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SONNE DER WAHRHEIT | ||
Heft VII | SEPT. 1926 | |
ORGAN DES DEUTSCHEN BAHAI-BUNDES STUTTGART |
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Abdu’l-Bahás Erläuterung der Bahai-Prinzipien.
1. Die ganze Menschheit muss als Einheit betrachtet werden.
Baha’u’lláh wandte Sich an die gesamte Menschheit mit den Worten: „Ihr seid alle die Blätter eines Zweigs und die Früchte eines Baumes“. Das heißt: die Menschheit gleicht einem Baum und die Nationen oder Völker gleichen den verschiedenen Aesten und Zweigen; die einzelnen Menschen aber gleichen den Blüten und Früchten dieses Baumes. In dieser Weise stellte Baha’u’lláh das Prinzip der Einheit der Menschheit dar. Baha’u’lláh verkündigte die Einheit der ganzen Menschheit, er versenkte sie alle im Meer der göttlichen Gnade.
2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.
In religiösen Fragen sollte niemand blindlings seinen Eltern und Voreltern folgen. Jeder muß mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören und die Wahrheit suchen, denn die Religionen sind häufig nichts anderes als Nachahmungen des von den Eltern und Voreltern übernommenen Glaubens.
3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.
Alle göttlichen Verordnungen beruhen auf ein und derselben Wirklichkeit. Diese Grundlage ist die Wahrheit und bildet eine Einheit, nicht eine Mehrheit. Daher beruhen alle Religionen auf einer einheitlichen Grundlage. Im Laufe der Zeit sind gewisse Formen und Zeremonien der Religion beigefügt worden. Dieses bigotte menschliche Beiwerk ist unwesentlich und nebensächlich und verursacht die Abweichungen und Streitigkeiten unter den Religionen. Wenn wir aber diese äußere Form beiseite legen und die Wirklichkeit suchen, so zeigt sich, daß es nur eine göttliche Religion gibt.
4. Die Religion muss die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.
Die Religion ist für die Menschheit die größte göttliche Gabe, die Ursache des wahren Lebens und hohen sittlichen Wertes; sie führt den Menschen zum ewigen Leben. Die Religion sollte weder Haß und Feindschaft noch Tyrannei und Ungerechtigkeiten verursachen. Gegenüber einer Religion, die zu Mißhelligkeit und Zwietracht, zu Spaltungen und Streitigkeiten führt, wäre Religionslosigkeit vorzuziehen. Die religiösen Lehren sind für die Seele das, was die Arznei für den Kranken ist. Wenn aber ein Heilmittel die Krankheit verschlimmert, so ist es besser, es nicht anzuwenden.
5. Die Religion muss mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.
Die Religion muß mit der Wissenschaft übereinstimmen und der Vernunft entsprechen, so daß die Wissenschaft die Religion, die Religion die Wissenschaft stützt. Diese beiden müssen unauflöslich miteinander verbunden sein.
6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.
Dies ist eine besondere Lehre Baha’u’lláhs, denn die früheren Religionen stellen die Männer über die Frauen. Töchter und Söhne müssen gleichwertige Erziehung und Bildung genießen. Dies wird viel zum Fortschritt und zur Einigung der Menschheit beitragen.
7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.
Alle Propheten Gottes kamen, um die Menschen zu einigen, nicht um sie zu trennen. Sie kamen, um das Gesetz der Liebe zu verwirklichen, nicht um Feindschaft unter sie zu bringen. Daher müssen alle Vorurteile rassischer, völkischer, politischer oder religiöser Art abgelegt werden. Wir müssen zur Ursache der Einigung der ganzen Menschheit werden.
8. Der Weltfriede muss verwirklicht werden.
Alle Menschen und Nationen sollen sich bemühen, Frieden unter sich zu schließen. Sie sollen darnach streben, daß der universale Friede zwischen allen Regierungen, Religionen, Rassen und zwischen den Bewohnern der ganzen Welt verwirklicht wird. Die Errichtung des Weltfriedens ist heutzutage die wichtigste Angelegenheit. Die Verwirklichung dieses Prinzips ist eine schreiende Notwendigkeit unserer Zeit.
9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung geniessen.
Alle Menschen müssen erzogen und belehrt werden. Eine Forderung der Religion ist, daß jedermann erzogen werde und daß er die Möglichkeit habe, Wissen und Kenntnisse zu erwerben. Die Erziehung jedes Kindes ist unerläßliche Pflicht. Für Elternlose und Unbemittelte hat die Gemeinde zu sorgen.
10. Die soziale Frage muss gelöst werden.
Keiner der früheren Religionsstifter hat die soziale Frage in so umfassender, vergeistigter Weise gelöst wie Baha’u’lláh. Er hat Anordnungen getroffen, welche die Wohlfahrt und das Glück der ganzen Menschheit sichern. Wenn sich der Reiche eines schönen, sorglosen Lebens erfreut, so hat auch der Arme ein Anrecht auf ein trautes Heim und ein sorgenfreies Dasein. Solange die bisherigen Verhältnisse dauern, wird kein wahrhaft glücklicher Zustand für den Menschen erreicht werden. Vor Gott sind alle Menschen gleich berechtigt, vor Ihm gibt es kein Ansehen der Person; alle stehen im Schutze seiner Gerechtigkeit.
11. Es muss eine Einheitssprache und Einheitsschrift eingeführt werden.
Baha’u’lláh befahl die Einführung einer Welteinheitssprache. Es muß aus allen Ländern ein Ausschuß zusammentreten, der zur Erleichterung des internationalen Verkehrs entweder eine schon bestehende Sprache zur Weitsprache erklären oder eine neue Sprache als Weltsprache schaffen soll; diese Sprache muß in allen Schulen und Hochschulen der Welt gelehrt werden, damit dann niemand mehr nötig hat, außer dieser Sprache und seiner Muttersprache eine weitere zu erlernen.
12. Es muss ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.
Nach dem Gebot Gottes soll durch das ernstliche Bestreben aller Menschen ein Weltschiedsgerichtshof geschaffen werden, der die Streitigkeiten aller Nationen schlichten soll und dessen Entscheidung sich jedermann unterzuordnen hat.
Vor mehr als 50 Jahren befahl Baha’u’lláh der Menschheit, den Weltfrieden aufzurichten und rief alle Nationen zum „internationalen Ausgleich“, damit alle Grenzfragen sowie die Fragen nationaler Ehre, nationalen Eigentums und aller internationalen Lebensinteressen durch ein schiedsrichterliches „Haus der Gerechtigkeit" entschieden werden können.
Baha’u’lláh verkündigte diese Prinzipien allen Herrschern der Welt. Sie sind der Geist und das Licht dieses Zeitalters. Von ihrer Verwirklichung hängt das Wohlergehen für unsere Zeit und das der gesamten Menschheit ab.
SONNE DER WAHRHEIT Organ des Bahai-Bundes, Deutscher Zweig Herausgegeben vom Verlag des Bahai-Bundes, Deutscher Zweig, Stuttgart Verantwortliche Schriftleitung: Alice Schwarz - Solivo, Stuttgart, Alexanderstraße 3 Preis vierteljährlich 1,80 Goldmark, im Ausland 2.– Goldmark. |
Heft 7 | Stuttgart, im September 1926 | 6. Jahrgang |
Inhalt: Die Bedeutung der Religionen im Wandel der Zeiten. — Aus „les Religions et les Philosophies dans l’Asie centrale“. — Baha’u’lláh und das Neue Zeitalter. — Das Streben nach Erkenntnis in der Welt draussen. — Supersensibility in Medicine.
Motto: Einheit der Menschheit — Universaler Friede — Universale Religion
Die Schule muß die Kinder in erster Linie mit den Prinzipien der Religion bekanntmachen, damit die Verheißungen und die Warnungen, die in den Büchern Gottes berichtet sind, sie abhalten, verbotene Dinge zu tun und damit sie sich schmücken mit dem Mantel des Befehls. Dies soll aber auf eine Weise geschehen, daß die Kinder nicht geschädigt werden und damit sie nicht in törichten Fanatismus und Bigotterie verfallen.
Bahá’u’lláh.
Der Mensch hat zwei Kräfte und in seiner Entwickelung zwei Richtungen. Eine Kraft ist mit der materiellen Welt verbunden, und hierdurch ist er zur materiellen Entwicklung fähig. Die andere Kraft ist geistig, und durch diese Entwicklung erwacht seine verborgene, innere Natur. Diese Kräfte sind gleich zwei Schwingen. Beide müssen entwickelt werden, denn es ist unmöglich mit einem Flügel zu fliegen. Gott sei gepriesen! Der materielle Fortschritt ist in der Welt sichtbar geworden, aber der geistige Fortschritt ist im gleichen Verhältnis nötig. Wir müssen fortwährend und ohne Rast darnach streben, die Entwicklung der geistigen Natur im Menschen zu vollenden und mit unermüdlicher Energie darnach trachten, die Menschheit zu dem hohen Range ihrer wahren und beabsichtigten Stellung emporzuheben.
(gez.) 'Abdu’l-Bahá.
Die Bedeutung der Religionen im Wandel der Zeiten.
Eine Betrachtung im Spiegel der Lehren Bahá’u’lláh’s.
Vortrag von Dr. H. Großmann, Hamburg, beim Kongreß am 23. 5. 25. (Fortsetzung.)
Derselbe wird Mich verherrlichen; denn von dem Meinem wird Er nehmen und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, das ist Mein; darum habe Ich gesagt, daß Er von dem Meinem nehmen und euch verkündigen werde.“ 7) Mit diesen beiden Worten verweist Er in die Vergangenheit und in die Zukunft, Er reiht sich selber in eine Kette ein, von der Er ein Glied ist. Nehmen wir noch einige Stellen aus dem Matthäusevangelium hinzu: „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten, wer aber tötet, der wird dem Gerichte verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, wird dem Gerichte verfallen sein.“ 8) Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen: Ich aber sage euch: „Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat in seinem Herzen schon mit ihr die Ehe gebrochen.“ 9) sowie noch die gleichartigen Stellen über den Falschschwur 10) die Vergeltung 11) und Feindesliebe 12) so wird uns auch klar, in welcher Weise sich Christi Lehre in die Kette einfügt: sie ist die Fortentwicklung und Verfeinerung der mosaischen Lehre und soll ihre Ergänzung wiederum durch den „Geist der Wahrheit“ finden, der „in die ganze Wahrheit leiten“ wird. 13) Wir können also die einzelnen Religionen als Stufen einer, oder besser einiger nebeneinander herlaufender Entwicklungsleitern, auffassen, die die Menschheit geistig zur Höhe emporheben sollen. Den Grund, warum eine solche stufenweise Entwicklung erfolgen muß, gibt uns Christus gleichfalls in den Worten: „Noch vieles hätte Ich euch zu sagen; aber ihr könntet es jetzt nicht tragen.“*) Jeder Religionsstifter gab den Menschen seiner Zeit und seiner Sendung zunächst soviel, als ihrem Fassungsvermögen entsprach. Durch Seine Lehre aber wurden sie weiterentwickelt und ihr Fassungsvermögen erweitert, wodurch es in Verlauf einer Zeit bereit wurde, eine neue fortgeführtere Lehre in sich aufzunehmen. Somit ist das Werden und Vergehen der Religionen keine Unzulänglichkeit sondern Plan. Der Grund für das Vergehen liegt darin, daß die betreffende Religion ihre Aufgabe erfüllt hat, und die aus ihr hervorgegangene Kirche zerfällt, weil sie nicht mehr dem neuen, fortgeschrittenen Entwicklungsgrad entspricht.
