Sonne der Wahrheit/Jahrgang 20/Heft 3-4/Text

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SONNE
DER
WAHRHEIT
 
 
Zeitschrift für Weltreligion und Welteinheit
Organ der Bahá’í
in Deutschland und Oesterreich
 
 
Heft 3-4 20. Jahrgang Mai-Juni 1950
 


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Die Bahá’i-Weltreligion

Der Glaube, der von Bahá’u’lláh begründet wurde, entstand in Persien um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Nach längerer Verbannung des Gründers, zuletzt nach der türkischen Strafkolonie von Akka, und späterhin nach Seinem Tod und Seiner Beisetzung in Akka, hat der Glaube sein endgültiges Zentrum im Heiligen Land gefunden und ist jetzt im Begriff, die Grundlagen seines Verwaltungszentrums für die ganze Welt in der Stadt Haifa aufzubauen.

Wenn man seinen Anspruch, wie er unmißverständlich durch seinen Begründer verfochten wurde, und die Art des Wachstums der Bahá’i-Gemeinde in allen Teilen der Welt betrachtet, so kann dieser Glaube nicht anders angesehen werden als eine Weltreligion, die dazu bestimmt ist, sich im Laufe der Zeiten in ein weltumfassendes Gemeinwesen zu entwickeln. Dessen Kommen muß das goldene Zeitalter der Menschheit ankündigen, das Zeitalter, das die Einheit des Menschengeschlechtes unerschütterlich begründet, seine Reife erreicht und seine Bestimmung durch die Geburt und das Errichten einer alles umfassenden Zivilisation erfüllen wird.


Neue Darlegung ewiger Wahrheiten

Obwohl dem schiitischen Islam entsprungen und in den ersten Entwicklungsphasen von den Anhängern des mohammedanischen und des christlichen Glaubens nur als eine obskure Sekte, ein asiatischer Kult oder ein Ableger der mohammedanischen Religion betrachtet, beweist dieser Glaube nunmehr in wachsendem Maße sein Anrecht auf eine andere Beurteilung als nur die eines weiteren religiösen Systems, das den sich bekämpfenden Glaubensbekenntnissen, die so viele Geschlechter lang die Menschheit zerspalten und ihre Wohlfahrt verwüstet haben, sich zugesellt hat. Vielmehr ist er eine neue Darlegung der ewigen Wahrheiten, die allen Religionen der Vergangenheit zugrunde liegen, und eine einigende Macht, die den Anhängern dieser Religion einen neuen geistigen Elan einflößt, eine neue Hoffnung und Liebe zur Menschheit und sie durch eine neue Vision befeuert, die der grundsätzlichen Einheit der religiösen Lehren, und vor ihren Augen die herrliche Berufung ausbreitet, die dem Menschengeschlecht winkt.

Die Anhänger dieses Glaubens stehen fest zu dem grundlegenden Prinzip, wie es von Bahá’u’lláh verkündet worden ist, daß religiöse Wahrheit nicht absolut, sondern relativ ist, daß Gottesoffenbarung ein fortdauerndes und fortschreitendes Geschehnis ist, daß alle großen Religionen der Welt göttlich in ihrem Ursprung sind, daß ihre Grundsätze zueinander in völligem Einklang stehen, daß ihre Ziele und Absichten eine und dieselben sind, daß ihre Lehren nur Widerspiegelungen der einen Wahrheit sind, daß ihr Wirken sich ergänzt, daß sie sich nur in unwesentlichen Teilen ihrer Lehren unterscheiden und daß ihre Sendungen aufeinanderfolgende geistige Entwicklungsstufen der Menschheit darstellen.


Zur Versöhnung der sich streitenden Bekenntnisse

Die Ziele Bahá’u’lláh’s, des Propheten dieses neuen und großen Zeitalters, in das die Menschheit eingetreten ist — denn Sein Kommen erfüllt die Prophezeiungen des Neuen und Alten Testamentes wie auch des Koran, die sich auf das Erscheinen des Verheißenen am Ende der Zeiten, am Tage des Gerichtes beziehen — sind nicht die Zerstörung, sondern die Erfüllung der Offenbarungen der Vergangenheit und viel mehr die Versöhnung als die Betonung der Gegensätze der sich streitenden Glaubensbekenntnisse, welche die heutige Menschheit noch zerreißen.

Er ist weit davon entfernt, die Stufe der Ihm vorausgegangenen Propheten herabsetzen oder ihre Lehren schmälern zu wollen. Vielmehr will Er die Grundwahrheiten, die in allen diesen Lehren beschlossen sind, in einer Weise aufs neue darlegen, wie sie den Nöten der Menschheit entsprechen und auf ihre Fassungskraft abgestimmt sind und auf die Fragen, Leiden und Verwirrungen der Zeit, in der wir leben, angewendet werden können.

Seine Sendung ist: zu verkünden, daß die Zeiten der Kindheit und Unreife des Menschengeschlechtes dahin sind, daß die Erschütterungen; der heutigen Stufe der Jugend langsam und schmerzvoll sie zur Stufe der Reife vorbereiten und das Nahen jener Zeit der Zeiten verkünden, da die Schwerter in Pflugscharen umgewandelt werden und das von Jesus Christus verheißene Reich begründet wird und der Friede auf diesem Planeten endgültig und dauernd gesichert ist. Auch stellt Bahá’u’lláh nicht den Anspruch auf Endgültigkeit Seiner eigenen Offenbarung, sondern erklärt vielmehr ausdrücklich, daß ein volleres Maß der Wahrheit, als Ihm von dem Allmächtigen für die Menschheit in einem so kritischen Zeitpunkt gestattet wurde, in den späteren Phasen der endlos weiterschreitenden Menschheitsentwicklung enthüllt werden muß.


Einheit des Menschengeschlechtes

Der Bahá’i-Glaube hält die Einheit Gottes hoch, anerkennt die Einheit Seiner Propheten und betont vor allem den Grundsatz der Einheit und Ganzheit aller Menschenrassen. Er verkündet, daß die Einigung der Menschen notwendig und unvermeidbar ist, hebt hervor, daß wir uns ihr schrittweise nähern und stellt die These auf, daß nichts anderes als der verwandelnde Geist Gottes, der durch Sein erwähltes Sprachrohr an

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SONNE DER WAHRHEIT
Zeitschrift für Weltreligion und Welteinheit
Heft 3-4
Preis: DM —.80
MAI-JUNI 1950
Jamál - Nur (107) Schönheit - Licht
20. JAHRGANG
Leitgedanken: Einheit der Menschheit - Universaler Friede - Universale Religion


Inhalt: Worte von Bahá’u’lláh — Wissenschaft und Offenbarung — Ährenlese — Göttliche Lebenskunst: Prüfungen und Trübsale; Lerne Gott erkennen und lieben — Tolstoi über die Einheit der Religionen — Gestaltung — Aus der Bahá’i-Welt: Märtyrertod des persischen Arztes Dr. S. Berjis von Kashan.


O SÖHNE DES MENSCHEN!

Wißt ihr, warum Wir euch aus einer Erde erschaffen haben? Damit keiner sich über den anderen erhebe. Denket immer daran, wie ihr erschaffen wurdet. Die Wir euch alle aus dem gleichen Stoff erschaffen haben, euch ziemt es auch, wie eine Seele zu sein, in gleicher Weise zu essen und im gleichen Lande zu wohnen, so daß aus eurem Wesen, euren Taten und Handlungen die Zeichen der Einheit und der wahren Freiheit sichtbar werden. Dies ist Mein Rat für euch, ihr Scharen des Lichtes. So höret denn auf Meinen Rat, damit ihr die heiligen Früchte am Baume der höchsten Herrlichkeit findet.

Bahá’u’lláh*)


*) Aus den Verborgenen Worten (arab.), 1948, S. 26/27.



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WISSENSCHAFT UND OFFENBARUNG[Bearbeiten]

Was wissen wir?

Von G.A. Shook, Ph.D., F.R.S.A., Prof. der Physik, Wheaton College, Norton, Massachusetts, USA.*)


Wir brauchen nicht zu beweisen, daß wir glücklich sind. Unsere eigene unbeglaubigte Überzeugung genügt für diese Feststellung völlig. Die Ursache unseres Glücklichseins ist jedoch eine ganz andere Angelegenheit. Auf sie können wir nur durch Folgerungen schließen, und unser Wissen auf diesem Gebiet ist nicht unfehlbar. Wir sind uns nie ganz sicher über den Ursprung unserer inneren Erfahrungen, da die Erfahrungen selbst uns direkt übermittelt werden, d. h. wir erfassen sie unmittelbar. Wenn jemand die Religion ablehnt, wird ihn keine Beweisführung davon überzeugen können, daß sein Gefühl der Ablehnung nicht wirklich sei. Es ist wirklich, und wir können gar nichts dagegen tun, sondern wir können ihn nur davon überzeugen, daß die Ursache, die dieses Gefühl hervorruft, auf falschen Tatsachen beruht.

Das Gefühl für Schönheit, Mitleid und Liebe ist für uns genau so wirklich wie die uns umgebenden Gegenstände. Ja, es ist bestimmt sogar noch wirklicher, denn die uns umgebende Welt der Gegenstände erfassen wir nur mittelbar. Wir sehen einen Gegenstand vor uns und nennen ihn „Stein“, nur weil er wie andere Gegenstände aussieht, die wir unter dem Namen Stein kennen. In Wirklichkeit mag dieser Gegenstand ein Stück Holz oder eine Gipsform sein, aber kein Stein. So sonderbar es uns vorkommen mag, die uns umgebende Welt ist nicht sehr wirklich. Die Menschen haben Gedanken und Gefühle, mit denen sie sie betrachten und diese sind wirklich, aber nicht die Welt an sich.

Wir wissen nun, daß während der Meditation, wenn die geistige Tätigkeit zurückgeschraubt ist, die innere Einsicht oder die Intuition oft neue Erkenntnisse erschließen. Vielleicht sollten wir Intuition nicht Erkenntnis nennen, aber nachdem sie so wichtig für neue Erkenntnisse ist, sind wir wohl berechtigt, den Ausdruck intuitive Erkenntnis zu gebrauchen. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß die Intuition genau so wie jede andere Methode der Menschheit, Erkenntnisse zu gewinnen, Irrtümern unterworfen ist. Allgemeiner ausgedrückt, es gibt eine Art Erkenntnis aus innerer Anschauung heraus im Gegensatz zu der aus der Überlegung gewonnenen Erkenntnis, die uns durch einen unerklärbaren und unbewußten Gedankenprozeß zufällt. Die Wissenschaft verleugnet diese Art der Erkenntnis nicht, denn tatsächlich wurde kein großes schöpferisches Werk ohne intuitive Erkenntnis je vollbracht.

Wir müssen zwischen der intuitiven Erkenntnis des Wissenschaftlers und der des Religionsstifters unterscheiden; die letztere ist offensichtlich von höherer Ordnung. Der Mystiker erhält im Zustande der Ekstase oder Vision das, was er geoffenbarte Erkenntnis nennt. Er glaubt, daß dieses Phänomen des seelischen Bewußtwerdens ein Etwas schafft, das [Seite 35] jeder geistigen Anstrengung überlegen ist, Außerdem neigt er zu dem Glauben, daß seine intuitive oder geoffenbarte Erkenntnis allgemeingültiger ist als die intuitive Erkenntnis des Wissenschaftlers. Aber auch hier dürfen wir nicht vergessen, daß die Intuition des Mystikers wie die Intuition der Künstler nicht unfehlbar ist.

Im Gegensatz zur intuitiven Erkenntnis steht die durch Erfahrung gewonnene und empirisch genannte Erkenntnis. Der Wissenschaftler, wie wir alle wissen, befaßt sich mit der empirischen Erkenntnis, allerdings nicht ausschließlich. Es kommt noch die Art von Erkenntnissen hinzu, die er durch Gedankenprozesse, Logik und aufbauende oder ableitende Überlegungen gewinnt. Diese auf Folgerungen begründeten Erkenntnisse sind für die Wissenschaft unerläßlich. Einige der wichtigsten wissenschaftlichen Wahrheiten wurden von bereits bekannten Gesetzen und Theorien abgeleitet. Zum Beispiel kann das umgekehrte Quadratgesetz der Gravitation von Keplers zweitem und drittem Gesetz abgeleitet werden.

Wenn wir an die göttliche Offenbarung denken, so handelt es sich natürlich um die geoffenbarte oder intuitive Erkenntnis. Die Erkenntnisse, die die großen schöpferischen Persönlichkeiten der prophetischen Religion — oder in der Sprache der Religion — die Propheten wie Muhammed besitzen, wurden ihnen unmittelbar gegeben. Wir sind ziemlich sicher, daß sie keine Schulen besuchten, noch begründeten sie philosophisch-kirchliche Systeme auf Grund zeitgenössischer oder althergebrachter Weisheiten. Es besteht jedoch dieser grundlegende Unterschied zwischen der intuitiven Erkenntnis, die wir der göttlichen Offenbarung zuschreiben und der, die wir der Wissenschaft zuschreiben. Die intuitive Erkenntnis des Wissenschaftlers muß ständig von der empirischen Erkenntnis überprüft werden, während die intuitive Erkenntnis des Propheten keiner Kontrolle bedarf. Dies ist für den Wissenschaftler sehr schwierig, aber es soll hier versucht werden, den Beweis zu erbringen, daß die Schwierigkeiten überwunden werden können, wenn wir die geoffenbarte Erkenntnis im Sinne einer vollkommenen Erfahrung verstehen und nicht nur Erfahrung in der Welt der Wissenschaft gelten lassen.

Wir müssen jedoch zugeben, daß der ungeheure Erfolg der Wissenschaft in der physikalischen Welt, das Versagen der Religion, Frieden und Harmonie in der Welt allgemein zu verbreiten und schließlich die Verweltlichung der Religion und Gesellschaft, daß dies alles darauf hinzielt, in der Meinung des Laien den Gedanken aufkommen zu lassen, daß die geoffenbarte Erkenntnis des Propheten nicht so zuverlässig sei wie die intuitive Erkenntnis des Wissenschaftlers. So haben viele Laien das Gefühl, daß die wissenschaftlichen Erkenntnisse die einzigen gewissen Kenntnisse sind, die wir heutzutage besitzen. Sie glauben fest, daß die wissenschaftliche Erkenntnis die letzte und ausschlaggebende ist, aber der moderne Wissenschaftler, zumindest der moderne Physiker, erhebt diesen Anspruch nicht.

Es wurden seit dem Zerfall des Baues der Religion viele Versuche gemacht, philosophisch-kirchliche Systeme aus den hervorstechendsten Wesenszügen der noch bestehenden Religionen zu bilden. Allem Anschein nach sind einige dieser Bewegungen den religiösen Systemen überlegen, aber sie [Seite 36] haben nicht den Einfluß, eine Reform im weitesten Sinne weder beim einzelnen noch in der Gesellschaft zu bewirken.

Innerhalb der Grenzen eines jeden religiösen Systems gibt es viele, die den Glauben an die geoffenbarte Erkenntnis haben, aber sie fühlen sich gezwungen, die geoffenbarte Erkenntnis ihrer eigenen Religion als die letzte und ausschlaggebende zu betrachten. Für die Christen wurde der Göttliche Wille für ein und alle Mal durch Christus geoffenbart. Alle anderen Propheten sind zumindest nicht gleichbedeutend, wenn nicht falsch. Trotz der Lehren des Korans erhebt der durchschnittliche Nachfolger Mohammeds denselben Anspruch für den Islam. Der Mensch brauchte lange Zeit, um sich klar zu machen, daß die Schöpfung im ursächlichen Zusammenhang steht, und es wird ihn einige Zeit kosten, zu erkennen, daß göttliche Offenbarung fortdauernd ist.

Für den Wissenschaftler besteht jedoch das Problem nicht in der fortschreitenden Offenbarung, sondern in der Offenbarung selbst. Wie können wir die unmittelbar geoffenbarte Erkenntnis des Propheten mit dem wissenschaftlichen Denken in Übereinstimmung bringen? Die intuitive Erkenntnis des Mystikers bereitet einige Schwierigkeiten, aber, wie wir sehen werden, sind sie unbedeutend, wenn sie mit der geoffenbarten Erkenntnis des Propheten verglichen werden.


