Sonne der Wahrheit/Jahrgang 20/Heft 5-7/Text

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SONNE
DER
WAHRHEIT
 
 
Zeitschrift für Weltreligion und Welteinheit
Organ der Bahá’í
in Deutschland und Oesterreich
 
 
Heft 5-7 20. Jahrgang Juli-September 1950
 


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Die Bahá’i-Weltreligion

Der Glaube, der von Bahá’u’lláh begründet wurde, entstand in Persien um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Nach längerer Verbannung des Gründers, zuletzt nach der türkischen Strafkolonie von Akka, und späterhin nach Seinem Tod und Seiner Beisetzung in Akka, hat der Glaube sein endgültiges Zentrum im Heiligen Land gefunden und ist jetzt im Begriff, die Grundlagen seines Verwaltungszentrums für die ganze Welt in der Stadt Haifa aufzubauen.

Wenn man seinen Anspruch, wie er unmißverständlich durch seinen Begründer verfochten wurde, und die Art des Wachstums der Bahá’i-Gemeinde in allen Teilen der Welt betrachtet, so kann dieser Glaube nicht anders angesehen werden als eine Weltreligion, die dazu bestimmt ist, sich im Laufe der Zeiten in ein weltumfassendes Gemeinwesen zu entwickeln. Dessen Kommen muß das goldene Zeitalter der Menschheit ankündigen, das Zeitalter, das die Einheit des Menschengeschlechtes unerschütterlich begründet, seine Reife erreicht und seine Bestimmung durch die Geburt und das Errichten einer alles umfassenden Zivilisation erfüllen wird.


Neue Darlegung ewiger Wahrheiten

Obwohl dem schiitischen Islam entsprungen und in den ersten Entwicklungsphasen von den Anhängern des mohammedanischen und des christlichen Glaubens nur als eine obskure Sekte, ein asiatischer Kult oder ein Ableger der mohammedanischen Religion betrachtet, beweist dieser Glaube nunmehr in wachsendem Maße sein Anrecht auf eine andere Beurteilung als nur die eines weiteren religiösen Systems, das den sich bekämpfenden Glaubensbekenntnissen, die so viele Geschlechter lang die Menschheit zerspalten und ihre Wohlfahrt verwüstet haben, sich zugesellt hat. Vielmehr ist er eine neue Darlegung der ewigen Wahrheiten, die allen Religionen der Vergangenheit zugrunde liegen, und eine einigende Macht, die den Anhängern dieser Religion einen neuen geistigen Elan einflößt, eine neue Hoffnung und Liebe zur Menschheit und sie durch eine neue Vision befeuert, die der grundsätzlichen Einheit der religiösen Lehren, und vor ihren Augen die herrliche Berufung ausbreitet, die dem Menschengeschlecht winkt.

Die Anhänger dieses Glaubens stehen fest zu dem grundlegenden Prinzip, wie es von Bahá’u’lláh verkündet worden ist, daß religiöse Wahrheit nicht absolut, sondern relativ ist, daß Gottesoffenbarung ein fortdauerndes und fortschreitendes Geschehnis ist, daß alle großen Religionen der Welt göttlich in ihrem Ursprung sind, daß ihre Grundsätze zueinander in völligem Einklang stehen, daß ihre Ziele und Absichten eine und dieselben sind, daß ihre Lehren nur Widerspiegelungen der einen Wahrheit sind, daß ihr Wirken sich ergänzt, daß sie sich nur in unwesentlichen Teilen ihrer Lehren unterscheiden und daß ihre Sendungen aufeinanderfolgende geistige Entwicklungsstufen der Menschheit darstellen.


Zur Versöhnung der sich streitenden Bekenntnisse

Die Ziele Bahá’u’lláh’s, des Propheten dieses neuen und großen Zeitalters, in das die Menschheit eingetreten ist — denn Sein Kommen erfüllt die Prophezeiungen des Neuen und Alten Testamentes wie auch des Koran, die sich auf das Erscheinen des Verheißenen am Ende der Zeiten, am Tage des Gerichtes beziehen — sind nicht die Zerstörung, sondern die Erfüllung der Offenbarungen der Vergangenheit und viel mehr die Versöhnung als die Betonung der Gegensätze der sich streitenden Glaubensbekenntnisse, welche die heutige Menschheit noch zerreißen.

Er ist weit davon entfernt, die Stufe der Ihm vorausgegangenen Propheten herabsetzen oder ihre Lehren schmälern zu wollen. Vielmehr will Er die Grundwahrheiten, die in allen diesen Lehren beschlossen sind, in einer Weise aufs neue darlegen, wie sie den Nöten der Menschheit entsprechen und auf ihre Fassungskraft abgestimmt sind und auf die Fragen, Leiden und Verwirrungen der Zeit, in der wir leben, angewendet werden können.

Seine Sendung ist: zu verkünden, daß die Zeiten der Kindheit und Unreife des Menschengeschlechtes dahin sind, daß die Erschütterungen; der heutigen Stufe der Jugend langsam und schmerzvoll sie zur Stufe der Reife vorbereiten und das Nahen jener Zeit der Zeiten verkünden, da die Schwerter in Pflugscharen umgewandelt werden und das von Jesus Christus verheißene Reich begründet wird und der Friede auf diesem Planeten endgültig und dauernd gesichert ist. Auch stellt Bahá’u’lláh nicht den Anspruch auf Endgültigkeit Seiner eigenen Offenbarung, sondern erklärt vielmehr ausdrücklich, daß ein volleres Maß der Wahrheit, als Ihm von dem Allmächtigen für die Menschheit in einem so kritischen Zeitpunkt gestattet wurde, in den späteren Phasen der endlos weiterschreitenden Menschheitsentwicklung enthüllt werden muß.


Einheit des Menschengeschlechtes

Der Bahá’i-Glaube hält die Einheit Gottes hoch, anerkennt die Einheit Seiner Propheten und betont vor allem den Grundsatz der Einheit und Ganzheit aller Menschenrassen. Er verkündet, daß die Einigung der Menschen notwendig und unvermeidbar ist, hebt hervor, daß wir uns ihr schrittweise nähern und stellt die These auf, daß nichts anderes als der verwandelnde Geist Gottes, der durch Sein erwähltes Sprachrohr an

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SONNE DER WAHRHEIT
Zeitschrift für Weltreligion und Welteinheit
Heft 5-7
Preis: DM —.80
JULI-SEPTEMBER 1950
Kalimát - Worte Mashiyyat - Wille (107)
20. JAHRGANG
Leitgedanken: Einheit der Menschheit - Universaler Friede - Universale Religion

Inhalt: Worte des Báb — Durch Opfer zur Weltordnung — Ährenlese — Göttliche Lebenskunst: Liebe und Einheit — Die geistige Dynamik des Bahá’i-Glaubens — Ein Vorkämpfer für Esperanto — Aus der Bahá’i-Welt: Von den Gedenkfeiern zur 100- jährigen Wiederkehr des Opfertodes des Báb — Bericht über die Dritte Europäische Lehrkonferenz in Kopenhagen — Deutsche Gemeindearbeit.


Ich bin der geheimnisvolle Tempel, den die Hand der Allmacht baute. Ich bin die Lampe, die Gottes Finger in ihrer Nische entzündete und mit unsterblichem Glanz leuchten ließ. Ich bin die Flamme jenes himmlischen Lichtes, das über dem Sinai am fröhlichen Orte aufgeleuchtet und in dem brennenden Busch verborgen war.

Der Bab*)


*) Entnommen aus „Die Sendung Bahá’u’lláh’s“ von Shoghi Effendi; Oxford 1948, Seite 38.


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DURCH OPFER ZUR WELTORDNUNG*)[Bearbeiten]

Zur Gedenkfeier am 9. Juli 1950 anläßlich des 100. Jahrestages des Opfertodes des BAB.

*) Nach einer Ansprache in Karlsruhe.


Es sind heute 100 Jahre, daß an jenem wildbewegten Sommertag, am 9. Juli 1850 in Täbris in Aserbeidschan (Persien), ein junger Perser, erst 31-jährig, auf Geheiß einer fanatischen, mohammedanischen Geistlichkeit und Seiner Regierung von einem Regiment Soldaten unter ungewöhnlichen Umständen erschossen wurde. Mit roher irdischer Gewalt wurde das Leben eines großen Menschen ausgelöscht, der sechs Jahre lang das Evangelium einer neuen religiösen Sendung verkündete.

Obwohl der Hingerichtete — Sein Name war Ali Mohammed — in Seinem Lande eine mächtige geistige Bewegung auslöste, wurde jenem Ereignis wenig Beachtung geschenkt, in einer Zeit, die in den größeren Bann neuer Erfindungen, nationaler Machtentfaltung und materiellen Reichtums gezogen war.

Heute, nach 100 Jahren seit jenem denkwürdigen Geschehen, finden sich in mehr als 90 Ländern auf allen Kontinenten, in Hunderten von Städten und Dörfern, viele Hunderttausende aller Rassen und Stände zu einer Gedenkfeier zusammen, die dem Märtyrertod des genannten Persers gewidmet ist, dem BAB, das soviel besagt wie das Tor oder die Pforte zu einem neuen Gottgesandten, einer göttlichen Manifestation.

In der Geschichte der Völker, im Auf- und Niedergang ihrer Kulturen sind es nicht viele menschliche Opfertaten, die die Geschicke der Menschheit wesentlich bestimmten. Wohl kennen wir manche heldenmütige Taten von Menschen, die aus politischen oder sozialen Gründen den Einsatz ihres persönlichen Lebens nicht scheuten. Es sind uns auch menschliche Opfer um des Glaubens oder einer Idee willen bekannt. Die erhabensten und erschütterndsten Zeugnisse von Selbstüberwindung und Opfergang sind uns aber in der fortschreitenden Entwicklung der Religion gegeben.

Es sind die unvergeßlichen Beispiele bedingungsloser Unterwerfung überragender einzelner unter den Willen Gottes, die eine erlösende Kraft und zukunftsweisendes Licht in das Dunkel der Menschheitsentwicklung hineintrugen. Das Leben, Wirken und Leiden der wenigen Großen, der göttlichen Boten, wiesen den Menschen immer wieder durch jener opfervolle Hingabe den Weg zu deren höchster Bestimmung, zur liebenden Hingabe an den Schöpfer und die Mitmenschen.

Wenn Abrahams Opferbereitschaft noch darin geprüft wurde, daß er seinen über alles geliebten Sohn Gott auf dem Altar des Opfers darbringen sollte, so steht uns der Opfertod Christi als das bezwingendste Zeugnis des bedingungslosen Gehorsams gegenüber Gott vor Augen. Das Geschehen von Golgatha, der Kreuzestod des Nazareners, wurde für das Abendland zu einem geschichtswendenden Ereignis von nicht geahnter Kraft und Bedeutung, hat aber nach der Reformation mehr und mehr an Einfluß auf das Völkerleben verloren. Die kulturschöpferische Macht der Sendung [Seite 67] Mohammeds, die im Mittelalter bis nach Spanien vordrang, verebbte in den letzten Jahrhunderten ebenfalls in wachsendem Maße und verfiel ebenso wie das Christentum einer Verweltlichung und Verflachung.

An die Stelle der aussöhnenden, verbindenden Religion hat der aufgeklärte Mensch der Neuzeit die Vernunft, Systeme von Lebensanschauungen, Philosophien und Ideologien gesetzt, die die inneren, sittlichen Bindungen des einzelnen wie der Gemeinschaft bedrohlich lockerten und aushöhlten. Ein Autor unserer Zeit gab kennzeichnenderweise seinem Buch über den „Weg des 19. Jahrhunderts“ den Untertitel: „Am Abgrund der Ersatzreligionen“!

Nun haben sich aber seit 1844 Dinge ereignet, die wir bis jetzt auf Geschichts- und Zeittafeln nicht verzeichnet finden, die jedoch den Beginn eines neuen Zeitalters für die Menschheit bedeuten. Der Báb, von dem wir eingangs sprachen und Dessen Opfertod am heutigen Tag wir und viele mit uns in tiefster Ehrfurcht und Liebe gedenken, kündigte Mitte des letzten Jahrhunderts eine geistige Wiedergeburt der strauchelnden Menschheit an, eine neue Menschheit, die ein größerer als Er, eine göttliche Manifestation, zu einer befriedeten, geistigen Einheit heraufführen werde.

Der Báb als das Tor zu einem neuen erleuchteten Zeitalter war mehr als ein Reformator oder Mystiker auf mohammedanisch-persischem Boden — Er war selbst ein Sprecher Gottes, ein Herold göttlicher Führung, der in wenigen gefahrvollen Jahren in bezwingender geistiger Macht die Rechte der Menschheit über die der Rasse, Klasse und Nation erhob und unter Hinweis auf die große Offenbarung einen trennende Bekenntnisse übergreifenden, universalen Glauben verkündete. Er legte den Grund zu einer mit Seinem Blut geweihten Weltreligion und machte den Weg frei für Jenen, „den Gott offenbaren wird“, Bahá’u’lláh — die Herrlichkeit Gottes —, der im Jahre 1863 Seine vom Báb vorausgesagte Sendung öffentlich verkündigte.

Der denkwürdige 9. Juli 1850, an dem der Báb hingerichtet wurde, ist durch Augenzeugenberichte von Freunden und Feinden für die Nachwelt festgehalten worden.