Aus dem Sinn der Religionen ergibt sich uns zugleich ihre Bedeutung für die Menschheit: sie sind die großen Phasen ihrer Erziehung, und das gesamte Erziehungswerk ist in dem allgemeinen Plan der Religionsentwicklung vorgezeichnet. Haben die Religionen tatsächlich dieses Erziehungswerk geleistet? Ist durch sie wirklich eine geistige Höherentwicklung der Menschheit hervorgerufen worden? Um das zu erkennen, ist es nötig, nicht nur das Negative, sondern auch das Positive zu beachten. Erst wenn wir das eine mit dem andern objektiv abzuwägen versucht haben, kann sich uns ein Bild ergeben. Gar zu leicht aber werden unsere Neigungen, mangelnde Sachkenntnis und Vorurteil dabei unseren Blick trüben. Hieran sollten wir immer denken, um nicht vorschnell zu urteilen. So führen Gegner der Religion als Beweis dafür, daß durch die Religionen die Menschheit nicht gebessert worden sei, gern die allen religiösen Geboten zuwiderlaufende moderne Kriegsführung an, die alle in früheren Zeitaltern geübten Grausamkeiten weit übertreffe. Abgesehen davon, daß sich diese Behauptung überhaupt nur schwer nachprüfen läßt, da es sich für unsere Gegenwart um Ereignisse handelt, die selbst in Einzelheiten noch von Augenzeugen belegt werden könnten, während uns für die Vergangenheit nur mehr oder weniger, zum Teil sogar völlig lückenhafte und unprüfbare Berichte überliefert sind und überdies sich die Art der Kriegführung gerade in der Gegenwart von Grund auf gewandelt hat, wird hierbei bewußt oder unbewußt der Fehler begangen, nur eine negative Tatsache, nämlich den Krieg herauszugreifen, der, um gerecht zu sein, positive Erscheinungen wie Siechen- und Altersheime, die Heilsarmee und vieles andere, gegenübergestellt werden müßten.
Weiter wird zur objektiven Erkenntnis des durch die Religionen bewirkten Fortschrittes in
geistigen Menschheitsentwicklung erforderlich sein, jede Religion im Rahmen ihrer Zeit und
ihrer Voraussetzungen zu werten. Es geht z.B. nicht an, die Wirkungen der mosaischen Lehre
unter Zugrundelegung des durch das Christentum vorbereiteten Entwicklungsgrades zu beurteilen
oder die Wirkungen des Christentums im Abendland mit denen des Islams unter den Arabern
zu vergleichen, der das erstere an die entwickelte mosaische Lehre anknüpfte, während der Islam auf
der zu völligem Aberglauben und Politheismus herabgesunkenen sabäischen Religion aufbauen
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’Abdu’l-Bahá in Stuttgart
Aufgenommen von Konsul Schwarz
mußte. Ja, wir können nicht einmal das Christentum bezüglich seiner Wirkungen in den verschiedenen Ländern einheitlich werten, sondern müssen in Betracht ziehen, daß es in Palästina an eine ganz andere Religion als in Griechenland, in Griechenland wieder an eine andere als in Germanien oder unter den Indianern Amerikas anknüpfen mußte, denn sicherlich stellt die Fortentwicklung von politheistischen germanischen Göttermythos zur Lehre Christi einen erheblicheren Fortschritt dar, als die von der mosaischen Lehre zum Christentum.
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In ihren ersten Anfängen wird sich die Religion auf einige grobumrissene Lehren beschränkt haben,
da sich die Menschheit zu dieser Zeit wohl noch in einem Zustand befunden haben wird, der
sich wenig vom Dasein des Tieres unterschied. Gewisse primitive Instinkte, wie die Furcht und
das Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem, was stärker ist als die eigene Kraft, vor allem gegenüber
den Naturgewalten mögen dabei der Religionslehre als Ausgangspunkte gedient haben, und
so finden wir einheitlich bei den verschiedenen Völkern zuerst das Gefühl der Gottesfurcht. Die
Gottesverehrung ist auf dieser Stufe eher als eine Gottesbeschwörung aufzufassen, die den Zorn der
Götter abzuwenden bezweckt. Gott, oder die Gottheiten, sind willkürlichen Gewaltherrschern zu
vergleichen, deren Zuneigung sich der Mensch, ihr Untertan, zu gewinnen suchen muß, um nicht
Drangsale und Leiden auf sich zu laden. Diese kindliche Vorstellungsweise zieht sich weit durch
die Entwicklungsreihe der Religionen hindurch, sie haftet noch im Volke zu Zeiten, wo entwickeltere
Lehren bereits eine höherstehende Auffassung gebracht haben, und hat sich selbst im Christentum
in unseren Gegenden in manchem abergläubischen Brauch bewahrt. Eine Fortentwicklung findet
diese Auffassung im Gedanken vom gerechten Gott. Er wird zwar oft noch ein „Gott
des Zornes“ sein, doch scheidet in seinem Walten die Willkür aus. Sein Strafen ist als natürliche
Folge des Ungehorsams der Menschen zu betrachten. Als Maßstab für seine Gerechtigkeit gelten
dabei die den Menschen durch die Religion gegebenen Sittengesetze. Als Beispiel dafür kann
die mosaische Lehre dienen. Mit fortschreitender Entwicklung kann sich mit dem Gedanken der
Gerechtigkeit derjenige der Milde paaren, die die Gerechtigkeit nicht mehr starr nach dem
Buchstaben sondern unter Berücksichtigung der Umstände übt. Dabei braucht der Beweggrund der
Liebe noch nicht aufzutreten. Durch sie erfährt dann der Begriff der Gerechtigkeit eine völlige
Wandlung: Die Strafe ist nunmehr nur noch ein aus der Liebe geborenes Mittel, die Menschheit
aufwärts zu entwickeln. Gottesfurcht und Gottesliebe können nebeneinander als die Triebfedern
der göttlichen Erziehung auftreten, wie dies aus der wiederholten Anweisung in Luthers Katechismus
„Wir sollen Gott fürchten und lieben“ hervorgeht. Bei weiterer Entwicklung wird das
göttliche Walten schließlich zu einem rein gesetzmäßigen, einer Folgenreihe von Ursachen und
Wirkungen mit dem Ziel der Aufwärtsführung der Menschheit. Diesen Gedanken finden wir im
Buddhismus und in der Lehre Bahá’u’lláhs.
Es ist indessen nicht nötig, daß jede Religion jeweils nur eine bestimmte Auffassung vom Walten der Gottheit lehrt. Gerade durch den Umstand, daß die Religionen an bestehende Lehren anschließen und den Keim der Weiterentwicklung in sich tragen, müssen sie eine gewisse Dehnbarkeit besitzen, d.h. ihre Lehren können nicht nur auf ein einziges bestimmtes Fassungsvermögen eingestellt sein, wie es bei unserem heutigen Schulwesen zumeist der Fall ist, sie müssen vielmehr innerhalb der Grenzen ihrer jeweiligen besonderen Aufgaben allen denjenigen Fassungsvermögen entsprechen, denen ihre Entwicklung gilt: Nehmen wir beispielsweise an, eine Religion habe die Aufgabe, den Gedanken der Gottesliebe zu vermitteln, so würde das volle Erfassen dieses Gedankens durch die Menschheit, also die Erfüllung der Aufgabe, erst am Schlusse der Entwicklung stehen können. Um aber das Ziel zu erreichen, muß ein gewisses Begreifen, das sich allmählich bis zum vollen Erfassen steigert, schon vorher stattfinden, da sonst die Entwicklung nicht erfolgen könnte, eine Beobachtung, die wir jederzeit an jedem Lernenden machen können. Folglich muß die Religion alle Auffassungen, die zum Gedanken der Gottesliebe hinführen, enthalten. Daraus erklären sich manche scheinbaren Widersprüche innerhalb einer Lehre und die Unterscheidung zwischen der breiten Menge der Gläubigen, den Laien, und den sogenannten Eingeweihten, meist den Priestern, die wir bei zahlreichen früheren Religionen finden. Würde dies von den Menschen immer richtig verstanden worden sein, so wäre wohl die fast allen Religionen widerfahrene Einengung in Dogmen durch Kirche und Religionsgelehrte unterblieben, die meist aus dem Bestreben entsprang, verschiedene Auffassung und Zweifel durch Festlegung auf eine bestimmte Auslegung zu verhindern. Bahá’u’lláh lehrte, daß Gott für jeden Menschen so groß sei, als er Ihn begreifen könne, und Christus sagte ausdrücklich: „Noch vieles hätte Ich euch zu sagen; aber ihr könntet es jetzt nicht tragen.“ 14)
Es ist eine Eigentümlichkeit menschlichen Denkens und Empfindens, daß wir die Vorstellungen
und Eindrücke, die durch irgend eine Anregung in uns hervorgerufen werden, aus uns heraus auf
die Anregungsursache übertragen. Wir reden z.B. vom heiteren Himmel, während in Wirklichkeit
der Himmel weder heiter noch traurig sein kann. Wir benutzen die Wirkung, die er in uns hervorruft,
um damit eine bestimmte Färbung des Himmels eben die, die diese Wirkung in uns hervorruft, zu
bezeichnen. In gleicher Weise müssen wir die verschiedenen Eigenschaften verstehen,
die in den heiligen Schriften der Religionen Gott zugeschrieben werden. Denn wie könnten wir
sonst von Gott sagen, daß Er barmherzig oder allwissend sei, während einer entwickelteren
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Erkenntnis klar sein muß, daß Gottes Wesenheit für den Menschen überhaupt unfaßbar ist? Die
Stifter der großen Religionen haben sich dieser Ausdrucksweise bedient, um den Menschen alle
jene Eigenschaften zu vermitteln, die sie erstreben sollten, d. h. sie gaben Gott die höchste
vollkommene Stufe, die die Menschen, denen Ihre Lehre galt, erfassen konnten. Dadurch wurde
der Gottesbegriff ein wichtiges Erziehungsmittel der Religionen.
Aus der Religion heraus erwächst das sittliche Empfinden. Seiner Fortentwicklung können besondere Vorschriften und Gesetze dienen, wie sie in der mosaischen Lehre durch den Leviticus oder im Islam durch den Koran gegeben sind, oder es bestehen Gebote allgemeiner Art, wie die israelitischen zehn Gebote. Im Gegensatz zu den meist eindeutigen Gesetzen, lassen sie in der Auffassung der Feinheit des Empfindens weiteren Spielraum, wodurch ihnen eine größere Anpassungsfähigkeit an zeitliche und örtliche Gebundenheit möglich ist. So ist es zu verstehen, daß Christus die Mosaischen Gesetze, wie z.B. bei der Sabbatheiligung, vielfach außer Acht läßt, während er die Gebote Mose nicht nur bewahrt, sondern sogar noch verfeinert. Wir können sagen, daß gewisse Gebote, wie das des Nichttötens, allen Religionen gemeinsam sind. Die Unterscheidung liegt nur in der verschiedenen Auffassung durch die Menschen sowie in gewissen zeitnotwendigen Einschränkungen wie z. B. der Erlaubnis, die Religion mit dem Schwerte vor dem Untergang zu schützen. Bei den meisten Religionen wird ein Teil der Lehren zunächst der Bestätigung des durch die vorausgegangene Religion entwickelten sittlichen Empfindens durch Gesetze und Gebote dienen, woran sich dann die weitere Fortentwicklung anschließt. Bisweilen können auch ausdrückliche Gebote fehlen, immer aber werden sie sich aus dem allgemeinen Geist der Lehre ergeben.