Prophetische Religion und Mystizismus

In Worten von Heiler ausgedrückt: „Mystizismus und die Religion der Offenbarung sind zwei einander entgegengesetzte Richtungen der echten Frömmigkeit, die sich in der Geschichte ständig abstoßen und ständig zueinander hingezogen fühlen.“

Die prophetische Religion wird von dem Gedanken beherrscht, daß der Göttliche Wille der Menschheit von einem großen geistigen Genius oder von einem Propheten wie Christus und Mohammed geoffenbart wird. Wenn der Prophet erscheint, wird die Welt immer geistig wiederbelebt. Er kann auch neue Sozialgesetze bringen wie beim Judentum, oder Er betont besonders die geistige Entwicklung des Einzelmenschen wie im Falle des Christentums. In jedem Falle wird das übersinnliche Göttliche dem Menschen durch den Propheten, der ein Vermittler ist, verkündet. Er ist der Schöpfer der Welt der Werte. Wenn wir den Vorschriften des Propheten folgen und versuchen, Ihn zu verstehen und gleich Ihm zu werden, werden wir wiedergeboren und ohne diese Wiedergeburt ist die Religion von nur geringem Wert.

Der Mystizismus, zumindest in seiner extremen und letzten Form behauptet, daß durch Meditation und Versenkung der Mensch in die Gegenwart des unendlichen Gottes gelangen und in die unendliche Einheit der Gottheit aufgenommen werden kann. Im weitesten Sinne ist jedermann, der sich des ihm innewohnenden Geistes Gottes bewußt ist, ein Mystiker, aber wir müssen diese Bezeichnung in einem engeren Sinne anwenden, In Wirklichkeit handelt es sich hier um den modernen Mystiker, der das Asketentum völlig abgetan hat, aber die Lehre weiter vertritt, daß ein Teil des Göttlichen Seins im Menschen existiert und der glaubt, daß der Mensch in die Gegenwart Gottes gelangen kann. Er glaubt auch, daß göttliche Offenbarung der Menschheit durch den Mystiker ebensogut wie durch den Propheten verkündet [Seite 37] werden kann, d. h. der Göttliche Wille kann ebenso dem Menschen wie dem Propheten geoffenbart werden. Für die meisten dieser modernen Mystiker unterscheidet sich der Mensch vom Propheten nur im Grad und nicht in der Art. Im großen ganzen gesehen, haben wir es also mit zwei Arten von geoffenbarter Erkenntnis zu tun: der Art, die durch den Propheten verkündet wird und die unmittelbar und unabhängig von geistigen Übungen und Überlegungen ist und der Art, die der Mystiker im Zeitpunkt der Meditation, besonders im Zustand der Ekstase oder Vision, gewinnt.


Geoffenbarte Erkenntnis des Mystikers

Wir wollen die geoffenbarte Erkenntnis des Mystikers zuerst betrachten, da sie der intuitiven Erkenntnis des Wissenschaftlers näher steht. Zu Anfang wollen wir im Auge behalten, daß Bahá’u’lláh den Anspruch zurückweist, daß der Mensch ein Teil der Göttlichen Wesenheit sei und daß der Mensch unmittelbar die Gegenwart Gottes erfahren könnte. Damit sind zwei umfangreiche Steine des Anstoßes für den Wissenschaftler beseitigt, denn sicherlich würde kein Wissenschaftler beistimmen, daß der Mensch ein Teil Gottes sei, noch daß der Mensch unmittelbar die Unendlichkeit erfahren könnte, d. h. in die Gegenwart Gottes gelangen würde. Bahá’u’lláh erinnert uns auch daran, daß des Menschen innere Einsicht oder Intuition nicht unfehlbar ist. Dies bezieht sich sowohl auf die geoffenbarte Erkenntnis des Mystikers als auch auf die intuitive Erkenntnis des Wissenschaftlers. Der Mystiker und der mystische Philosoph sind sich dessen bewußt. Russell sagt dazu: „Über die Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Welt des Mystikers weiß ich nichts. Ich habe nicht die Absicht, sie abzuleugnen noch zu erklären, daß die Einsicht, die sie offenbart, nicht eine wahre Einsicht sei. Was ich aber unbedingt feststellen möchte — und dieser Punkt macht eine wissenschaftliche Einstellung unbedingt erforderlich — ist, daß Einsicht, unüberprüft und unbewiesen, eine ungenügende Garantie für die Wahrheit ist, trotz der Tatsache, daß ein großer Teil der wichtigsten Wahrheiten sich dieses Mittels bedient, um in Erscheinung zu treten.“ James erinnert uns, daß „der Mystik angehörende Momente noch keinen endgültigen Beweis darstellen, nur weil sie eben mystische Zustände sind“. Underhill drückt sich in ähnlicher Weise aus.

Die Mehrheit der modernen Mystiker befaßt sich in erster Linie mit der geistigen Entwicklung des Einzelmenschen, und wir müssen zugeben, daß sie da Erfolg hatten, wo die organisierte Religion versagt hat. Es stimmt, daß es durch die Selbsteinkehr Menschen (sehr wenigen Menschen) möglich war, ihr eigenes Wesen und Benehmen zu verbessern, aber es ist ebenso wahr, daß der Mystizismus keine Lösung für unsere brennenden sozialen Probleme hat. Eine kleine Minderheit fühlt, daß neue Sozialgesetze auserwählten Menschen geoffenbart werden können und sich offenbaren werden und daß auf diese Weise eine neue Weltordnung geschaffen wird. Obgleich der Mystizismus einen beträchtlichen Einfluß auf die prophetischen Religionen ausgeübt hat, deutet die Geschichte nicht an, daß die schöpferische Kraft hinter den großen religiösen Bewegungen in erster Linie auf den Mystizismus zurückzuführen wäre. Die Gesamtwirkung aller großen [Seite 38] Mystiker der Christenheit zusammen ist sicher klein im Vergleich zu der Wirkung, die von den Anhängern der primitiven Kirche ausging, die von dem Begründer der Christenheit inspiriert wurden. Das gleiche kann vom Islam gesagt werden.


Wissenschaft und geistige Erfahrung

Wir wollen einen Augenblick vom Thema abschweifen, um dem geistig eingestellten Einzelmenschen das Wort zu reden, der keine außerordentlichen Ansprüche für seine inneren Erfahrungen stellt.

Aus dem oben Gesagten dürfen wir nun nicht folgern, daß alle jene inneren Erfahrungen, die wir unserem geistigen Leben verdanken, Illusionen sind oder Auswirkungen unserer Gefühlswelt. Wir können nicht endgültig sagen, daß die Liebe, das Vertrauen und der Glaube, die wir in unserer Verehrung Gottes empfinden, rein persönlichen Charakter hätten.

Wenn der Wissenschaftler uns sagt, daß die inneren Empfindungen, die wir unserem geistigen Leben verdanken, keine objektive Gültigkeit hätten, so vergißt er offensichtlich, daß er sich niemals um die Gültigkeit anderer innerer Erfahrungen kümmert. Sollte die Wissenschaft die Gültigkeit der ästhetischen Wertschätzung in Frage stellen, so wie sie es manchmal mit der Gültigkeit der Religion tut, so müßten wir daraus schließen, daß das ästhetische Gefühl, das wir empfinden, wenn wir z.B. von einer herrlichen Symphonie erhoben sind, eine reine Illusion ist. Der Anblick einer bestimmten Farbe kann in uns ein Gefühl erwecken, das wir weder messen noch beschreiben können, dennoch verleugnen wir sein Bestehen nicht. Bei der Farbanalyse allerdings behandelt der Physiker die Farben wie andere Gegenstände der Sinneswahrnehmung, doch während er die Farben in dieser Weise betrachtet, denkt er nicht an die ästhetische Wertschätzung. Die Schönheit, die empfunden wird, ist etwas, was jenseits der Physik ist. Andererseits ist wahrscheinlich kein Wissenschaftler gegenüber der ästhetischen Wertschätzung so gleichgültig, daß er das Gefühl für Schönheit völlig entbehrt. Es stimmt, daß viele Versuche gemacht wurden, eine Art ästhetischen Maßstab zu schaffen, aber es ist ebenso wahr, daß diese Versuche von schöpferischen Künstlern, die ästhetische Wertschätzung und auch wissenschaftliche Kenntnisse besitzen, streng gerügt wurden.

Der Leser wird wahrscheinlich dem zustimmen, daß Werte, wie Schönheit, Gerechtigkeit und Gnade, einer Welt jenseits unserer Raum-Zeit-Begriffe der Wissenschaft angehören. Wenn wir versuchen, geistige Erfahrungen wertmäßig festzulegen, dürfen wir nicht vergessen, daß diese vielleicht auch aus einer Welt jenseits der Wissenschaft kommen. Zugegeben, es gibt viele Gründe, aus denen heraus ein Skeptiker den sachlichen Wert einer geistigen Erfahrung ablehnt, eines Schönheitsgefühls jedoch gelten läßt. Einer davon ist sicherlich die Tendenz zur Abnormität. Während die Theoretiker diesen Faktor stark übertrieben haben, bleibt doch oft genügend davon übrig, um gesund denkende Menschen davon abzuhalten, sich dem Geistigen zuzuwenden. Dies trifft besonders auf die evangelische Art der Frommheit zu. Der größte Hinderungsgrund ist natürlich das Gemisch von Aberglauben und unverbürgten Praktiken, an die wir stets im Zusammenhang mit religiöser Orthodoxie denken. Dies ist die [Seite 39] störendste Erscheinung, die die Mehrzahl der denkenden Menschen sowie die Wissenschaftler davor zurückschrecken läßt, die Wirklichkeit der Religion zu untersuchen. Vor vielen Jahren sagte James, als er von der Geschichte der Religion sprach: „Es liegt in der Luft und ein Gerücht geht um, daß die Religion wahrscheinlich nur ein Anachronismus, eine Art ‚Überbleibsel‘, ein atavistischer Rückfall in die Gedankenwelt ist, der die Menschheit in ihren mehr erleuchteten Vorbildern entwachsen ist ...“.

Sogar die alten Benennungen, die wir nicht ganz abtun können, stellen oft eine Schranke für viele dar, die eine mit der Vernunft übereinstimmende Religion suchen, eine Religion, die sich mit dem wissenschaftlichen Zeitalter in Einklang bringen läßt. Der geistig eingestellte Wissenschaftler (und vielleicht der schöpferische Genius) könnten das „numinous“ von Rudolf Otto bereitwilliger anerkennen als den Heiligen Geist einer prophetischen Religion.


Die geoffenbarte Erkenntnis des Propheten

Wir haben kurz die geoffenbarte Erkenntnis des Mystikers betrachtet, die wie die intuitive Erkenntnis der Künstler manchmal vom Wege abirrt. Nun müssen wir uns mit der geoffenbarten Erkenntnis des Propheten beschäftigen, die höherer Ordnung ist. Die Erkenntnis des Propheten ist unfehlbar und bedarf deshalb keiner Überprüfung. Wie wir schon zu Beginn ausgeführt haben, steht der Wissenschaftler dieser Art von Erkenntnis zweifelnd gegenüber. Für ihn und für den Laien, der ihm zu folgen versucht, gibt es überhaupt nichts in unseren wissenschaftlichen Erfahrungen, das der unmittelbar geoffenbarten Erkenntnis des Propheten gleichzusetzen wäre. Im tiefsten Grunde stimmt dies vielleicht, aber man kann das Problem auch noch von einer anderen Seite her anfassen.

Zuerst wollen wir jedoch darauf hinweisen, daß ein wissenschaftliches Suchen nach geoffenbarter Wahrheit etwa genau so nutzlos ist wie ein wissenschaftliches Suchen nach Schönheit. Man muß das Gefühl für Schönheit erfahren haben, bevor man danach sucht. Die Werte sind da, bevor Betrachtungen über sie angestellt werden. Aus diesem Grund müßte man mindestens etwas Beachtung oder Wertschätzung für die geoffenbarte Wahrheit aufbringen, bevor man an ihre Untersuchung geht.

Es wird manchmal behauptet, daß, wenn der Wissenschaftler seine Untersuchungen lang genug fortsetzen würde (was immer das heißen mag), er Gott entdecken würde. Das mag stimmen, aber der Gott, den er findet, wird nicht der historische Gott der prophetischen Religion sein, der sich den Menschen durch einen Propheten wie Bahá’u’lláh offenbart. Würde er die weltliche und religiöse Geschichte untersuchen, würde er vielleicht besser fahren, aber seine Aussichten sind trotzdem schlecht. Er kann zu der Schlußfolgerung kommen, daß alle Religionen gleich wahr sind, und keine wirklich falsch ist. Aber zu dem Zeitpunkt, da er auf dieser Stufe seiner Untersuchungen angekommen ist, wird das göttliche Element sich wahrscheinlich verflüchtigt haben. Zumindest ist dies das häufigste Ergebnis. Es ist auch denkbar, daß er aus allem schließt, daß jede Religion im Ursprung göttlich ist, aber das ist von einem Wissenschaftler, sogar einem hypothetischen [Seite 40] Wissenschaftler, beinahe zuviel verlangt.

Der Fall ist jedoch aus zwei Gründen nicht hoffnungslos. Erstens erhielt die Menschheit in unseren Tagen Kenntnis von der geoffenbarten Wahrheit; und zweitens glaube ich, daß wir aufzeigen können, daß die geoffenbarte Wahrheit unseren Erfahrungen nicht fremd gegenübersteht. Die historische Tatsache, daß Bahá’u’lláh in unserem Zeitalter einen göttlichen Glauben gebracht hat, der auf gleicher Ebene mit unseren wissenschaftlichen Fortschritten steht, macht es uns möglich, unsere Untersuchungen in leichter verständlicher Weise aufzubauen. Wenn der Wissenschaftler die Lehrsätze dieses Glaubens, der nun den ganzen Erdball umspannt, prüft, und wenn er das Leben der Gründer unvoreingenommen studiert, so wird er entdecken, daß göttliche Offenbarung mit wissenschaftlichem Denken nicht unvereinbar ist.

Wir wollen uns nun dem Problem der Erfahrung zuwenden, genauer gesagt, dem Problem der vollkommenen Erfahrung oder der allumfassenden Erfahrung.


Offenbarung und Erfahrung

Der durchschnittlich intelligente, denkende Mensch, der von den wissenschaftlichen Methoden beeinflußt ist, wird es schwierig, wenn nicht unmöglich finden, zu glauben, daß die Manifestation Gottes oder eines Propheten das Gewissen, die Gedankenrichtung oder die Denkart der Mehrheit der Menschheit völlig ändern kann. Er wird es auch für schwierig halten, zu glauben, daß Gesetze und Grundlagen für eine neue Sozialordnung jemals der Menschheit durch einen religiösen Genius geoffenbart werden könnten. Zu gleicher Zeit ist er sich undeutlich bewußt, daß die bestehenden Ideologien niemals Frieden und Harmonie herbeiführen können. Der Zwiespalt mag von der engbegrenzten Auslegung des Wortes „Erfahrung“ herrühren. Wenn wir uns auf die wissenschaftliche Methode beschränken, den Propheten zu erfassen, so müssen wir einsehen, daß es nichts in unserer Erfahrung gibt, das mit der geoffenbarten Wahrheit übereinstimmt. Und doch gibt es im tiefsten Grunde auch nichts in unserer Erfahrung, das mit der wissenschaftlichen Wahrheit übereinstimmen würde. Die Wissenschaft versagte, die ursächliche Wirklichkeit der Natur durch mechanische Modelle zu erklären, was mit der Aussage gleichbedeutend ist, daß die Wissenschaft versagt hat, die Natur mit Vorbildern aus unserer Erfahrung zu erklären. Außerdem sind die Gleichnisse der Mathematik für die Erfahrung des durchschnittlichen Lesers genau so irreführend wie der Begriff der Offenbarung.

Der Genauigkeit halber muß gesagt werden, daß es eine ursächliche Wirklichkeit in der physikalischen Welt gibt, und wir zeichnen Diagramme und konstruieren Modelle, um sie darzustellen, aber wir können nicht beweisen, daß diese Nachahmungen tatsächlich der Wirklichkeit entsprechen. Wir können mit unserer Einbildungskraft ein wissenschaftliches Modell bauen, um eine gegebene Erscheinung nachzuahmen, aber wenigstens heutzutage behaupten wir nicht, daß dieses Modell wirklich die Erscheinung erklärt. Die Wissenschaft befaßt sich mit der Welt der Erscheinungen, und das Beste, was wir tun können, ist, daß wir unsere Erkenntnisse von dieser Welt in einer Art symbolischer Sprache [Seite 41] ausdrücken, die den meisten von uns fremd ist. Wie wir schon angedeutet haben, erfassen wir die uns umgebende Welt nur durch Folgerungen. Wissenschaftliche Gesetze und Grundlagen können nicht unmittelbar aufgenommen werden wie die Werte, d.h. Schönheit, Gerechtigkeit und Güte.