Unterdrückung, Verfolgung und Einkerkerung des neuen Propheten konnten nicht verhindern, Seine Anhänger stärker und mutiger anwachsen zu lassen, weshalb trotz Fehlens einer Bestätigung durch ein Gericht und ohne letzte Rechtfertigungsmöglichkeit des Báb das von der geistlichen Führung gefällte Todesurteil am 9. Juli 1850 in Täbris ausgeführt wurde. Dem Bruder des Großwesirs, Mirza Hasam Khan, einem Christen, wurde als Oberst eines armenischen Regiments der Befehl zur Hinrichtung des Báb gegeben. Dem Regimentskommandeur fiel das edle Betragen seines Gefangenen so sehr auf, daß er dem Báb erklärte, keine böse Absicht gegen Ihn zu hegen und daß er, erfüllt von Furcht, daß seine Tat den Zorn Gottes herbeiführen würde, den Verurteilten bat, ihn von der ihm auferlegten Pflicht zu entbinden, wenn Seine Sache die Sache der Wahrheit sei. Der Báb gab dem Obersten darauf folgende Zusicherung: „Folgen Sie Ihren Anweisungen, und wenn Ihre Absicht aufrichtig ist, so ist der Allmächtige [Seite 68] sicher imstande, Sie aus Ihrer Verlegenheit zu befreien.“

Noch ein bedeutungsvolles Vorkommnis ereignete sich vor der Hinrichtung des Báb. „Der Farrash-Basi, der die Durchführung des Befehles des Großwesirs übernahm, hatte schroff die letzte Unterhaltung unterbrochen, die der Báb vertraulich in einem der Räume der Kaserne mit Seinem vertrauten Gehilfen Siyyid Husayn führte und zog den letzteren beiseite und schalt ihn heftig aus, als er von seinem Gefangenen also angeredet wurde:

‚Nicht ehe Ich ihm alles gesagt habe, was Ich ihm sagen will, kann irgend eine irdische Macht Mich zum Schweigen bringen. Möge auch die ganze Welt gegen Mich in Waffen stehen, so soll es ihr doch nicht gelingen, Mich am Vollbringen Meiner Absicht bis zum letzten Wort zu hindern‘.“

Wir lesen in dem Buch „The Dawn Breakers“, Kap. XXIII über den weiteren Verlauf der Hinrichtung des Báb:

Sam Khan befahl seinen Leuten, einen Nagel in den Pfeiler zwischen der Tür zu dem von Siyyid Husayn bewohnten Zimmer und dem Eingang zum Nebenraum einzuschlagen und zwei Seile an ihn zu heften, von denen der Báb und Sein Gefährte gesondert herabhängen sollten. Mirza Mohammed-Ali (der Gefährte des Báb) bat Sam Khan, so angebunden zu werden, daß sein Körper an der Brust des Meisters ruhte. Sobald sie angebunden waren, trat ein Regiment Soldaten in drei Gliedern an, jedes zu 250 Mann, mit der Weisung, wechselweise zu feuern, bis die ganze Abteilung ihre Salven verschossen hätte. Der Pulverdampf der feuernden 750 Gewehre war geeignet, das Licht des Mittags in Dunkel zu wandeln. Auf dem Dach der Kaserne sowohl als auch auf den angrenzenden Häusern hatten sich an zehntausend Menschen angesammelt, von denen jeder Zeuge dieses traurigen und erregenden Schauspiels war.

Sobald der Rauch sich verzogen hatte, starrte eine verblüffte Menge auf ein Bild, das ihre Augen kaum zu fassen vermochten: Da stand der Gefährte des Báb vor ihnen, lebend und unversehrt, während Er selbst ohne Schaden ihren Blicken entschwunden war. Obgleich die Kugeln ihre Hängestricke zerfetzt hatten, waren ihre Leiber wunderbarerweise den Salven entgangen. Selbst das Gewand Mirza Mohammed-Ali’s war, trotz der Dichte des Rauches, ohne Flecken geblieben. „Der Siyyid-i-Báb ist unseren Blicken entschwunden!“, so tönten die Stimmen der bestürzten Menge. Rasend fing sie an, Ihn zu suchen und fand Ihn schließlich in dem Zimmer sitzend, in dem Er zuvor übernachtet hatte, Sein unterbrochenes Gespräch mit Siyyid Husayn vollendend. Ein Ausdruck ruhigsten Friedens war auf Seinem Antlitz. Sein Körper war dem Kugelhagel, den das Regiment auf Ihn gerichtet hatte, unbeschädigt entgangen. — „Ich habe meine Unterhaltung mit Siyyid Husayn beendet“, sagte der Báb zum Farrash-Bashi. „Nun mögen sie ihre Absicht erfüllen.“

Der Mann war zu sehr erschüttert, um fortzufahren. Er weigerte sich, seiner Aufgabe nachzukommen, verließ augenblicklich den Schauplatz und legte seinen Posten nieder ... Sam Khan war genau so betäubt von der Wucht dieser gewaltigen Offenbarung. Er befahl seinen Leuten, die Kaserne sofort zu verlassen und verweigerte [Seite 69] für sich und sein Regiment jede Handlung, die auch nur die kleinste Unbill für den Báb eintragen könnte. Er schwor beim Verlassen des Hofes, nie wieder die Aufgabe zu übernehmen, selbst wenn seine Weigerung ihm den Tod einbringen sollte.

Kaum hatte Sam Khan sich entfernt, als sich Aqa Ján Khan-i-Khamsikh, Oberst der Leibgarde, auch bekannt unter den Namen Khamsi und Nasiri, freiwillig erbot, den Hinrichtungsbefehl zu vollstrecken. Der Báb und Sein Gefährte wurden an der gleichen Mauer und in der gleichen Weise wieder hochgehängt, und das Regiment trat in Linie an, um auf sie zu feuern. Anders als vorher, da nur ihr Hängeseil in Stücke geschossen war, wurden ihre Körper diesmal verletzt und zu einer einzigen Masse von Fleisch und Knochen vermengt.

„Hättest du, o widerspenstiges Geschlecht, an Mich geglaubt“, waren die letzten Worte des Báb an die gaffende Menge, während sich das Regiment anschickte, die letzte Salve abzufeuern, „so würde jeder von euch dem Beispiel dieses Jünglings, der im Rang hoch über den meisten von euch stand, gefolgt sein und sich gern auf Meinem Pfad geopfert haben. Der Tag wird kommen, da ihr Mich erkannt haben werdet, an jenem Tag werde Ich aufgehört haben, in eurer Mitte zu weilen.“

Im Augenblick, als die Schüsse fielen, erhob sich ein Sturm von ungewöhnlicher Stärke und fegte über die ganze Stadt hin. Ein unglaublich dichter Wirbel von Staub verdunkelte die Sonne und blendete die Augen der Leute. Die ganze Stadt blieb in das Dunkel gehüllt von Mittag bis Abend.

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Heute, ein Jahrhundert, nachdem die Stimme des Báb durch Seine Hinrichtung zum Schweigen gebracht wurde, müssen wir erkennen, daß die ganze Menschheit ihr eigenes, selbstverschuldetes Märtyrertum erleidet, weil sie sich immer noch weigert, dem göttlichen Ruf zu folgen und sich in einem umfassenden Glauben auszusöhnen und zu vereinigen. Gleichsam wie ein Meteor trat der Báb mit prophetischer Verheißung der unmittelbar bevorstehenden Heraufkunft eines Gottgesandten am Firmament auf und wurde durch seinen Opfertod zum Wegbereiter und Lichtstrahl der erlösenden Wahrheit, die der von Ihm Verheißene, Bahá’u’lláh, in der Niederlegung einer gerechten Weltordnung im Zeichen der Einheit der Menschheit und der Religionen bald nach dem erschütternden Ereignis in Täbris offenbarte.

Der berufene Erklärer der Sendungen des Báb und Bahá’u’lláh’s, ‘Abdu’l-Bahá, legt die Beziehungen zwischen den beiden mit der Bahá’i-Sendung verbundenen Manifestationen wie folgt dar:

„Die Offenbarung des Báb mag mit der Sonne verglichen werden, deren Stand dem ersten Tierkreiszeichen entspricht, dem Zeichen des Widders, in welches die Sonne mit der Tag- und Nachtgleiche des Frühlings eintritt. Die Stufe der Offenbarung Bahá’u’lláh’s dagegen wird durch das Zeichen des Löwen dargestellt, wenn die Sonne die Sommermitte und ihren höchsten Stand erreicht hat. Das bedeutet, daß diese heilige Offenbarung erleuchtet ist vom Lichte der Sonne der Wahrheit, die von ihrem erhabensten Punkte aus in der Fülle ihres Glanzes, ihrer Wärme und ihrer Herrlichkeit herabscheint.“ (Die Sendung Bahá’u’lláh’s, S. 40). [Seite 70]

Die heutigen Probleme des Aufbaus einer friedlichen und gerechten Weltordnung übersteigen menschliches Können und Vermögen; sie erheischen wahrlich eine göttliche inspirierte Lösung, die nur aus dem Bereich der Religion kommen kann. Alle großen Kulturen hatten ihren Aufstieg einem religiösen Impuls zu verdanken und zerfielen mit dem Niedergang ihrer göttlichen Bindungen. Hatte Goethe nicht recht, wenn er sagte:

„Das eigentlich einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschheitsgeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Glaubens und Unglaubens!“

Aus der Diagnose der tiefsten Ursachen der heutigen allgemeinen Unsicherheit, des Mißtrauens und des Zweifels, der Verantwortungsmüdigkeit und des Glaubensschwundes ergibt sich für den tiefer Schauenden fast zwangsläufig die Antwort, daß nur eine neue sittlich-religiöse Fundamentierung der einzelmenschlichen, gesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Beziehungen und Bindungen eine durchgreifende Wendung der bedrohlichen Lage der Menschheit herbeiführen kann. Verständigung oder Chaos, Ordnung oder Untergang heißt die alternative Lebensfrage der Menschheit.

Wir sind der gleichen Auffassung wie Toynbee, der sagt: „Was der modernen Welt zutiefst not tut, ist eine Neugeburt des Glaubens an das Übernatürliche“. Wahrer Glauben kann aber nur aus der Religion kommen und diese kann heute nur eine solche sein, die die ganze Menschheit erneuert und vereinigt.

Die Sicherung des Weltfriedens und eines sozialen Ausgleichs ist ohne die Errichtung einer gerechten Weltordnung nicht denkbar und diese wiederum kann nur dann von Bestand sein, wenn sie göttlichen Ursprungs ist.

In religionsgeschichtlicher Einmaligkeit hat nun Bahá’u’lláh, dessen Vorläufer der Báb war, schon vor mehr als 80 Jahren trotz Verfolgung, Verbannung, Einkerkerung und Lebensbedrohung „den Zirkel der Einigkeit geführt, Er hat einen Plan niedergelegt für die Vereinigung aller Völker, um sie alle unter dem schützenden Zelt der Einigkeit zu sammeln.“ (‘Abdu’l-Bahá).

Es ist nun zum Ereignis geworden: Für die Völker der Welt liegt seit dem Erscheinen Bahá’u’lláh’s eine göttlich geoffenbarte Welt-Charta in authentisch-dokumentarischer Form bereit. Die Zukunft der Menschheit wird durch deren allgemeine Annahme und Verwirklichung bestimmt werden.

Die von Bahá’u’lláh niedergelegte Weltordnung und deren autoritative Erläuterung durch Seinen ältesten Sohn ‘Abdu’l-Bahá verbürgen in ihrem Aufbau soziale Gerechtigkeit, treuhänderische, beratende und übernationale Zusammenarbeit im Bewußtsein wahrer und weltoffener Bruderschaft. Ausgehend von der tragenden Idee der geistigen Einheit der Menschheit zielt die Weltordnung von Bahá’u’lláh auf die Bildung eines Weltgemeinwesens ab, da die nationalstaatliche Entwicklung ihren Abschluß gefunden hat....

Gott geht vorüber“ betitelte Shoghi Effendi sein Buch über das erste Bahá’i-Jahrhundert. Wenn wir heute des freiwilligen Opfertodes des Báb gedenken, können wir uns der erlösenden und verpflichtenden Macht dieses erschütternden Ereignisses nicht entziehen. [Seite 71]

Christi Wort: „Nehme dein Kreuz auf dich und folge mir nach“ hat durch den Opfergang des Báb und die von Bahá’u’lláh aus freiem Entschluß auf sich genommene 40jährige Freiheitsberaubung in unbeschreiblicher, härtester und erniedrigender Gefängnis- und Kerkerhaft eine unvergleichliche Steigerung erfahren. Die neue Weltordnung muß von wiedergeborenen Menschen getragen werden, von opferbereiten, glaubensstarken Menschen, deren liebende Taten sie zur Stufe des wahren Menschen erheben.

Die tiefste Bedeutung, die erlösende Kraft des Opfers erschließt sich den Menschen in dem Geschehen der fortschreitenden Gottesoffenbarung, in der unbedingten Hingabe der Gottgesandten an Gott für die Menschen, in ihrer Wahrheitsoffenbarung.

Dem Glauben an den Erlöser muß aber die sittliche Tat der Selbstüberwindung des Menschen folgen.

Die folgenden Worte Bahá’u’lláh’s mögen uns am heutigen Gedenktag zur 100. Wiederkehr des Märtyrertodes des Báb die hohe Berufung des Menschen unserer Zeit vergegenwärtigen:

O Sohn des Menschen!
Auf die Tafel des Geistes schreibe alles, was Wir dir verkündet haben, mit der Tinte des Lichtes. Wenn du dies nicht vermagst, so mache zu deiner Tinte das Wesen deines Herzens. Bist du auch dazu nicht imstande, dann schreibe mit der roten Tinte, die auf dem Pfade zu Mir vergossen wurde. Wahrlich, dies ist Mir kostbarer als alles andere, denn solches Licht währet ewiglich1).

E. Sch.


1) V. Worte arab. 71, S. 28.



ÄHRENLESE AUS DEN SCHRIFTEN VON BAHA’U’LLAH[Bearbeiten]

Nach der englischen Übersetzung von Shoghi Effendi (New York, Bahá’i Publishing Committee 1935) ins Deutsche übertragen.

(Fortsetzung)


LXXX. Du hast Mich gefragt, ob der Mensch, abgesehen von den Propheten Gottes und Seinen Erwählten, nach seinem körperlichen Tod jene gleiche Individualität und Persönlichkeit, jenes gleiche Bewußtsein und den gleichen Verstand beibehalten wird, die seinem Leben in dieser Welt ein eigenes Merkmal gaben. Wenn dies der Fall wäre, sagst du, wie kommt es dann: während schon so unbedeutende Schädigungen der geistigen Fähigkeiten des Menschen, wie Ohnmacht und schwere Unpäßlichkeit, ihm Verstand und Bewußtsein nehmen — daß der Tod, der die Zersetzung seines Körpers und die Auflösung seiner Grundstoffe in sich schließt, machtlos ist, jenen Verstand zu zerstören und jenes Bewußtsein auszulöschen? Wie kann sich jemand vorstellen, daß Bewußtsein und Persönlichkeit des Menschen erhalten bleiben, wenn gerade die für ihr Bestehen und Wirken notwendigen Werkzeuge vollkommen in ihre Bestandteile aufgelöst sind?

Wisse, daß die Seele des Menschen über alle Gebrechlichkeit von Körper und Gemüt und von ihnen unabhängig ist. Daß ein kranker Mensch Zeichen von Schwäche zeigt, kommt von den Hindernissen, die sich bei ihm zwischen Seele [Seite 72] und Körper stellen, denn die Seele selbst bleibt unberührt von irgendwelchen körperlichen Störungen. Betrachte das Licht der Lampe! Obwohl ein sich außerhalb dieser befindender Gegenstand störend auf ihren strahlenden Glanz wirken kann, so scheint das Licht selbst weiter mit unverminderter Kraft. In derselben Weise ist jede den Körper des Menschen befallende Krankheit ein Hindernis, das die Seele davon abhält, die ihr innewohnende Kraft und Stärke zu offenbaren. Wenn diese den Körper verläßt, wird sie jedoch eine solche Gewalt an den Tag legen und einen derartigen Einfluß offenbaren, daß keine Kraft auf Erden dem gleichkommt. Jede reine, jede geläuterte und geheiligte Seele wird mit ungeheurer Macht ausgestattet werden und außerordentliche Freude genießen.

