekrete wieder abscheiden und aus den Windungen des Gehirns sollte einfach der Nebel des Gedankens abdampfen.

Nicht drastischer läßt sich die Trostlosigkeit einer solchen Weltanschauung darstellen, als durch Schleichs Fragestellung, die ein echt materialistisches Problem aufwirft: Wie wird aus der Kartoffel, die ein Genie verzehrt, ein Gedicht, ein Bildwerk, eine Symphonie?

Und die Frage nach dem Sitz der Seele, welche die Medizin aller Zeiten nicht weniger beschäftigt hat als die Philosophie, ist nichts anderes als ein Teil der alten Menschheitsfrage, woher, wohin? Dem zweifelnden Menschen blieb es vorbehalten, die ewig unbeantwortete, anklagende, quälende, zersetzende Frage nach dem Warum hinzuzufügen.

Diese uralte Sehnsucht, die Stellung des Menschen im Weltganzen zu begreifen, ist der gemeinsame Quell alles Wissens und jeden Glaubens. Daß sich die Beiden nicht vereinen lassen sollen, ist nicht zu begreifen. Stellt doch in dem Streit zwischen Glauben und Wissenschaft auf der einen Seite die innere Ueberzeugung, Ahnung, Offenbarung nichts anderes dar, als auf der anderen die Hypothese, die gedachte Gesetzmäßigkeit.

Ist doch auch die Entwicklung beider gleichmäßig vor sich gegangen. Im Glauben wie in der Wissenschaft ist immer erst der Gedanke langsam herangereift, hat oft im Laufe von langen Zeiträumen sich entwickelt, ist stets zuerst nur einem, manchmal nur mehreren zugleich, und dann nur Unkundigen, überraschend durch ihre Gleichzeitigkeit, zum Ausdruck erschienen, wenn die Zeit gekommen war. Und weil diese eine Gipfelleistung stets nur ein Ausfluß einer allgemein vorbereiteten Wirkung ist, deshalb breitet sich bei beiden eine neue Erkenntnis dann schlagartig und unwiderstehlich aus. Diese Entwicklungsstadien hat der Glaube durchgemacht wie die Wissenschaft und die neuesten Ueberzeugungen sind stets der Ausfluß der Sehnsucht gewesen, die Rätsel der Welt zu lösen.

Auf der Seite der Glaubensbekenntnisse wie der Wissenschaft steht am Anfang „der große Unbekannte“. Nur wenn der Eine in Ehrfurcht symbolisiert und personifiziert, will der Andere mit kühler Logik analysieren, was freilich die Ehrfurcht nicht ausschließt. Aber beide kommen ohne eine nicht beschreibbare, nicht erfaßbare und nicht erkennbare Macht nicht aus. Und wenn heute die modernste Wissenschaft den ganzen Weltraum und jede Materie überhaupt mit Aether durchdrungen annimmt, so stellt der Glaube dagegen die Allgegenwart Gottes. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie ist doch nur eine physikalische Fassung für den uralten Unsterblichkeitsgedanken.

Und die Methoden, wie sie von den Vertretern beider Geistesrichtungen zur Ausbreitung ihrer Lehre angewandt werden, sind sie nicht stets dieselben, springt nicht die Parallele zwischen Priester und Arzt offensichtlich ins Auge?

In tiefstem Wesen verwandt sind diese beiden Tätigkeiten, ja verkettet miteinander. Und wie der rechte Arzt etwas Priesterliches im edelsten Sinne haben muß, so muß der rechte Priester auch Arzt sein. Haben doch beide als Angriffspunkte stets nur menschliches Leid, Not, Sorge, Kummer, Elend, Schmerz, und wie der Arzt in Tagen der Gesundheit nicht aufgesucht wird, so ist gar oft der Priester in Tagen des Glückes vergessen. Kommt aber die Krankheit, kommt die seelische Not, so sind beide die gesuchten Helfer vor menschlicher Unzulänglichkeit.

Der Priester tröstet die Seele und hilft mit dem Hinweis auf eine höhere irdische Macht der leidenden Seele, mit der befreienden Idee einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits, der Arzt versucht zur Regulierung und Rückführung der außer Ordnung gekommenen Lebensfunktionen in den Lebensrythmus den Menschen zum Wohlbefinden zurückzubringen und damit denselben Zustand innerer Ausgeglichenheit und Harmonie zu erreichen, wobei der Arzt schon durch die Abwesenheit von Schmerz ein Gefühl des Glückes zu erzeugen imstande ist. Was der Eine durch Gedankenübertragung auf reflektorischem Wege erreicht, bewirkt der Andere durch chemische Alteration der Hirnfunktion, durch Medikamente, bezw. Anwendung priesterlichen Einflusses. Was Beide aber, den Priester und den Arzt, mächtig groß und beherrschend macht, das ist, was neben dem Trost- und Heilmittel nicht entbehrt werden kann, die starke suggestive Kraft der Persönlichkeit, ohne die Beider Einfluß gering ist.

(Fortsetzung folgt.)


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Druck: Wilhelm Heppeler, Stuttgart.

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Geschichte und Bedeutung der Bahailehre.

Die Bahai-Bewegung tritt vor allem ein für die „Universale Religion" und den „Universalen Frieden“ — die Hoffnung aller Zeitalter. Sie zeigt den Weg und die Mittel, die zur Einigung der Menschheit unter dem hohen Banner der Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit führen. Sie ist göttlich ihrem Ursprung nach, menschlich in ihrer Darstellung, praktisch für jede Lebenslage. In Glaubenssachen gilt bei ihr nichts als die Wahrheit, in den Handlungen nichts als das Gute, in ihren Beziehungen zu den Menschen nichts als liebevoller Dienst.