Der Gedanke der geoffenbarten Wahrheit ist uns nicht so unverständlich, wenn wir im Sinne von vollkommener Erfahrung und nicht nur von Erfahrung in der Welt der Wissenschaft denken. Wenn wir uns der Welt der Werte zuwenden, der Welt der Kunst, Musik und Literatur, sehen wir, daß die Schöpfungen und Grundlagen der Beurteilung uns von inspirierten Menschen und nicht durch wissenschaftliche Methoden gegeben werden. Diese schöpferischen Persönlichkeiten offenbaren uns ästhetische Werte. Die Sprache der Welt der Werte ist nicht die unvertraute symbolische Sprache der Wissenschaft, sondern die uns mehr liegende Sprache von Farbe, Form, Rhythmus und Harmonie.

Wir alle kennen diese Art von geoffenbarter Erkenntnis. Sie ist für unsere Erfahrung nicht wirklich fremd. Wir wissen weiterhin von der Nutzlosigkeit, irgendeine wissenschaftliche Untersuchungsart auf die ästhetischen Werte anwenden zu wollen. Der Genauigkeit halber muß gesagt werden, daß dies getan wurde, aber die Ergebnisse waren sicherlich nicht sehr überzeugend. Wir werten die Kunst Leonardos, die Musik Beethovens oder den Stil Shakespeares nicht nach unseren Erfahrungen, die wir in der wissenschaftlichen Welt gesammelt haben. Können wir die geoffenbarte Erkenntnis des Propheten nicht genau so einschätzen, wie wir die geoffenbarte Erkenntnis des Künstlers oder Musikers werten? Es stimmt, daß die Menschen im Bereich der ästhetischen Werte nicht zum Schwert oder der Brandfackel greifen, aber es ist auch wahr, daß im Bereich der ästhetischen Werte eine vollkommene Umformung der Gesellschaft nicht erreicht wurde. Um es noch anschaulicher zu machen, im Bereich der Kunst erleiden wir zur Zeit einen Rückschlag, aber nichts deutet darauf hin, daß deshalb ein Blutvergießen erfolgen würde. Sollte ein großer schöpferischer Genius erscheinen und uns neue Werte in der Kunst schenken, so ist es höchst unwahrscheinlich, daß er verfolgt werden würde. Sollte er jedoch zu gleicher Zeit einige soziale Reformen durchzuführen versuchen, wissen wir alle, was passieren würde. Ein Genius in der Literatur mag keinen vorbildlichen Charakter haben, er mag sogar einen sehr schlechten Charakter besitzen, so anerkennen wir doch seine Werke wegen des ihnen innewohnenden Wertes.

Der Prophet muß sich notgedrungen mit der gröberen und feineren Veranlagung des Menschen abgeben. Alles was klein, verächtlich und wild ist, tritt an die Oberfläche, aber das bedeutet keineswegs, daß seine Arbeit weniger verdienstvoll ist als die eines Offenbarers neuer Kunstwerte. Sollte der Prophet die verderblichen Anzeichen einer zerfallenden Sozialordnung übersehen und nur die geistige Entwicklung des Einzelmenschen predigen, würde er niemals verfolgt werden, aber auch keine soziale Gerechtigkeit errichten können. Der Bahá’i-Glaube hatte bei der Ausmerzung der Rassenfeindschaft, des Nationalhasses und der Klassenunterschiede Erfolg, während die menschenfreundlichen Bewegungen und älteren Glaubenslehren versagt haben. Der Bahá’i-Glaube hat [Seite 42] das Leben jedes einzelnen seiner Anhänger umgeformt. Jedoch wurde all dies nicht ohne das Opfer von über zwanzigtausend Märtyrern erreicht. Der Beweis für die Botschaft eines schöpferischen Künstlers ist der Künstler selbst und dann seine Schöpfung und dasselbe trifft auf den Propheten zu. Bahá’u’lláh sagt: „Das erste und wichtigste Zeugnis, Seine Wahrheit festzustellen, ist Sein eigenes Selbst. Diesem Zeugnis folgt als nächstes Seine Offenbarung.“ Die Erscheinung einer Manifestation Gottes in unseren Tagen ist ein historisches Ereignis, das nicht übersehen werden kann, aber wir können hier nicht einmal einen kurzen Blick auf diesen weltumspannenden Glauben werfen. Unsere Absicht ist, zu zeigen, daß die Vorstellung einer göttlichen Offenbarung unserem Erfahrungsbereich nicht völlig fremd ist, vorausgesetzt, daß wir die Erfahrung in umfassender und alle Gebiete einschließender Weise verstehen. In Wirklichkeit verdanken wir alle neuen Erkenntnisse einer Offenbarung, aber Offenbarung in ihrer Vollkommenheit kann nur in prophetischen Religionen gefunden werden.

In Worten von Bahá’u’lláh ausgedrückt: „Zu welchen Höhen der Geist des Erhabensten der Menschen sich aufschwingen mag, wie groß die Tiefen auch immer sein mögen, die ein losgelöstes und verstehendes Herz zu durchdringen vermag, so können ein solcher Geist und ein solches Herz doch niemals das übertreffen, was die Schöpfung ihrer eigenen Vorstellungskraft und das Produkt ihrer eigenen Gedanken ist. Die Überlegungen des größten Denkers, die Ergebenheit des Heiligsten der Heiligen und der höchste Ausdruck des Lobes von menschlicher Feder oder Zunge sind nur eine Widerspiegelung dessen, was durch die Offenbarung des Herrn, ihres Gottes in ihnen selbst erschaffen wurde.“


*) Aus dem Englischen übertragen von Anneliese Bopp.



ÄHRENLESE AUS DEN SCHRIFTEN VON BAHA’U'LLAH[Bearbeiten]

Nach der englischen Übersetzung von Shoghi Effendi (New York, Bahá’i Publishing Committee 1935) ins Deutsche übertragen.

(Fortsetzung)


LXVIII. O du, der du die Frucht Meines Baumes und dessen Blatt bist! Auf dir sei Meine Herrlichkeit und Mein Erbarmen. Lasse dein Herz nicht traurig sein um dessetwillen, was dich befiel. Wenn du die Seiten des Buches des Lebens sorgfältig prüftest, entdecktest du bestimmt, was deine Sorgen zerstreuen und deinen Schmerz lösen würde.

Wisse, o Frucht Meines Baumes, daß die Vorsehungen des höchsten Verordners hinsichtlich Schicksal und Vorbestimmung zweierlei Art sind. Beide müssen befolgt und angenommen werden. Die eine ist unabänderlich, die andere ist, wie die Menschen es nennen, schwebend. Der ersteren müssen sich alle uneingeschränkt unterwerfen, da sie festgesetzt und festverordnet ist. Gott kann sie indessen ändern oder widerrufen. Da der Schaden, der aus einer solchen Änderung folgen muß, aber größer wäre, als wenn der Ratschluß unverändert bliebe, sollten sich alle willig in das schicken, was Gott gewollt hat und zuversichtlich dabei bleiben. [Seite 43]

Durch Gebet und Flehen kann es indessen gelingen, die schwebende Verordnung abzuwenden.

Gott gebe, daß du, der du die Frucht Meines Baumes bist, und jene, die mit dir verbunden sind, vor ihren üblen Folgen behütet werden.

Sprich: O Gott, mein Gott! Du hast ein Pfand von Dir in meine Hand gelegt und es nach dem Gefallen Deines Willens nun wieder zu Dir zurückgenommen. Es steht mir, Deiner Dienerin, nicht zu, zu fragen, warum mich dies ereilen mußte und wofür es geschah, weil Du in all Deinem Tun verherrlicht wirst und wir uns in Deinen Ratschluß fügen müssen. Deine Dienerin, o mein Herr, hat ihre Hoffnungen auf Deine Gnade und Güte gesetzt. Gewähre, daß sie das erreichen möge, was sie Dir nahebringt und ihr in jeder Deiner Welten zum Nutzen gereicht. Du bist der Vergebende, der Allgütige. Es ist kein Gott außer Dir, dem Verordner, dem Urewigen Tag.

O Herr, mein Gott, gewähre Deine Segnungen denen, die den Wein Deiner Liebe vor dem Angesicht der Menschen getrunken und ungeachtet Deiner Feinde Deine Einigkeit anerkannt, für Deine Einheit gezeugt und ihren Glauben zu dem bekannt haben, was die Glieder der Bedrücker unter Deinen Geschöpfen erbeben ließ und das Fleisch der Stolzen der Erde zittern machte. Ich bezeuge, daß Deine Herrschaft nie vergehen und Dein Wille nie gewandelt werden können. Verordne für die, welche ihr Angesicht auf Dich gerichtet, und für Deine Dienerinnen, die sich an Deinem Seile festgehalten haben, was dem Weltmeer Deiner Güte und dem Himmel Deiner Gnade geziemt.

Du bist Der, o Gott, der sich zum Herrn des Reichtums erklärte und alle, die Ihm dienen, als arm und bedürftig bezeichnet hat. So wie Du schriebst: „O ihr, die ihr glaubt! Ihr seid nur Almosenempfänger, die Gottes bedürfen; aber Gott ist der Allbesitzende, der Allgepriesene.“ Da ich meine Armut bekannt und Deinen Reichtum anerkannt habe, lasse mich nicht der Herrlichkeit Deiner Reichtümer beraubt sein. Du bist wahrlich der höchste Beschützer, der Allwissende, der Allweise.

LXIX. Rufe dir das Verhalten von Ashraf’s Mutter ins Gedächtnis zurück, deren Sohn sein Leben im Lande Zá (Zanján) dahingab. Er befindet sich wahrlich am Sitz der Wahrheit, in der Gegenwart Dessen, der der Machtvollste, der Allmächtige ist,

Als die Ungläubigen so ungerechterweise ihn zu töten beschlossen, ließen sie seine Mutter rufen, daß sie ihn vielleicht warnen und veranlassen sollte, seinen Glauben zu widerrufen und den Fußstapfen derer zu folgen, die die Wahrheit Gottes, des Herrn aller Welten, verwarfen.

Kaum hatte sie das Antlitz ihres Sohnes erblickt, als sie solche Worte zu ihm sprach, daß die Herzen derer, die Gott lieben, und über sie hinaus jene der himmlischen Heerscharen laut wehklagten und von heftigem Schmerz ergriffen wurden. Wahrhaftig, der Herr weiß, was Meine Zunge spricht. Er bezeugt Meine Worte.

Und als sie sich an ihn wandte, sagte sie: „Mein Sohn, mein eigener Sohn! Versäume nicht, dich auf dem Pfade deines Herrn zu opfern. Hüte dich, daß du deinen Glauben an Ihn, vor dessen Angesicht sich alle, die in den Himmeln und auf Erden sind, in Anbetung niederbeugen, nicht verrätst. Geh geradewegs [Seite 44] voran, o mein Sohn, und harre aus auf dem Pfade des Herrn, deines Gottes. Beeile dich, die Gegenwart Dessen zu erreichen, der der Vielgeliebte aller Welten ist.“

Auf ihr seien Meine Segnungen und Mein Erbarmen und mein Lob und Meine Herrlichkeit. Ich Selbst werde den Verlust ihres Sohnes aufwiegen — eines Sohnes, der nun in der Stiftshütte Meiner Majestät und Meiner Herrlichkeit wohnt und dessen Angesicht in einem Licht erstrahlt, das mit seinem Glanz die Himmelsdienerinnen in ihren himmlischen Gemächern und über sie hinaus die Mitbewohner Meines Paradieses und die Bürger der Städte der Heiligkeit umhüllt. Würde irgend jemandes Auge in sein Angesicht blicken, so würde derjenige ausrufen: „Siehe, dies ist kein anderer als ein erhabener Engel!“

LXX. Das Gleichgewicht der Welt ist durch den schwingenden Einfluß dieser größten, dieser neuen Weltordnung ins Wanken gekommen. Der Menschheit geordnetes Leben ist durch das Wirken dieses einzigartigen, dieses wundersamen Planes, desgleichen menschliche Augen niemals vordem schauten, in Aufruhr geraten.

Versenkt euch in das Meer Meiner Worte, damit ihr seine Geheimnisse ergründen und die Perlen der Weisheit entdecken möget, die in seinen Tiefen verborgen liegen. Hütet euch, daß ihr nicht schwankend werdet in eurem Entschluß, die Wahrheit dieser Sache anzunehmen — einer Sache, durch welche die Möglichkeiten der Macht Gottes enthüllt wurden und Seine höchste Herrschaft errichtet worden ist. Mit freudestrahlendem Angesicht eilet zu Ihm. Dies ist der unveränderliche Glaube Gottes, ewig in der Vergangenheit, ewig in der Zukunft. Lasset den, der da sucht, zu ihm gelangen. Was aber den betrifft, der ihn zu suchen verschmähte — wahrlich, Gott ist selbstgenügend und hoch über jedem Bedürfnis Seiner Geschöpfe.

Sprich: Dies ist die untrügliche Waage, die Gott in Seinen Händen hält, auf der alle, die in den Himmeln und auf Erden sind, gewogen werden und auf der ihr Schicksal bestimmt wird — so ihr zu denen gehört, die glauben und diese Wahrheit erkennen. Sprich: Durch sie sind die Armen bereichert, die Gelehrten erleuchtet und die Suchenden befähigt worden, zur Gegenwart Gottes hinanzusteigen. Hütet euch, daß ihr sie nicht zur Ursache der Zwietracht unter euch macht. Stehet so fest wie ein unverrückbarer Berg in der Sache eures Herrn, des Mächtigen, des Liebenden.

LXXI. Seid nicht bestürzt, o Völker der Welt, wenn die Sonne Meiner Schönheit untergegangen und der Himmel Meines Heiligtums vor euren Augen verhüllt sein wird. Erhebt euch, um Meine Sache zu fördern und Mein Wort unter den Menschen zu erhöhen. Wir sind mit euch zu allen Zeiten und werden euch durch die Kraft der Wahrheit stärken. Wir sind wahrhaft allmächtig. Wer immer Mich erkannt hat, wird sich erheben und Mir mit solcher Entschiedenheit dienen, daß die Mächte der Erde und des Himmels unfähig sind, seine Absicht zu vereiteln.

Die Völker der Welt liegen in tiefem Schlaf befangen. Würden sie von ihrem Schlummer erwachen, so würden sie mit Begierde zu Gott eilen, dem Allwissenden, dem Allweisen. Sie würden alles beiseite werfen, was sie besitzen, und wären es alle Schätze der Erde, damit ihr Herr ihrer gedenken möge, und sei [Seite 45] es auch nur in dem Maße, daß Er ein einziges Wort an sie richtet. Das ist die Unterweisung, die Er, der die Erkenntnis verborgener Dinge besitzt, euch in einem Tablet gab, das das Auge der Schöpfung nicht erblickte und das keinem außer Seinem eigenen Selbst, dem allmächtigen Schirmherrn aller Welten, enthüllt ist. Sie sind so verwirrt in der Trunkenheit ihrer verderbten Wünsche, daß sie machtlos sind, den Herrn alles Seins zu erkennen, dessen Stimme laut aus jeder Richtung ruft: „Es ist kein Gott außer Mir, dem Mächtigen, dem Allweisen.“

Sprich: „Freuet euch nicht der Dinge, die ihr besitzet. Heute nacht sind sie euer, morgen werden andere sie besitzen. Also warnt euch Der, welcher der Allwissende, der Allunterrichtete ist. Sprich: Könnt ihr verlangen, daß das, was ihr besitzt, bleibend oder sicher sei? Nein! Bei Mir, dem Allbarmherzigen! Die Tage eures Lebens fliehen dahin wie ein Windhauch, und all eure Pracht und Herrlichkeit wird vergehen gleich der Pracht und Herrlichkeit jener, die vor euch waren. Überlegt, o Menschen! Was ist aus euren vergangenen Tagen geworden, euren verlorenen Jahrhunderten? Glücklich die Tage, die dem Gedenken Gottes gewidmet waren, und gesegnet die Stunden, die im Lobpreis Seiner, des Allweisen, verbracht worden sind. Bei Meinem Leben! Weder die Pracht der Mächtigen noch der Wohlstand der Reichen noch selbst die Überlegenheit der Gottlosen werden dauern. Alles wird durch ein Wort von Ihm vergehen. Er ist wahrlich der Allmachtvolle, der Allzwingende, der Allmächtige. Was für ein Vorteil liegt in den irdischen Dingen, die die Menschen besitzen? Das, was sie fördern sollte, haben sie völlig vernachlässigt. Binnen kurzem werden sie von ihrem Schlummer erwachen und sich außerstande sehen, das zu erreichen, was ihnen in den Tagen ihres Herrn, des Allmächtigen, des Allgepriesenen, entgangen ist. Wüßten sie es nur, so würden sie allem entsagen, damit ihre Namen vor Seinem Thron Erwähnung fänden. Sie werden wahrlich unter die Toten gerechnet.