Von dem sittlichen Empfinden werden wiederum die staatlichen Gesetze beeinflußt, indem die Gesetzgeber selber davon erfüllt sind, oder aber sie sich dem sittlichen Empfinden einzelner Volksteile anpassen. Gerade in neuester Zeit können wir diese Beobachtung häufiger machen. Als Beispiel sei nur die Arbeit gewisser Zusammenschlüsse der Kriegsdienstverweigerer erwähnt, die, obwohl nur auf eine kleine Volksminderheit gestützt, bereits in verschiedenen Ländern die gesetzliche Straflosigkeit für solche Kriegsdienstverweigerer erzielen konnten, deren Weigerung sittlichen Erwägungen, vor allem der Achtung des Gebotes „du sollst nicht töten“, entspringt.
In Dänemark ist diese Strömung so stark, daß von der Regierung ernstlich Aufhebung der Militärdienstpflicht erwogen wird. Auch der Gedanke des Völkerbundes, des Weltschiedsgerichts und die internationalen Verträge, die die Abmilderungen der Grausamkeiten im Kriege bezwecken, sind sichtbare Zeichen dafür, wie das fortschreitende sittliche Empfinden einen starken Einfluß auf die Gesetzgebung der Staaten ausübt.
Wenn wir die große Aufgabe der Religionen, die Menschheit geistig zu entwickeln, überschauen und sie mit der Entwicklung des einzelnen Menschen vergleichen, so dürfen wir wohl annehmen, daß die Anfänge sich über einen langen Zeitraum in verhältnismäßig geringem Fortschritt erstreckt haben, wie auch beim Menschen die Anfangsgründe seiner Erziehung und seiner Schulausbildung einen erheblichen Teil des Lebensabschnitts in Anspruch nehmen, der dieser Aufgabe gewidmet ist. Wie aber bei ihm im Laufe der Schulzeit der Umfang seiner Ausbildung immer rascher wächst, so wird auch der geistige Fortschritt der Menschheit ein immer rascherer werden. Während im Anfang alle Erziehungs- und Entwicklungsaufgabe der Religion zufiel, gesellt sich ihr später die selbständig nach Erkenntnis strebende Philosophie und dann auch die dem gleichen Zweck dienende Wissenschaft. Obwohl der Umstand, daß sich religiöse, philosophische und wissenschaftliche Erkenntnis nicht immer gleich schnell entwickelt haben, oft starke Gegensätze hervorgerufen hat, so waren doch gerade die Gegensätze eine starke Antriebskraft zu weiterem, tieferem Suchen. Die Menschheit steht vor einem Abschluß. Eine Jahrtausende währende Entwicklung drängt ihrer Vollendung entgegen. Es ist, als wären wir einen Berg aufgestiegen und schauten dicht unter seinen Gipfel, noch einmal zurück über den gewonnenen Weg. Noch bleibt das letzte Stück bis zur Höhe zu erklimmen, aber so kurz es uns scheint — das steilste ist es und das schwerste!
7) Ev. Johannis 16, 13—15.
8) Matthäus 5, 21—22.
9) desgl. 5, 27—28.
10) desgl. 5, 83—37.
11) Matthäus 5, 38—42.
12) desgl. 5, 43—48.
13) Ev. Johannes 16, 12.
14) Ev. Joh, 16, 12.
Aus ‚les Religions et les Philosophies dans l’Asie centrale“.
Veröffentlicht kurz nach dem Tode des Báb von le Comte de Gobineau.
Übersetzt von Gertrud Bauer.
Die Zeit vergeht und siehe, ganz mathematisch hat sich eine religiöse Bewegung, abgeschlossen in sich im Innern Asiens kundgetan... und ist heute lebhaft tätig; eine Bewegung, die wert ist, in jeder Einzelheit studiert zu werden. Sie beruft sich auf Gottgesandte, Geschehnisse, die nicht nur eingebildet sind, gerade wie zur Zeit, da die andern großen Religionen entstanden. (Báb)...
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In sich gekehrt, immer mit frommen Uebungen beschäftigt, in größter Einfachheit der Sitten, einer
anziehenden Sanftmut und diese Gaben noch durch seine außerordentliche Jugend und den wunderbaren
Reiz seines Antlitzes steigernd, zog er eine gewisse Anzahl aufgeweckter Persönlichkeiten an.
Man begann, sich mit seiner Wissenschaft und seiner durchdringenden Redegewandtheit zu beschäftigen.
Er brauchte nur den Mund zu öffnen — so versichern die Leute, die ihn kannten — um die Herzen
von Grund auf zu bewegen.
... Ali-Mohammed El Báb ist in den Augen der Babisten ein großer Heiliger, eine Persönlichkeit, welche nicht genug verehrt werden kann. Seine Kenntnisse, die Reinheit seiner Lehren, das Aufsehen erregende seiner Demut, alles, was er in der Folge zu erleiden hatte, brachten ihn in der ausdrucksvollsten Weise der Verehrung die Gläubigen nahe.
Die andere Botin, eine Frau, von der ich nun spreche, war nach Kaswin gekommen und bestimmt zu gleicher Zeit Gegenstand der Verehrung der Babisten zu werden, eine der interessantesten und anziehendsten Erscheinung dieser Religion... Wohl ergehen sich Muselmänner und Babisten heute in außergewöhnlichen Lobreden über die Schönheit des „Augentrostes“, (Qurat’ul Ayn) es ist aber unleugbar, daß der Geist und der Charakter dieser jungen Frau noch viel bemerkenswerter war...
In Persien ist es nicht üblich, daß Frauen ihren Verstand ähnlichen Dingen wie z. B. dem Studium der religiösen und kirchlichen Wissenschaft widmen, aber es ist auch keineswegs ein unbedingt seltenes Vorkommnis; besonders außergewöhnlich ist es aber doch, einer solchen Frau wie Qurat’ul Ayn ist, zu begegnen... Und sie gab ihr Leben in Kaswin als Opfer für ihre Ueberzeugung...
Auch Ali Mohammed verschied und die neue Religion, die in ihm ihren ersten Märtyrer erhielt, verlor dadurch einen Mann, dessen Charakterstärke und Fähigkeiten noch viele Dienste erwiesen hätten, wenn er länger am Leben geblieben wäre...
Der Führer der neuen Lehre war tot und der Rechnung des ersten Ministers, Mirza-Taghi-Khan zufolge, konnte sich tiefster Frieden in den Gemütern wieder einfinden, um nicht im Geringsten mehr von diesem Toren gestört zu werden. Aber die politische Weisheit befand sich dieses Mal im Irrtum, anstatt die Feuersbrunst auszulöschen hatte man sie zu größerer Heftigkeit angefacht... man wird es einst sehen, wenn man die heiligen Lehren des Báb nachliest: die Verbreitung der Bewegung hänge nicht von seiner Gegenwart ab, alles wird sich ohne ihn entwickeln und erfüllen. Wenn der erste Minister Kenntnis von dieser Grundlehre der feindlichen Religion gehabt hätte, hätte er wahrscheinlich einen solchen Mann nicht verschwinden lassen, an dessen Existenz ihm schließlich ebenso viel lag wie an seinem Tode... Man stelle sich vor, und es ist richtig, daß viele Geistliche und unter ihnen viele bedeutende Würdenträger, Beamte vornehmsten Ranges, Männer, die wichtige Stellungen bei Hofe hatten und in der Nähe des Königs weilten, Babisten wurden. Kurz, hier wurde eine neue Religion verkündigt und zwar von einem ganz jungen Manne. Während weniger Jahre, von 1847—52 breitete sich diese Lehre über beinahe ganz Persien aus und hat dort ungezählte Anhänger. Eine Nation von 10-12 Millionen Menschen, einem Ackerland, das ehemals 50 Millionen ernähren konnte, ein Volk, das nicht die Mittel und Wege zur Veröffentlichung und notwendigen Ausbreitung der Ideen besitzt, ich meine Zeitungen und Schriften, das nicht einmal Briefpost hat, nicht eine einzige Fahrstraße im ganzen Reich, diese Nation, sage ich, wurde in 5 Jahren völlig bekannt mit der Lehre der Babisten und der Erfolg war ein solcher, daß sich die schwersten Strafen, ähnlich wie ich sie bereits schilderte daraus ergaben. Und es ist nicht nur das unwissende Volk, das davon berührt wurde, es sind bedeutende Glieder der Geistlichkeit, es sind reiche und unterrichtete Leute, Frauen aus den vornehmsten Kreisen; es sind Muselmänner, auch Philosophen, Sufis in großer Zahl, viele Juden, die sofort für die neue Bewegung eingenommen waren. Kurzum, die Lehre des Báb hat einen wichtigen Einfluß auf die Intelligenz der persischen Nation bekommen und breitet sich auch über die Grenzen des Landes aus; sie hat in Bagdad Fuß gefaßt und tritt auch in Indien auf... Ich bekenne auch, sähe ich in Europa eine Gemeinde ähnlich den Babisten, mit den gleichen Vorzügen sich auswirkend, blinden Glaubens, höchster Begeisterung, erprobten Mutes und Sanftmut, Ehrfurcht gebietend den Nichtgläubigen, tiefstes Erschrecken den Gegnern, und mehr noch, von einer Bekehrungssucht, die nicht Halt macht und deren Erfolge konstant bleiben in allen Kreisen — wenn ich dies alles in Europa fände — behaupte ich, zögerte ich nicht zu prophezeien, daß den Besitzern dieser Vorzüge zur gegebenen Zeit die Macht und die Gewalt gegeben wird.
Bahá’u’lláh und das Neue Zeitalter.
Von Dr. J. E. Esslemont. Uebersetzung v. W. Herrigel.
VIII. Kapitel.
Religiöse Einigkeit.
„O Völker der Welt! Der Vorzug dieser „Größten Manifestation“ ist, daß wir aus dem heiligen Buch gestrichen haben, was die Ursache von Meinungsverschiedenheiten, Zersetzung und Mißklang war, und das darin berichteten, was zur Einigkeit, Harmonie und zu Einklang führt. Freude wird denen zuteil, die dementsprechend handeln.“
Bahá’u’lláh, Tablet an die Welt.)
Die Sektiererei im Neunzehnten Jahrhundert.