Betrachte die Lampe, die unter einem Scheffel verborgen ist! Obwohl ihr Licht leuchtet, ist ihr Schein dennoch vor den Menschen verhüllt. Betrachte ebenso die Sonne, die von Wolken verdunkelt wird. Sieh, wie ihr Glanz scheinbar abgenommen hat, während in Wirklichkeit die Quelle jenes Lichtes unverändert blieb. Die Seele des Menschen sollte mit dieser Sonne verglichen und alle Dinge auf Erden als sein Körper angesehen werden. Solange kein äußeres Hindernis zwischen sie tritt, wird der Körper in seiner Gesamtheit fortfahren, das Licht der Seele widerzuspiegeln und wird von ihrer Kraft getragen. Sobald sich jedoch ein Schleier zwischen beide legt, hat es den Anschein, als würde die Klarheit jenes Lichtes herabgemindert.

Betrachte wiederum die Sonne, wenn sie völlig hinter den Wolken verborgen ist. Obgleich die Erde noch von ihrem Lichte erleuchtet wird, so ist doch das Maß des Lichtes, das diese erhält, bedeutend geringer geworden. Erst wenn die Wolken sich zerstreuten, kann die Sonne wieder in der Fülle ihrer Herrlichkeit strahlen. Ob nun aber Wolken da sind oder nicht — in keiner Weise kann dies den natürlichen Glanz der Sonne berühren. Die Seele des Menschen ist die Sonne, durch die sein Körper erleuchtet wird und aus der er seine Nahrung zieht, und sie sollte auch so angesehen werden.

Beobachte ferner, wie die Frucht vor ihrer Bildung mit allen ihr innewohnenden Entfaltungsmöglichkeiten im Baume ruht. Würde der Baum in Stücke gespalten, so würde sich kein Zeichen noch irgend ein Teilchen der Frucht, wie klein es auch immer sei, darin finden. Sobald diese zum Vorschein kommt, enthüllt sie sich jedoch, wie du gemerkt hast, in ihrer wunderbaren Schönheit und herrlichen Vollkommenheit. Gewisse Früchte erreichen ihre höchste Entfaltung allerdings erst, wenn sie vom Baume getrennt sind.

LXXXI. Und nun zu deiner Frage über die Seele des Menschen und ihr Fortleben nach dem Tode. Wisse wahrlich, daß die Seele nach ihrer Trennung vom Körper weitere Fortschritte macht, bis sie die Gegenwart Gottes in einem Zustand und einer Beschaffenheit erreicht, die weder der Umbruch der Zeiten und Jahrhunderte noch die Wechsel- und Glücksfälle dieser Welt abändern können. Sie wird so lange dauern, wie das Reich Gottes, Seine Herrschaft, Seine Hoheit und Macht dauern werden. Sie wird die Zeichen Gottes und Seine Eigenschaften offenbaren und Seine liebende Güte und Freigebigkeit enthüllen. Die Bewegung Meiner Feder setzt aus, wenn sie die Höhe und Herrlichkeit einer so erhabenen Stufe angemessen zu beschreiben versucht. Die Ehre, mit der die Hand der Gnade die Seele bekleiden wird, ist solcherart, daß keine Zunge sie gebührend [Seite 73] enthüllen noch irgend eine andere irdische Vermittlung sie beschreiben kann. Gesegnet ist die Seele, die zur Stunde ihrer Trennung vom Körper geheiligt über die leeren Einbildungen der Weltkinder ist. Eine solche Seele lebt und bewegt sich in Übereinstimmung mit dem Willen ihres Schöpfers und geht in das höchste Paradies ein. Die Himmelsdienerinnen, Bewohnerinnen der erhabensten Wohnstätten, werden sie umkreisen, und die Propheten Gottes und Seine Erwählten werden ihre Gesellschaft suchen. Mit ihnen wird jene Seele frei verkehren und wird ihnen berichten, was sie auf dem Pfade Gottes, des Herrn aller Welten, erdulden mußte. Wenn einem Menschen gesagt würde, was für eine solche Seele in den Welten Gottes, des Herrn des Thrones in der Höhe und hienieden auf Erden, verordnet wurde, so würde sein ganzes Sein augenblicklich auflodern in großem Verlangen, diese erhabenste, diese geheiligte und strahlende Stufe zu erreichen. ... Die Natur der Seele nach dem Tode kann nie beschrieben werden, noch ist es angemessen und zulässig, ihren vollen Charakter vor den Augen der Menschen zu enthüllen. Die Propheten und Sendboten Gottes wurden zu dem alleinigen Zweck herabgesandt, die Menschen auf den geraden Weg der Wahrheit zu führen. Die Absicht, die ihrer Offenbarung zugrunde lag, war die, alle Menschen zu erziehen, damit sie in der Stunde des Todes in äußerster Reinheit und Heiligkeit und in völliger Loslösung zum Thron des Höchsten aufsteigen möchten. Das Licht, das diese Seelen ausstrahlen, ist bestimmend für den Fortschritt in der Welt und die Höherentwicklung ihrer Bewohner. Sie sind wie der Sauerteig, der die Welt des Daseins durchdringt und formen die belebende Kraft, durch welche die Künste und Wunder dieser Welt offenbar werden. Durch sie regnen die Wolken ihre Freigebigkeit auf die Menschen nieder, und die Erde bringt ihre Frucht hervor. Alle Dinge müssen notwendigerweise eine Ursache haben, eine treibende Kraft, einen belebenden Ursprung. Diese Seelen und Sinnbilder der Loslösung haben die Welt des Daseins mit dem höchsten bewegenden Antrieb versorgt und werden es auch weiterhin tun. Die jenseitige Welt ist so verschieden von dieser Welt, wie diese Welt verschieden von der des Kindes ist, während es sich noch im Mutterleib befindet. Wenn die Seele die Gegenwart Gottes erreicht, wird sie die Form annehmen, die ihrer Unsterblichkeit am besten frommt und ihrer himmlischen Wohnstätte würdig ist. Ein solches Dasein ist ein zugeteiltes und kein absolutes Dasein, da dem ersteren eine Ursache vorangeht, während das letztere davon unabhängig ist. Absolutes Dasein beschränkt sich ausschließlich auf Gott — gepriesen sei Seine Herrlichkeit! Wohl denen, die diese Wahrheit erfassen! Würdest du im Herzen über das Verhalten der Propheten Gottes nachsinnen, so würdest du sicher und bereitwillig bezeugen, daß es notwendigerweise andere Welten außer dieser Welt geben muß. Die Mehrzahl der wahrhaft Weisen und Gelehrten hat durch die Zeitalter hin — wie es von der Feder der Herrlichkeit im Tablet der Weisheit verzeichnet wurde — Zeugnis von der Wahrheit dessen abgelegt, was die heilige Schrift Gottes geoffenbart hat. Selbst die Materialisten haben in ihren Schriften die Weisheit dieser göttlich berufenen Sendboten bezeugt und die von den Propheten gemachten Hinweise auf das Paradies, auf das Höllenfeuer, auf künftige Belohnung und Bestrafung so angesehen, als seien sie aus dem Wunsche entstanden, die Seelen der Menschen zu erziehen und zu erheben. Beobachte daher, wie [Seite 74] die Menschheit im allgemeinen — was immer ihr Glaube und ihre Theorien sein mögen — das Verdienst dieser Propheten Gottes erkannt und ihre Überlegenheit zugegeben hat. Diese Perlen der Loslösung werden von einigen als die Verkörperung der Weisheit angesehen, während andere glauben, daß sie das Sprachrohr Gottes seien. Wie könnten solche Seelen ihrer Auslieferung an ihre Feinde zugestimmt haben, wenn sie geglaubt hätten, daß alle Welten Gottes auf dieses irdische Leben beschränkt seien? Und würden sie freiwillig solche Not und Pein ertragen haben, wie kein Mensch sie je erlitt oder bezeugt hat?

LXXXII. Du hast Mich über die Natur der Seele befragt. So wisse wahrlich, daß die Seele ein Zeichen Gottes ist, ein himmlischer Edelstein, dessen Wirklichkeit die gelehrtesten der Menschen nicht zu begreifen vermocht haben, und dessen Geheimnis kein noch so scharfer Geist je zu enthüllen hoffen kann. Sie ist das erste unter allen erschaffenen Dingen, das die Vollkommenheit seines Schöpfers kundtut, das erste, das Seine Herrlichkeit erkennt, Seiner Wahrheit folgt und sich in Anbetung vor Ihm niederbeugt. Wenn sie Gott treu ist, wird sie Sein Licht widerstrahlen und schließlich zu Ihm zurückkehren. Wenn sie jedoch ihre Untertanenpflicht ihrem Schöpfer gegenüber versäumt, wird sie ein Opfer des Selbstes und der Leidenschaft werden und am Ende in deren Tiefen versinken.

Wer an diesem Tag den Zweifeln und Einbildungen der Menschen nicht gestattet hat, ihn von Ihm, der die ewige Wahrheit ist, abzubringen, und wer dem durch die kirchlichen und weltlichen Behörden entflammten Aufruhr nicht erlaubt hat, ihn von der Erkenntnis Seiner Botschaft abzuschrecken — ein solcher Mensch wird von Gott, dem Herrn aller Menschen, als eines Seiner mächtigen Zeichen angesehen und unter die gerechnet werden, deren Namen durch die Feder des Höchsten in Seinem Buch verzeichnet sind. Gesegnet ist der, welcher die wahre Größe einer solchen Seele erschaut, ihre Stufe anerkannt und ihre Tugenden entdeckt hat.

Viel ist in den Büchern der Vergangenheit über die verschiedenen Äußerungen in der Entwicklung der Seele, wie z. B. die Fleischeslust, den Jähzorn, die Eingebung, das Wohlwollen, die Genügsamkeit, das göttliche Wohlgefallen und dergleichen, geschrieben worden. Die Feder des Höchsten ist jedoch nicht geneigt, dabei zu verweilen. Jede Seele, die an diesem Tag demütig mit ihrem Gott geht und Ihm treu ist, wird sich mit der Ehre und Herrlichkeit aller schönen Namen und Stufen geschmückt finden.

Wenn der Mensch schläft, kann man keineswegs sagen, daß seine Seele innerlich durch irgend einen äußeren Gegenstand beeinflußt worden sei. Sie ist für keinerlei Wechsel in ihrem ursprünglichen Zustand oder Charakter empfänglich. Jede Veränderung in ihrer Tätigkeit muß äußeren Ursachen zugeschrieben werden. Diesen äußeren Einflüssen sollte man alle Veränderungen in ihrer Umgebung, ihrem Verständnis- und Empfindungsvermögen beimessen.

Betrachte das menschliche Auge! Obwohl es die Fähigkeit hat, alle erschaffenen Dinge wahrzunehmen, mag dennoch das geringste Hindernis seine Sehkraft so trüben, daß es ihr die Kraft nimmt, irgendeinen Gegenstand, was es auch sei, zu unterscheiden. Verherrlicht sei der Name Dessen, der die Ursache dieser Ursachen erschaffen hat und ihre Ursache ist, der verordnete, daß jeglicher [Seite 75] Wandel und Wechsel in der Welt des Seins von ihnen abhängig sei! Jedes erschaffene Ding im ganzen All ist nur ein Tor, das zu Seiner Erkenntnis führt, ein Zeichen Seiner Herrschaft, eine Offenbarung seiner Namen, ein Sinnbild Seiner Erhabenheit, ein Beweis Seiner Macht, ein Mittel der Zulassung auf Seinem geraden Pfad....

Wahrlich, Ich sage, die menschliche Seele ist in ihrem Wesen eines der Zeichen Gottes, ein Geheimnis unter Seinen Geheimnissen. Sie ist eines der mächtigen Zeichen des Allmächtigen, der Vorbote, der die Wirklichkeit aller Welten Gottes verkündet. In ihr liegt verborgen, was die Welt jetzt zu begreifen völlig unfähig ist. Sinne im Herzen über die Offenbarung der Seele Gottes nach, die alle Seine Gesetze durchdringt, und stelle sie jener niedrigen und begehrenden Natur gegenüber, die sich gegen Ihn aufgelehnt hat, die die Menschen daran hindert, sich dem Herrn der Namen zuzuwenden, und sie treibt, ihren Begierden und ihrer Schlechtigkeit zu folgen. Eine solche Seele ist in Wahrheit weit auf dem Pfade des Irrtums dahingewandert....

Du hattest Mich ferner über den Zustand der Seele nach ihrer Trennung vom Körper gefragt. Wisse wahrlich, daß die menschliche Seele, wenn sie auf den Wegen Gottes gewandelt ist, gewißlich zur Herrlichkeit des Geliebten zurückkehren und in sie aufgenommen werden wird. Bei der Gerechtigkeit Gottes! Sie wird eine Stufe erreichen, die keine Feder beschreiben und keine Zunge zu schildern vermag. Die Seele, die der Sache Gottes treu geblieben ist und unbeirrbar fest auf Seinem Pfad blieb, wird nach ihrem Emporsteigen mit solcher Macht begabt werden, daß alle Welten, die der Allmächtige erschaffen hat, durch sie gefördert werden können. Eine solche Seele versieht und durchdringt auf Geheiß des wahren Königs und göttlichen Erziehers die Welt des Seins mit dem reinen Sauerteig und spendet die Kraft, die Künste und Wunder der Welt offenbar werden läßt. Bedenke, wie das Mehl Sauerteig zum Säuern braucht. Jene Seelen — Sinnbilder der Loslösung — sind der Sauerteig der Welt. Denke darüber nach, und werde einer der Dankbaren.

In mehreren Unserer Tablets haben Wir Uns auf dieses Thema bezogen und die verschiedenen Stufen in der Entwicklung der Seele gezeigt. Wahrlich, Ich sage: die menschliche Seele ist erhaben über jeden Fortgang und jede Rückkehr. Sie verharrt und dennoch schwingt sie sich empor, sie bewegt sich und dennoch ist sie unbeweglich. Sie ist in sich selbst ein Beweis, der Zeugnis ablegt für das Vorhandensein einer Welt, die zufallsbedingt ist, wie für die Wirklichkeit einer Welt, die weder Anfang noch Ende hat. Sieh, wie der Traum, den du geträumt hast, nach Ablauf vieler Jahre wieder vor deinen Augen ersteht. Bedenke, wie seltsam das Geheimnis der Welt ist, die dir in deinem Traume erscheint. Bewege die unergründliche Weisheit Gottes in deinem Herzen, und versenke dich in ihre mannigfachen Offenbarungen....