Zur Aufklärung für diejenigen, die noch wenig oder nichts von der Bahaibewegung wissen, führen wir hier Folgendes an: „Die Bahaireligion ging aus dem Babismus hervor. Sie ist die Religion der Nachfolger Baha ’Ullahs, Mirza Hussein Ali Nuri (welches sein eigentlicher Name war) wurde im Jahre 1817 in Teheran (Persien) geboren. Vom Jahr 1844 an war er einer der angesehensten Anhänger des Bab und widmete sich der Verbreitung seiner Lehren in Persien. Nach dem Märtyrertod des Bab wurde er mit den Hauptanhängern desselben von der türkischen Regierung nach Bagdad und später nach Konstantinopel und Adrianopel verbannt. In Bagdad verkündete er seine göttliche Sendung (als „Der, den Gott offenbaren werde") und erklärte, daß er der sei, den der Bab in seinen Schriften als die „Große Manifestation", die in den letzten Tagen kommen werde, angekündigt und verheißen hatte. In seinen Briefen an die Regenten der bedeutendsten Staaten Europas forderte er diese auf, sie möchten ihm bei der Hochhaltung der Religion und bei der Einführung des universalen Friedens beistehen. Nach dem öffentlichen Hervortreten Baha ’Ullahs wurden seine Anhänger, die ihn als den Verheißenen anerkannten, Bahai (Kinder des Lichts) genannt. Im Jahr 1868 wurde Baha ’Ullah vom Sultan der Türkei nach Akka in Syrien verbannt, wo er den größten Teil seiner lehrreichen Werke verfaßte und wo er am 28. Mai 1892 starb. Zuvor übertrug er seinem Sohn Abbas Effendi (Abdul Baha) die Verbreitung seiner Lehre und bestimmte ihn zum Mittelpunkt und Lehrer für alle Bahai der Welt.

Es gibt nicht nur in den mohammedanischen Ländern Bahai, sondern auch in allen Ländern Europas, sowie in Amerika, Japan, Indien, China etc. Dies kommt daher, daß Baha ’Ullah den Babismus, der mehr nationale Bedeutung hatte, in eine universale Religion umwandelte, die als die Erfüllung und Vollendung aller bisherigen Religionen gelten kann. Die Juden erwarten den Messias, die Christen das Wiederkommen Christi, die Mohammedaner den Mahdi, die Buddhisten den fünften Buddha, die Zoroastrier den Schah Bahram, die Hindus die Wiederverkörperung Krischnas und die Atheisten — eine bessere soziale Organisation.

In Baha ’Ullah sind alle diese Erwartungen erfüllt. Seine Lehre beseitigt alle Eifersucht und Feindseligkeit, die zwischen den verschiedenen Religionen besteht; sie befreit die Religionen von ihren Verfälschungen, die im Lauf der Zeit durch Einführung von Dogmen und Riten entstanden und bringt sie alle durch Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Reinheit in Einklang. In der Bahaireligion gibt es keine Priesterschaft und keine religiösen Zeremonien. Ihr einziges Dogma ist der Glaube an den einigen Gott und an seine Manifestationen (Zoroaster, Buddha, Mose, Jesus, Mohammed, Baha ’Ullah),

Die Hauptschriften Baha ’Ullahs sind der Kitab el Ighan (Buch der Gewißheit), der Kitab el Akdas (Buch der Gesetze), der Kitab el Ahd (Buch des Bundes) und zahlreiche Sendschreiben, genannt „Tablets“, die er an die wichtigsten Herrscher oder an Privatpersonen richtete. Rituale haben keinen Platz in dieser Religion; letztere muß vielmehr in allen Handlungen des Lebens zum Ausdruck kommen und in wahrer Gottes- und Nächstenliebe gipfeln. Jedermann muß einen Beruf haben und ihn ausüben. Gute Erziehung der Kinder ist zur Pflicht gemacht und geregelt. Niemand ist mit der Macht betraut, Sündenbekenntnisse entgegenzunehmen oder Absolution zu erteilen.

Die Priester der bestehenden Religionen sollen den Zölibat (Ehelosigkeit) aufgeben, durch ihr Beispiel predigen und sich im praktischen Leben unter das Volk mischen. Monogamie (die Einehe) ist allgemein gefordert, Streitfragen, welche nicht anders beigelegt werden können, sind der Entscheidung des Zivilgesetzes jeden Landes und dem Bait’ul’Adl oder „Haus der Gerechtigkeit“, das durch Baha ’Ullah eingesetzt wurde, unterworfen. Achtung gegenüber jeder Regierungs- und Staatseinrichtung ist als einem Teil der Achtung, die wir Gott schulden, gefordert. Um die Kriege aus der Welt zu schaffen, ist ein internationaler Schiedsgerichtshof zu errichten. Auch soll neben der Muttersprache eine universale Einheits-Sprache eingeführt werden. „Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die Tropfen eines Meeres“ sagt Baha ’Ullah.

Es ist also weniger die Einführung einer neuen Religion, als die Erneuerung und Vereinigung aller Religionen, was heute von Abdul Baha erstrebt wird. (Vgl. Naveau Larousse, illustré supplement, p. 66.)