Die Welt sah sich wohl niemals weiter von religiöser Einigkeit entfernt, als im Neunzehnten Jahrhundert. Die großen Religionsgemeinschaften, wie Zoroastrier, Israeliten, Buddhisten, Christen, Mohammedaner und andere existierten jahrhundertelang Seite an Seite, aber anstatt sich in ein harmonisches Ganzes zu verschmelzen, lebten sie fortgesetzt in Feindschaft und Streit miteinander. Aber nicht nur dies, jede zersplitterte sich durch Trennung über Trennung in eine sich immer vergrößernde Anzahl von Sekten, die sich oft erbittert bekämpften. Und dies obwohl Jesus sagte: „Daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine rechten Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt.“ Die Stifter jeder einzelnen der großen Religionen haben ihre Nachfolger zur Liebe und Einigkeit gerufen, aber sowohl bei einer als bei allen wurde das Ziel des Stifters in weiten Maße aus den Augen verloren, und Unduldsamkeit, Frömmelei, Kirchenspaltungen und Streitigkeiten waren es, denen sie sich hingaben. Die Gesamtzahl der sich mehr oder weniger feindselig gegenüberstehenden Sekten in der Welt war wahrscheinlich zu Beginn des Baháizeitalters größer als zu irgend einer Zeitperiode der menschlicher Geschichte. Es scheint, als ob die Menschheit zu der Zeit mit jeder nur möglichen Art von religiösem Glauben, mit jeder nur möglichen Art ritueller und zeremonieller Beobachtung, mit jeder nur möglichen Abwechslung in den moralischen Gesetzen experimentierte.
Zur selben Zeit widmeten eine sich immer vergrößernde Zahl von Menschen ihre Kräfte der furchtlosen Erforschung und kritischen Prüfung der Naturgesetze und der Glaubensfundamente. Es wurde rasch eine neue wissenschaftliche Erkenntnis erlangt u. eine neue Lösung der Probleme des Lebens wurde gefunden. Die Entwicklung der Erfindungen, wie z.B. die Erfindung des Dampfschiffs, der Eisenbahn, des Postsystems und der Presse half sehr zur Verbreitung neuer Ideen und führte zu der fruchtbaren Verbindung der sonst so sehr verschiedenen Gedanken und Lebensformen.
Der sogenannte „Konflikt zwischen Religion und Wissenschaf“ wurde zu heftigem Kampf. In der christlichen Welt verband sich Bibelkritik mit der Naturwissenschaft, um zu disputieren und bis zu einem gewissen Grad die Autorität der Bibel — eine Autorität, die jahrhundertelang die allgemein anerkannte Grundlage des Glaubens war, — zu widerlegen. Ein sich rasch vergrößernder Teil der Bevölkerung wurde den Lehren der Kirchen gegenüber mißtrauisch. Eine große Anzahl, selbst religiöser Geistlichen, unterhielt im geheimen oder öffentlich Zweifel und Vorbehalte gegenüber dem zu ihrer Konfession gehörigen Glaubensbekenntnis.
Diese Gärung und dieser beständige Wechsel der Meinungen, mit dem sich vermehrenden Erkennen der Unzulänglichkeit der alten Orthodoxie und der Dogmen, und das Umhertasten und Streben nach einer völligen Erkenntnis und einem wahren Verständnis waren aber nicht nur auf die christlichen Länder beschränkt, sondern mehr oder weniger und in verschiedenen Formen auch unter den Völkern und Religionen aller Länder zu finden.
Die Botschaft Bahá’u’lláhs.
Zu der Zeit, da der Widerstreit und die Verwirrung ihren Höhepunkt erreicht hatten, ließ Bahá’u’lláh Seinen lauten Posaunenruf mit folgenden Worten erschallen:
„Auf daß alle Völker in einem Glauben vereint und alle Menschen Brüder werden; daß das Band der Zuneigung und der Einigkeit zwischen den Menschenkindern gestärkt werde; daß die Verschiedenheit in der Religion aufhöre und die Rassenunterschiede verschwinden... Diese Kämpfe, dieses Blutvergießen und diese Uneinigkeit müssen aufhören und alle Menschen müssen sein als ob sie einer Rasse und einer Familie angehören würden.“
(Gesprochen zu Professor Browne.)
Dies ist eine herrliche Botschaft, aber wie können diese Vorschläge verwirklicht werden?
Propheten predigten, Dichter sangen und Heilige beteten schon vor Tausenden von Jahren, daß dies
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kommen möchte, aber die Unterschiede in der Religion haben noch nicht aufgehört, noch wurden
Streit, Blutvergießen und Mißklang beseitigt. Welchen Beweis haben wir dafür, daß nun dies
Wunder vollbracht ist? Haben sich neue Faktoren in diesen Dienst gestellt? Ist nicht die menschliche
Natur noch heute dieselbe, wie sie es immer war? Wird sie nicht stets dieselbe bleiben, solange die
Welt bestehen wird? Wenn zwei Menschen oder zwei Völker dasselbe haben wollen, werden sie
alsdann in Zukunft nicht mehr darum kämpfen, wie sie dies in der Vergangenheit taten? Wenn
es Moses, Buddha, Christus und Mohammed nicht gelang, die Welteinigkeit zustande zu bringen,
wird nun Bahá’u’lláh, hierin Erfolg haben? Laßt uns sehen, welche Antwort die Baháilehre
auf diese einfachen Fragen gibt.
Kann die menschliche Natur verändert werden?
Erziehung und Religion beruhen beide auf der Annahme, daß es möglich ist, die menschliche Natur zu verändern. In der Tat, es erfordert nur geringen Nachdenkens, um zeigen zu können, daß das, was wir über ein Lebewesen mit Sicherheit zu sagen vermögen, tatsächlich stets der Veränderung unterworfen ist. Ohne Veränderung kann es kein Leben geben. Selbst das Mineral ist der Veränderung unterworfen, und je höher wir in der Skala des Seins gehen, desto verschiedener, komplizierter und wunderbarer werden diese Veränderungen. Weberdies finden wir im Fortschritt und in der Entwicklung unter den Geschöpfen aller Stufen zwei Arten von Veränderung — eine langsame, allmähliche, oft kaum wahrnehmbare und eine rasche, plötzliche ja dramatische. Die letztere ereignet sich in den sogenannten „kritischen Stadien“ der Entwicklung. Bei den Mineralien finden wir solche kritischen Stadien in den Schmelz- und Siedepunkten, wo die feste Masse plötzlich flüssig und das Flüssige zu Gas wird. Bei der Pflanze nehmen wir solche kritischen Stadien wahr, wenn der Same zu keimen beginnt, oder wenn sich die Knospe öffnet und sich in Laub verwandelt. In der Tierwelt sehen wir dasselbe in allen Fällen, beispielsweise, wenn sich die Raupe in einen Schmetterling verwandelt, das Küken aus seiner Eierschale herauskommt, oder das Junge vom Muttertier geboren wird. In dem höheren Leben der Seele können wir oftmals eine ähnliche Wandlung wahrnehmen, und zwar dann, wenn ein Mensch „wiedergeboren“ wird und sein ganzes Wesen von Grund aus in seinen Zielen, im Charakter und in der Handlungsweise umgewandelt wird. Solche kritischen Stadien beeinflussen oft eine ganze Gattung oder eine Menge von Gattungen, wie dies im Frühling vorkommt, wo die ganze Vegetation plötzlich in ein neues Leben eintritt.
Bahá’u’lláh erklärt, so wie es für die niederen Lebewesen Zeiten gibt, in denen sie plötzlich in ein neues und reiferes Leben eintreten, so ist auch für die Menschheit ein „kritisches Stadium“, eine Zeit der Wiedergeburt da. Dann wird die Lebensweise, die von Beginn der Geschichte bis heute besteht, rasch und unwiderruflich verändert werden und die Menschheit wird in eine neue Phase des Lebens eintreten, die von der alten so verschieden ist wie der Schmetterling von der Raupe oder der Vogel von dem Ei. Die Menschheit als ein Ganzes wird zu einer neuen Erkenntnis der Wahrheit gelangen, es wird dies sein, wie wenn ein ganzes Land durch den Sonnenaufgang hell wird, sodaß alle Menschen da Helle sehen, wo eine Stunde zuvor noch alles in Dunkelheit gehüllt war.
’Abdu’l-Bahá sagt:
„Dies ist ein neuer Zyklus der menschlichen Macht. Alle Horizonte der Welt sind erleuchtet, und die Welt wird in der Tat ein Rosengarten und ein Paradies werden.“
Die Analogien der Naturkräfte sprechen alle zugunsten einer solchen Aussicht; in völliger Uebereinstimmung sagten die Propheten vor alters das Kommen eines solchen herrlichen Tages voraus, die Zeichen der Zeit zeigen klar, daß gründliche und umstürzende Veränderungen in den menschlichen Ideen und Einrichtungen im Ganzen begriffen sind. Was könnte daher nutzloser und grundloser sein, als das pessimistische Argument, daß, wenn sich auch alle andern Dinge verändern, die menschliche Natur sich doch nicht verändern werde?
Die ersten Schritte zur Einigkeit.
Als Mittel zur Verbreitung religiöser Einigkeit befürwortet Bahá’u’lláh die äußerste Nächstenliebe und Duldsamkeit und fordert Seine Nachfolger auf, sie möchten mit den Anhängern aller Religionen einen angenehmen und fröhlichen Verkehr pflegen. In Seinem letzten Willen und Testament sagt Er:
„Streit und Kampf hat Er (Gott) in Seinem Buch (dem Kitabu’l-Aqdas) streng verboten; dies ist der Befehl des Herrn in Seiner allerhöchsten Manifestation — ein Befehl, für den Er keine Annulierung zugelassen hat und den Er schmückte mit dem Schmuck Seiner Bestätigung.
„O Völker der Welt! Die Religion Gottes ist um der Liebe und Einigkeit willen da,
macht sie nicht zur Ursache der Feindschaft und des Streits. Wir hoffen, daß sich das
Volk Bahás immer an das geheiligte Wort
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halten wird: „Siehe! Alle Dinge sind von Gott!“ denn dies ist das allerherrlichste
Wort, das gleich dem Wasser das in den Herzen glimmende Feuer des Hasses und
der Erbitterung löscht. Durch dies eine Wort werden die verschiedenen Gemeinschaften
zu dem Lichte wirklicher Vereinigung gelangen. Wahrlich, Er spricht die
Wahrheit und Er führt die Menschen auf den rechten Pfad, Er ist der Mächtige,
der Gnadenreiche, der Schönste.“
'Abdu'l-Bahá sagt:
„Alle müssen ihre Vorurteile ablegen und selbst in jede der andern Kirchen und Moscheen gehen, denn in allen diesen Gotteshäusern wird der Name Gottes erwähnt. Da sie sich alle versammeln, um Gott zu verehren, welch ein Unterschied besteht alsdann? In keinem dieser Gotteshäuser wird der Satan angebetet. Die Mohammedaner müssen in die christlichen Kirchen und in die Synagogen der Juden gehen, und umgekehrt, die andern müssen in die mohammedanischen Moscheen gehen. Sie halten sich nur ihrer unbegründeten Vorurteile und Dogmen willen von einander fern. In Amerika ging ich in die jüdischen Synagogen, die den christlichen Kirchen ähnlich sind, und ich sah sie überall Gott verehren.