Bezeuge die wunderbaren Beweise von Gottes Schöpfung, und sinne nach über ihren Umfang und ihre Zeichen. Er, der das Siegel der Propheten ist, hat gesagt: „Vermehre mein Erstaunen und Verwundern über Dich, o Gott!“

Was deine Frage betrifft, ob die körperliche Welt irgendwelchen Begrenzungen unterworfen sei, so wisse, daß das Erfassen dieses Gegenstandes vom Beobachter abhängt. In einer Hinsicht ist sie begrenzt, in einer andern ist sie erhaben [Seite 76] über alle Begrenzungen. Der eine, wahre Gott hat seit Ewigkeit her bestanden und wird ewiglich weiterbestehen. Ebenso hat auch Seine Schöpfung keinen Anfang gehabt und wird kein Ende haben. Allem, was erschaffen ist, geht jedoch eine Ursache voraus. Diese Tatsache an sich setzt über den Schatten jedes Zweifels hinaus die Einheit des Schöpfers fest.

(Fortsetzung folgt)

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GÖTTLICHE LEBENSKUNST[Bearbeiten]

Aus dem Englischen übertragen

13. KAPITEL: LERNE GOTT ERKENNEN UND LIEBEN!

(Fortsetzung)


Welcher Flutstrom wäre mit dem Strom Seiner allumfassenden Gnade vergleichbar, und welche Wohltat könnte die Beweise einer so großen und durchdringenden Barmherzigkeit überragen? Es steht außer jedem Zweifel, daß die Welt vollkommen unterginge, wenn ihr einen Augenblick lang der Strom Seiner Barmherzigkeit und Gnade entzogen würde. Aus diesem Grund sind vom Anfang her, der keinen Anfang hat, die Tore göttlicher Barmherzigkeit vor dem Angesicht alles Erschaffenen weit geöffnet worden, und die Wolken der Wahrheit werden bis zum Ende, das kein Ende hat, weiterhin auf dem Boden menschlicher Fähigkeit, Wirklichkeit und Persönlichkeit ihre Gunst und Freigebigkeit niederregnen. Solches ist Gottes von Ewigkeit zu Ewigkeit fortgesetztes Verfahren gewesen. (15)

Du bist wahrlich Der, dessen Barmherzigkeit alle Welten umfaßt hat und dessen Gnade alles, was auf Erden und im Himmel wohnt, umschließt. Wo ist dort jemand, der nach Dir geschrien hat und dessen Flehen ohne Antwort geblieben ist? Wo ist jemand zu finden, der sich nach Dir ausgestreckt hat und dem Du Dich nicht genähert hast? Wo ist jemand, der sagen kann, er habe seinen Blick auf Dich gerichtet, Deine Augen liebevoller Güte hätten aber nicht auf Dir geruht? Ich bezeuge, daß Du Dich Deinen Dienern zugewandt hast, ehe sie sich Dir zugewandt hatten, und daß Du ihrer gedacht hast, ehe sie Deiner gedacht hatten. Alle Gnade ist Dein, o Du, in dessen Hand das Reich göttlicher Gaben und der Quell jeder unwiderruflichen Entscheidung liegt. (16)

... Die mannigfachen Gaben des Herrn aller Wesen haben zu allen Zeiten durch die Manifestationen Seiner göttlichen Wesenheit die Erde und alle, die darinnen leben, umfaßt. Nicht einen Augenblick lang wurde Seine Gnade zurückgehalten, noch haben die Schauer Seiner liebenden Güte aufgehört, auf die Menschheit zu regnen. (17)

Betrachte, wie stark sich die Liebe Gottes offenbart. Unter den Zeichen Seiner Liebe, die in der Welt erschienen, sind die Dämmerungsorte Seiner Manifestationen. Welcher unendliche Grad von Liebe wird durch die göttlichen Manifestationen auf die Menschheit widergestrahlt! Um der Führung [Seite 77] der Menschen willen haben sie willig ihr Leben aufs Spiel gesetzt, für die Belebung der Menschenherzen. Sie haben das Kreuz auf sich genommen. Um die Menschenseelen zum höchsten Grade der Fortentwicklung gelangen zu lassen, haben sie während ihrer begrenzten Jahre äußerste Prüfungen und Widrigkeiten durchlitten....

Beobachte, wie selten die Menschenseelen Vergnügen oder Bequemlichkeit für andere opfern. Wie unwahrscheinlich ist es, daß ein Mensch sein Auge darbringen würde oder sich zerstückeln ließe zum Nutzen eines andern! Doch alle diese göttlichen Manifestationen litten, brachten Leben und Blut dar und opferten Existenz, Bequemlichkeit und allen Besitz um der Menschheit willen. Siehe also, welche Liebe sie hegen. Wäre dies nicht aus Liebe zur Menschheit geschehen, so wäre geistige Liebe nur ein leeres Wort geblieben. Wäre dies nicht zur Erleuchtung der Menschenseelen geschehen, so wären diese nicht strahlend geworden. Welche Wirkung hat doch solche Liebe! Sie ist ein Zeichen der Liebe Gottes, ein Strahl der Sonne der Wirklichkeit. (18)


Gott lieben lernen.

Zum Himmel Deiner Liebe und Güte erhebe mich, o mein Erquicker, und zum Tagesgestirn Deiner Führung leite mich, o Du, der Du mich zu Dir ziehest. (19)

Das Wesen der Liebe ist für den Menschen, sein Herz dem Geliebten zuzuwenden und sich von allem zu trennen außer Gott und nichts zu wünschen als das, was der Wunsch seines Herrn ist. (20)

Hilf mir, die Perlen Deiner Liebe zu bewahren, die Du nach Deinem Ratschluß mir ins Herz geschlossen hast. (21)

Lasset die Flamme der Liebe Gottes hell in eueren strahlenden Herzen brennen. Nähret sie mit dem Öl göttlicher Führung und beschirmet sie im Schutze euerer Standhaftigkeit. Bewahret sie in der Lampe des Glaubens und der Loslösung von allem außer Gott, so daß das böse Geflüster der Gottlosen ihr Licht nicht auslöschen mag. O Meine Diener! Meine Heilige, Meine göttlich verordnete Offenbarung kann einem Ozean verglichen werden, in dessen Tiefen zahllose Perlen von hohem Wert und überstrahlendem Glanz verborgen ruhen. Es ist die Pflicht eines jeden Suchers, sich zu regen und danach zu streben, die Küsten dieses Ozeans zu erreichen, so daß er, jeweils nach seinem Eifer im Suchen und nach den Anstrengungen, die er macht, an den Wohltaten teilnimmt, die in Gottes unwiderruflichen und verborgenen Schriften vorherbestimmt sind. (22)

Wisse, daß nichts dem Menschen genügen kann außer der Liebe des Barmherzigen. Nichts erleuchtet das Menschenherz außer dem Glanze, der aus dem Reiche Gottes leuchtet. Lege alles Grübeln und zweifelnde Gerede ab und richte deine Gedanken nur auf das, was den Menschen in den Himmel der Gabe Gottes erhebt. (23)


Was die Liebe Gottes uns bringt.

O Sohn des Menschen! Deiner Erschaffung galt Meine Liebe, darum erschuf Ich dich. Nun liebe Mich, auf daß ich dich im Geiste des Lebens festige und immer dein gedenke. (24)

O Sohn des Seins! Liebe Mich, damit Ich dich liebe. Wenn du Mich nicht liebst, kann Meine Liebe dich [Seite 78] niemals erreichen. Erkenne dies, o Mensch! (25)

O Sohn des Seins! Meine Liebe ist Meine Feste. Wer sie betritt, ist sicher und errettet, wer sich aber abwendet, der geht in die Irre und ins Verderben. (26)

O Sohn der Offenbarung! Meine Feste bist du. Komm herein, auf daß du sicher wohnest. Meine Liebe ist in dir. Erkenne sie, und du wirst Mich nahe finden. (27)

O du, der den einzigen Freund nicht kennt! Die Kerze deines Herzens ist entzündet durch die Hand Meiner Macht. Verlösche sie nicht durch Windstöße der Selbstsucht und der Leidenschaften. Der Heiler all deiner Gebrechen ist dein Denken an Mich, vergiß dies nie! Mache Meine Liebe zu deinem Kraftquell und halte sie so wert, wie dein Augenlicht und dein Leben. (28)

Der Tag naht heran, da die dazwischen wehenden Wolken völlig zerstreut sind, da das Licht der Worte „Alle Ehre gebührt Gott und denen, die Ihn lieben“ erschienen ist, so offenbar wie die Sonne über dem Horizonte des Willens des Allmächtigen. (29)


Gebete, um zur Erkenntnis und Liebe Gottes zu gelangen.

O Du gütiger Gott! Du bist gütiger zu mir als ich selbst und Deine Liebe ist reichlicher und älter. Wann immer ich Deiner Gaben gedenke, werde ich glücklich und hoffnungsvoll. Wenn ich in Unruhe bin, dann wird mir wohl in Herz und Seele. Wenn mir die Treue mangelt, werde ich wieder treu. Wenn ich hoffnungslos gewesen bin, werde ich wieder hoffnungsvoll. O Du Herr des Königreichs! Lasse mein Herz sich erfreuen, mache meinen schwachen Geist mächtig und stärke meine erschöpften Lebenskräfte. Erleuchte meine Augen, lasse meine Ohren hörend werden, so daß ich der Melodie des Königreiches lauschen und Freude und ewige Glückseligkeit erlangen mag. Wahrlich, Du bist der Großmütige, der Geber und der Gütige! (30)

O du verzeihender Herr! Diese Deine Diener wenden sich zu Deinem Königreich und suchen Deine Gnade und Deine Gaben. O Gott! Mache ihre Herzen gut und rein, damit sie Deiner Liebe würdig werden. Reinige und heilige ihren Geist, damit das Licht der Sonne der Wirklichkeit aus ihnen leuchte. Reinige und heilige ihre Augen, daß sie Deine Sonne schauen. Reinige und heilige ihr Gehör, damit sie den Ruf aus Deinem Königreich vernehmen. O Herr! Wahrlich, wir sind schwach, Du aber bist mächtig. Wahrlich, wir sind arm, Du aber bist reich. Wir sind die Suchenden, Du aber bist der Gesuchte. O Herr! Habe Geduld mit uns, vergib uns, verleihe uns allen die nötige Fähigkeit und Bereitwilligkeit, Deinen Willen zu tun, damit wir in Glut geraten durch das Feuer Deiner Liebe, damit wir angezogen werden durch Dein Königreich, und damit wir in diesem leuchtenden Jahrhundert neu belebt werden durch den Odem Deines Heiligen Geistes. Du bist kraftvoll, Du bist barmherzig und allgütig! (31)


14. KAPITEL: LIEBE UND EINHEIT


Die Propheten Gottes allzusammen, Christus selbst sowohl wie die gesegnete Schönheit (Bahá’u’lláh), sind mit dem einen Vorsatz gekommen und haben darum ihren Ruf erschallen lassen, daß sie die Welt des Menschen in [Seite 79] das Reich Gottes umwandeln. Ihr gemeinsames Ziel war, das Irdische in Himmlisches zu verwandeln, Finsternis in Licht, satanische Dinge in göttliche Dinge. Sie bemühten sich, das Reich der Harmonie und Liebe unter den Menschenkindern zu errichten, vor deren Augen die grundsätzliche Einheit des ganzen Menschengeschlechtes auszubreiten, die Grundlagen der Streitigkeiten in der Welt niederzureißen und ihr die unvergänglichen Segnungen ewigen Lebens zu übermitteln.

O du Geehrter! Sinne in deinem Herzen über die Welt des Daseins nach. Geselligkeit, Harmonie, Vereinigung sind der Lebensquell, während Streitigkeiten und Spaltung die Ursache schließlichen Zerfalls sind. Willst du über alles Erschaffene nachdenken; so wirst du bemerken, daß das Dasein eines jeden Wesens von der Vereinigung und Verbindung verschiedener Elemente abhängt, deren Auflösung dem Dasein dieses Wesens ein Ende setzt.

... Diese gegenseitige Hilfsbereitschaft wird entweder unmittelbar oder durch Vermittlung wirksam. Und wenn auch nur für einen Augenblick diese Bestätigung und dieser Beistand sich nicht auf das Lebewesen herabsenken, dann wird sein Dasein erlöschen; denn alle Dinge des Daseins sind miteinander verkettet und holen gegenseitig Hilfe voneinander. Darum ist die größte Grundlage der Welt des Daseins dieses Zusammenwirken und diese Gegenseitigkeit.

Vergleiche die Welt des Daseins mit dem Tempel des Menschen! Alle Glieder und Organe des Menschenkörpers helfen einander; darum dauert das Leben fort. Wenn in diesem wundervollen Organismus eine Trennung entsteht, wandelt sich das Leben zum Tode, und die Teile des Körpers zersetzen sich. Ebenso walten unter den Teilen des Daseins ein wundervoller Zusammenhang und ein Kräfteaustausch: die Ursachen des Lebens in der Welt und der Fortdauer seiner zahllosen Erscheinungen. Wenn wir die Lebewesen und die heranwachsenden Pflanzen betrachten, werden wir uns bewußt, daß die Tiere und der Mensch ihr Leben durch Einatmen der Ausdünstungen der Pflanzenwelt erhalten; dieses Element wird Sauerstoff genannt. Das Pflanzenreich seinerseits gewinnt sein Leben von den belebten Geschöpfen durch die Substanz, die wir Kohlenstoff nennen. Kurz, die sinnenbegabten Wesen fristen ihr Leben durch die vegetativen Wesen und das Vegetative fristet sein Leben durch die sensitive Kreatur. Darum dauert dieser Kräfteaustausch und diese Gegenseitigkeit ununterbrochen fort.