LXXII. Lasset eure Herzen nicht beunruhigt werden, o Menschen, wenn die Herrlichkeit Meiner Gegenwart zurückgezogen und das Meer Meiner Äußerung verebbt sein wird. In Meiner Gegenwart bei euch liegt eine Weisheit und in Meiner Abwesenheit liegt eine andere, die für alle unergründlich ist, außer Gott, dem Unvergleichlichen, dem Allwissenden. Wahrlich, Wir schauen euch von Unserem Reiche der Herrlichkeit aus und werden dem, der sich für den Sieg Unserer Sache erhebt, beistehen mit den himmlischen Heerscharen und einer Menge Unserer begünstigten Engel.

O Völker der Erde! Gott, die Ewige Wahrheit, ist Mein Zeuge, daß sich durch die Süße der Worte, die euer Herr, der Unbezwungene, geäußert hat, Ströme frischen und sanftfließenden Wassers von den Felsen ergossen haben, — und noch immer schlummert ihr. Werfet beiseite, was ihr besitzet, und erhebt euch auf den Flügeln der Loslösung über alles Erschaffene. Also gebietet euch der Herr der Schöpfung, der durch die Bewegung Seiner Feder die Seele der Menschheit in Aufruhr gebracht hat.

Wißt ihr, von welchen Höhen euer Herr, der Allherrliche, ruft? Glaubt ihr, daß ihr die Feder erkannt habt, durch welche euer Herr, der Herr aller Namen, euch befiehlt? Nein, bei Meinem Leben! Wenn ihr es nur wüßtet, ihr würdet [Seite 46] der Welt entsagen und würdet mit ganzem Herzen in die Gegenwart des Vielgeliebten eilen. Eure Seelen würden durch Sein Wort so hingerissen werden, daß sie die Größere Welt in Erregung versetzen — wieviel mehr diese kleine und geringe! Also sind die Schauer Meiner Freigebigkeit als ein Zeichen Meiner Gnade aus dem Himmel Meiner liebenden Güte herabgeströmt, damit ihr unter den Dankbaren seid... .

Hütet euch, auf daß nicht die Begierde des Fleisches und böse Neigung Spaltungen unter euch hervorrufe! Seid wie die Finger einer Hand, die Glieder eines Körpers. Also rät euch die Feder der Offenbarung — wenn ihr zu denen gehört, die glauben.

Betrachtet die Gnade Gottes und Seine Gaben. Er auferlegt euch, was euch nützen soll, obschon Er selbst aller Geschöpfe wohl entbehren kann. Eure bösen Taten können Uns niemals schaden, noch können eure guten Werke Uns nützen. Wir fordern euch ausschließlich um Gottes willen auf. Das wird jeder klarsehende und erkennende Mensch bezeugen.

LXXIII. Wenn die Schleier zerrissen sind, welche die Wirklichkeiten der Offenbarungen der Namen und Eigenschaften Gottes, nein, vielmehr alles sichtbaren und unsichtbaren Erschaffenen verbergen, so ist es klar und einleuchtend, daß nichts außer dem Zeichen Gottes bleiben wird — einem Zeichen, das Er selbst in diese Wirklichkeiten gelegt hat. Dieses Zeichen wird solange bleiben, wie es der Wunsch des Herrn, deines Gottes, ist, des Herrn der Himmel und der Erde. Wenn solches die Segnungen sind, die allem Erschaffenen verliehen wurden, wieviel höher muß dann das Schicksal des wahren Gläubigen sein, dessen Sein und Leben als die grundlegende Absicht aller Schöpfung angesehen werden muß. Genau so wie der Begriff des Glaubens vom Anfang her, der keinen Anfang hat, bestanden hat und bleiben wird bis zum Ende, das kein Ende hat, so wird der wahre Gläubige ewig leben und bleiben. Sein Geist wird unaufhörlich um den Willen Gottes kreisen. Er wird solange bestehen, wie Gott bestehen wird. Er wird offenbar durch die Offenbarung Gottes und wird verborgen auf Sein Geheiß. Es ist einleuchtend, daß die erhabensten Wohnstätten im Reiche der Unsterblichkeit zur Wohnung derer verordnet wurden, die wahrhaft an Gott und Seine Zeichen geglaubt haben. Der Tod kann jenen heiligen Sitz niemals befallen. Also haben Wir dich mit den Zeichen Deines Herrn vertraut gemacht, daß du in deiner Liebe zu Ihm ausharren und zu denen gehören mögest, die diese Wahrheit begreifen.

LXXIV. Ein jegliches Wort, das aus dem Munde Gottes hervorgeht, ist mit solcher Kraft ausgestattet, daß es neues Leben in jede menschliche Hülle flößen kann — so ihr zu denen gehört, die diese Wahrheit erfassen. Alle die wunderbaren Werke, die ihr in dieser Welt schaut, sind durch das Wirken Seines höchsten und erhabensten Willens, Seines wunderbaren und unerschütterlichen Planes enthüllt worden. Durch die bloße Offenbarung des Wortes „Gestalter“, das von Seinen Lippen ausgeht und der Menschheit Sein Attribut kund tut, ist eine Kraft entfesselt, die durch aufeinanderfolgende Zeitalter hindurch all die mannigfachen Künste erzeugen kann, welche die Hand des Menschen hervorzubringen vermag. Dies ist wahrlich eine nicht zu bezweifelnde Wahrheit. Kaum ist dieses widerstrahlende Wort geäußert, da lassen seine belebenden Kräfte, [Seite 47] die sich in allem Erschaffenen regen, die Mittel und Werkzeuge entstehen, durch die solche Künste hervorgebracht und vervollkommnet werden können. All die wunderbaren Werke, deren ihr nun Zeuge seid, sind die unmittelbare Folge der Offenbarung dieses Namens. In kommenden Tagen werdet ihr wahrlich Dinge schauen, von denen ihr zuvor niemals gehört habt. Also ist es auf den Tafeln Gottes verordnet worden und niemand kann es verstehen außer denen, deren Blick klar ist. Genau so wird in dem Augenblick, da das Wort, welches Mein Attribut „der Allwissende“ ausdrückt, aus Meinem Munde hervorgeht, alles Erschaffene je nach seiner Fähigkeit und Begrenzung mit der Macht ausgestattet, die Erkenntnis der erstaunlichsten Wissenschaften zu enthüllen, und ermächtigt, sie im Laufe der Zeit auf das Geheiß Dessen, der der Allmächtige, der Allwissende ist, zu offenbaren. Wisse wahrlich, daß die Offenbarung jedes andern Namens von einer gleichartigen Enthüllung göttlicher Macht begleitet ist. Jeder einzelne aus dem Munde Gottes hervorgehende Buchstabe ist in der Tat ein Mutterbuchstabe, und jedes durch Ihn, den Quell göttlicher Offenbarung, geäußerte Wort, ist ein Mutterwort und Sein Tablet ein Muttertablet. Wohl ist es um die bestellt, die diese Wahrheit erfassen.

LXXV. Reißet in Meinem Namen die Schleier, die euren Blick so schwer getrübt haben, auseinander und vernichtet durch die Kraft, die aus eurem Glauben an die Einheit Gottes geboren ist, die Götzenbilder eitler Nachahmung. Betretet alsdann das heilige Paradies des Wohlgefallens des Allbarmherzigen. Heiligt eure Seelen von allem, was nicht von Gott ist, und kostet die Süße der Ruhe im Bereiche Seiner weiten und mächtigen Offenbarung und unter dem Schatten Seiner höchsten und unfehlbaren Autorität. Lasset euch nicht in die dichten Schleier eurer eigennützigen Wünsche hüllen, da Ich in jedem von euch Meine Schöpfung vollendet habe, auf daß die Vortrefflichkeit Meines Werkes den Menschen völlig enthüllt werde. Es folgt daraus, daß jeder Mensch imstande war und auch fernerhin imstande sein wird, von sich aus die Schönheit Gottes, des Verherrlichten, zu würdigen. Wäre er nicht mit einer solchen Fähigkeit ausgestattet worden, wie könnte er dann für sein Versagen zur Rechenschaft gezogen werden? Wenn an dem Tage, da alle Völker der Erde versammelt werden, ein Mensch in der Gegenwart Gottes gefragt werden sollte: „Warum hast du nicht an Meine Schönheit geglaubt und dich von Meinem Selbst abgewendet?“, und wenn ein solcher Mensch antworten und sagen würde: „Weil alle Menschen irrten und keiner willens gefunden wurde, sein Angesicht der Wahrheit zuzukehren, habe auch ich, ihrem Beispiel folgend, schwer versäumt, die Schönheit des Ewigen zu erkennen“ — so wird eine solche Ausrede bestimmt zurückgewiesen werden, denn keines Menschen Glaube kann durch irgend einen andern als durch ihn selbst bedingt werden.

Das ist eine der Wahrheiten, die in Meiner Offenbarung eingeschlossen liegen — eine Wahrheit, die Ich in allen himmlischen Büchern geoffenbart, die Ich die Zunge der Größe äußern und die Feder der Macht niederschreiben hieß. Denkt eine Weile darüber nach, damit ihr mit eurem innern und äußern Auge die Tiefe göttlicher Weisheit wahrnehmen und die Edelsteine himmlischer Erkenntnis entdecken möget, die Ich in klarer und schwerwiegender Sprache in diesem erhabenen und unzerstörbaren Tablet geoffenbart habe, und damit ihr [Seite 48] nicht weit von dem allerhöchsten Throne abirrt, von dem Baum, über den es kein Hinausgehen gibt, von dem Wohnsitz ewiger Macht und Herrlichkeit.

Die Zeichen Gottes leuchten so offenbar und strahlend wie die Sonne über den Werken Seiner Geschöpfe. Was auch immer von Ihm kommt, ist gesondert und wird sich immer unterscheiden von den Erfindungen der Menschen. Der Quelle Seiner Erkenntnis sind zahllose Leuchten der Gelehrsamkeit und Weisheit entstiegen, und aus dem Paradies Seiner Feder wurde der Odem des Allbarmherzigen ununterbrochen zu den Herzen und Seelen der Menschen geweht. Glücklich sind die, welche diese Wahrheit erkannt haben.

LXXVI. O Mein Diener, höre aufmerksam auf das, was vom Thron deines Herrn, des Unzugänglichen, des Größten, zu dir herabgesandt wird. Es ist kein Gott außer Ihm. Er hat Seine Geschöpfe ins Dasein gerufen, damit sie Ihn, den Mitleidigen, den Allbarmherzigen, erkennen. In die Städte aller Völker hat Er Seine Boten gesandt und Er bevollmächtigte sie, den Menschen die Botschaften des Paradieses Seines Wohlgefallens zu verkünden und sie dem Hafen dauernder Sicherheit, dem Sitz ewiger Heiligkeit und erhabener Herrlichkeit näher zu bringen.

Einige wurden durch das Licht Gottes geleitet, erhielten Zutritt zum Hof Seiner Gegenwart und tranken aus der Hand der Entsagung die Wasser ewigen Lebens und wurden unter die gerechnet, die Ihn wahrhaft erkannt und an Ihn geglaubt haben. Andere lehnten sich gegen Ihn auf und verwarfen die Zeichen Gottes, des Machtvollen, des Allmächtigen, des Allweisen.

Zeitalter gingen dahin, bis sie ihre Vollendung in diesem, dem Herrn der Tage, dem Tag fanden, da die Sonne des Bayán sich am Horizonte der Gnade enthüllte, dem Tag, da die Schönheit des Allherrlichen in der erhabenen Gestalt von ‘Ali-Muhammad, dem Báb, erstrahlte. Kaum hatte Er sich geoffenbart, als sich alle Menschen gegen Ihn erhoben. Von einigen wurde Er als einer hingestellt, der Verleumdungen gegen Gott, den Allmächtigen, den Urewigen Tag, geäußert hat. Andere betrachteten Ihn als einen vom Wahnsinn befallenen Menschen — das ist eine Behauptung, die Ich selbst von den Lippen eines Geistlichen vernommen habe. Noch andere zogen Seinen Anspruch, das Sprachrohr Gottes zu sein, in Zweifel und brandmarkten Ihn als einen, der die Worte des Allmächtigen gestohlen und sie als die seinen gebraucht, der ihre Absicht verdreht und sie mit der seinen vermengt hat. Das Auge der Erhabenheit weint schmerzlich über die Dinge, die ihr Mund geäußert hat, während sie weiter auf ihren Sitzen frohlocken.

„Gott“, sprach Er, „ist Mein Zeuge, ihr Menschen! Ich bin zu Euch gekommen mit einer Offenbarung von dem Herrn, eurem Gott, dem Herrn eurer Vorväter. Schauet nicht, o Menschen, auf das, was ihr besitzet. Schauet vielmehr auf das, was Gott auf euch herabgesandt hat. Das wird sicher besser für euch sein, als die ganze Schöpfung — könntet ihr es doch wahrnehmen! Blicket noch einmal auf, o Menschen, und betrachtet das Zeugnis Gottes und Seinen Beweis, die in eurem Besitze sind, und vergleicht sie mit der an diesem Tag zu euch herabgesandten Offenbarung, auf daß die Wahrheit, die unfehlbare Wahrheit, euch ohne Zweifel enthüllt werde. Folgt, o Menschen, nicht den Spuren des Bösen, folget dem Glauben des Allbarmherzigen und seid unter denen, die wahrhaft glauben. Was [Seite 49] würde es dem Menschen für Nutzen bringen, wenn er versäumte, die Offenbarung Gottes zu erkennen? Nicht den geringsten. Das wird Mein Selbst, der Allmächtige, der Allwissende, der Allweise, bezeugen.“

Je mehr Er sie warnte, desto grimmiger wurde ihre Feindschaft, bis sie Ihn zuletzt in schändlicher Grausamkeit hinrichteten. Der Fluch Gottes sei auf den Bedrückern!

Einige wenige glaubten an Ihn. Wenige Unserer Diener sind die Dankbaren. Diese ermahnte Er in allen Seinen Sendschreiben — nein, vielmehr in jedem Abschnitt Seiner wunderbaren Schriften — sich am Tag der verheißenen Offenbarung nicht etwas Beliebigem, sei es im Himmel oder auf der Erde, ganz hinzugeben. „O Menschen!“ sprach Er, „Ich habe Mich für Seine Manifestation geoffenbart und habe Mein Buch, den Bayán, zu keinem anderen Zweck auf euch herabkommen lassen, als um die Wahrheit Seiner Sache zu begründen. Fürchtet Gott und streitet nicht mit Ihm, wie das Volk des Koran mit Mir gestritten hat. Zu welcher Zeit ihr auch von Ihm hören möget, eilet Ihm entgegen und folget dem, was immer Er euch offenbaren mag. Nichts außer Ihm kann euch jemals nützen, nein, und wenn ihr auch vom ersten bis zum letzten die Zeugnisse all derer beibrächtet, die vor euch waren.“

Und als nach Ablauf einiger Jahre der Himmel göttlichen Ratschlusses gespalten wurde und die Schönheit des Báb in den Wolken der Namen Gottes in ein neues Gewand gekleidet erschien, erhoben sich diese gleichen Menschen arglistig gegen Ihn, dessen Licht alles Erschaffene umfaßt. Sie brachen Sein Bündnis, wiesen Seine Wahrheit zurück, stritten mit Ihm, schmähten Seine Zeichen, betrachteten Sein Zeugnis als eine Lüge und gesellten sich zu der Gesellschaft der Ungläubigen. Schließlich beschlossen sie, Ihm das Leben zu nehmen. Solches ist der Zustand derer, die sich in weitgehendem Irrtum befinden!

Und als sie ihre Ohnmacht in der Erreichung ihres Ziels erkannten, erhoben sie sich, um sich gegen Ihn zu verschwören. Bezeuge, wie sie jeden Augenblick eine neue List ersinnen, um Ihm zu schaden, damit sie die Sache Gottes verletzen und entehren. Sprich: Wehe euch! Bei Gott! Eure Ränke bedecken euch mit Schande. Euer Herr, der Gott des Erbarmens, kann gut aller Geschöpfe entbehren. Nichts, was immer es sei, kann das, was er besitzt, vermehren noch vermindern. Wenn ihr glaubt, so glaubt ihr zu eurem eigenen Vorteil, und wenn ihr nicht glaubt, so werdet ihr selber Schaden erleiden. Zu keiner Zeit kann die Hand des Ungläubigen den Saum Seines Gewandes entweihen.