In vielen dieser Orte sprach ich zu ihnen über die ursprünglichen Grundlagen der göttlichen Religionen und erklärte ihnen die Beweise der Echtheit der göttlichen Propheten und der heiligen Manifestationen. Ich fordere sie auf, ihre blinden Nachahmungen abzulegen. Alle Führer müssen ebenso in die andern Kirchen gehen und über die Grundlage und die fundamentalen Prinzipien der göttlichen Religionen sprechen. In größter Einigkeit und Harmonie müssen sie in den Gotteshäusern der andern Gott verehren und den Fanatismus ablegen.“
(Star of the West Jg. IX, Nr.3, S. 37.)
Das Problem der Autorität.
Die verschiedenen Religionsgemeinschaften waren in der Vergangenheit nicht imstande, sich zu vereinigen, weil die Anhänger einer jeden den Gründer ihrer eigenen Gemeinschaft als die einzige und höchste Autorität ansahen und sein Gesetz allein für göttlich hielten. Ein Prophet, der eine andere, von der ihrigen verschiedene Botschaft verkündigte, wurde daher als ein Feind der Wahrheit betrachtet. Die verschiedenen Sekten einer jeden Religionsgemeinschaft haben sich aus ähnlichen Gründen gebildet. Die Anhänger einer jeden Sekte nahmen eine untergeordnete Autorität an und betrachten die besondere Auffassung oder Auslegung ihres Gründers als den einzig wahren Glauben und jeden andern als falsch. Es ist klar, daß, solange dieser Zustand herrscht, eine wahre Einigkeit nicht erzielt werden kann.
Bahá’u’lláh aber lehrt, daß alle Propheten die Träger autentischer Botschaften Gottes waren, daß jeder an seinem Tag die höchsten Lehren erteilte, welche die Menschen zu ihrer Zeit annehmen konnten, und daß Er sie erzog, damit sie fähig würden, weitere Lehren von den ihnen folgenden Propheten nicht abzuleugnen, sondern die göttliche Inspiration aller andern Propheten anzuerkennen, um so einzusehen, daß die Lehren aller ihrem Wesen nach, in Harmonie sind und daß sie Teile eines großen Planes für die Erziehung und Vereinigung der Menschheit bilden. Er fordert die Angehörigen aller Konfessionen auf, die Verehrung ihres Propheten dadurch zu beweisen, daß sie ihr Leben der Durchführung jener Einigkeit widmen, für die alle Propheten wirkten und litten. In Seinem Brief an die Königin Victoria von England vergleicht Bahá’u’lláh die Welt mit einem kranken Menschen, dessen Krankheit dadurch verschlimmert wurde, daß er in die Hände ungeschickter Aerzte fiel, und sagt mit folgenden Worten, auf welche Weise das Heilmittel wirksam werde:
„Das, was der Herr zu einer heilsamen Medizin und zum vollkommensten Heilmittel machte, ist die Vereinigung aller Menschen auf Erden in Einer Religion und unter ein Gesetz, und dies kann nur zustande gebracht werden durch einen praktischen, vollkommenen und inspirierten Arzt. Bei Meinem Leben! Dies ist die alleinige Wahrheit und alles andere ist nichts als offenbarer Irrtum. So oft nun dies mächtigste Werkzeug auftrat und dies Licht mit seinem Ewigkeitsglanz leuchtete, traten die, welche vorgeben die Heiler zu sein, zwischen Ihn und die Welt und hinderten dadurch des Patienten Wiederherstellung bis auf den heutigen Tag.“
Die fortschreitende Offenbarung.
Ein großer Stein des Anstoßes, der für viele auf dem Weg der religiösen Einigkeit liegt, ist
der Unterschied zwischen den durch die verschiedenen Propheten gebrachten Offenbarungen. Was
vom einen geboten ist, ist vom andern verboten; wie können beide die richtigen sein? Wie können
beide den Willen Gottes verkündigen? Es gibt doch sicherlich nur eine Wahrheit und die
kann nicht verändert werden, aber die absolute Wahrheit steht unendlich über der gegenwärtigen
Stufe des menschlichen Verständnisses, und unsere Vorstellung von ihr muß sich beständig ändern.
Unsere früheren unvollkommenen Gedanken
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darüber werden durch die Gnade Gottes im Laufe der Zeit durch immer vollständigere Vorstellungen
ersetzt. In einem Tablet an einige persische Bahái schreibt Bahá’u’lláh:
„O Menschenkinder! Die Worte sind geoffenbart der Aufnahmefähigkeit der Menschen entsprechend, damit die Anfänger Fortschritte machen können. Die Milch muß im richtigen Verhältnis gegeben werden, damit die Säuglinge der Welt in das Reich der Erwachsenen gelangen und in den Hof der Einigkeit geführt werden.“
Es ist die Milch, die den Säugling kräftigt, damit er später imstande ist, festere Speisen zu verdauen. Wenn wir daher sagen wollten, weil der eine Prophet, der zu einer gewissen Zeit eine bestimmte Lehre bringt, der richtige ist, müsse ein anderer, der zu einer anderen Zeit eine von der ersteren abweichende Lehre bringt, ein falscher Prophet sein, so wäre dies gleichbedeutend als wenn man sagen würde, da Milch die beste Nahrung für das neugeborene Kind ist, so müsse Milch und nichts als Milch auch die Nahrung der Erwachsenen sein und jede andere Kost sei falsch.
’Abdu’l-Bahá sagt:
„Jede göttliche Offenbarung besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist der Wesentliche; er gehört der ewigen Welt an. Er besteht in der Darlegung der göttlichen Wahrheit und in den Hauptgrundsätzen. Er ist der Ausdruck der Liebe Gottes. Dieser Teil ist derselbe in allen Religionen; er ist unveränderlich und beständig. Der zweite Teil ist nicht ewig; er befaßt sich mit dem praktischen Leben, mit geschäftlichen Dingen usw., und er ändert sich je nach der Entwicklung der Menschen und den Erfordernissen des Zeitalters eines jeden Propheten. Zum Beispiel: Im Mosaischen Zeitalter wurde einem Menschen zur Strafe für einen kleinen Diebstahl die Hand abgehauen. Es gab ein Gesetz, das hieß: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Da aber zur Zeit Christi diese Gesetze nicht mehr angemessen waren, so wurden sie abgeschafft. So waren auch die Ehescheidungen derart allgemein geworden, daß keine bestimmten Ehegesetze mehr vorhanden waren, weshalb Christus die Ehescheidung verbot.
Gemäß der Erfordernisse der Zeit gab Seine Heiligkeit Mose Gesetze für die Bestrafung der Verbrecher. Zu jener Zeit war es unmöglich, die menschliche Gesellschaft zu beschützen und eine soziale Sicherheit zu gewährleisten ohne diese strengen Maßnahmen; denn die Kinder Israel lebten in der Wüste Tah, wo kein Gerichtshof und keine Strafanstalten vorhanden waren; aber zur Zeit Christi waren diese Gesetze nicht mehr nötig. Die Geschichte des zweiten Teils der Religion ist von keiner Wichtigkeit, weil sie sich nur auf die Gebräuche dieses Lebens bezieht; aber die Grundlage der Religion Gottes ist ein und dieselbe und Bahá’u’lláh hat diese Grundlage erneuert.“
(Aus divine Philosophy S. 150/51 1. Ausgabe.)
Die Religion Gottes ist die alleinige Religion und alle Propheten haben sie gelehrt; sie ist aber etwas lebendiges und entwicklungsfähiges, nichts lebloses und unveränderliches. In den Lehren Moses sehen wir die Knospe, in denen von Christus die Blüte, in denen von Bahá’u’lláh die Frucht. Die Blüte vernichtet die Knospe nicht, noch zerstört die Frucht die Blüte. Sie zerstören nicht, sondern sie erfüllen. Die Knospenschalen müssen abfallen, damit die Blüte blühen kann und die Blütenblätter müssen abfallen, damit die Frucht wachsen und reifen kann. Waren alsdann die Knospenschalen und die Blütenblätter schlecht oder nutzlos, daß sie abgeworfen werden mußten? Nein, beide waren zu ihrer Zeit gut und notwendig, ohne sie könnte sich keine Frucht entwickeln. So ist es auch mit den verschiedenen Lehren der Propheten; ihr Aeußeres verändert sich von Zeit zu Zeit, aber jede Offenbarung ist die Erfüllung ihrer Vorgängerin; sie sind nicht ohne Beziehung zueinander, auch sind sie nicht ohne Uebereinstimmung miteinander. Sie sind vielmehr verschiedene Stufen in der Lebensgeschichte der einen Religion, die einmal geoffenbart wurde als Samen, als Knospe und als Blüte und die nun in die Stufe des Fruchtbringens eingetreten ist.
Die Unfehlbarkeit der Propheten.
Bahá’u’lláh lehrt, daß jedem Gottgesandten genügend Beweise für seine Mission zur Seite stehen. Er sei berechtigt, Gehorsam von allen Menschen zu verlangen und er habe die Macht, die Lehren seines Vorgängers abzuschaffen, sie zu verändern oder ihnen andere Lehren hinzuzufügen. Im Buch Ighan lesen wir:
„Es ist fern von der Großmut des Großmütigen und weit entfernt von der in Fülle vorhandenen Barmherzigkeit, eine Seele unter allen andern Menschen zur Führung Seiner Geschöpfe auszuwählen, ohne ihn mit genügenden und vollkommenen Beweisen auszustatten, und dann gleichzeitig das Volk dafür, daß es nicht an ihn glaubt, zu bestrafen. Nein, die Großmut des Königs der Existenz umfaßt alle irdischen Wesen durch das Erscheinen Seiner Manifestation...“
Die Absicht einer jeden Manifestation ist, öffentlich und intern nach außen und nach innen
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Veränderungen und Verwandlungen in der Welt zustande zu bringen. Denn, wenn die Angelegenheiten
der Welt nicht verändert würden, dann wäre das Kommen der universalen Manifestation nutzlos.
Gott ist die einzige unfehlbare Autorität, und die Propheten sind unfehlbar, weil ihre Botschaft die Botschaft Gottes ist, die Er durch sie gibt. Diese Botschaft bleibt bestehen, bis sie durch eine spätere Botschaft, die derselbe Prophet oder ein anderer bringt, aufgehoben wird.
Gott ist der große Arzt, der allein die richtige Diagnose der Weltkrankheit zu stellen und das passende Heilmittel dafür zu verschreiben vermag. Das in einem Zeitalter verordnete Heilmittel ist in einem späteren Zeitalter, da sich der Zustand des Patienten verändert hat, nicht mehr angemessen. Sich an das alte Heilmittel zu klammern, nachdem der Arzt eine neue Behandlungsweise verordnet hat, heißt dem Arzt nicht Glauben, sondern Unglauben entgegenzubringen. Für die Juden mag es ein Schlag sein, wenn ihnen gesagt wird, daß einige der Heilmittel, die Mose vor mehr als 3000 Jahren für die Weltkrankheit verordnete, nun unzeitgemäß und ungeeignet sind. Die Christen wird es in gleicher Weise erschüttern, wenn ihnen gesagt wird, daß Mohammed dem, was Jesus verordnete, noch irgend etwas Notwendiges oder Wertvolles hinzuzufügen hatte; und ebenso ergeht es den Mohammedanern, wenn sie zugeben sollen, daß der Báb oder Bahá’u’lláh die Macht hatten, die Gebote Mohammeds abzuändern. Aber nach der Ansicht der Bahái schließt die wahre Gottesverehrung, die Verehrung aller Seiner Propheten in sich ein und verlangt unbedingten Gehorsam gegenüber Seinen letzten Geboten, die durch den Propheten für unser eigenes Zeitalter gebracht wurden. Nur durch eine solche Hingabe kann wahre Einigkeit erlangt werden.