Aus dieser Schilderung ist die Grundlage des Lebens in solcher gegenseitigen Stütze und Hilfe zu erkennen, und eine Unterbrechung dieses gegenseitigen Beistandes würde zur Ursache der Zerstörung und des Nichtseins werden. Je mehr die Welt der Zivilisation zustrebt, umso brennender wird diese äußerst wichtige Frage der Zusammenarbeit. So sehen wir also in der Menschenwelt diese Tatsache gegenseitiger Nützlichkeit einen hohen Grad der Wirksamkeit erreichen, so hoch, daß die Fortdauer der Menschheit voll und ganz von dieser gegenseitigen Beziehung abhängt. (1)

Wisse und sei versichert: Liebe ist das Geheimnis der heiligen Gottessendung, die Offenbarung des Allbarmherzigen, der Quell geistiger Ergießungen. Liebe ist des Himmels gütiges Licht, des Heiligen Geistes ewiger [Seite 80] Odem, der die Menschenseele belebt. Liebe ist die Ursache der Gottesoffenbarung für den Menschen, das Lebensband, das nach dem göttlichen Schöpfungsgesetz dem Wesen der Dinge innewohnt. Liebe ist das eine Mittel, das wahre Glückseligkeit sichert in dieser Welt sowohl wie in der nächsten. Liebe ist das Licht, das durch die Finsternis leitet, das lebendige Glied, das Gott mit dem Menschen vereint, das den Fortschritt einer jeden erleuchteten Seele verbürgt. Liebe ist das größte Gesetz, das diesen mächtigen, himmlischen Zyklus regiert, die einzige Macht, die alle die verschiedenen Elemente dieser stofflichen Welt verbindet, die höchste magnetische Kraft, welche den Lauf der Sphären in den himmlischen Reichen lenkt. Liebe enthüllt mit unfehlbarer, grenzenloser Macht die im Weltall verborgenen Mysterien. Liebe ist der Geist des Lebens für den herrlichen Körper der Menschheit. Sie begründet die wahre Zivilisation in dieser sterblichen Welt und gießt unvergänglichen Glanz aus über jede hochbeseelte Rasse und Nation.

Wer immer gnädiglich durch Gott mit Liebe beschenkt wird, dessen Name wird wahrlich verherrlicht und gepriesen durch die Scharen der Höhe, durch den Chor der Engel und durch die Bewohner des Königreiches Abhá. Und wer immer sein Herz von diese göttlichen Liebe, der Offenbarung des Barmherzigen, abwendet, der wird schmerzlich in die Irre gehen, in Verzweiflung fallen und gänzlich zugrundegehen. Solche Menschen finden nirgends Zuflucht, werden den gemeinsten Erdengeschöpfen gleich, zu Opfern der Erniedrigung und Schande.

O ihr Geliebten des Herrn! Strebet darnach, zu Offenbarungen der Liebe Gottes zu werden, zu Lampen göttlicher Führung, die mit dem Lichte der Liebe und Eintracht leuchten über den Geschlechtern der Welt. (2)


Liebe und Einigkeit müssen alles umfassen.

Sollte jemand behaupten, wahre und beständige Einigkeit sei in dieser Welt überhaupt nicht zu verwirklichen, weil ja die Menschen in Sitten und Gebräuchen, Geschmack, Temperament, Charakter, Gedanken und Anschauungen weit auseinandergehen, so erwidern wir darauf: Verschiedenheiten gibt es in zweierlei Art. Die eine verursacht Zerstörung; sie beseelt den Streit und Hader der Völker und Nationen, die sich bekriegen. Die andere Art aber ist das Zeichen der Mannigfaltigkeit, das Sinnbild und Geheimnis der Vollkommenheit und die Offenbarung der Wohltaten des Allherrlichen.

Betrachte die Blumen des Gartens: Obwohl sie verschieden sind an Art, Farbe, Form und Gestalt, so erhöht doch diese Verschiedenheit noch ihren Liebreiz und trägt zu ihrer Schönheit bei; denn sie werden ja durch die Wasser eines Quells erfrischt, durch den Hauch eines Windes belebt, durch die Strahlen einer Sonne gestärkt. Wie unerquicklich wäre es für das Auge, wenn alle Blumen und Pflanzen, Blätter und Blüten, Früchte, Zweige und Bäume des Gartens die gleiche Gestalt und Farbe hätten! Mannigfaltigkeit in Farbe, Form und Gestalt bereichert und ziert den Garten und erhöht seinen Eindruck. Ebenso werden Schönheit und Herrlichkeit menschlicher Vollendung enthüllt und offenbar, wenn die verschiedenen Schattierungen des Denkens, Temperaments und Charakters unter [Seite 81] Macht und Einfluß einer Hauptkraft gebracht werden. Nichts anderes als die himmlische Macht des Wortes Gottes, das die Wirklichkeit aller Dinge beherrscht und überragt, ist imstande, die auseinanderstrebenden Gedanken, Gefühle, Ideen und Überzeugungen der Menschenkinder miteinander in Einklang zu bringen. (3)

Vor Gottes Augen gibt es keinen Vorzug der Hautfarbe; alle sind eines an Farbe und Schönheit in Seinem Dienste. Die Farbe gilt nichts, das Herz gilt alles. Wie das Äußere ist, tut nichts zur Sache, wenn nur das Herz innen rein und weiß ist. Gott schaut nicht auf die Verschiedenheiten von Farbe und Aussehen; er schaut auf die Herzen. Wessen Sitten und Tugenden lobenswert sind, der wird in der Gegenwart Gottes bevorzugt. Wer dem Königreich ergeben ist, der wird am meisten geliebt. (4)

Wenn die Rassenelemente Amerikas sich tatsächlich zu Kameradschaft und Einklang zusammenfinden, dann werden die Lichter der Einheit der Menschheit leuchten, der Tag ewiger Herrlichkeit und Wonne anbrechen, der Geist Gottes alles umwehen und die göttlichen Gunstbezeigungen herabkommen. Unter Gottes, des wahren Hirten, Zucht und Führung werden alle beschützt und bewahrt. Er wird sie auf die grünen Weiden des Glückes und der Sättigung leiten, und sie werden das wahre Ziel des Daseins erreichen. Dies ist der Segen und die Wohltat der Einheit. Dies ist die Folge der Liebe. (5)

Jedes menschliche Geschöpf ist der Diener Gottes. Alle sind durch die Macht und Gunst Gottes erschaffen und erzogen worden; alle sind durch die Wohltaten der gleichen Sonne der Wahrheit gesegnet worden; alle haben von dem Quell der unendlichen Barmherzigkeit Gottes getrunken, und Er schätzt und liebt als Diener alle gleich. Er ist zu allen mildtätig und gütig. Darum sollte sich keiner über den andern rühmen, keiner sollte gegenüber einem anderen Stolz oder Überheblichkeit zeigen, keiner sollte auf den andern mit Spott oder Verachtung blicken, und keiner sollte seine Mitgeschöpfe berauben oder unterdrücken. Alle sind in den Ozean der Barmherzigkeit Gottes eingetaucht; so müssen wir sie ansehen. Alle müssen wir mit der Liebe des Herzens lieben. Manche sind unwissend; sie müssen geschult werden. Mancher ist krank; er muß geheilt werden. Ein anderer ist wie ein Kind; wir müssen ihm helfen, die Reife zu erlangen. Wir dürfen nicht den Kranken verabscheuen, noch ihn meiden oder verspotten oder verfluchen, sondern wir müssen für ihn sorgen mit äußerster Güte und Zartheit. Ein Kind darf nicht schimpflich behandelt werden, nur weil es eben ein Kind ist. Wir tragen die Verantwortung dafür, es zu schulen, zu erziehen und zu entwickeln, so daß es der Reife entgegenwachse. (6)

Ich gebiete euch allen und jedem einzelnen, alle Gedanken eurer Herzen auf Liebe und Einigkeit zu sammeln. Wenn Kriegsgedanken in euch aufsteigen, so begegnet ihnen mit den stärkeren Gedanken des Friedens. Ein Gedanke des Hasses muß zerstört werden durch einen viel mächtigeren Gedanken der Liebe. Kriegsgedanken tragen in jede Harmonie, in Wohlbefinden, Ruhe und Zufriedenheit Zerstörung hinein. Liebesgedanken aber dienen dem Aufbau von Bruderschaft, Friede, Freundschaft und Glück...

Wenn ihr Freundschaft mit allen Rassen auf Erden von ganzem Herzen [Seite 82] wünscht, dann werden sich eure Gedanken geistig und aufbauend verbreiten. Euer Wunsch wird auch der Wunsch anderer werden, er wird immer stärker werden, bis er in den Geist aller Menschen eingedrungen ist. (7)

Wenn du ein Glied deiner Familie oder einen Landsmann liebst, so laß es mit einem Strahl der unendlichen Liebe geschehen! Laß es in Gott und für Gott sein! (8)


Des Menschen Mangel an Liebe.

'Abdu'l-Bahá sprach: Ich habe gerade gehört, daß ein schreckliches Unglück in diesem Lande geschehen ist: Ein Zug ist in den Fluß gestürzt, und wenigstens zwanzig Menschen haben den Tod erlitten... Voll Erstaunen und Überraschung sehe ich, welche Anteilnahme und Aufregung im ganzen Lande wegen des Todes von zwanzig Menschen entstanden sind, wogegen man kühl und gleichgültig über die Tatsache hinweggeht, daß Tausende von Italienern, Türken und Arabern in Tripolis getötet werden*). Und doch sind auch diese Unglücklichen menschliche Wesen.

Warum wird nun diesen zwanzig Verunglückten so viel Teilnahme und eifrige Sympathie erwiesen, während man diese den Fünftausend gegenüber nicht findet? Sie alle sind Menschen, sie alle gehören der Menschenfamilie an, sie sind nur aus anderen Ländern und Rassen. Die unbeteiligten Länder scheint es nichts anzugehen, wenn diese Menschen zu Stücken zerrissen werden; diese ganze Schlächterei rührt sie nicht. Wie ungerecht, wie grausam ist das, wie gänzlich bar jedes guten, echten Fühlens! Die Menschen dieser anderen Länder haben Weib und Kind, Mütter, Töchter und kleine Söhne. In diesen Ländern ist zur Zeit kaum ein Haus frei von bitterem Wehklagen, kaum ein Heim zu finden, das von der grausamen Hand des Krieges unberührt geblieben wäre.

Ach! Wir sehen allerseits, wie grausam, voreingenommen und ungerecht der Mensch ist, und wie schwer er sich dazu aufrafft, an Gott zu glauben und Seinen Geboten zu gehorchen. (9)

Obwohl der Staatskörper eine Familie ist, so sind doch aus Mangel an Ausgleich einige Glieder im Wohlstand, andere in äußerstem Elend; einige Glieder sind satt, andere sind hungrig; einige sind in kostbarste Gewänder gekleidet, anderen dagegen tut Nahrung und Obdach not. Warum? Weil diese Familie nicht die nötige Gegenseitigkeit und Ausgeglichenheit hat. Dieser Haushalt ist nicht recht in Ordnung... Ist es möglich, daß ein Familienmitglied schlimmster Not und elender Armut unterworfen ist, während der Rest der Familie in Wohlstand lebt? Das ist nicht möglich, es sei denn, die übrige Familie wäre ohne Gefühl, geistig verkümmert, ungastlich und lieblos. (10)

Die Krankheit, die den Staatskörper befallen hat, ist Mangel an Liebe und Uneigennützigkeit. In den Herzen der Menschen ist keine wirkliche Liebe zu finden, und der Zustand ist derart, daß keine Heilung, kein gegenseitiges Verstehen bei den Menschen möglich ist, ehe nicht ihre Erregbarkeit sich ausgeglichen hat durch eine Macht, welche Einheit, Liebe und Einklang unter ihnen entfaltet. Ohne diese sind kein Fortschritt und kein Wohlstand zu erreichen. Darum müssen sich die Gottesfreunde an diese Macht halten, welche diese Liebe und Einheit in den [Seite 83] Herzen der Menschenkinder schaffen wird. Die Wissenschaft kann nicht Freundschaft und Kameradschaft in den Menschenherzen schaffen. Auch Vaterlandsliebe oder Rassegefühl können kein Heilmittel bringen. Es muß allein durch die göttlichen Wohltaten vollbracht werden und die geistigen Gaben, die von Gott an diesem Tage zu diesem Zwecke herniedergekommen sind.

Dies ist eine Zeiterfordernis, wofür das göttliche Heilmittel vorgesehen ist. Allein die geistigen Lehren der Religion Gottes können diese Liebe, Einheit und Einmütigkeit in den Menschenherzen schaffen. (11)


Gottes Heilmittel.

Die Einheit, welche grenzenlose Ergebnisse hervorbringt, ist erstlich eine Einheit der Menschheit, die erkennt, daß alle unter dem Schirm des allesüberschattenden Allberrlichen ruhen, daß sie alle Diener des einen Gottes sind; denn alle atmen die gleiche Luft, leben auf der gleichen Erde, bewegen sich unter den gleichen Himmeln, empfangen die Strahlen der gleichen Sonne und stehen unter dem Schutze des einen Gottes. Dies ist die größte Einheit, und ihre Ergebnisse werden fortdauern, wenn die Menschheit sich an sie hält; aber bisher hat die Menschheit diese Einheit geschändet und an sektiererischen oder sonstwie begrenzten Einheiten gehangen, die rassische, patriotische oder egozentrische Vorteile verfolgen. Darum sind auch keine großen Erfolge daraus entsprungen. Es ist jedoch ganz gewiß, daß Gottes Strahlenfülle und Gunstbezeigungen alles umfassen, und daß Seelen sich dafür entwickelt haben, Vorstellungen sich dafür klargeschliffen haben, Wissenschaften und Künste sich dafür weithin verbreitet haben und die Fähigkeiten des Menschen dafür gegeben sind, die wirkliche und endgültige Einheit der Menschheit zu verkünden und zu verbreiten; und sie wird wundervolle Ergebnisse zeitigen. Sie wird alle Religionen versöhnen, bekämpfende Nationen in liebende verwandeln, feindliche Herrscher sich befreunden lassen und Friede und Glück der Menschenwelt bringen. Sie wird den Orient und den Okzident zusammenkitten, für immer die Grundlagen des Krieges beseitigen und das Banner des Größten Friedens aufrichten. Jene begrenzten Einheiten sind darum die Vorzeichen dieser großen Einheit, welche die ganze menschliche Familie zu einer einzigen machen wird, weil sie das Gewissen der Menschheit erwecken wird. (12)

Die große Masse der Menschheit übt nicht wirkliche Liebe und Kameradschaft. Die Auslese der Menschheit sind solche, die zusammen in Liebe und Einheit leben. Sie werden vor Gott höher geschätzt, weil die göttlichen Attribute allbereits in ihnen offenkundig sind. Die höchste Liebe und Einheit ist in den göttlichen Manifestationen zu erblicken. Unter ihnen ist die Einheit unauflöslich, unwandelbar, ewig und immerwährend. Eine jede von ihnen ist der Ausdruck und der Stellvertreter der anderen. Wenn wir eine der Manifestationen Gottes verleugnen, so verleugnen wir alle. Eine von ihnen verfolgen, heißt alle verfolgen. Auf allen Stufen der Entwicklung verherrlicht und heiligt eine jede die andere. Eine jede von ihnen hält die Gemeinsamkeit der Menschheit hoch und fördert die Einheit der Menschenherzen. Nächst den göttlichen Manifestationen folgen dann die Gläubigen, deren Kennzeichen [Seite 84] gegenseitige Übereinstimmung, Kameradschaft und Liebe sind. (13)