O Mein Diener, der du an Gott glaubst! Bei der Gerechtigkeit des Allmächtigen! Würde Ich dir die Menge der Dinge, die über Mich kamen, im einzelnen erzählen, so würden die Seelen und Gemüter der Menschen unfähig sein, ihre Wucht zu ertragen. Gott zeugt für Mich. Wache über dich selbst und folge nicht den Fußstapfen dieser Menschen. Denke sorgfältig über die Sache deines Herrn nach. Strebe danach, Ihn durch Sein Selbst und nicht durch andere zu erkennen. Denn keiner außer Ihm kann dir jemals nützen. Alles Erschaffene wird dies bezeugen. O, könntest du es nur wahrnehmen!

Tritt mit der Erlaubnis deines Herrn, des Allherrlichen, des Mächtigsten, hinter dem Schleier hervor und ergreife vor den Augen derer, die in den Himmeln und jener, die auf Erden sind, den Kelch der Unsterblichkeit im Namen [Seite 50] deines Herrn, des Unzugänglichen, des Höchsten, und trinke dich satt und gehöre nicht zu jenen, die zögern. Ich schwöre bei Gott: im Augenblick, da du den Becher mit deinen Lippen berührst, werden die himmlischen Heerscharen dir Beifall rufen und sprechen: „Trinke mit Wohlbehagen, o Mensch, der du wahrhaft an Gott geglaubt hast!“ Und die Bewohner der Städte der Unsterblichkeit werden ausrufen: „Freude sei mit dir, o du, der du den Becher Seiner Liebe geleert hast!“, und die Zunge der Erhabenheit wird dich grüßen: „Groß ist die Seligkeit, die dich erwartet, o mein Diener, denn du hast erreicht, was niemand erreichte außer solchen, die sich von allem, was in den Himmeln und auf Erden ist, gelöst haben und die die Sinnbilder wahrer Loslösung sind.“

LXXVII. Und nun zu deiner Frage über die Erschaffung des Menschen. Wisse, daß alle Menschen in der von Gott, dem Hüter, dem Selbstbestehenden, gemachten Art erschaffen wurden. Jedem ist ein vorbestimmtes Maß, wie es auf Gottes mächtigen und verwahrten Tafeln verordnet wurde, vorgeschrieben. Alles, was ihr an Möglichkeit besitzt, kann jedoch nur als Ergebnis eures eigenen Wollens geoffenbart werden. Eure Taten bezeugen diese Wahrheit. Betrachtet z. B., was den Menschen im Bayán verboten wurde. Gott hat in jenem Buche und auf Sein Geheiß als gültig erklärt, was immer Ihm zu verordnen beliebte und hat durch die Kraft Seiner höchsten Macht verboten, was immer Er zu verbieten geruhte. Das beweist der Text jenes Buches. Wollt ihr es nicht bezeugen? Die Menschen haben jedoch wissentlich Sein Gesetz gebrochen. Ist ein solches Verhalten Gott oder ihrem eigenen Selbst zuzuschreiben? Seid gerecht in eurem Urteil. Jedes gute Ding ist von Gott und jedes böse Ding ist von euch. Wollt ihr es nicht begreifen? Diese Wahrheit ist in allen Schriften geoffenbart — so ihr zu denen gehört, die es erkennen! Jede Handlung, die ihr vorhabt, ist Ihm so offenbar, wie jede Handlung, die ihr bereits vollführt habt. Es ist kein Gott außer Ihm. Er ist die ganze Schöpfung und ihr Reich. Alles steht enthüllt vor Ihm, alles ist in Seinen heiligen und verborgenen Tablets niedergelegt. Dieses Vorherwissen Gottes sollte jedoch nicht so angesehen werden, als hätte es die Handlungen der Menschen hervorgerufen, ebensowenig, wie eure Erkenntnis, daß nämlich ein bestimmtes Ereignis eintreten wird, oder euer Wunsch, daß es geschehen möge, der Grund für sein Geschehen ist und es je sein kann.

LXXVIII. Nun zu deiner Frage über den Ursprung der Schöpfung. Wisse wahrlich, daß Gottes Schöpfung seit Ewigkeit bestanden hat und immer fortbestehen wird. Ihr Anfang hat keinen Anfang gehabt, und ihr Ende kennt kein Ende. Sein Name, „der Schöpfer“, setzt eine Schöpfung voraus, sowie Sein Titel „der Herr der Menschheit“, das Vorhandensein eines Dieners einschließen muß.

Was jene Erklärungen betrifft, die den alten Propheten zugeschrieben werden, wie z. B. „am Anfang war Gott; es war kein Geschöpf da, Ihn zu erkennen“, und „der Herr war allein, ohne einen, der Ihn anbetete“, so ist die Bedeutung dieser und ähnlicher Erklärungen klar und einleuchtend und sollte zu keiner Zeit mißverstanden werden. Die gleiche Wahrheit bezeugen jene Worte, die Er geoffenbart hat: „Gott war allein; es war keiner außer Ihm. Er wird immer bleiben, was Er immer war." Jedes erkennende Auge wird deutlich wahrnehmen, daß der Herr nun offenbar, doch keiner da ist, Seine Herrlichkeit zu erkennen. Damit ist gemeint, daß die Wohnstätte, an der das göttliche Sein sich aufhält, [Seite 51] weit über Reichweite und Fassungskraft irgendeines außer Ihm steht. Was immer in der Welt des Zufalls ausgedrückt und verstanden werden kann, kann niemals die Schranken durchbrechen, die derselben durch ihre innerste Natur auferlegt sind. Gott allein überschreitet solche Grenzen. Er, wahrlich, ist seit Ewigkeit her. Kein Gleicher oder Gefährte hat sich Ihm gesellt oder wird sich jemals Ihm zugesellen. Kein Name kann Seinem Namen verglichen werden. Keine Feder kann Sein Wesen beschreiben, noch kann irgendeine Zunge Seine Herrlichkeit schildern. Er wird für immer unermeßlich erhaben bleiben über jeglichen außer Ihm.

Betrachte die Stunde, in der die höchste Offenbarung Gottes sich den Menschen enthüllt. Ehe diese Stunde kommt, ist das Urewige Sein, das den Menschen noch unbekannt ist und das bis dahin das Wort Gottes noch nicht ausgesprochen hat, der Allwissende in einer Welt, in der noch kein Mensch ist, der Ihn erkannt hätte. Er ist in der Tat der Schöpfer ohne eine Schöpfung. Denn in dem nämlichen Augenblick, der Seiner Enthüllung vorangeht, wird alles Erschaffene seine Seele zu Gott aufgeben müssen. Dies ist in der Tat der Tag, von dem geschrieben steht: „Wessen soll das Reich an diesem Tage sein?“ Und niemand ist da, der darauf antworten könnte!

LXXIX. Nun zu deiner Frage über die Welten Gottes. Wisse wahrlich, daß die Welten Gottes endlos an Zahl und unendlich in ihrer Ausdehnung sind. Niemand kann sie errechnen und umfassen außer Gott, der Allwissende, der Allweise. Denke an deinen Zustand während des Schlafes. Wahrlich, ich sage, diese Erscheinung ist das rätselhafteste der Zeichen Gottes unter den Menschen — würden sie nur im Herzen darüber nachsinnen. Sieh nur, wie sich das, was du im Traum geschaut hast, nach einer beträchtlichen Zeitspanne völlig verwirklicht. Würde die Welt, in der du dich im Schlaf befandest, gleichbedeutend mit der Welt sein, in der du lebst, so hätte das im Traum vorfallende Ereignis sich im gleichen Augenblick seines Geschehens in dieser Welt zeigen müssen. Wäre dem so, so würdest du selbst es bezeugt haben. Da dies jedoch nicht der Fall ist, muß notwendigerweise daraus folgen, daß die Welt, in der du lebst, verschieden und gesondert von derjenigen ist, die du im Traum erlebt hast. Diese letztere Welt hat weder Anfang noch Ende. Es würde stimmen, wenn du behaupten würdest, daß eben diese Welt, wie von dem allherrlichen und allmächtigen Gott verordnet, in deinem eigenen Ich liegt und ganz in dir aufgeht. Es würde aber auch stimmen, wolltest du aufrechterhalten, daß dein Geist, nachdem er die Grenzen des Schlafes überschritten und sich von aller irdischen Bindung gelöst hat, durch Gottes Ratschluß ein Reich durchqueren mußte, das in der innersten Wirklichkeit dieser Welt verborgen liegt. Wahrlich, Ich sage, die Schöpfung Gottes umfaßt Welten außer dieser Welt und Geschöpfe gesondert von diesen Geschöpfen. In jeder dieser Welten hat Er Dinge verordnet, die keiner außer Ihm ergründen kann, der Allergründende, der Allweise. Denke nach über das, was Wir dir enthüllt haben, damit du die Absicht Gottes, deines Herrn und des Herrn aller Welten, entdeckest. In diesen Worten wurden die Geheimnisse göttlicher Weisheit gesammelt. Wir haben davon abgesehen, bei diesem Gegenstand zu verweilen, wegen der Trübsale durch die Taten derer, die durch Unsere Worte erschaffen wurden — gehörtet ihr doch zu denen, die Unserer Stimme lauschen.

(Fortsetzung folgt)

[Seite 52]



GÖTTLICHE LEBENSKUNST[Bearbeiten]

Aus dem Englischen übertragen.

(Fortsetzung)


12. KAPITEL: PRÜFUNGEN UND TRÜBSALE


Du hast wegen schwerer Prüfungen, Schwierigkeiten und Katastrophen gefragt: „Sind diese von Gott oder der Ausfluß der üblen Taten des Menschen?“

Wisse, daß schwere Prüfungen von zweierlei Art sind: die eine geschieht zum Wohl der Seele und die andere ist Bestrafung für Taten. Die eine Art der Prüfung ist erzieherisch und fördert die Entwicklung, und die andere Art, die der Bestrafung der Taten, ist strenge Vergeltung.

Vater und Lehrer geben manchmal den Kindern nach, manchmal aber züchtigen sie sie. Diese Züchtigung dient der Erziehung und soll ihnen tatsächlich echtes Glück schenken, sie ist vollkommene Güte und wahre Vorsorge. Obwohl dem Anschein nach Zorn, ist sie in Wirklichkeit Güte. Obwohl äußerlich eine schwere Prüfung, ist sie ihrem Wesen nach läuterndes Wasser.

Wahrlich, in beiden Fällen müssen wir uns niederbeugen und flehentlich bitten und uns der göttlichen Schwelle nahen, um Geduld zu erwerben in den Prüfungen. (1)

Prüfungen sind Wohltaten von Gott, für die wir Ihm danken sollten. Gram und Kummer kommen nicht durch Zufall zu uns, sie sind durch göttliche Gnade zu unserer eigenen Vervollkommnung auf uns herabgesandt.

Solange der Mensch glücklich ist, mag er Gott vergessen; wenn aber Leid und Sorgen über ihn kommen, dann wird er seines Vaters gedenken, der im Himmel wohnt und ihn aus seiner niedrigen Lage zu befreien vermag. Menschen, die nicht leiden, erreichen nicht die Vervollkommnung. Die Pflanze, die von dem Gärtner am meisten beschnitten wird, wird, wenn der Sommer kommt, auch die schönsten Blüten und die meisten Früchte tragen.

Der Ackersmann reißt die Erde auf mit seinem Pfluge, und aus dieser Erde kommt die reiche Fülle der Ernte. Je mehr der Mensch gezüchtigt wird, um so größer ist die Ernte geistiger Tugenden, die er zu erkennen gibt. Ein Soldat wird kein guter General, ehe er an der Front in wildester Schlacht gewesen ist und tiefste Wunden erhalten hat. (2)

Macht die Seele durch Leid oder durch Freude die größeren Fortschritte?

Gemüt und Geist des Menschen kommen voran, wenn sie durch Leiden geprüft werden. So wie der Pflug tief die Erde furcht und sie von Unkraut und Disteln reinigt, so befreien Leid und Trübsal den Menschen von den nichtsnutzigen Dingen dieses Lebens in der Welt, bis daß er in den Zustand völliger Loslösung gelangt. Sein Zustand in dieser Welt wird dann der göttlicher Glückseligkeit sein. Der Mensch ist sozusagen unreif; die Hitze des Feuers der Leiden wird ihn reifen lassen. Blicke zurück auf die vergangenen Zeiten, und du wirst finden, daß die größten Menschen am meisten gelitten haben ...

Durch Leiden wird der Mensch zu ewigem Glück gelangen und nichts mehr kann ihm dies rauben. Die Apostel Christi mußten leiden, doch sie erlangten ewiges Glück ...

Um ewiges Glück zu erreichen, muß [Seite 53] man leiden. Der Mensch, der die Stufe der Selbstaufopferung erreicht hat, der besitzt wahre Freude. Die Freuden der Zeit schwinden dahin. (3)

Du hast wegen der Prüfungen geschrieben, die über dich gekommen sind. Für die Aufrichtigen sind Prüfungen wie eine Gabe Gottes, des Erhabenen, denn ein heldenhafter Mensch eilt in höchster Freude und Fröhlichkeit den Prüfungen des wilden Schlachtfeldes entgegen, der Feige aber zagt und zittert und stößt Seufzer und Wehklagen aus. Desgleichen ein wohlbeschlagener Student: er bereitet seine Aufgaben vor und lernt sie mit größtem Fleiß und am Prüfungstage erscheint er vor dem Lehrer mit unendlicher Freude. Desgleichen das reine Gold: es erstrahlt im Feuer der Prüfung. So ist es also klar erwiesen, daß für geheiligte Seelen Prüfungen wie eine Gabe Gottes, des Erhabenen sind; für schwache Seelen aber sind sie ein unerwartetes Unglück. Diese Prüfung ist gerade so, wie du geschrieben hast: sie beseitigt den Rost der Selbstsucht vom Spiegel des Herzens, bis daß die Sonne der Wahrheit darin leuchten mag. Denn kein Schleier ist größer als die Selbstsucht, und wie dünn auch diese Decke sei, zuletzt wird sie den Menschen doch ganz verhüllen und ihn daran hindern, einen Teil von der ewigen Gabenfülle zu empfangen. (4)

O Sohn des Menschen! Wie könntest du die Pfade derer beschreiten, die zufrieden sind mit Meinem Wohlgefallen, wenn keine Prüfung dich befiele auf dem Wege zu Mir? Und wenn keine Mühsal dir begegnete in deiner Sehnsucht nach Mir, wie könnte das Licht der Liebe zu Meiner Schönheit in dir leuchten? (5)

O Sohn des Menschen! Deine Prüfung ist Meine Vorsehung. Dir scheint sie Feuer und Züchtigung, in Wirklichkeit ist sie lauter Licht und Gnade. Eile ihr zu, auf daß du ewiges Licht und unsterblicher Geist werdest. Dies ist Mein Gebot, erkenne es! (6)


Prüfungen zeichnen die Aufrichtigen aus.

Was die Heimsuchungen, die Prüfungen auf dem Pfade zu Gott betrifft, so tun sie wahrlich not. Hast du nicht gehört und gelesen, wie in den Tagen Jesu Heimsuchungen von Gott eingetreten sind und wie streng der Wirbelsturm der Prüfungen wurde? Sogar der glorreiche Petrus wurde nicht von der Flamme der Prüfungen befreit und wankte. Dann bereute er und trauerte mit der Trauer eines Beraubten ... Ist es denn überhaupt möglich, von den Prüfungen Gottes verschont zu werden? Nein, fürwahr! Eine große Weisheit liegt darin, deren niemand gewahr wird als der Weise und Wissende.

Wie anders als durch Prüfungen wäre echtes Gold von falschem zu unterscheiden? Wie anders als durch Prüfungen könnten der Mutige und der Feigling erkannt werden? Wie anders als durch Prüfungen könnte das Volk der Treue und das Volk der Selbstliebe erkannt werden? Wie anders als durch Prüfungen könnten Verstand und Fähigkeiten der Schüler in den großen Kollegien sich entfalten? Wie anders als durch Prüfungen könnten die funkelnden Edelsteine unter den wertlosen Kieseln erkannt werden? Wie anders als durch Prüfungen konnte der Fischer vor Hannas und Kaiphas, die in der Welt hohes Ansehen genossen, ausgezeichnet werden?