Die höchste Manifestation.
Gleich allen andern Propheten erklärte Bahá’u’lláh Seine Sendung in einer nicht mißzuverstehenden Weise.
In dem Lawh-i-Aqdas, dem „Heiligen Tablet“, mit dem Er Sich besonders an die Christenheit wandte, sagte Er:
„Der Vater ist sicherlich gekommen und hat erfüllt, was euch in Bezug auf das Reich Gottes verheißen wurde. Sein Wort ist es, das der Sohn noch verhüllte, indem er zu denen, die um ihn waren, sagte: ‚Ich hätte euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen.‘ Als aber die Zeit erfüllt und die Stunde gekommen war, leuchtete das Wort vom Horizont Seines Willens herab. Hüte dich, o Volk des Sohnes (die Christen) das Wort zu verwerfen; nimm es an und halte dich daran, denn es ist besser für dich, als alles vorangegangene!... Wahrlich, der Geist der Wahrheit ist gekommen, um euch in alle Wahrheit zu leiten. Wahrlich, Er spricht nicht von Sich aus, sondern was Er spricht kommt von dem Allwissenden, dem Weisen. Er ist es, den der Sohn verherrlichte... Verzichtet auf das Bisherige, o Völker der Erde, und nehmt das an, was euch von dem Mächtigen, dem Getreuen befohlen ist.“
“Und in einem Brief, den Bahá’u’lláh im Jahr 1867 von Adrianopel aus an den Papst schrieb, sagt Er:
„Hüte dich, damit dich nicht die Verherrlichung, die dir zuteil wird, von dem Verherrlichungswürdigen abhält und damit dich nicht die Anbetung, (die dir entgegengebracht wird), daran hindert, den Anbetungswürdigen zu erkennen! Siehe, der Herr, der Mächtige, der Allwissende ist gekommen, um der Welt zum Leben zu verhelfen und um alle Bewohner der Erde zu vereinigen. Kommt, o Menschen zu dem Aufgangsort der Offenbarung! Zögert nicht, auch nicht eine Stunde! Seid ihr unterrichtet über das Evangelium und dennoch unfähig, den Herrn der Herrlichkeit zu sehen? Dies geziemt euch nicht, o ihr Scharen von Gelehrten! Saget mir, mit welchem Beweis wollt ihr an Gott glauben, wenn ihr diese Sache verwerfet? Verschafft mir euren Beweis!“
So wie Er in diesen Briefen den Christen die Erfüllung der Verheißungen der Evangelien ankündet, so verkündet Er den Mohammedanern, den Juden, den Zoroastriern und den Völkern anderer Religionen die Erfüllung der Verheißungen ihrer hl. Bücher. Er spricht alle Menschen als die Schafe Gottes an, die bisher in verschiedene Herden eingeteilt und in verschiedenen Hürden untergebracht waren. Er sagt, Seine Botschaft sei die Stimme Gottes, des guten Hirten, der in der Fülle der Zeit gekommen sei, Seine zerstreuten Schafe in einer Herde zu sammeln, und alle trennenden Schranken zu beseitigen, damit es künftig nur noch eine Herde und einen Hirten gebe.
Eine neue Situation.
Die Stellung, die Bahá’u’lláh unter den Propheten einnimmt, ist beispiellos und einzig in
ihrer Art, weil der Zustand der Welt zur Zeit Seines Kommens beispiellos und ohnegleichen war.
Durch einen langen und sich oft ändernden Vorgang der Entwicklung in der Religion, der Wissenschaft,
der Kunst und der Zivilisation ist die
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Welt für eine Einheitslehre reif geworden. Die Schranken, die in früheren Jahrhunderten eine
Welteinigkeit unmöglich machten, waren im Zerbröckeln begriffen als Bahá’u’lláh erschien, und
seit Seiner Geburt im Jahr 1817 und ganz besonders seit der Zeit, da Seine Verkündigung begann,
brachen diese Schranken in der erstaunlichsten Art und Weise nieder. Mag man sich dies auch erklären
wie man will, diese Tatsache ist über jeden Zweifel erhaben.
In den Tagen der früheren Propheten waren schon die geographischen Schranken groß genug, um die Welteinigkeit zu verhindern. Dieses Hindernis ist jetzt überwunden. Zum ersten Male in der Menschheitsgeschichte ist es den Menschen von der andern Seite der Welt möglich, mit einem jeden von uns schnell und leicht zu verkehren. Dinge, die sich gestern in Europa zutrugen, sind heute in jedem Erdteil bekannt, und eine Rede, die heute in Amerika gehalten wird, kann morgen in Europa, Asien und Afrika gelesen werden.
Ein anderes großes Hindernis war die Sprachenschwierigkeit. Dank dem Studium und dem Lehren fremder Sprachen ist dies Hindernis schon zu einem großen Teil überwunden und es liegt aller Grund zu der Annahme vor, daß binnen weniger Jahre eine Weltsprache angenommen und in allen Schulen der Welt gelehrt wird. Alsdann wird auch diese Schwierigkeit vollständig beseitigt sein.
Das dritte große Hindernis waren die religiösen Vorurteile und die religiöse Unduldsamkeit. Auch diese sind im Verschwinden begriffen. Der Geist der Menschen wird immer freier. Die Erziehung gleitet mehr und mehr aus den Händen sektiererischer Priester, und neue und fortschrittlichere Gedanken können nicht mehr länger daran verhindert werden, selbst in die exklusivsten und konservativsten Kreise einzudringen.
Bahá’u’lláh ist also der erste unter den großen Propheten, dessen Botschaft in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit von wenigen Jahren, in alle Teile der Welt drang. In kurzer Zeit werden die hauptsächlichsten Lehren Bahá’u’lláhs genau nach Seinen autentischen Schriften übersetzt, und jedermann, der lesen kann, in der ganzen Welt zugänglich gemacht sein.
Die Vollständigkeit der Bahái-Offenbarung.
Die Bahái-Offenbarung steht beispiellos und ohnegleichen da, wegen der Vollständigkeit ihrer autentischen Schriften und Berichte. Die berichteten Worte, die wir mit Gewißheit Christus, Mose, Zoroaster, Buddha oder Krischna zuschreiben können, sind sehr klein beieinander und lassen viele neuzeitliche Fragen von größter praktischer Wichtigkeit unbeantwortet. Manche der Lehren, die gewöhnlich diesen Religionsstiftern zugeschrieben werden, sind von zweifelhafter Echtheit und einige sind augenscheinliche Hinzufügungen späteren Datums. Die Mohammedaner besitzen im Koran und in einer großen Menge von Ueberlieferungen einen viel vollständigeren Bericht über das Leben und die Lehren ihres Propheten als die andern Religionen, aber Mohammed selbst war, obwohl inspiriert, ungelehrt, ebenso wie die meisten seiner ersten Anhänger. Die Methoden, die für die Berichte und die Verbreitung der Lehren angewandt wurden, waren in mancher Hinsicht ungenügend und die Echtheit so mancher Ueberlieferungen ist sehr zweifelhaft. Hieraus entstanden Meinungsverschiedenheiten in der Auslegung und diese strittigen Meinungen verursachten Spaltungen und Streitigkeiten im Islam, wie dies auch in allen früheren Religionsgemeinschaften der Fall war.
In der Baháioffenbarung dagegen schrieben sowohl der Báb als Bahá’u’lláh vieles nieder mit großer Ueberzeugung und Macht. Da beide am öffentlichen Sprechen verhindert waren und die meiste Zeit Ihres Lebens nach der Erklärung Ihrer Sendung im Gefängnis zubrachten, widmeten Sie einen großen Teil ihrer Zeit dem Schreiben, wodurch der Reichtum der Bahái-Offenbarung an autentischen Schriften alle vorangegangenen Offenbarungen übertrifft. In den Baháilehren herrscht da, wo in den früheren Offenbarungen nur dunkle Andeutungen der Wahrheit zu finden sind, völlige Klarheit und die ewigen Prinzipien der Wahrheit, die alle Propheten lehrten, sind nun auf jene Probleme angewandt, welche die Welt von heute beschäftigen — Probleme, die von äußerst verwickelter und schwieriger Natur sind und von denen in den Tagen der früheren Propheten nur sehr wenige aufgeworfen wurden. Es ist klar, daß diese vollständigen Berichte dieser autentischen Offenbarung für die Zukunft eine mächtige Wirkung in der Verhinderung von Mißverständnissen haben müssen und daß sie dieselbe Wirkung in der Aufklärung der Mißverständnisse aus der Vergangenheit, welche die verschiedenen Gemeinschaften getrennt hielten, ausüben werden.
Das Bahái-Bündnis.
Beispiellos und unerreicht ist die Baháioffenbarung auch in anderer Weise. Bevor Bahá’u’lláh
diese Welt verließ, bestimmte Er in einem Testament wiederholt Seinen ältesten Sohn 'Abdu'l-Bahá,
den Er auch öfters den „Zweig“ oder den „Allergrößten Zweig“ nannte, zum autorisierten
Ausleger der Lehren und erklärte, daß die von 'Abdu'l-Bahá erteilten Erklärungen oder
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Auslegungen als ebenso autentisch anzunehmen seien, wie die Worte Bahá’u’lláhs. In Seinem letzten
Willen und Testament schrieb Er:
„Denket stets daran, was in Meinem Buch, dem Aqdas geoffenbart ist: ‚Wenn der Ozean Meiner Gegenwart verebbt und das Buch Meiner Offenbarung vervollständigt ist, dann wendet euer Gesicht Dem zu, den Gott bestimmt hat und Der von der ewigen Wurzel abzweigte!‘
Dieser gesegnete Vers bezieht sich auf den „Allergrößten Zweig“. Und in dem Tablet vom Zweig, in dem Er die Stufe 'Abdu'l-Bahás erklärte, schrieb Er:
„O Volk Bahás! Preise Gott für die Offenbarung des Zweigs, denn wahrlich, Er ist die größte Gunst und der vollkommenste Segen für dich und durch Ihn werden alle vermoderten Gebeine belebt. Wer sich Ihm zuwendet hat sich sicherlich Gott zugewendet und wer sich von Ihm abwendet hat sich von Meiner Schönheit abgewandt, er hat den Beweis verleugnet und ist einer der Uebertreter.‘“
Nach dem Hinscheiden Bahá’u’lláhs hatte 'Abdu'l-Bahá sowohl zu Hause als auf Seinen späteren weiten Reisen vollauf Gelegenheit, mit Menschen aus allen Teilen der Welt und mit Leuten von den verschiedensten Meinungen zusammen zu kommen. Er hörte alle ihre Fragen, ihre Klagen über Schwierigkeiten und ihre Einwendungen an und gab ihnen darauf eingehende Erklärungen, die in den Schriften sorgfältig berichtet sind. 'Abdu'l-Bahá führte Sein Werk der Erklärung der Lehren während einer langen Reihe von Jahren fort und zeigte, wie die Lehren Bahá’u’lláhs auf die verschiedenen Probleme des Lebens anzuwenden sind. Meinungsverschiedenheiten, die sich zwischen den Gläubigen erhoben, wurden Ihm berichtet und von Ihm endgültig beigelegt, wodurch die Gefahr zukünftiger Mißverständnisse bedeutend verringert ist.