Aus dem Himmel des Willens Gottes und in der Absicht, die Welt des Daseins zu veredeln und Sinn und Seelen der Menschen zu erheben, wurde das herabgesandt, was das wirksamste Mittel zur Erziehung der ganzen menschlichen Rasse ist. Der tiefste Sinn und der vollkommenste Ausdruck dessen, was immer die Völker vor alters gesagt und geschrieben haben, wurde durch diese mächtigste Offenbarung aus dem Himmel des Willens des Allbesitzenden, des immerwährenden Gottes, herniedergesandt. Ehemals wurde geoffenbart: „Die Liebe zum Vaterland ist ein Grundbestandteil des Glaubens Gottes.“ Die Zunge der Größe hat indessen am Tag Ihrer Offenbarung verkündet: „Es rühme sich nicht der, welcher sein Vaterland liebt, sondern der, welcher die Welt liebt.“ Durch die Kraft, die durch diese erhabenen Worte frei wurde, hat Er den Vögeln der Menschenherzen frischen Schwung und neue Richtung verliehen und jede Spur von Beschränkung und Begrenzung aus Gottes heiligem Buche getilgt... (14)

Obwohl die Welt in Elend und Qual gehüllt ist, hat dennoch kein Mensch innegehalten und darüber nachgedacht, was die Ursache hierfür sein könnte... Die Zeichen des Zwiespalts und der Bosheit sind überall sichtbar, obwohl alle zu Harmonie und Einigkeit erschaffen wurden. Das große Sein spricht: „O ihr Vielgeliebten! Das Zelt der Einigkeit ist errichtet worden. Betrachtet einander darum nicht als Fremde. Ihr seid die Früchte eines Baumes und die Blätter eines Zweiges!“... (15)

Wenn jemand darüber nachsinnen sollte, was die aus dem Himmel des heiligen Willens Gottes herabgesandten Schriften enthüllt haben, so wird er alsbald als ihr Ziel erkennen, daß alle Menschen wie eine Seele angesehen werden sollen... Wenn die Gelehrten und Weltweisen dieses Zeitalters das Menschengeschlecht den Duft der Kameradschaft und Liebe atmen ließen, so würde jedes verstehende Herz die Bedeutung wahrer Freiheit erfassen und das Geheimnis ungestörten Friedens und völliger Gemütsruhe entdecken. (16)


Die Anwendung des Heilmittels.

Wenn der Mensch sein Antlitz Gott zuwendet, so findet er überall Sonnenschein. Alle Menschen sind seine Brüder. Wenn ihr mit Ausländern zusammenkommt, so vermeidet es, ihnen durch kühle Zurückhaltung unzugänglich und lieblos zu erscheinen. Ihr denkt vielleicht, es sei notwendig, vorsichtig zu sein und sich vor der Bekanntschaft solcher, vielleicht unerwünschter, Leute zu hüten.

Ich bitte euch, denkt nicht an euch selbst: Seid freundlich den Fremden gegenüber, einerlei, ob sie von der Türkei, von Japan, von Persien, von Rußland, von China oder von irgendeinem anderen Lande der Welt kommen. Helfet ihnen, damit sie sich zu Hause fühlen. Suchet herauszufinden, wo sie wohnen. Fraget sie, ob ihr ihnen nicht einen Dienst erweisen könnt. Versuchet, ihr Leben etwas glücklicher zu gestalten.

Handelt in dieser Weise und seid unentwegt freundlich zu ihnen — selbst dann, wenn sich euer anfänglicher Verdacht bewahrheiten sollte — denn diese Art der Freundlichkeit wird ihnen helfen, besser zu werden... (17)

Bete zu Gott, daß du... einer werden mögest, der die Menschen liebt [Seite 85] und der Menschheit ein wohlwollender Freund ist. (18)

Lebet in vollkommener Einheit! Werdet niemals aufeinander böse... Liebet die Geschöpfe um Gottes willen und nicht um ihrer selbst willen. Ihr werdet niemals böse oder ungeduldig werden, wenn ihr sie um Gottes willen liebt. Die Menschheit ist nicht vollkommen. In jedem Menschenwesen gibt es Unvollkommenheiten, und ihr werdet immer unglücklich werden, wenn ihr auf die Leute selbst schaut. Wenn ihr aber auf Gott schaut, werdet ihr sie lieben und gut zu ihnen sein; denn die Welt Gottes ist die Welt der Vollkommenheit und der vollendeten Barmherzigkeit. Blicket darum nicht auf die Mängel an diesem und jenem; blicket mit dem Auge der Vergebung. Das unvollkommene Auge schaut nur auf Unvollkommenheiten. Das fehlerbedeckende Auge aber schaut auf den Schöpfer der Seelen. Er schuf sie, Er erzieht und versorgt sie, verleiht ihnen Fähigkeiten und Leben, Gesicht und Gehör. Darum sind sie die Zeichen Seiner Größe. (19)

Die großen, grundlegenden Lehren Bahá’u’lláh’s sind die Einheit Gottes und die Einheit der Menschheit. Dies ist das Band, das alle Bahá’i rings in der Welt vereint. Sie werden zuerst unter sich selbst geeinigt, dann einigen sie andere. Es ist unmöglich zu einigen, ehe man selbst geeinigt ist. (20)

Ich wünsche, in Amerika unter den Freunden ein neues Licht erstrahlen zu lassen, damit sie ein neues Volk werden, damit eine neue Grundlage errichtet und vollendete Harmonie zur Wirklichkeit werde... Ihr müßt unendliche Liebe zueinander haben; jeder muß den andern sich selbst vorziehen... Ihr müßt eueren Freund mehr lieben als euch selbst. Ja, seid gewillt, euch zu opfern.... Ich wünsche, daß ihr bereit seid, alles füreinander zu opfern, selbst das Leben. Dann werde ich wissen, daß die Sache Bahá’u’lláh’s gegründet dasteht. (21)

Das Kommen der Propheten und die Offenbarung der Heiligen Bücher hat zum Ziel, Liebe zwischen den Seelen und Freundschaft zwischen den Erdenbewohnern zu schaffen. Echte Liebe ist dem Menschen unmöglich, ohne daß er sein Antlitz Gott zuwendet und zu Seiner Schönheit hingezogen wird. (22)

Seid ganz in Liebe einander zugetan. Brennt, gänzlich um des Vielgeliebten willen, den Schleier des Selbstes hinweg mit der Flamme des nieverlöschenden Feuers, und gesellt euch zu eurem Nächsten mit Gesichtern, die freudig im Lichte strahlen. (23)

Verkehre mit allen Menschen, o Volk von Bahá, im Geiste freundschaftlicher Gesinnung und der Kameradschaft. Wenn ihr eine Wahrheit entdecket, wenn ihr ein Kleinod besitzet, dessen andere beraubt sind, so teilt es ihnen in Worten äußerster Güte und Zuneigung mit. Wird es angenommen, hat es seinen Zweck erfüllt, und das Ziel ist erreicht. Sollte es aber jemand ablehnen, so überlaßt ihn sich selbst und bittet Gott, ihn zu führen. Hütet euch, lieblos mit ihm zu verfahren. Eine gütige Zunge ist der Magnet für die Menschenherzen, Sie ist das Brot des Geistes, sie bekleidet die Worte mit Bedeutung, sie ist der Lichtquell der Weisheit und Einsicht. (24)

Verkehret mit den Völkern der Religionen in Frieden und Harmonie... Wer nach Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit strebt, muß mit allen Menschen der Welt in Freude und Harmonie [Seite 86] verkehren; denn Geselligkeit führt immer zu Vereinigung und Einklang, und Vereinigung und Einklang sind die Ursache der Ordnung in der Welt und im Leben der Nationen. Gesegnet sind die, welche am Seil des Mitgefühls und der Güte festhalten und losgelöst sind von Feindseligkeit und Haß! (25)

Wenn ihr Menschen begegnet, deren Ansichten von den eurigen abweichen, so wendet euer Antlitz nicht von ihnen ab...

Laßt nicht zu, daß Meinungsverschiedenheit oder Ungleichheit des Denkens euch von eueren Mitmenschen trenne oder die Ursache von Wortstreit, Haß und Hader in eueren Herzen sei! (26)

Gesegnet, wer mit dem Lichte der Höflichkeit erleuchtet und mit dem Mantel der Aufrichtigkeit geschmückt ist! Wer mit Höflichkeit begabt ist, dem wird eine hohe Stufe zuteil... (27)

O Sohn des Menschen! Willst du die Barmherzigkeit beachten, dann behalte nicht dein eigenes Wohl, sondern das Wohl der Menschheit im Auge. Und willst du die Gerechtigkeit beachten, dann wähle für andere nur, was du für dich selbst wähltest. (28)

Dies ist der Tag, da der Ozean von Gottes Barmherzigkeit den Menschen geoffenbart wird, der Tag, da die Sonne Seiner liebenden Güte ihre Strahlen über sie ergießt, der Tag, da die Wolken Seiner freigebigen Gunst die ganze Menschheit überschatten. Jetzt ist die Zeit, die Niedergeschlagenen zu trösten und zu erquicken durch den belebenden Hauch der Liebe und Kameradschaft und durch die lebendigen Wasser des Wohlwollens und der Barmherzigkeit. (29)

O ihr Freunde Gottes! Zeigt ein solches Bemühen, daß alle Nationen und Gemeinschaften der Welt, ja selbst eure Feinde ihr Vertrauen, ihre Sicherheit und Hoffnung auf euch setzen, daß, wenn ein Mensch hunderttausendmal dem Irrtum verfällt, er doch sein Antlitz euch zuwenden mag in der Hoffnung, daß ihr ihm seine Sünden verzeihet; denn er darf nicht hoffnungslos werden, noch betrübt, noch verzagt. Dies ist die Haltung des Volkes von Bahá! (30)

O ihr Geliebten des Herrn! In dieser geheiligten Sendung sind Kampf und Streit in keiner Weise gestattet. Jeder Angreifer beraubt sich selbst der Gnade Gottes. Es ist einem jeden zur Pflicht gemacht, allen Menschen und Geschlechtern auf Erden, mögen sie seine Freunde oder Feinde sein, äußerste Liebe, Rechtschaffenheit, Geradheit und herzliches Wohlwollen zu erzeigen. Ja, der Geist der Zuneigung und liebevollen Güte muß so überwiegen, daß der Fremde sich als Freund entdeckt, der Feind als echten Gefährten, und daß jede kleinste Spur von Meinungsverschiedenheit hinweggewischt wird. Denn Gott ist das Allumfassende, alle Begrenzungen aber sind irdisch. Daher muß der Mensch danach streben, solche Tugenden und Vollkommenheiten aufzuweisen, welche die ganze Menschheit erleuchten können. Das Licht der Sonne scheint auf alle Welt, und die barmherzigen Regenschauer der Vorsehung fallen auf alle Menschen. Der lebenspendende Wind belebt jede Seele, und alle lebende Kreatur erhält ihren Anteil und ihr Stück von Seiner himmlischen Tafel. Ebenso müssen Zuneigung und Güte der Diener des einen wahren Gottes in allumfassender Fülle sich über die ganze Menschheit ergießen. So betrachtet, sind Einschränkungen [Seite 87] und Begrenzungen in keiner Weise gestattet.

Darum, o meine liebevollen Freunde, verkehret mit allen Menschen, Geschlechtern und Religionen der Welt in äußerstem Zutrauen, in Redlichkeit, Aufrichtigkeit, Güte, Zuneigung und Wohlwollen. (31)


Warnungen und Verheißungen.

... Handelt in solcher Art, daß euer Herz frei ist von Haß. Laßt euer Herz nicht von irgend jemand verletzt werden. Wenn jemand einen Irrtum begeht und euch Unrecht tut, müßt ihr ihm augenblicklich vergeben. Beklagt euch nicht über andere. Haltet euch davor zurück, sie zu tadeln, und wenn ihr eine Ermahnung oder einen Rat geben wollt, dann unterbreitet das in solcher Weise, daß der Empfänger nicht dadurch belastet wird. (32)

Hütet euch, irgendein Herz zu verletzen, gegen irgendjemanden in seiner Abwesenheit zu reden und euch den Dienern Gottes zu entfremden. Ihr müßt alle Seine Diener als euere eigene Familie und Verwandtschaft betrachten. Richtet euer ganzes Bemühen auf das Glück der Verzagten, spendet Nahrung den Hungrigen, kleidet die Bedürftigen und lobet die Demütigen. Seid Helfer für jeden Hilflosen und erzeigt eueren Mitgeschöpfen Güte, auf daß das Wohlgefallen Gottes euch gewiß werde. (33)

Solltet ihr einem Menschen ein Vergehen unterstellen, so wird dies ihn verletzen und schmerzen — wieviel mehr noch, wenn dies einer ganzen Gruppe von Menschen unterstellt wird! Wie oft ist es geschehen, daß eine kleine Meinungsverschiedenheit einen großen Zwist verursacht hat und der Grund zu einer Spaltung geworden ist! (34)

Selbstliebe ist ein befremdlicher Zug und der Anlaß zur Zerrüttung so mancher bedeutenden Seele in der Welt. Wenn ein Mensch von allen guten Eigenschaften durchdrungen, aber selbstsüchtig ist, so werden alle seine anderen Tugenden welken oder dahinschwinden, und zuletzt wird er verkommen. (35)

Es ist durch Gottes Wunsch bestimmt worden, daß Einigung und Harmonie unter den Freunden Gottes und den Dienerinnen des Barmherzigen im Westen Tag um Tag wachsen mögen. Erst, wenn dies Tatsache geworden ist, werden alle Angelegenheiten voranschreiten, sonst durch kein anderes Mittel. Und die allerstärksten Mittel zu Einigung und Harmonie sind geistige Versammlungen. Dies ist wichtig; sie sind ein Magnet, um göttliche Bestätigung anzuziehen. (36)

Wenn ein Mensch sich erhebt, um die Beweise Gottes auszulegen und die Menschen einzuladen, in die Religion Gottes einzudringen ... und vollendete Beweise über das Erscheinen des großen Königreiches vorbringt, dann wird eine starke Liebe in seinem Herzen offenbar werden. Diese Liebe wird zur Ursache der Entwicklung seines Geistes durch die Gnade des wohltätigen Herrn. (37)

Die Seelen neigen zur Entfremdung von Gott. Es sollten solche Wege gegangen werden, daß die Entfremdung zuerst verschwindet; dann wird das Wort seine Wirkung tun. (38)

O mein Diener! Mache dein Herz rein von Mißgunst, damit du frei von Neid zu den heiligen Gefilden der Einheit gelangest. (39)

O Sohn des Seins! Traue keiner Seele zu, was du für dich selbst nicht wünschest, und versprich nicht, was du [Seite 88] nicht hältst. Dies ist Mein Gebot, gehorche ihm! (40)

O ihr Geliebten des Herrn! Begehet nicht Dinge, welche den klaren Strom der Liebe beschmutzen oder den süßen Duft der Freundschaft zerstören. Bei der Gerechtigkeit des Herrn! Ihr wurdet erschaffen, um einander Liebe zu erweisen und nicht Bosheit und Haß. Setzet nicht euren Stolz auf die Liebe zu euch selbst, sondern auf die Liebe zu eueren Mitgeschöpfen. (41)


Gebete um Liebe und Einheit.