Wäre es nicht durch Prüfungen geschehen, so würde das Antlitz Maria Magdalenas nicht im Lichte der Festigkeit [Seite 54] und Gewißheit über allen Horizonten leuchten. Dies sind einige der Geheimnisse der Prüfungen, welche wir dir enthüllt haben, auf daß du von den Mysterien Gottes in jedem Zyklus Kenntnis erhaltest. Wahrlich, ich bete zu Gott, die Angesichter wie lauteres Gold im Feuer der Prüfungen leuchten zu lassen. (7)

Ein jeder kann im Zustande des Trostes, des Wohlergehens, der Gesundheit, des Vergnügens und der Freude glücklich sein. Wenn aber einer in der Zeit der Trübsal, der Bedrückung und der Krankheit glücklich sein kann, so ist dies der Beweis von Seelenadel. (8)

Die Seelen, welche die Prüfungen Gottes tragen, werden zu Offenbarungen großer Gnadengaben; denn die göttlichen Prüfungen lassen manche Seelen ganz leblos werden; dagegen lassen sie die herrlichen Seelen sich zur höchsten Stufe von Liebe und Festigkeit erheben. Sie verursachen Fortschritt und verursachen auch Rückschritt. (9)

Wenn nicht durch Prüfungen, wie könnten anders die Glaubensfesten von den Zweiflern inmitten Deiner Diener unterschieden werden? (10)

Wieviele Blätter haben die Stürme der Heimsuchungen herabfallen lassen, und wieviele sind es aber auch, die beharrlich am Baume Deiner heiligen Sache festhielten und durch die Prüfungen, die sie überfielen, nicht erschüttert wurden, o Du, der Du unser barmherzigster Herr bist! (11)


Früchte der Prüfungen und Trübsale.

Schaut nicht auf den Anfang der Dinge, hängt euer Herz an das Ende und Ergebnis. Die Zeit der Gegenwart gleicht der Zeit der Aussaat. Ohne Zweifel ist sie von Gefahren und Schwierigkeiten schwanger, aber in der Zukunft wird gar manche Ernte eingebracht werden und Nutzen und Ertrag werden augenscheinlich. Wenn jemand den Ausgang und das Ende betrachtet, dann werden in ihm unerschöpfliche Freude und Glückseligkeit aufdämmern.

Jedes Ding von Bedeutung in dieser Welt erfordert die feste Aufmerksamkeit des Suchers. Wer etwas erstrebt, muß Schwierigkeiten und Beschwernisse auf sich nehmen, bis er das Ziel, das ihm vorschwebt, erreicht und großen Erfolg erlangt. So ist es mit den Dingen dieser Welt. Wie viel höher ist alles, was die höchsten Heerscharen betrifft! Diese heilige Sache schließt jegliche Gunst, Herrlichkeit und ewige Wonne in der Welt Gottes in sich. (12)

Was nun das anbetrifft, daß Säuglinge und Kinder und Schwache in die Hände der Unterdrücker fallen — darin liegt eine große Weisheit; dieses Thema ist von höchster Bedeutung. Kurz gesagt: Solche Seelen haben ihren Lohn in einer anderen Welt, und viele Einzelheiten hängen damit zusammen. Für solche Seelen ist dieses Leiden die größte Barmherzigkeit Gottes. Wahrlich, diese Barmherzigkeit des Herrn ist weit besser und aller Behaglichkeit dieser Welt und dem Heranwachsen und der Entwicklung an dieser Stätte der Sterblichkeit vorzuziehen. (13)


Göttlicher Beistand.

Sei nicht betrübt, wenn die Dinge schwierig werden und Verdruß auf allen Seiten überhand nimmt. Wahrlich, dein Herr wandelt Beschwernis in Erleichterung, Verdruß in Wohlbehagen [Seite 55] und Trübsale in reinste Gemütsruhe. (14)

Wenn dein Alltagsleben schwierig wird, dann wird dein Herr bald dir das gewähren, was dich befriedigt. Sei geduldig in der Zeit der Trübsal und Heimsuchung, halte aus in jeglicher Schwierigkeit und Beschwernis mit weitem Herzen, angezogenem Geist und einer im Gedenken des Barmherzigen beredten Zunge. Wahrlich, dies ist ein Leben der Zufriedenheit, des geistigen Zustandes, der himmlischen Ruhe, der göttlichen Segnung und der himmlischen Tafel. Bald wird dein Herr deine beengten Verhältnisse auch in dieser Welt mildern. (15)

Sei glücklich in allen Lebenslagen und setze all dein Glauben und Vertrauen auf Gott. (16)

Sei großmütig, wenn es dir gut geht, und dankerfüllt, wenn es dir schlecht geht. (17)

Gesegnet sind, die alles in der Welt als nichtbestehend ansehen und als nichts gegenüber der Verkündung des Königs des Vordaseins, und die so sehr an den festen Griff Gottes sich klammern, daß weder Zweifel noch böse Einflüsterungen, weder Schwerter noch Kanonen sie von Ihm abhalten oder Seiner berauben können! Gesegnet sind die Standhaften, gesegnet sind die Festen! (18)

Wenn dich auf dem Pfade Gottes jemand schmäht oder Kummer dich rührt, so sei geduldig und setze deinen Glauben auf Ihn, der dich hört, der dich sieht. (19)

Mit der Macht Deines Namens ausgerüstet kann nichts mich je verletzen und mit Deiner Liebe im Herzen können alle Trübsale der Welt mich nie und nimmermehr verstören. (20)

Wer auch immer, o mein Herr, in den Trübsalen, die ihn auf Deinem Pfade befallen, ungeduldig ist, der hat nicht aus dem Kelche Deiner Liebe getrunken noch hat er von der Süße Deines Gedenkens gekostet. (21)

Obwohl ich weiß, o mein Gott, daß Du auf Deine Diener nur herabsendest, was gut für sie ist, erbitte ich dennoch von Dir bei Deinem Namen, der alle Dinge überschattet, Du wollest zu ihrem Beistand und zum Zeichen Deiner Gnade und zum Beweise Deiner Macht solche erwecken, die sie wohl behüten vor allen ihren Widersachern. Du hast die Macht zu tun, was Du willst. Du bist wahrlich der höchste Herrscher, der Allmächtige, die Hilfe in der Gefahr, der Selbstbestehende. (22)

Ich fürchte keine Trübsal auf Seinem Pfad noch irgend ein Leid in meiner Liebe zu Ihm. Wahrlich, Gott hat Unglück zum Morgentau auf Seiner grünen Aue gemacht und zum Docht Seiner Lampe, die auf Erden und im Himmel leuchtet. (23)


Ein Gebet um Schutz und Schirm in Prüfung und Leid.

O mein Herr! Du weißt, daß die Menschen von Schmerz und Elend umgeben und von Beschwernis und Verdruß belagert sind. Jede Prüfung fällt den Menschen an und jedes schmerzliche Unglück greift ihn an wie der Angriff einer Schlange. Es gibt keinen Schirm und keine Heimstatt für ihn, es sei denn unter dem Fittich Deines Schutzes, Deiner Bewahrung, Deiner Hut und Deiner Wacht.

O Du Barmherziger! O mein Herr! Mache Deinen Schutz zu meiner Rüstung, Deine Bewahrung zu meinem Schild, die Demut an der Türe Deiner Einheit zu meiner Hut und Deine Wacht und Abwehr zu meiner Festung [Seite 56] und Wohnstatt. Bewahre mich vor den Einflüsterungen meines Selbstes und Begehrens und behüte mich vor jeglicher Krankheit, Prüfung, Beschwernis und Gericht.

Wahrlich, Du bist der Beschützer, der Hüter, der Bewahrer, der Zeugende und wahrlich, Du bist der Barmherzigste der Barmherzigen. (24)


Wie Bahá’u’lláh und 'Abdu'l-Bahá dem Leid begegnen.

Obwohl mein Körper gequält wird durch die Heimsuchungen, die mich aus Deiner Hand befielen, obwohl er betrübt ist durch die Enthüllungen Deines Ratschlusses, so ist doch meine Seele voll Freude, weil sie teil hat an den Wassern Deiner Schönheit und zu den Küsten des Ozeans Deiner Ewigkeit gelangt ist. Gibt es einen Liebenden, der vor seiner Geliebten flieht oder dem Ziele seiner Herzenssehnsucht untreu wird? Nein, wir alle glauben an Dich und hoffen glühend, in Deine Gegenwart einzutreten. (25)

Ihr habt Worte der Sorge und Angst geäußert wegen der Kümmernisse und Verfolgungen, die diesen Eingekerkerten befallen haben. Seid doch gar nicht traurig, seid nicht erregt... Verfolgungen und Unglück sind barmherzige Gaben... Wenn Prüfungen erscheinen, wird mein Herz getröstet, und wenn ich schmerzliches Leid erfahre, wird meine Seele ruhig. (26)

O du Freund! Sei nicht bekümmert um meiner Kerkerhaft willen und klage nicht über meine Beschwernisse, nein, bitte vielmehr Gott, meine Bedrückung auf Seinem Pfade zu vermehren, denn darin liegt eine Weisheit, die niemand zu erfassen vermag, er stehe denn den Engeln nahe. (27)

Du hast über die Freiheit 'Abdu'l-Bahá’s Freude gezeigt. Dieses Glück entsprang deiner großen Liebe. Ohne Zweifel sind die Freunde freuderfüllt wegen der Befreiung 'Abdu’l-Bahá’s. Ich aber war dankbar für diese Gefangenschaft auf dem Pfade Gottes und der Mangel an Freiheit war mir sehr angenehm, denn jene Tage hatte ich auf dem Pfade der Gottesliebe verbracht inmitten stärkster Beschwernisse und Heimsuchungen, die aber Früchte und Erfolge mit sich brachten. Wenn einer Leiden nicht auf sich nimmt, sich Heimsuchungen nicht unterwirft und in den Wechselfällen nicht ausharrt, wird er auch keinen Lohn ernten, noch zu Erfolg und Gedeihen gelangen. (28)


13.KAPITEL: LERNE GOTT ERKENNEN UND LIEBEN!

Es ist notwendig, Gott zu erkennen und zu lieben.

Frage: Wie ist es mit jenen Menschen, die gesegnet sind mit lobenswerten Charaktereigenschaften, die gute Taten verrichten, sich in der allgemeinen Wohltätigkeit betätigen, liebevoll und gütig sind gegen alle Geschöpfe, sich um die Armen kümmern und bestrebt sind, den universalen Frieden zu errichten? Bedürfen auch sie der göttlichen Lehren, von denen sie sich unabhängig dünken? Auf welcher Stufe stehen diese Menschen?

Antwort: Wisset, daß solche Taten, solche Bemühungen und Worte lobenswert und gut sind, und daß sie den Ruhm der Menschheit bilden. Aber diese Handlungen allein genügen nicht; sie sind ein Körper von größter Lieblichkeit, aber ohne Geist. Die Ursache aber des ewigen Lebens, ewiger Ehre und alles durchdringender Erleuchtung, wirklicher Erlösung und [Seite 57] wirklichen Wohlergehens ist vor allem die Erkenntnis Gottes. Es ist bekannt, daß die Erkenntnis Gottes über allem Wissen steht, und sie ist der größte Ruhm der Menschheit. Denn in dem vorhandenen Wissen der Menschen von dem Wesen der Dinge liegt nur materieller Gewinn, und durch dieses Wissen macht nur die äußere Zivilisation Fortschritte. Aber die Erkenntnis Gottes ist die Ursache des geistigen Fortschritts und der geistigen Anziehung, und durch sie werden das Verstehen der Wahrheit, die Hebung der Menschheit, göttliche Zivilisation, gute Moral und Erleuchtung erlangt.

Ferner wird die Liebe zu Gott wach, deren Licht in den Lampen der Herzen jener erstrahlt, die Gott erkennen; seine hellen Strahlen erleuchten den Horizont und geben den Menschen das Leben des Königreiches. In Wahrheit ist die Liebe zu Gott die Frucht des menschlichen Daseins; denn diese Liebe ist der Geist des Lebens und die ewige Gabe. Wenn die Liebe zu Gott nicht wäre, dann wären die Herzen der Menschen tot und der Gefühle des Seins beraubt. Wenn die Liebe zu Gott nicht wäre, dann würde die geistige Vereinigung verlorengehen. Wenn die Liebe zu Gott nicht wäre, dann würde die Menschheit nicht vom Lichte der Einheit erleuchtet werden. Wenn die Liebe zu Gott nicht wäre, dann wäre es nie dahin gekommen, daß sich Osten und Westen wie zwei Liebende umarmen. Wenn die Liebe zu Gott nicht wäre, dann würden Trennung und Uneinigkeit nicht in Brüderlichkeit verwandelt werden. Wenn die Liebe zu Gott nicht wäre, dann würde Gleichgültigkeit nicht in Zuneigung verwandelt werden. Wenn die Liebe zu Gott nicht wäre, dann würde der Fremde nicht zum Freunde werden. Die Liebe zur Menschheit ging aus der Liebe zu Gott hervor und trat in Erscheinung durch die Freigebigkeit und Gnade Gottes.

Es ist klar, daß das Wesen der Menschen verschieden ist, daß die Meinungen und Gefühle voneinander abweichen. Diese Verschiedenheit der Meinungen, der Gedanken, des Verstandes und der Gefühle unter den Menschen entspringt einer unbedingten Notwendigkeit; denn bei den Geschöpfen sind Unterschiede in den Stufen des Daseins eine Notwendigkeit des Lebens, das sich selbst in unendlichen Formen entfaltet. Daher bedürfen wir einer allgemeinen Macht, die imstande ist, die Gefühle, die Meinungen und Gedanken aller Menschen zu beherrschen, und dank derer diese Spaltungen ihre Wirkung nicht mehr länger ausüben können und alle Menschen unter den Einfluß der Einheit der Menschheit gebracht werden. Es ist klar, daß diese größte Macht im Reiche der Menschheit nichts anderes ist als die Liebe zu Gott. Sie bringt die verschiedenen Völker unter den Schatten des Zeltes der Zuneigung; sie bringt unter die gegnerischen und feindseligen Nationen und Familien die größte Liebe und Einigkeit. (1)

Es gibt vier Arten der Liebe.

Die erste ist die Liebe, die von Gott zum Menschen strömt. Ihrer sind die unerschöpflichen Gnadenergüsse, der göttliche Glanz und die himmlische Erleuchtung. Durch diese Liebe erhält die Welt des Daseins Leben. Durch diese Liebe ist der Mensch mit körperlichem Dasein ausgestattet, bis er durch den Hauch des Heiligen Geistes — eben dieser Liebe — ewiges Leben empfängt und das Ebenbild des lebendigen Gottes wird. Diese Liebe [Seite 58] ist der Ursprung aller Liebe in der Welt der Schöpfung.

Die zweite ist die Liebe, die vom Menschen zu Gott strömt. Dies ist Glaube, Anziehung an das Göttliche, Entflammtsein, Fortschritt, Eintreten in das Reich Gottes, Empfang der Gnadenfülle Gottes, Erleuchtung mit den Leuchten des Königreiches. Diese Liebe ist der Ursprung aller Menschenliebe. Diese Liebe läßt die Menschenherzen den Glanz der Sonne der Wirklichkeit widerstrahlen.

Die dritte ist die Liebe Gottes zu Seinem Selbst oder zur Wesensgleichheit Gottes. Dies ist die Verklärung Seiner Schönheit, das Widerstrahlen Seiner Selbst im Spiegel Seiner Schöpfung. Dies ist die Wirklichkeit der Liebe, die uralte Liebe, die ewige Liebe. Durch einen Strahl dieser Liebe lebt alle andere Liebe.

Die vierte ist die Liebe des Menschen zum Menschen. Die Liebe, welche zwischen den Herzen der Gläubigen schwingt, wird angeregt durch das Ideal der Einheit im Geiste. Diese Liebe wird durch die Erkenntnis Gottes erlangt, so daß der Mensch die göttliche Liebe im Herzen widerstrahlen sieht. Jeder sieht im andern die Schönheit Gottes, widergespiegelt in der Seele, und wenn er diese Art von Ähnlichkeit herausgefunden hat, dann wird er zum andern in Liebe hingezogen. Diese Liebe wird alle Menschen zu Wellen eines Meeres machen. Diese Liebe wird sie alle zu Sternen an einem Himmel und zu Früchten eines Baumes machen. Diese Liebe wird zur Verwirklichung wahren Einklangs, zur Gründung wirklicher Einheit führen.