Bahá’u’lláh hat ferner angeordnet, daß nach dem Hingang 'Abdu'l-Bahás ein internationaler Rat, der sogenannte Beit u'l-Adl einzusetzen ist, der aus Repräsentanten von allen Bahái der ganzen Welt bestehen soll und der die Aufgabe hat, sich der Angelegenheiten der Sache anzunehmen, alles, was in ihr geschieht zu überwachen und alles zu tun, um Spaltungen zu verhindern und die Lehren vor Fälschungen und falschen Auslegungen zu bewahren. *)
Das Auslegen der Lehren durch irgend jemand anderes als 'Abdu'l-Bahá und nach Ihm durch den internationalen Beit u'l-Adl hat Bahá’u’lláh ausdrücklich verboten. In dem Buch Aqdas erklärt Er, daß jegliche Erklärung oder Auslegung der heiligen Worte entgegen ihres klaren Sinnes verboten ist. In tausend oder etlichen tausenden von Jahren werde unter dem Schatten Bahá’u’lláhs eine andere Manifestation kommen und zwar mit deutlichen Beweisen ihrer Sendung. Aber bis dorthin bilden die Worte Bahá’u’lláhs und 'Abdu'l-Bahás und die Entscheidungen des internationalen Beit u'l-Adls die Autorität, an die sich alle Gläubigen, um Führung zu erlangen, halten sollen. Kein Bahái darf eine besondere Schule oder Sekte gründen, die auf irgend einer besonderen Auslegung der Lehren oder auf einer vorgeblichen göttlichen Offenbarung beruht. Wer diesen mit Nachdruck gegebenen Vorschriften zuwiderhandelt, wird als ein „Verletzer des Bündnisses“ oder als „Nagiz“ betrachtet. 'Abdu'l-Bahá sagt:
„Ein Feind der Sache ist derjenige, der danach trachtet, die Worte Bahá’u’lláhs auszulegen und dabei deren Bedeutung nach seinen eigenen Fähigkeiten färbt, sich Anhänger um sich sammelt, eine besondere Sekte bildet, seine eigene Stellung in den Vordergrund zu rücken sucht und eine Spaltung in der Sache herbeiführt.“
(Star of the West, Band III, S. 8.
In einem andern Tablet schreibt 'Abdu'l-Bahá:
„Diese Leute (die Förderer der Spaltungen) gleichen dem Schaum, der sich auf der Oberfläche des Meeres ansammelt. Es wird eine Woge von dem Ozean des Bündnisses ausgehen und diesen Schaum durch die Macht des Königreiches Abhás an die Küste werfen... Diese von persönlichen und bösen Absichten ausgehenden verderblichen Gedanken werden alle verschwinden, aber das Bündnis Gottes wird für immer fest und sicher bleiben."
(Star of the West, Jahrg. X, S. 95.)
Es gibt nichts, das den Menschen am Aufgeben der Religion hindern könnte, sofern er dies tun will. 'Abdu'l-Bahá sagt:
„Selbst Gott zwingt die Seele nicht, geistig zu werden. Die Einsetzung des freien menschlichen Willens ist hierzu notwendig.“
Es ist klar, daß das geistige Bündnis die Sektiererei innerhalb des Baháiglaubens gänzlich unmöglich macht.
Keine Berufspriesterschaft.
Eine andere Seite der Baháiorganisation muß besonders hervorgehoben werden, und dies ist
das Nichtvorhandensein einer Berufspriesterschaft. Freiwillige Beiträge zu den Ausgaben der
Lehrer sind erlaubt und viele widmen ihre ganze Zeit der Arbeit in der hl. Sache, Es wird aber von
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allen Bahái erwartet, daß sie sich an der Arbeit des Lehrens entsprechend ihrer Gelegenheiten und
Fähigkeiten beteiligen. Es gibt keine besondere Klasse, die sich von den übrigen Gläubigen durch
ausschließliche Ausübung priesterlicher Funktionen und Vorrechte von den andern unterscheidet.
In den früheren Zeiten war die Priesterschaft notwendig, weil das Volk ungelehrt und unerzogen, wie es war, in Bezug auf seine religiösen Unterweisungen, die Leitung der religiösen Riten und Zeremonien und in der Handhabung der Gerechtigkeit usw. auf die Priester angewiesen war. Jetzt haben sich die Zeiten geändert. Die Erziehung ist nahezu Allgemeingut geworden und wenn einmal die Gebote Bahá’u’lláhs praktisch angewandt werden, dann wird jeder Knabe und jedes Mädchen in der ganzen Welt eine ausgezeichnete Erziehung genießen. Jedes einzelne wird alsdann imstande sein, die heiligen Schriften selbst zu studieren und das Wasser des Lebens direkt von der Quelle zu schöpfen. Riten und Zeremonien, die den Dienst einer besonderen Berufskaste erfordern, haben im Baháisystem keinen Platz, und die Handhabung der Gerechtigkeit ist den für diesen Zweck gewählten Autoritäten anvertraut.
Ein Kind braucht einen Lehrer, aber das Ziel eines wahren Lehrers ist, seinen Schüler tauglich zu machen, ohne Lehrer handeln zu können; er soll lernen, die Dinge mit eigenen Augen zu betrachten, mit eigenen Ohren zu hören und mit eigener Vernunft zu erkennen. Heute ist das Werk der Priester alles andere als vollendet und daher ist es das Ziel der Baháilehre, dieses Werk zu vollenden, die Menschen von allem andern außer Gott unabhängig zu machen, damit sie sich direkt zu Ihm, d. h. zu Seiner Manifestation wenden können. Wenn sich alle zu einem Mittelpunkt wenden, dann kann es keine Gegenabsichten oder Verwirrungen mehr geben, und je näher sie sich alle um den Mittelpunkt zusammenschließen, desto inniger werden sie mit jedem einzelnen verbunden sein.
- ) Näheres bezüglich des Beit ul-Adl s. Kapitel 15.
Das Streben nach Erkenntnis in der Welt draussen.
Aufsatz von Heinrich Küstner.
Wenn wir auch bestimmt wissen, daß dereinst Wissenschaft und Religion miteinander in ihren Ergebnissen übereinstimmen werden, so konnte man, von verheißungsvollen Anzeichen abgesehen, bisher doch nur wenig davon bemerken, daß dieses Prinzip der Verwirklichung entgegengehe.
Für den aufmerksamen Beobachter aber mehren sich jetzt die Anzeichen, daß es hier anders werden wird. Für den Glauben an Gott ist unbedingte Voraussetzung der Glauben an ein Fortleben nach dem Tod. Solange die Menschen glauben, das Leben höre nach dem Tode auf und sei lediglich Selbstzweck, solange können sie folgerichtig auch nicht an Gott glauben, noch daran, daß Er die Welt erschaffen hat, umsoweniger, als ihnen der Zweck der Schöpfung des Menschen nicht bekannt ist, den Bahá’u’lláh in den Worten niederlegt: „Gott war ein verborgener Schatz und wünschte erkannt zu werden.“ Nun aber finden wir überall Anzeichen vom Vordringen der Para-Psychologie, der Kunde vom Verhalten der Seele nach dem Tode, in der Wissenschaft. Da und dort hören wir von anerkannten Universitätslehrern, die sich mit der Erforschung der okulten Phänomene abgeben und hinter ihren Ergebnissen keineswegs immer Betrug erblicken, sondern darin eine ernst zu nehmende Erkenntnisquelle finden. Besonders wichtig ist es, daß Lehrer und Vertreter der sogenannten exakten Wissenschaften sich mit der Erforschung dieses Gebiets befassen.
Ein neues Zeugnis für den Siegeszug der zunehmenden Erkenntnis ist die Gründung einer neuen „Zeitschrift für Parapsychologie, an der anerkannte Gelehrte Deutschlands, Italiens, Englands und Amerikas mitarbeiten.
Monat für Monat kommen neue Ergebnisse auf diesem Gebiete heraus. So mußte kürzlich auch die englische „Society for Psychical Research“ das positive Ergebnis von Forschungen auf diesem Gebiet zugeben, was umso gewichtiger ist, als gerade diese englische Gesellschaft sich ungeachtet ihrer großen Verdienste um das Studium der parapsych. Phänomene gegen die Anerkennung der Echtheit auch der sogenannten physikalischen Phänomene heftig gesträubt hat.
Die weittragenden Folgen solcher neuentdeckten Tatsachen für bestimmte Grundlagen der wissenschaftlichen Weltanschauung werden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Vor allem die Philosophie wird aus ihnen zu lernen haben.
(Fortsetzung folgt.)
Supersensibility in Medicine.
..Only in a very small measure are we scientifically able to comprehend the wonders of the
earth. The teaching of the physical-chemical conception of the world and its problems has only
become a desolate theory of life through materialism, which is now the prevailing feature. Spirit,
soul and heart were regarded as abstracts of the brain, just as the glands of the body, the
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kidneys and the liver sift the waste matter of the human body in the form of secretion and the
mist of thought should simply evaporate from the torsions of the brain.
This desolate theory of life cannot be more drastically illustrated than by the question called in by Schleich, which starts a true materialistic problem: how does a potato eaten by a genius become a poem, a picture, a symphony? And the inquiry after the seat of the soul which has ever occupied medicine as it has philosophy, is nothing else but the old, old question of humanity, where do we come from and whither are we going? Doubtful humanity adds the ever unanswered, tormenting agonising and afflicting question, wherefore? This old, old desire to fathom the position of mankind in the universe is the common source of science and beliefs. That both cannot be combined is incomprehensible. In the disputes between belief and science, inner conviction, presentiment, manifestation on the one side, represent nothing else than hypothesis and imaginery lawfulness on the other side.
Confessions of faith as well as science commence with the great Unkown. Only whilst the one symbolises and personifies with reverence, the other endeavours to analyze with cool logic, which of course does not exclude veneration. But neither the one nor the other can manage to get along without an indescribable, incomprehensible and unkown power. And if modern science to-day assumes that the whole universe and all matter are permeated with ether, belief, on the contrary, asserts the omnipresence of God. The rule for the preservation of energy is nothing more than a physical setting of the ancient idea of immortality.
And the methods, which the representatives of both teachings make use of to propagate their ideas, are they not always alike, is the parallel between the priest and docter not most evident? Both these professions are closely linked together in their essence. And inasmuch as a docter should possess something clerical in the noblest sense, so a true priest should also be a doctor.
A priest comforts the soul and helps it by pointing out a higher power to the suffering soul with the hope of redemption beyond this life, a docter endeavours to regulate and to get the functions of the body into proper working order and thereby to bring about a condition of inward harmony and balance, whereby a docter is able to produce a sense of happiness merely by the absence of pain. Rays of hope must emanate from both in order to enlighten the darkness of suffering and sorrow,
But a priest and a docter do not only resemble each other from a practical point of view, but also from an ideal one. Just as a priest approaches the altar in humility, the true scientist enters the field of problems full of awe. And just as wider regions with greater wonders are gradually desclosed to the priest, so the scientist the more he studies and explores is constantly discovering new wonders and manifestations in the ever incomprehensible super-abundance of nature.