O Du gütiger Herr! Du hast die ganze Menschheit von den gleichen Ureltern erschaffen. Du hast gewollt, daß alle zur gleichen Familie gehören. In Deiner heiligen Gegenwart sind sie Deine Diener, und die ganze Menschheit ist unter dem Schirm Deines Zeltes. Alle sind an Deiner Tafel der Wohltaten versammelt und strahlen im Lichte Deiner Vorsehung. O Gott! Du bist zu allen gütig, Du hast für alle vorgesorgt, Du beschirmst alle, Du verleihst allen Leben. Du hast alle mit Talenten und Fähigkeiten ausgestattet; alle sind im Ozean Deiner Barmherzigkeit versunken. O Du gütiger Herr! Vereinige alle, laß die Religionen sich verständigen, mache die Völker zu einem Volk, so daß sie wie ein Geschlecht und wie die Kinder des selben Vaterlandes sind. Mögen sie sich in Einigkeit und Eintracht zusammenfinden! O Gott! erhebe die Fahne der Einheit der Menschheit! O Gott! errichte den „Größten Frieden“! Füge die Herzen fest zusammen, o Gott! O Du gütiger Vater, Gott! erheitere die Herzen durch den Duft Deiner Liebe, erhelle die Augen durch das Licht Deiner Führung, erquicke das Gehör durch die Melodien Deines Wortes und beschirme uns unter dem Schutzdach Deiner Vorsehung. Du bist der Mächtige und Kraftvolle. Du bist der Vergebende, und Du bist Der, welcher die Mängel des Menschengeschlechtes übersieht. (42)

O Du gütiger Herr! Du, der Du großmütig und barmherzig bist! Wir sind die Diener an Deiner Schwelle, und wir sind unter dem Schutze Deiner Barmherzigkeit. Die Sonne Deiner Vorsehung scheint auf alle. Deine Gaben umschließen alle, Deine Vorsehung erhält alle, Dein Schutz überschattet alle, und das Erstrahlen Deiner Gunst erleuchtet alle. O Herr! gewähre uns Deine unendlichen Gaben und lasse das Licht Deiner Führung scheinen. Erleuchte die Augen, mache die Seelen fröhlich und verleihe den Herzen einen neuen Geist. Gib ihnen ewiges Leben. Öffne die Tore Deiner Erkenntnis; lasse das Licht des Glaubens scheinen. Vereinige die Menschheit und bringe sie unter einen Schutz unter dem Banner Deiner Beschirmung, so daß sie wie die Wogen eines Meeres werden, wie die Blätter und Zweige eines Baumes, und sich im Schatten eines Zeltes versammeln. Mögen sie aus dem selben Born trinken. Mögen sie durch die selben Winde erfrischt werden. Mögen sie aus dem selben Quell des Lichtes und Lebens Erleuchtung erlangen. Du bist der Gebende, der Barmherzige! (43)

*) Bezieht sich auf den italienisch-türkischen Krieg 1911.

(Fortsetzung folgt)


[Seite 89]



DIE GEISTIGE DYNAMIK DES BAHA’I-GLAUBENS*)[Bearbeiten]

Von Hilda Summers, Lissabon

Wir veröffentlichen nachstehend einen Vortrag, der in einer öffentlichen Veranstaltung am 27. 7.1950 im National-Museum in Kopenhagen anläßlich der Dritten Europäischen Bahá’i-Lehrkonferenz gehalten wurde.


Was ist geistige Dynamik?

Im eigentlichen Sinne des Wortes ist Dynamik der Zweig der Mechanik, der mit Bewegung in ihrer Beziehung zur Kraft zu tun hat. In gleicher Weise ist die geistige Dynamik die Kraft, die sich aus der Ausgießung des Heiligen Geistes durch den Schöpfer ergibt und Gottes Plan während eines gegebenen Zeitalters in Bewegung setzt.

Die Bahá’i glauben, daß Bahá’u’lláh die Manifestation Gottes für unser Zeitalter ist und daß die geistige Dynamik, die Seine ganze Lehre durchdringt, die Kraft ist, die das Wohlergehen der menschlichen Gesellschaft wiederherstellt.


Warum brauchen wir geistige Antriebskräfte?

Nach den Worten des Hüters des Bahá’i-Glaubens sehen wir, wenn wir die Welt heutzutage betrachten, daß sie geistig verarmt, moralisch zusammengebrochen, politisch zerrissen, sozial erschüttert und wirtschaftlich gelähmt ist; sie krümmt sich vor Schmerzen und blutet aus vielen Wunden. Die Welt ist krank. Der allgemeine Ungehorsam gegenüber den Gesetzen Gottes wirkt bremsend auf den geistigen Fortschritt unserer Zivilisation. Die äußere Form der Zivilisation ist wie eine Maschine, aber die sie in Gang bringende Kraft ist das Geistige. Der Mensch braucht somit zwei Flügel, der eine ist die körperliche Kraft und die materielle Zivilisation, der andere ist die geistige Kraft und die göttliche Zivilisation. Doch die Welt der Menschen bewegt sich heute im Dunkel, denn sie hat die Verbindung mit der göttlichen Welt verloren. Darum sehen wir nicht die Zeichen Gottes in den menschlichen Herzen. In einer solchen Lage kann die Kraft des Heiligen Geistes keinen Einfluß mehr ausüben. Der Mensch hat seine großen Gefühlswerte verloren, die allein seine niedrigen Regungen, die ihn versklaven, wie Selbstsucht, Eitelkeit, Stolz, Fanatismus, Haß und Unbarmherzigkeit besiegen können. Ernst gesinnte Männer und Frauen auf der ganzen Welt zerbrechen sich den Kopf darüber, ob es überhaupt der Gesellschaft in ihrer jetzigen. Gestaltung möglich sein wird, sich aus dem universalen Zusammenbruch, der sie zu verschlingen droht, zu retten.


Wo finden wir diese geistigen Antriebskräfte?

Es ist offenbar, daß die Wiederherstellung des menschlichen Wohlergehens nicht allein durch materielle Mittel erreicht werden kann. Wir brauchen eine treibende Kraft, die uns Liebe, Aufrichtigkeit und das universale Bewußtsein der Einheit der Menschheit geben kann.

Wir wollen einmal die Jetztzeit betrachten. Finden wir diese Kraft auf dem Gebiete der Politik? Nein, die politischen Interessen der Nationen sind zu verschieden und stehen zu sehr im Widerspruch zueinander. Liegt die [Seite 90] Antwort auf dem Gebiete der Gesellschaft? — Nur das Chaos und die Verwirrung regieren hier; selbst die kleinste Einheit — die Familie — ist zerrissen. Sollen wir uns schließlich dem religiösen Gebiet zuwenden? Nein, die Menschen klammern sich zu sehr an Nachahmungen und Einbildungen. Der Erfolg davon ist, daß alle Religionen der Welt heutzutage in viele Sekten aufgespalten sind und die Reinheit der Lehren ihrer Göttlichen Propheten ist hoffnungslos in das Netzwerk vieler Dogmen, Riten und des Aberglaubens verstrickt.

So wollen wir uns denn der Vergangenheit zuwenden und sehen, was sich mit der Menschheit zugetragen hat, jedesmal dann, wenn Gott in Seiner Höchsten Gnade einen Boten schickte, um den Weg zu der schmalen Straße der Vernunft und Sicherheit zu erleuchten. Wir finden, daß Moses kam, um ein versklavtes Volk zu erretten. Er erhob die Juden auf die zu jener Zeit höchste Höhe der Zivilisation und dies in einem Maße, daß die Menschen voll Lob und Bewunderung ausriefen: „Wahrhaftig, er ist ein Israelite!“ Christus brachte ohne Zweifel der römischen Zivilisation den geistigen Inhalt. Er erneuerte die moralischen Grundsätze. Er schaffte die veralteten mosaischen Gesetze ab und legte wieder den Grundstein ewigen Ruhms für die Juden. Er verbreitete weithin die Lehren für das allgemeine Wohlergehen der ganzen Menschheit.

Mohammed kam zu den Araberstämmen, als sie sich in den tiefsten Tiefen der Wildheit und Barbarei befanden. Er gab ihnen die geistigen Antriebskräfte, die ihre Moral reinigten und sie befähigten, sich mehr als irgendeine andere Nation auf dieser Erde auf den Gebieten des Unterrichts, der Kunst, Mathematik, des Regierungswesens und der anderen Wissenschaften zu entwickeln. Daraus ersehen wir, daß die Propheten Gottes die wirklichen Ärzte sind; sie sind es, die die Krankheit jedes Zeitalters erkennen und das notwendige Heilmittel verschreiben. Sie stimmen außerdem vollkommen überein, jeder Prophet hat den Propheten, der vor ihm war, anerkannt und die frohe Botschaft Seines Nachfolgers angezeigt. Sie dienten einem Gott, verkündeten die gleiche Wahrheit, gründeten die gleichen Einrichtungen und spiegelten das gleiche Licht wider. Ihre Lehren, Zeugnisse und Beweise sind die gleichen; in Namen und Erscheinung sind sie wohl verschieden, aber in Wirklichkeit sind sie immer dieselben. Und, ebenso wie alle lebenden Dinge auf die Hitze und das Licht der materiellen Sonne reagieren, war die Menschheit immer für die belebende Kraft der Liebe Gottes, wie sie durch Seine Göttlichen Manifestationen gebracht wurde, empfänglich. Mit diesen Beispielen aus der Vergangenheit, die uns zeigen, daß immer, wenn die Menschheit ihren niedrigsten Stand erreicht hatte, Gott Seine Boten sandte, um das Heilmittel gegen die sie bedrückenden Übel zu geben und wenn wir andererseits wissen, daß die Welt heutzutage durch die dunkelste Zeit ihrer ganzen Geschichte geht, können wir da noch zweifeln, daß die Stunde für eine neue Offenbarung geschlagen hat und daß die Ausgießung des Geistes größer sein muß als je zuvor?


Geschichtliches:

Der Bahá’i-Glaube beginnt mit der überraschenden Erklärung, daß Gott zwei große Manifestationen für dieses Zeitalter geschickt hat, und es ist eines [Seite 91] der Wunder unserer modernen Zeit, daß eine solch lebenswichtige und universale Bewegung in einem Land geboren werden konnte, das während des letzten Jahrhunderts so herabgesunken war wie Persien. Und doch hat dort eine geistige und soziale Bewegung ihre Anfänge genommen, die sich nun beinahe über alle nationalen Grenzen hinweg ausgebreitet hat. Es war der 23. Mai 1844, als ein junger Perser — der als Báb bekannt wurde — sich als der Vorhergesagte, als Gesandter Gottes erklärte, das Tor, durch das eine noch größere Manifestation als Er selbst folgen würde. Der Ruf dieses jungen Menschen und Seine Botschaft verbreiteten sich schnell über ganz Persien und trafen auf immer größeren Widerstand von seiten der korrupten Priester und degenerierten Adeligen des Landes. Schließlich wurde er am 9. Juli 1850 als Ketzer verurteilt und öffentlich erschossen — dies geschah vor genau hundert Jahren.

Die Nachfolger des Báb wurden zu Tausenden hingemetzelt und Seine Feinde ermordeten alle Seine verdienstvollen Jünger außer einem: Bahá’u’lláh — d.h. die Herrlichkeit Gottes — der aller Seiner irdischen Güter beraubt und mit Seiner Familie und 80 Nachfolgern Seines Heimatlandes verwiesen wurde. Viermal wurden sie — jedesmal unter schwersten Bedrückungen — ausgewiesen und zuletzt in die verseuchten Baracken von Akka verschickt, wo sie untergehen sollten. Hier lebten sie jahrelang in ein paar schmutzigen Zellen zusammengepfercht. Während dieser Gefangenschaft war es, daß Bahá’u’lláh den Regenten und Herrschern dieser Welt schrieb und ihnen befahl, ihre Streitigkeiten beizulegen und sich zu vereinigen, um die Welteinheit und den dauernden Frieden zu errichten.

1892 beendete Bahá’u’lláh Sein irdisches Leben und beschloß damit zusammen mit dem Báb eine 50jährige Zeitdauer fortlaufender Offenbarung, die in allen Einzelheiten authentisch überliefert ist. Zum ersten Mal in der Geschichte der Religion waren zwei Manifestationen Gottes gleichzeitig erschienen.

Die Revolution der Jungtürken 1908 befreite die Bahá’i aus Akka. Einer von ihnen, ‘Abdu’l-Bahá, der älteste Sohn Bahá’u’lláh’s, war von Seinem Vater beauftragt worden, das Zentrum Seines Bündnisses mit den Bahá’i, der Ausleger Seiner Lehre und das vollkommene Beispiel für die Lebensweise der Bahá’i zu sein. Er war zu diesem Zeitpunkt 67 Jahre alt und 40 Jahre Seines Lebens hatte er mit Seinem Vater im Exil und im Gefängnis verbracht. Nun wurde unter Seiner Leitung der Bahá’i-Glauben in die westliche Welt getragen. Er widmete die verbleibenden Jahre Seines Lebens den Reisen durch Ägypten, Deutschland, Frankreich, England und die Vereinigten Staaten von Amerika, wo er überall die Bahá’i-Botschaft verbreitete.

Trotz des Todes von ‘Abdu’l-Bahá im Jahre 1921 waren die Einheit der Bahá’i-Gemeinde und die Unantastbarkeit der Lehren sichergestellt, denn in Seinem Willen und Testament legte Er die Verwaltungsordnung fest und ebenfalls bestimmte Er die Einrichtung der Hüterschaft mit Shoghi Effendi — Seinem ältesten Enkel — als erstem Hüter.