Aber die Liebe, die manchmal Freunde verbindet, ist keine (wahre) Liebe, denn sie ist dem Wandel unterworfen. Sie ist nur trügerischer Schein. Schwache Bäume fügen sich, wie der Wind bläst. Wenn der Wind von Osten kommt, so neigt sich der Baum nach Westen, und kommt der Wind von Westen, so neigt sich der Baum nach Osten. Diese Art von Liebe entspringt den zufälligen Lebensbedingungen. Dies ist nicht Liebe, sondern nur Bekanntschaft, sie ist dem Wandel unterworfen. Heute werdet ihr zwei Seelen in offensichtlich enger Freundschaft sehen, morgen mag dies alles anders sein. Gestern waren sie bereit, füreinander zu sterben, heute gehen sie sich aus dem Wege. Dies ist nicht Liebe, dies ist Anpassung der Herzen an die Zufälle des Lebens. Wenn das, was diese „Liebe“ entstehen ließ, verschwindet, dann schwindet auch diese Liebe dahin. So etwas ist keine wirkliche Liebe.

Liebe ist nur eine der vier Arten, die ich erklärt habe: a) die Liebe Gottes zur Wesensgleichheit Gottes. Christus hatte gesagt: „Gott ist Liebe." — b) Die Liebe Gottes zu Seinen Kindern, zu Seinen Dienern; c) die Liebe des Menschen zu Gott, und d) die Liebe von Mensch zu Mensch. Diese vier Arten von Liebe entspringen Gott. Dies sind Strahlen aus der Sonne der Wirklichkeit; sie sind der Hauch des Heiligen Geistes, sie sind die Zeichen der Wirklichkeit. (2)

Da Er die Welt und alles,. was in ihr lebt und sich bewegt, erschuf, beliebte Er, durch das unmittelbare Wirken Seines freien und unumschränkten Willens dem Menschen die einzigartige Auszeichnung und Fähigkeit zu übertragen, Ihn zu erkennen und Ihn zu lieben — eine Fähigkeit, die als der der gesamten Schöpfung zugrundeliegende schöpferische Antrieb und Urzweck angesehen werden muß... Über [Seite 59] die innerste Wirklichkeit eines jeden erschaffenen Dinges hat Er das Licht eines Seiner Namen gegossen und es zum Empfänger einer Seiner Eigenschaften gemacht. Die Wirklichkeit des Menschen indessen hat Er zum Brennpunkt des Glanzes aller Seiner Namen und Eigenschaften und zu einem Spiegel Seines eigenen Selbstes gemacht. Allein von allem Erschaffenen ist der Mensch zu einer so großen Gunst und für ein so dauerndes Geschenk ausersehen worden. (3)

Ist es nicht seltsam, daß der Mensch, der doch zur Erkenntnis und Liebe Gottes, zu allen Tugenden der Menschenwelt, zu Geistigkeit, himmlischer Erleuchtung und ewigem Leben erschaffen worden ist, unentwegt weiterhin unwissend bleibt und all dies so vernachlässigt? Betrachte, wie er in allem anderen Erkenntnis sucht, nur nicht die Erkenntnis Gottes. So ist z. B. seine höchste Sehnsucht, die Geheimnisse der tiefsten Erdschichten zu durchdringen. Tag um Tag strebt er nach Kenntnis dessen, was zehn Meter unter der Erdoberfläche gefunden werden könnte, was er im Gestein entdecken und was er durch archäologische Forschung in der Erde erfahren könnte. Er leistet schwierige Arbeit, um Geheimnisse des Erdinnern zu ergründen, aber er befaßt sich ganz und gar nicht damit, die Mysterien des Königreiches zu erkennen, die unbegrenzten Gefilde der ewigen Welt zu durchschweifen, sich über die göttlichen Wirklichkeiten zu unterrichten, die Geheimnisse Gottes zu entdecken, die Erkenntnis Gottes zu erlangen, Zeuge des Glanzes der Sonne der Wahrheit zu werden und sich der Herrlichkeit ewigen Lebens bewußt zu werden... Wie stark ist er von den Geheimnissen der Materie angezogen, und wie gänzlich blind ist er für die Mysterien des Göttlichen ... Es ist, wie wenn ein gütiger, liebevoller Vater eine Bibliothek mit wundervollen Büchern für seinen Sohn bereitgestellt hätte, damit er sich über die Geheimnisse der Schöpfung unterrichte, und ihn zugleich auch mit allen Arten von Bequemlichkeit und Ergötzung umgeben hätte, der Sohn sich aber nur mit Tand und Spielzeug abgeben würde, ohne auf alle die fürsorglichen Gaben seines Vaters zu achten ...

... Tag und Nacht müßt ihr darnach streben, zu den Bedeutungen des himmlischen Königreiches vorzudringen, die Zeichen des Göttlichen wahrzunehmen, euch die Gewißheit der Erkenntnis zu erwerben und euch dessen bewußt zu werden, daß diese Welt einen Schöpfer, einen Beleber, einen Fürsorgenden, einen Baumeister hat — und dies durch augenscheinliche Beweise und Zeugnisse zu erkennen, nicht nur durch Empfindlichkeiten —, nein, vielmehr durch entschiedene Beweisgründe und wirkliches Schauen, d. h. indem ihr eine so klare Vorstellung davon habt, wie das äußere Auge von der Sonne, in die es blickt. (4)

O du Sohn des Königreiches! Wenn einer die Liebe Gottes besitzt, so ist alles, was er unternimmt, nützlich. Wenn einer aber etwas ohne die Liebe Gottes unternimmt, so ist es schädlich und wird zur Ursache, daß er sich selbst vor dem Herrn des Königreiches verhüllt. Aber mit der Liebe Gottes wird alle Bitterkeit in Süße verwandelt, und jede Gabe wird wertvoll. So flößt zum Beispiel eine wohltönende, melodische Stimme einem angezogenen Herzen Leben ein; aber solche Seelen, die in Leidenschaften und Wünsche verstrickt sind, verlockt sie zur Lust. [Seite 60]

Mit der Liebe Gottes werden alle Wissenschaften gerne aufgenommen und geliebt, aber ohne sie sind sie fruchtlos, ja sogar die Ursache des Wahnsinns. Jede Wissenschaft gleicht einem Baum. Wenn seine Frucht die Liebe Gottes ist, dann ist er ein gesegneter Baum. Andernfalls ist er nur dürres Holz und schließlich des Feuers Nahrung. (5)


Gott erkennen zu lernen!

Diese Kräfte, mit denen die Sonne göttlicher Güte und die Quelle himmlischer Führung die Wirklichkeit des Menschen ausgestattet hat, ruhen indessen in ihm, wie die Flamme in der Kerze verborgen ist und die Strahlen des Lichtes nur als Möglichkeit in der Lampe gegenwärtig sind. Der Glanz dieser Kräfte mag durch weltliche Wünsche verdunkelt werden, so wie die Sonne unter dem Staub und Schmutz, die den Spiegel bedecken, verborgen sein kann. Weder die Kerze noch die Lampe können indessen durch ihr eigenes Bemühen und ohne Unterstützung entzündet werden, noch wird es dem Spiegel jemals möglich sein, sich selbst von seinem Schmutze zu befreien. Es ist klar und offenbar, daß die Lampe niemals aufglühen wird, ehe nicht ein Feuer in ihr entzündet ist, und der Spiegel das Licht der Sonne niemals wiedergeben noch ihr Licht und ihre Pracht zurückstrahlen kann, ehe nicht der Schmutz von seiner Oberfläche entfernt ist. Und da es kein Band unmittelbarer Verbindung geben kann, das den einen, wahren Gott mit Seiner Schöpfung verbindet, und keinerlei Ähnlichkeit zwischen dem Vergänglichen und dem Ewigen, dem Zufälligen und dem Absoluten bestehen kann, hat Er bestimmt, daß in jedem Zeitalter und in jeder Ausgießung eine reine und unbefleckte Seele in den Reichen von Erde und Himmel geoffenbart werde... Diese Wesen der Loslösung, diese strahlenden Wirklichkeiten, sind die Kanäle von Gottes alldurchdringender Gnade. Geführt vom Licht unfehlbarer Führung und ausgestattet mit höchster Herrschaft, sind sie bevollmächtigt, die Eingebung ihrer Worte, die Ausgießungen ihrer untrüglichen Gnade und den heiligenden Windhauch ihrer Offenbarung zu gebrauchen, um jedes sehnende Herz und jeden empfänglichen Geist vom Schmutz und Staub irdischer Sorgen und Beschränkungen zu befreien. Dann, und nur dann wird das Pfand Gottes, das in der Wirklichkeit des Menschen verborgen ist, strahlend wie das aufsteigende Gestirn göttlicher Offenbarung hinter dem Schleier des Verborgenseins hervortreten und das Banner seiner enthüllten Herrlichkeit hoch in den Menschenherzen errichten. (6)

Die Wirklichkeit der Gottheit zu erkennen ist unmöglich und unerreichbar, aber die Manifestationen Gottes erkennen, heißt Gott erkennen, denn die Gaben, der Glanz und die Eigenschaften Gottes sind in ihnen sichtbar. Wenn daher der Mensch zur Erkenntnis der Manifestationen Gottes kommt, so wird er zur Erkenntnis Gottes gelangen, wenn er aber die Erkenntnis der Heiligen Manifestationen vernachlässigt, so wird er der Erkenntnis Gottes beraubt sein. Es ist also erwiesen, daß die Heiligen Manifestationen die Mittelpunkte der Gaben, Zeichen und Vollkommenheiten Gottes sind. Gesegnet ist, wer das Licht der göttlichen Gaben von den erleuchteten Dämmerungsorten empfängt. (7)

Er hat Seine Geschöpfe ins Dasein gerufen, damit sie Ihn, den Mitleidigen, [Seite 61] den Allbarmherzigen, erkennen. In die Städte aller Völker hat Er Seine Boten gesandt und Er bevollmächtigte sie, den Menschen die Botschaften des Paradieses Seines Wohlgefallens zu verkünden und sie dem Hafen dauernder Sicherheit, dem Sitz ewiger Heiligkeit und erhabener Herrlichkeit näher zu bringen. (8)

In der alten Zeit haben jene Dämmerungsorte und Schächte der Weisheit durchaus nicht ihre tiefste Ursache verkannt oder ihren Quell und Ursprung verleugnet....

So bemerkenswert und weitreichend die intellektuellen und industriellen Leistungen der geistigen Führer in moderner Zeit gewesen sind, so ist es doch jedem scharfen Beobachter klar und offensichtlich, daß sie den größten Teil ihrer Erkenntnis von den Weisen der Vergangenheit ableiten... Diese Weisen der alten Zeiten haben ihrerseits ihre Erkenntnis von den Propheten Gottes erworben, denn diese, wahrlich, waren die Manifestationen göttlicher Weisheit und die Offenbarer himmlischer Mysterien. (9)

Versenkt euch in das Meer Meiner Worte, damit ihr seine Geheimnisse ergründen und die Perlen der Weisheit entdecken möget, die in seinen Tiefen verborgen liegen. (10)

Die Quelle allen Wissens ist die Erkenntnis Gottes — gepriesen sei Seine Herrlichkeit! — und diese kann nicht erlangt werden, es sei denn durch die Erkenntnis Seiner göttlichen Manifestationen. (11)

Sinnet über Gott nach in euerem Herzen, denket nach über Seine Manifestationen und seid nicht von denen, welche aller Einsicht bar sind. (12)

Wendet euch Gott zu, flehet demütig an Seiner Schwelle, suchet Beistand und Bestätigung, auf daß Gott die Schleier zerreißen möge, die euer Schauen verdüstern. Dann werden eure Augen von Erleuchtung erfüllt werden. Von Angesicht zu Angesicht werdet ihr die Wirklichkeit Gottes schauen, und euer Herz wird völlig rein werden von den Schlacken des Nichtwissens und die Herrlichkeiten und Gnadenfülle des Königreiches widerspiegeln. (13)


Gottes Liebe zu uns.

O Sohn des Menschen! Ich war im Ursein Meines Wesens und in der Ewigkeit Meines Seins. Da erkannte Ich Meine Liebe zu dir: Ich erschuf dich, Ich senkte mein Ebenbild in dich und offenbarte dir Meine Schönheit. (14)

(Fortsetzung folgt)



TOLSTOI ÜBER DIE EINHEIT DER RELIGIONEN[Bearbeiten]

Aus Briefen*)

*) Entnommen aus Paul Birukoff „Tolstoi und der Orient“, Rotapfel-Verlag, 1925.


Das Wahre ist in allen Religionen das gleiche, und an das, was allen Zeiten und allen Glaubenslehren gemeinsam ist, muß man sich halten, nicht aber daran denken, was sie trennt, und seine Eigenheiten hartnäckig behaupten wollen...

Ich... beeile mich, Ihnen zu antworten, um Sie zu überzeugen, daß es mich freute, da es mich in unmittelbare [Seite 62] Beziehungen zu einem aufgeklärten Menschen brachte, der, wenn er auch in einem andern Bekenntnis geboren und erzogen ist als ich1)), doch eines Glaubens mit mir ist; denn die Bekenntnisse sind verschieden, und es gibt ihrer viele, aber Glauben, wahren Glauben gibt es nur einen. Ich hoffe, mich nicht zu täuschen, wenn ich annehme, daß der Glaube, dem ich diene, auch ihr Glaube ist, der Glaube an Gott und seine Gesetze, die in der Liebe zum Nächsten bestehen und darin, daß man so gegen andere handelt, wie man selber behandelt sein will. Ich meine, alle wahrhaft religiösen Grundsätze entspringen hieraus, und sie bleiben für Europäer wie für Brahmanen, für Buddhisten, Christen und Mohammedaner immer die gleichen. Ich meine, je stärker die Religionen von Dogmen, Vorschriften, Wundermärchen und Vorurteilen strotzen, um so mehr trennen sie die Menschen voneinander und rufen sogar Haßgefühle unter ihnen hervor. Und im Gegensatze dazu, je schlichter und reiner sie werden, desto näher kommen sie dem Ideale der Menschheit, der allgemeinen Einigung...

Die Grundlage aller Religionen ist die gleiche: Liebe zu Gott, d.h. zur höchsten Vollkommenheit, und zum Nächsten. Aber in allen Religionen geschah es und geschieht es, daß sich zur grundlegenden Erkenntnis, die ihnen allein gemein ist, trügerische Deutungen gesellen, die durch die Jünger hineingetragen werden. So geschah es und geschieht es auch im Mohammedanismus. Und daher gilt es für alle Religionen wie für den Mohammedanismus: die Aufgabe der Menschheit besteht zur Zeit nicht darin, die Religionen zu verwerfen und an ihre Stelle die engen, unzulänglichen und platten, sogenannten wissenschaftlichen Anschauungen einzuführen, sie muß sich vielmehr bemühen, das wahre Wesen der Religiosität zu erkennen, um die religiösen Grundwahrheiten von ihren entstellenden Zutaten zu befreien. Und das geschieht in allen Religionen, geschieht auch im Mohammedanismus ...

Sie (die Lehre des Báb) wurde von Beha Ullah2)) weiter entwickelt, der von der türkischen Regierung nach Akka verbannt wurde, wo sein Sohn lebt. Seine Anhänger kennen keine äußeren religiösen Formen an und sehen die allen Religionen gemeinsame Grundlage in einem guten Leben, d. h. in der Liebe zum Nächsten und darin, daß sie sich unter keinen Vorspiegelungen zur Teilnahme am Bösen verleiten lassen...

Auf Ihre dritte Frage antworte ich, daß meiner Meinung nach der Islam wie alle Religionen, Brahmanismus, Buddhismus, Konfuzianismus und andere große ewige Wahrheiten enthält, daß er sie aber auch wie die andern mit Aberglauben, groben Entstellungen der Erkenntnis, unnützen Bräuchen und Trugwerk vermengt... Die Lehre der Babisten, die, aus dem Mohammedanismus hervorgegangen, sich zum Behaismus (Beha Ullahs Lehre) entwickelt hat, stellt eine der höchsten und reinsten Religionslehren dar.


1) Der Briefempfänger war ein mohammedanischer Priester (Mufti von Kairo). Anmerkung der Schriftleitung.

2) Bahá’u’lláh.

[Seite 63]

GESTALTUNG

(Aus einem Brief)

Schwester, — wenn Ihr auf Leistungen ausgeht, die Euer Alltagswerk überragen sollen, dann tuet dies wie jenes allein zum Lobe Gottes, das auch den Nächstendienst in sich schließt.