And the further I search and investigate, the end, in the final sense, always remains unfathomable, and I become more and more convinced that everyone must at last come to some conclusion, as to what is unfathomable within himself. Only more veneration and dignity should be observed on both sides in the methods which are used, if they are to prove a blessing to mankind.
Scientific and religious ideas unite in imagination. Without this no new valuable idea would ever be born and no belief would be possible. Just as the latter emanates from ihe soul, so the former comes from the intellect.
No science can ever extinguish the religious sentiment, nor can any belief ever contradict the practical results of science for any length of time. Göthe, who firmly believed in God, was a successful scientist, and Newton, a man of dauntless ideas in science, was an ardent churchman. (Karl Ludwig Schleich).
The one feels himself to be the priest and servant of nature; it is the inspiration which he serves and lives for, he is the voice through which it speaks and acts, he is its workman, who seeks his vocation and happiness in aiding it.
A true docter is the one, who notwithstanding the deepest and most devout veneration for the invisible working power, nevertheless does not neglect visible nature in its phenomenon, who does not despire any form of knowledge it may offer us, who keeps his spirit free and receptive for all higher impressions and thereby avoids becoming narrowminded and onesided. (Hufeland) Who ever keeps in mind, that when and wherever he may called to account for his deeds, will never be asked about the amount of medicine he prescribed, but what he did with the immortal psyche of those entrusted to him, and whose deeds were ever such, that he can calmly face his judge.
A docter comes into contact with the question what is death? far oftener than anyone else, What
will become of me after the end, will it be everlasting night, or everlasting day? And over and
over again we make the same experience that the final mystery does not lie in life but in
death. The wonderful symphony of the sun and stars cannot have been organised by the Creator
alone for our little lives. Our delusion that life is the most precious possession is absurd and
untenable. This life is only a stepping-stone, a
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gateway to a higher state. The aim and purpose of this life lies in death.
Again and again the greatest sceptics are forced to accept the idea of immortality and at the hand of the latest scientific researches it becomes an inaffaceable postulate, supported by irrefutable arguments.
If the single cellular tissue, the foundation stone, is immortal, how much more so the higher idea, the spirit the soul?
The idea of immortality brings about the most gigantic perspective, which Karl Ludwig Schleich has noted: Decay, digestion, death is nothing but the return of primary matter, which has become more highly developed in the service of the individual, to the cosmical functions in general. Death means acceptation of the personal part in the continuance of life in the universe.
Extract of a lecture of Dr. H. Haug, Mergentheim.
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In unserem Verlag sind erschienen:
1. Die Geschichte der Bahai-Bewegung, von S. S. Deutsch von Wilhelm Herrigel. Dritte Ausgabe . . . -.20
2. Bahai-Perlen, Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . . -.20
3. Ehe Abraham war, war Ich, v. Thornton Chase. Deutsch v. W.Herrigel . . . . -.10
4. Das heilige Tablet, ein Sendschreiben Baha’o’llahs an die Christenheit. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . -.10
5. Die Universale Weltreligion. Ein Blick in die Bahai-Lehre von Alice T, Schwarz . . . . -.50
6. Die Offenbarung Baha’u’llahs, von J.D. Brittingham. Deutsch von Wilhelm. Herrigel . . . -.50
7. Verborgene Worte von Baha o’llah. Deutsch v. A. Braun u. E. Ruoff . . . 1.--
8. Baha’u’llah, Frohe Botschaften, Worte des Paradieses, Tablet Tarasat, Tablet Taschalliat, Tablet Ischrakat. Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Halbleinen gebunden . . . 2.--
in feinstem Ganzleinen gebunden . . . . . 2.50
9. Einheitsreligion. Ihre Wirkung auf Staat, Erziehung, Sozialpolitik, Frauenrehte und die einzelne Persönlichkeit, von Dr. jur. H. Dreyfus, Deutsch von Wilhelm Herrigel. Neue Auflage . . . -.50
10. Die Bahaibewegung im allgemeinen und ihre großen Wirkungen in Indien, von Wilhelm Herrigel . . . . -.50
11. Eine Botschaft an die Juden, von Abdul Baha Abbas. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . -.15
12. Abdul Baha Abbas, Ansprachen über die Bahailehre. Deutsch von Wilhelm Herrigel,
in Halbleinen gebunden . . . . . 2.50
in feinstem Ganzleinen gebunden. . . . . 3.--
13. Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahaireligion, von Mirza Abul Fazl. Deutsch von W. Herrigel,
in Halbleinen geb. . . . . 4.--
In Ganzleinen gebunden . . . . 4.50
14. Abdul Baha Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps.
Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Ganzleinen gebunden . . . . 3.50
15. Das Hinscheiden Abdul Bahas, ("The Passing of Abdul Baha") Deutsch von Alice T. Schwarz . . . -.50
16. Das neue Zeitalter von Ch. M. Remey. "Deutsch von Wilhelm Herrigel —.50
17. Die soziale Frage und ihre Lösung im Sinne der Bahailehre von Dr. Hermann Grossmann . . —.20
18. Die Bahai-Offenbarung, ein Lehrbuch von Thornton Chase, deutsch von W. Herrigel, kartoniert M. 4.--, in Halbleinen gebunden M. 4.60
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Druck: Wilhelm Heppeler, Stuttgart.
Geschichte und Bedeutung der Bahailehre.
Die Bahai-Bewegung tritt vor allem ein für die „Universale Religion" und den „Universalen Frieden“ — die Hoffnung aller Zeitalter. Sie zeigt den Weg und die Mittel, die zur Einigung der Menschheit unter dem hohen Banner der Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit führen. Sie ist göttlich ihrem Ursprung nach, menschlich in ihrer Darstellung, praktisch für jede Lebenslage. In Glaubenssachen gilt bei ihr nichts als die Wahrheit, in den Handlungen nichts als das Gute, in ihren Beziehungen zu den Menschen nichts als liebevoller Dienst.
Zur Aufklärung für diejenigen, die noch wenig oder nichts von der Bahaibewegung wissen, führen wir hier Folgendes an: „Die Bahaireligion ging aus dem Babismus hervor. Sie ist die Religion der Nachfolger Baha ’Ullahs, Mirza Hussein Ali Nuri (welches sein eigentlicher Name war) wurde im Jahre 1817 in Teheran (Persien) geboren. Vom Jahr 1844 an war er einer der angesehensten Anhänger des Bab und widmete sich der Verbreitung seiner Lehren in Persien. Nach dem Märtyrertod des Bab wurde er mit den Hauptanhängern desselben von der türkischen Regierung nach Bagdad und später nach Konstantinopel und Adrianopel verbannt. In Bagdad verkündete er seine göttliche Sendung (als „Der, den Gott offenbaren werde") und erklärte, daß er der sei, den der Bab in seinen Schriften als die „Große Manifestation", die in den letzten Tagen kommen werde, angekündigt und verheißen hatte. In seinen Briefen an die Regenten der bedeutendsten Staaten Europas forderte er diese auf, sie möchten ihm bei der Hochhaltung der Religion und bei der Einführung des universalen Friedens beistehen. Nach dem öffentlichen Hervortreten Baha ’Ullahs wurden seine Anhänger, die ihn als den Verheißenen anerkannten, Bahai (Kinder des Lichts) genannt. Im Jahr 1868 wurde Baha ’Ullah vom Sultan der Türkei nach Akka in Syrien verbannt, wo er den größten Teil seiner lehrreichen Werke verfaßte und wo er am 28. Mai 1892 starb. Zuvor übertrug er seinem Sohn Abbas Effendi (Abdul Baha) die Verbreitung seiner Lehre und bestimmte ihn zum Mittelpunkt und Lehrer für alle Bahai der Welt.
Es gibt nicht nur in den mohammedanischen Ländern Bahai, sondern auch in allen Ländern Europas, sowie in Amerika, Japan, Indien, China etc. Dies kommt daher, daß Baha ’Ullah den Babismus, der mehr nationale Bedeutung hatte, in eine universale Religion umwandelte, die als die Erfüllung und Vollendung aller bisherigen Religionen gelten kann. Die Juden erwarten den Messias, die Christen das Wiederkommen Christi, die Mohammedaner den Mahdi, die Buddhisten den fünften Buddha, die Zoroastrier den Schah Bahram, die Hindus die Wiederverkörperung Krischnas und die Atheisten — eine bessere soziale Organisation.
In Baha ’Ullah sind alle diese Erwartungen erfüllt. Seine Lehre beseitigt alle Eifersucht und Feindseligkeit, die zwischen den verschiedenen Religionen besteht; sie befreit die Religionen von ihren Verfälschungen, die im Lauf der Zeit durch Einführung von Dogmen und Riten entstanden und bringt sie alle durch Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Reinheit in Einklang. In der Bahaireligion gibt es keine Priesterschaft und keine religiösen Zeremonien. Ihr einziges Dogma ist der Glaube an den einigen Gott und an seine Manifestationen (Zoroaster, Buddha, Mose, Jesus, Mohammed, Baha ’Ullah),
Die Hauptschriften Baha ’Ullahs sind der Kitab el Ighan (Buch der Gewißheit), der Kitab el Akdas (Buch der Gesetze), der Kitab el Ahd (Buch des Bundes) und zahlreiche Sendschreiben, genannt „Tablets“, die er an die wichtigsten Herrscher oder an Privatpersonen richtete. Rituale haben keinen Platz in dieser Religion; letztere muß vielmehr in allen Handlungen des Lebens zum Ausdruck kommen und in wahrer Gottes- und Nächstenliebe gipfeln. Jedermann muß einen Beruf haben und ihn ausüben. Gute Erziehung der Kinder ist zur Pflicht gemacht und geregelt. Niemand ist mit der Macht betraut, Sündenbekenntnisse entgegenzunehmen oder Absolution zu erteilen.
Die Priester der bestehenden Religionen sollen den Zölibat (Ehelosigkeit) aufgeben, durch ihr Beispiel predigen und sich im praktischen Leben unter das Volk mischen. Monogamie (die Einehe) ist allgemein gefordert, Streitfragen, welche nicht anders beigelegt werden können, sind der Entscheidung des Zivilgesetzes jeden Landes und dem Bait’ul’Adl oder „Haus der Gerechtigkeit“, das durch Baha ’Ullah eingesetzt wurde, unterworfen. Achtung gegenüber jeder Regierungs- und Staatseinrichtung ist als einem Teil der Achtung, die wir Gott schulden, gefordert. Um die Kriege aus der Welt zu schaffen, ist ein internationaler Schiedsgerichtshof zu errichten. Auch soll neben der Muttersprache eine universale Einheits-Sprache eingeführt werden. „Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die Tropfen eines Meeres“ sagt Baha ’Ullah.
Es ist also weniger die Einführung einer neuen Religion, als die Erneuerung und Vereinigung aller Religionen, was heute von Abdul Baha erstrebt wird. (Vgl. Naveau Larousse, illustré supplement, p. 66.)
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