Glaubet auch nimmer, dabei wahrhaft Wertvolles schaffen oder gar erzwingen zu können, solange Ihr nicht Euch selbst bezwingt.

Seid also in erster Linie darauf bedacht, in die Strahlungen wahren Menschentums hineinzuwachsen — nie zu vollendendes höchstes Werk! —, und die äußeren hohen Taten werden dann von selbst daraus geboren werden, denn die wahrhaft Strahlenden sind allzeit auch äußerlich Schaffende.

Ihr werdet notfalls von selbst in solche Werke hineingedrückt werden, — ob Ihr wollt oder nicht.

Es werden auch schwere Geburten darunter sein, und an den Wehen wie an dem hohen Glück der Geburt wird Euch jede Lust von selbst vergehen, jemals mit ihrer Frucht vor den Menschen glänzen zu wollen oder gar nur Euer eigenes Genügen an ihr zu suchen.

Das immer erneute Gebären allein, in Euch und aus Euch, im Rhythmus von Sammlung und Tat, sei Eure einzige Freude, und es muß so sein, daß Ihr jederzeit die äußeren Früchte des Gebärens wieder ins Nichts versinken sehen könntet, — wenn Ihr sie nur geboren habt; auch das gehört zur „Loslösung“.

Der geistige Teil der Frucht, die Strahlung des Geborenhabens, hat Ewigkeitsbestand, das äußere Werk zerfällt doch spätestens mit dem Planeten. Schon am Baume können wir dabei lernen: er wirft seine Frucht ab und kümmert sich nicht mehr um sie, die dann freilich desto eher aufgegriffen wird, je köstlicher sie ist.

Vielmehr stellt er sich lediglich, über eine Spanne der Ruhe hinweg, auf neues Fruchtbringen ein. —

In welcher Weise Eure Schöpferakte äußerlich Form annehmen werden zur Belebung und Bereicherung anderer, ob durch Euren Mund oder durch die Harfe oder den Pinsel oder am Krankenbett oder sonstwie, das wird sich im Laufe der Zeit zeigen.

Ihr mögt, ja sollt Euch gerne üben in allem, wozu es Euch drängt und Ihr besondere Veranlagung in Euch verspürt, aber — Stümperwerk im Sinne des Ewigen wird immer bleiben, was nicht hohem Menschentum entquillt.

Wie manches scheinbar große Werk wird so vollbracht, das vor dem Ewigen sicher andere Geltung hat!

Wie manches „kleine“ Mütterlein wird größer als solch „Großer“ sein im geistigen Reich, aus dem heraus die äußeren Reiche leben!

Andererseits dürft Ihr aber auch sicher sein, daß schon das erste Tappen und Tasten zur Formgebung, wenn vom richtigen Geiste getragen, dort eine Wertung erfährt, als wäre das Formen vollkommen.

Denkt nur an die Verheißung für den Schächer am Kreuz, obgleich ihm zur Gestaltung die Zeit schon verronnen.

Also allein auf die Strahlung, die hinter dem Werke steht, kommt es an, und ist ihre Reinheit errungen, dann wird sie auch — bei aller Geduldentfaltung — nicht rasten und ruhen, bis ihr auch das Formen nach außen gelungen.

Ob dies zu ihrer eigenen Förderung führt oder zu ihrem Verschleiß, das zu ergründen, stehe bei Euch! —

O.G.


[Seite 64]


Mitteilung der Schriftleitung

Die Veröffentlichung von „Der verheißene Tag ist gekommen“ wird in einer der nächsten Nummern von „Sonne der Wahrheit“ fortgesetzt.


Mitteilung der Verlagsabteilung

Wir bitten unsere Leser, von der veränderten Anschrift der Geschäftsstelle der „Sonne der Wahrheit“ (siehe unten) Kenntnis nehmen zu wollen.



AUS DER BAHA’I-WELT[Bearbeiten]

Persien:

Im Mutterland der Bahá’i-Weltreligion, in Persien, begegnen unsere Glaubensfreunde auch heute noch einer mitunter gewalttätigen Intoleranz ihrer Landsleute. Es ist in diesem Lande noch vielfach lebensgefährlich, Bahá’i zu sein und wir können die dortigen Freunde nur bewundern, mit welch strahlender Ergebenheit und Opferbereitschaft sie diese Fährnisse auf sich nehmen. Um so höher ist der geradezu überwältigende Erfolg ihrer Pioniertätigkeit im Rahmen eines 45-Monatsplanes zur Verbreitung der Botschaft von Bahá’u’lláh in ihrem Lande einzuschätzen. Wir werden darüber noch Näheres berichten. Heute geben wir aus den iranischen Bahá’i-Nachrichten einen erschütternden Bericht über den Märtyrertod unseres persischen Freundes Dr. S. Berjis, Arzt in Kashan wieder:

„Dr. Berjis war ein immer fröhlicher, liebenswerter Mensch, der die Lebensmitte schon um einiges überschritten hatte. Er war in seiner Vaterstadt ein sehr geschätzter Arzt und als Wohltäter weit bekannt. Die Sorgfalt, die er den Kranken, und die Hilfe, die er den Armen angedeihen ließ, wurden vielfach bewundert und verschafften ihm in weiten Kreisen große Beliebtheit. Als Bahá’i war er ein standhafter Gläubiger in der Sache. Seine Ergebenheit und seine Begeisterung im Dienst für die Interessen des Glaubens, sowohl bezüglich der Lehrarbeit als auch auf dem Gebiet der Administration, waren erstrangig. Die Geschichte seines Märtyrertods, die an die furchtbaren Geschehnisse des Heroischen Zeitalters erinnert, zeigt, wie er ein Opfer übelster Verräterei wurde, und wie man ihn unter falschen Vorspiegelungen in den Tod lockte. Die Täter suchten ihn in seinem Sprechzimmer auf und nötigten ihn, sie in ein Haus zu begleiten, in dem angeblich ein Schwerkranker lag. Obgleich im Wartezimmer noch Patienten waren, die behandelt sein wollten, drängte ihn doch sein eigenes Pflichtgefühl, seine Liebe und sein Verantwortungsgefühl dem Kranken gegenüber, zuerst diesem sogenannten ‚dringenden Ruf‘ zu folgen, und er machte sich wenige Minuten später auf den Weg nach dem verhängnisvollen Haus, in dem eine Gruppe von Meuchelmördern auf der Lauer lag. Kaum hatte er das Haus betreten, als die Türe hinter ihm abgeschlossen wurde und die Mörder sich auf ihn stürzten und ihm zahlreiche schwere Verletzungen beibrachten, denen er rasch erlag. Als die tragischen Umstände seines Todes bekannt wurden, stellte man fest, daß sein Körper furchtbar verstümmelt worden war; er wies nicht weniger als 80 klaffende Wunden auf.

So trank er den Kelch des Märtyrertums bis zur Neige und erwarb damit unvergänglichen Ruhm für sich selbst, während er andrerseits den Sieg unseres historischen Unternehmens mit seinem Blut besiegelte.“


Amerika:

Wie aus dem Bahá’i-Youth-Bulletin aus USA zu entnehmen ist, sind der Nationale Jugendtag am 26. November und der Welt-Jugendtag am 25. März 1951 vorgesehen, „Das Datum des neuen Welt-Jugendtages wurde entsprechend den Bitten, die von anderen Ländern geäußert wurden, so festgesetzt.“



Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’i in Deutschland und Österreich e.V., Stuttgart. Hauptschriftleiter: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart.

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Druck von J. Fink KG., Stuttgart N — Mai-Juni 1950

Veröffentlicht unter Lizenz US-W-Nr. 6871 der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung.


[Seite 65] diesem Tage wirkt, letzten Endes diesen Zustand herbeizuführen fähig ist. Noch mehr: Der Bahá’i-Glaube legt seinen Anhängern vor allem die Pflicht des ungehemmten Suchens nach Wahrheit auf, verwirft alle Arten von Vorurteil und Aberglauben und erklärt, daß der Zweck der Religion die Förderung von Freundschaft und Eintracht sei; er verkündet in wesentlichen Fragen ihr Zusammengehen mit der Wissenschaft und erkennt sie als die größte Kraft der Befriedigung und des geregelten Fortschrittes der Menschheit. Er hält ohne Zweideutigkeit den Grundsatz gleicher Rechte, gleicher Möglichkeiten und Vorrechte für Männer und Frauen hoch, besteht auf guter Erziehung als Pflicht, tilgt die Extreme von Armut und Reichtum aus, schafft die Einrichtungen eines Priesterstandes ab, verbietet Sklaverei, Askese, Bettelei und Mönchtum und schreibt Einehe vor, mißbilligt Scheidung, betont die Notwendigkeit festen Gehorsams zur Regierung, erhöht jede Arbeit, die im Geiste des Dienens getan wird, auf den Rang des Gottesdienstes, drängt auf die Schaffung oder Auswahl einer Welthilfssprache und gibt einen Umriß für die Einrichtungen, welche den Weltfrieden begründen und dauerhaft machen sollen.


Der Herold

Der Bahá’i-Glaube kreist um drei Hauptgestalten, deren erste ein Jüngling aus Schiras namens Mirzá ‘Ali Muhammád war, bekannt als der Báb (das Tor). Er erhob im Mai 1844, im Alter von 25 Jahren den Anspruch, der Herold Dessen zu sein, der nach den Heiligen Schriften früherer Offenbarungen den Einen, der größer ist als Er selbst, verkünden und den Weg für Sein Kommen bereiten soll. Seine Sendung sei, nach eben diesen Schriften, eine Ära des Friedens und der Gerechtigkeit einzuleiten, die als die Vollendung aller früheren Sendungen begrüßt würde, um einen neuen Zyklus in der Religionsgeschichte der Menschheit einzuleiten. Rasch setzte strenge Verfolgung ein, die von den organisierten Mächten der Kirche und des Staates Seines Geburtslandes ausging und schließlich zu Seiner Gefangenschaft, Verbannung und zu Seiner Hinrichtung im Juli 1850 in Täbris führten. Nicht weniger als 20000 Seiner Anhänger wurden in so barbarischer Grausamkeit hingemordet, daß sie das warme Mitgefühl und die unbegrenzte Bewunderung abendländischer Schriftsteller, Diplomaten, Reisender und Gelehrter hervorrief.


Bahá’u’lláh

Mirzá Husayn - ‘Ali, genannt Bahá’u’lláh (die Herrlichkeit Gottes), aus der Provinz Mázindarán stammend, dessen Kommen der Báb verkündet hatte, wurde von diesen gleichen Mächten der Dummheit und des Fanatismus angegriffen, in Teheran eingekerkert, 1852 aus Seinem Heimatland nach Bagdad verbannt und von dort nach Konstantinopel und Adrianopel und schließlich in die Gefängnisstadt Akka, wo Er nicht weniger als 24 Jahre noch gefangengehalten wurde. Unweit davon starb Er im Jahre 1892. In der Zeit seiner Verbannung, vor allem in Adrianopel und in Akka, gab Er den Gesetzen und Vorschriften Seiner Sendung Ausdruck und erklärte in mehr als hundert Bänden die Grundsätze Seines Glaubens, verkündete Seine Botschaft den Königen und Herrschern des Ostens und des Westens, Christen sowohl wie Mohammedanern.


‘Abdu’l-Bahá

Sein ältester Sohn, ‘Abbás Effendi, bekannt als ‘Abdu’l-Bahá (Diener Bahá’s), war von Bahá’u’lláh zu dessen gesetzlichem Nachfolger und bevollmächtigtem Ausleger Seiner Lehren ernannt worden. Er war seit Seiner frühesten Kindheit Seinem Vater eng verbunden und teilte dessen Verbannung und Leiden. Er blieb ein Gefangener bis 1908, wo Er in Auswirkung der jungtürkischen Revolution aus der Haft entlassen wurde. Nunmehr verlegte Er Seinen Wohnsitz nach Haifa, schiffte sich dann bald zu einer drei Jahre langen Reise nach Ägypten, Europa und Nordamerika ein, in deren Verlauf Er vor einer zahlreichen Hörerschaft die Lehren Seines Vaters auslegte und das Nahen der Katastrophe voraussagte, die bald darauf die Menschheit überfallen sollte. Er kehrte nach Hause zurück am Vorabend des ersten Weltkrieges, in dessen Verlauf Er dauernd Gefahren ausgesetzt war bis zur Befreiung Palästinas.

1921 verließ Er diese Welt. Er wurde in dem auf dem Berge Karmel errichteten Grabmal beigesetzt, das nach dem Gebot Bahá’u’lláh’s für die sterblichen Reste des Báb errichtet war.


Die Verwaltungsordnung

Das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahá’s bedeutete das Ende des heroischen Zeitalters des Bahá’i-Glaubens und bezeichnete zugleich den Beginn des gestaltgebenden Zeitalters, das den schrittweisen Aufstieg der Verwaltungsordnung des Glaubens schaffen soll. Ihre Errichtung war von dem Báb vorhergesagt, ihre Gesetze wurden von Bahá’u’lláh geoffenbart, ihre Umrisse wurden von 'Abdu'l-Bahá in Seinem Willen und Testament vorgezeichnet.

Die Verwaltungsordnung des Glaubens von Bahá’u’lláh ist dazu bestimmt, sich zu einem Bahá’i-Weltgemeinwesen zu entwickeln. Sie hat schon die Angriffe überdauert, die solche furchtbaren Feinde wie die Könige der Kadscharen-Dynastie, die Kalifen des Islam, die führenden Geistlichen Ägyptens und das Naziregime in Deutschland gegen ihre Einrichtungen gerichtet hatten, und hat ihre Zweige in alle Teile der Erde ausgedehnt, von Island bis zum äußersten Chile. Sie hat in ihren Bereichen die Vertreter von nicht weniger als 31 Rassen, darunter Christen verschiedener Bekenntnisse, Muselmänner der [Seite 66] sunnitischen und schiitischen Sekten, Juden, Hindu, Sikhs, Zoroastrer und Buddhisten. Sie hat durch ihre festgesetzten Organe Bahá’i-Schriften in 48 Sprachen veröffentlicht und verbreitet.

Diese Verwaltungsordnung ist, im Unterschied von den anderen Systemen, die sich nach dem Tode der Gründer in den verschiedenen Religionen entwickelt haben, göttlich in ihrem Ursprung, beruht mit Gewißheit auf den Gesetzen, Vorschriften, Verordnungen und Einrichtungen, die vom Begründer des Glaubens selbst ausdrücklich niedergelegt und unzweideutig festgesetzt sind und waltet in fester Übereinstimmung mit den Auslegungen der bevollmächtigten Ausleger der heiligen Texte.

Der Glaube, dem diese Ordnung dient, den sie schützt und fördert, ist, das sollte in diesem Zusammenhang wohl bemerkt werden, in seinem Wesen übernatürlich, übernational, gänzlich unpolitisch, parteilos und jedem System oder jeder Schule von Ideen, die irgendeine besondere Rasse, Klasse oder Nation über die andere zu stellen sucht, völlig entgegengesetzt. Er ist frei von jeglicher Form von Kirchentum, hat weder Priesterstand noch Riten und wird allein durch freiwillige Gaben seiner erklärten Anhänger getragen.

Wenn auch die Bekenner des Bahá’i-Glaubens ihren Regierungen treu ergeben sind, in Liebe ihrem Vaterland verbunden und darauf bedacht, zu allen Zeiten dessen Wohl zu fördern, so werden sie doch, weil sie die Menschheit als eine Einheit betrachten und deren Lebensinteressen tief verpflichtet sind, ohne Zögern jedes Einzelwohl, sei es persönlich, örtlich oder national, dem übergeordneten Wohl der Menschheit als Ganzes unterordnen; denn sie wissen gar wohl, daß in einer Welt der gegenseitigen Abhängigkeit der Völker und Nationen der Vorteil des Teiles am besten durch den Vorteil des Ganzen erreicht werden kann, und daß kein Dauererfolg durch eines der zugehörigen Teile erreicht werden kann, wenn das Allgemeinwohl des Ganzen hintangestellt wird.

Shoghi Effendi


Die zwölf Grundsätze der Bahá’i-Weltreligion


1. Die gesamte Menschheit muß als Einheit betrachtet werden.

2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.

3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.

4. Die Religion muß die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.

5. Die Religion muß mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.

6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.

7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.

8. Der Weltfrieden muß verwirklicht werden.

9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung erfahren.

10. Die sozialen Fragen müssen gelöst werden.

11. Es muß eine Einheitssprache und eine Einheitsschrift eingeführt werden.

12. Es muß ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.