Unter der Führerschaft von Shoghi Effendi hat die Bahá’i-Botschaft die Welt umkreist, die geistigen Antriebskräfte des Bahá’i-Glaubens werden in [Seite 92]| alle Herzen der Geschöpfe Gottes gesenkt und der Göttliche Plan für eine universale Sozialordnung wird von den Bahá’i in die Wirklichkeit umgesetzt.

Die Ergebnisse, die der Erfolg der vom Báb und Bahá’u’lláh vor rund 100 Jahren ausgestrahlten Kraft sind, werden bereits erkennbar. Die göttlichen Grundsätze werden einer nach dem anderen aufgerichtet; die Welt ist physikalisch durch die Verkehrs- und Nachrichtenmittel vereint; in der Wissenschaft hat sich ein riesenhafter Fortschritt eingestellt; Erziehung verbreitet sich schnell über die ganze Welt; Bewegungen für internationale Zusammenarbeit auf den Gebieten der Politik, des Sozialwesens und der Wirtschaft sprießen überall aus dem Boden. Aber all dies geschieht unbewußt; die Menschheit hat noch nicht die Kraft erkannt, die all diesen Veränderungen und Verbesserungen zugrunde liegt. „Ein neues Leben“, erklärt Bahá’u’lláh, „regt sich in diesem Zeitalter in allen Völkern der Erde; und doch hat niemand die Ursache davon entdeckt oder den Beweggrund erkannt.“ „Die Wohlfahrt der Menschheit“, fährt er fort, „ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, wenn nicht — und bis — ihre Einheit fest begründet ist.“

Zwei Weltkriege mit ihren umwälzenden, universalen, alles verschlingenden Leiden haben den Männern und Frauen mit innerer Einsicht deutlich gezeigt, daß irgendetwas an der materiellen Organisation fehlt. Tausende sind sich heute bewußt, daß eine geistige Erneuerung der Menschheit mit einem tieferen Gefühl für die Zusammengehörigkeit der einzelnen, der Nationen und der Rassen notwendig ist.


Was sind die praktischen Ergebnisse der geistig-dynamischen Kräfte?

In diesem Zeitalter der Umwälzungen macht der Mensch die langsame und doch stürmische Entwicklung zum Erwachsenen durch. Das Säuglingsalter und die Kindheit sind vorüber und kehren nie wieder, während das große Zeitalter, die letzte Periode der Vollendung, der Tag für die Errichtung des Königreiches Gottes auf Erden angebrochen ist. Dies bedeutet das Erreichen des Alters der Mündigkeit, der Reife der ganzen menschlichen Rasse und die Erfüllung des Gebetes Gottes, das uns Jesus Christus vor beinahe 2000 Jahren hinterlassen hat; um diese Erfüllung hat die Christenheit seitdem gebetet. Die geistigen Antriebskräfte des Glaubens von Bahá’u’lláh befähigen die Menschheit, bewußt und schnell die letzte Reife zu erlangen.

Wenn der einzelne Mensch sich der geistigen Kraftquelle unserer heutigen Zeit zuwendet, wird auch er wiedergeboren. Sein Herz wird für die schöpferische Kraft empfänglich; seine Gedanken werden vom Heiligen Geist gestärkt; sein Verständnis und sein Wissen vermehren sich; und, was ebenso wichtig ist, seine Liebe zu Gott und seinen Nebenmenschen beginnt zu wachsen. Damit wird er auf den nächsten Schritt vorbereitet: die Liebe, die er in sich spürt, in die Tat umzusetzen, denn Geistigkeit muß sich vermitteln können und muß ein Tätigkeitsfeld und ein Mittel haben, um sich schöpferisch zu offenbaren.

Bahá’u’lláh hat solch ein Tätigkeitsgebiet aufgezeigt und geschaffen, nämlich den Göttlichen Plan für eine neue Weltordnung.

Zum Abschluß möchte ich nochmal betonen, die Botschaft Bahá’u’lláh’s [Seite 93] ist eine Botschaft des Sieges und der Kraft, eine Botschaft des Lichtes, das in der Dunkelheit leuchtet, von Gott, der die Tränen in den Augen der Menschen versiegen läßt und von dem einsamen Stern des Glaubens, der die Menschheit leitet. Die Bahá’i-Botschaft ist auch eine Verpflichtung, eine Verpflichtung zum Frieden und ein Aufruf zur Tat. Ihr Geist und ihr Inhalt werden von ‘Abdu’l-Bahá in einigen einfachen Sätzen erläutert:

Frohe Botschaft!
Die Tore zum Königreich Gottes sind geöffnet!
Frohe Botschaft!
Engelscharen kommen vom Himmel herab!
Frohe Botschaft!
Die Sonne der Wahrheit geht auf ...
Frohe Botschaft!
Die Posaunen erschallen.
Frohe Botschaft!
Das Banner des Größten Friedens ist aufgerollt...
Frohe Botschaft!
Der Heilige Geist ist ausgegossen.
Frohe Botschaft!
Das ewige Leben ist zur Wirklichkeit geworden.
O ihr Schläfer, erwachet!
O ihr Kopflosen, werdet weise!
O ihr Blinden, werdet sehend!
O ihr Tauben, höret!
O ihr Stummen, sprechet!
O ihr Toten, erhebet euch!
Seid glücklich, seid glücklich, seid erfüllet von Freude.



*) Ins Deutsche übertragen von Anneliese Bopp.


EIN VORKÄMPFER FÜR ESPERANTO:[Bearbeiten]

Professor Paul Christaller — 90 Jahre alt

Am 21. August 1860 ist Paul Christaller in Basel geboren. Er hat sich als Modelleur und Ziseleur zu einem bekannten Künstler entwickelt. Noch bekannter aber ist er als Pazifist und — seit 1904 — als Esperantist geworden. Er gründete 1905 die Esperantogruppe Stuttgart, verfaßte viele Übersetzungen und Broschüren, zwei Grammatiken und das beste Deutsch-Esperanto-Lexikon. Dessen zweiter Teil, Esperanto-Deutsch, soll demnächst veröffentlicht werden. Lange Zeit war Professor Christaller Mitglied der Internationalen Esperanto-Akademie gewesen. Erst vor wenigen Jahren hat er sich aus Gesundheitsgründen von der geliebten Esperanto-Tätigkeit zurückgezogen; doch noch heute, nahezu erblindet, arbeitet er mit Hilfe einer Speziallupe an der Vervollkommnung seines Wörterbuches.

Als ‘Abdu’l-Bahá im April 1913 in Stuttgart weilte, war Professor Christaller öfters im Kreise der Bahá’i mit dem Meister zusammengewesen. Auch jene Esperantisten-Versammlung hat er geleitet, in welcher der Meister über die Welthilfssprache, die eines der Prinzipien der Bahá’i-Religion ist, gesprochen hat. Und späterhin blieb Professor Christaller immer ein hilfsbereiter Freund und den Esperantisten unter uns eine wohlvertraute Gestalt bei so manchen Feiern und internationalen Kongressen. War doch sein Erdenweg ein selbstloser Dienst an der Verständigung und Versöhnung der Völker, an der Einheit der Menschheit. Wir wünschen ihm einen verschönten Lebensabend und wissen, daß all das Gute, das er säte, ihm ewiges Glück bescheren wird.

A.M.


[Seite 94]



AUS DER BAHA’I-WELT[Bearbeiten]

Von den Gedenkfeiern zur 100jährigen Wiederkehr des Opfertodes des Báb.

Zum einhundertsten Male jährte sich am 9. Juli der Tag des Märtyrertodes von El Báb, des Vorläufers und Heroldes der Bahá’i-Weltreligion. Dieser denkwürdige Tag war der Anlaß zu zahlreichen Gedenkfeiern, die an vielen Orten der Welt abgehalten wurden; so auch in Deutschland: in Frankfurt a. M., in Heidelberg, Stuttgart, Eßlingen, Göppingen, Karlsruhe, Tübingen, Plochingen u. a. Im Mittelpunkt dieser Gedenkfeiern stand jeweils ein mit großem Interesse aufgenommener Vortrag. Die Themen der verschiedenen Vorträge lauteten: „Ein Jahrhundert Weltkrise“, „Ein Jahrhundert geistige Erneuerung“, „Der Báb, Seine Bedeutung und Sein Wirken“. Die Redner führten u. a. aus, daß wohl zu keiner Zeit die Menschen solche Krisen durchzustehen hatten wie in den vergangenen einhundert Jahren, deren Beginn durch den tragischen Märtyrertod des Báb gekennzeichnet wurde. Es sei jedoch ein Merkmal jeder Gottesoffenbarung, daß mit ihrem Erscheinen die Welt in Aufruhr gerate, und dasselbe Geschehen hätte sich, wie einst zur Zeit Christi, auch beim Kommen des Báb und Bahá’u’lláh’s ereignet. Auch durch dieses „zweite Golgatha“ vor einhundert Jahren seien Kräfte in die Welt ausgestrahlt, die bald alles Morsche hinwegfegen und eine neue Weltordnung schaffen werden. Auch heute werde die Erstehung einer neuen Kultur und Zivilisation bekämpft, und doch arbeite sich die Menschheit Schritt um Schritt vorwärts und verwirkliche in all ihren Errungenschaften zum Fortschritt der Menschheit das, was in den Lehren von Bahá’u’lláh, auf dessen Kommen El Báb hinwies, verkündet worden sei. So nähere sie sich immer mehr ihrem Ziel: Einheit der Menschheit — ein Weltglaube. Ein Symbol dieser Einheit sei die Tatsache, daß schon heute in aller Herren Länder Gedenkfeiern anläßlich des Märtyrertodes von El Báb stattfänden.

Überall war die Feier für die teilweise recht zahlreichen Besucher ein tiefes und eindrucksvolles Erlebnis, wurde ihnen doch die heroische Gestalt von El Báb, Seine Größe und gewaltige Bedeutung für die kommende Ära, Sein von so mystischen Ereignissen begleiteter und so heldenhafter Tod zu einem unvergeßlichen Erleben. Auch das Verlesen heiliger Texte aus den Bahá’i-Schriften sowie die Klänge klassischer Musik trugen zu jener stimmungsvollen Atmosphäre hei, von der eine solche Feier getragen wird.


Die Dritte Europäische Lehrkonferenz in Kopenhagen

Unweit von Kopenhagen, in Elsinore (Helsingör), fanden sich eine Woche lang Vertreter von 22 Ländern zur Dritten Europäischen Bahá’i-Lehrkonferenz zusammen, die vom Europäischen Lehrausschuß, Wilmette (USA), vorbereitet und in jeder Hinsicht vorbildlich durchgeführt wurde. Schon der Konferenzort, das parkumsäumte Gelände der weithin bekannten „Internationalen Hochschule“, deren Räume der UNESCO und anderen kulturellen internationalen Organisationen zur Verfügung gestellt werden, war in seiner weltoffenen Atmosphäre wie geschaffen.

Für jeden Teilnehmer an dieser Lehrkonferenz — es waren etwa 170 Delegierte und Gäste — werden diese Tage ebenso freimütiger wie harmonischer Arbeit im rhythmischen Wechsel von Gebet, Vortrag, Beratung, Lehrbeispiel, persönlichem Gedankenaustausch und heiterer Geselligkeit nicht nur ein unvergeßliches Erlebnis, sondern ein starker Ansporn für seinen persönlichen Einsatz auf dem weiten Feld der Ausbreitung der Sendung von Bahá’u’lláh sein.

Daß Kopenhagen eine ausgesprochene Arbeitskonferenz war, erhellt besonders deutlich aus dem Programm, das zwei Arbeitsabschnitte umfaßte: die Lehrkonferenz als solche und im unmittelbaren Anschluß daran die „Erste Europäische Bahá’i-Sommerschule“ (vom 24. bis 27. 7. bzw. vom 28. bis 30. 7.). Mit Ausnahme einer öffentlichen Veranstaltung in der geräumigen, würdigen Aula des schönen National-Museums in Kopenhagen mit zwei Vorträgen (in englischer Sprache: „Die Bahá’i-Weltreligion — ihre geistige Dynamik“ von Frau Hilda Summers, Lissabon; in dänischer Sprache: „...ihre sozialen Prinzipien“ von Jean Deleuran, Kopenhagen) standen die Kurse und Beratungen nur den Bahá’i offen.

Im Mittelpunkt der Lehrkonferenz standen die folgenden Themen:

„Gottes ewiges Vermächtnis“ (Beratung über das „Bündnis“),

„Bahá’i-Literatur“ (Übersetzung, Veröffentlichung und Verbreitung),

„Der Glaube als Tätigkeit“ (Administrative Fragen und Probleme),

„Lehrarbeit“ (Verkündung, Vertiefung im Glauben, persönliche und öffentliche Ausbreitung, Lehrprobleme und lehrtechnische Fragen), [Seite 95]

„Bahá’i-Sommerschulen“ (Zweck und Erfahrungsbeispiele).

Den Teilnehmern wurden neben einer ausgezeichneten, überaus wertvollen englischen Bahá’i-Textzusammenstellung Vervielfältigungen der einführenden Referate obiger Themen teilweise auch in Französisch, Deutsch und in den nordischen Sprachen ausgehändigt, was dankbar begrüßt wurde. Da die meisten Referenten englisch sprachen, gruppierten sich die Teilnehmer an den Tischen sprachgruppenweise, so daß jeweils im Flüsterton gedolmetscht werden konnte. An die Einführungsreferate schloß sich unter der Leitung des Referenten jedesmal eine sehr angeregte Aussprache an, die oft durch vom Redner gestellte Fragen eingeleitet wurde. Die Beratungen waren durch große Sachkenntnis und vorbildliche Disziplin der Teilnehmer gekennzeichnet und trugen den Geist aufgeschlossenen wechselseitigen Verstehens und erquickender Herzlichkeit in sich.

Die Erste Europäische Sommerschule war dazu bestimmt, für die jungen Bahá’i-Gemeinden der sogenannten europäischen „Zielländer“ als praktisches Beispiel zu dienen, was den Veranstaltern dank der ausgezeichneten Referate und der aktiven Mitarbeit aller Teilnehmer voll gelungen sein dürfte. Die Kursthemen lauteten: Das Bündnis, Administration, Vergleichende Religion, Lehrarbeit, Deine Erfahrung als Bahá’i. Lehrbeispiele („Work Shops“) wurden gegeben über ein Neunzehntagefest und die Sitzung eines Geistigen Rates.

Was noch zu wünschen übrig blieb, war nur „Mehr Zeit!“. Der Wandspruch des Tagesraumes „Use Time Wisely!“ („Nütze die Zeit weise!“), den unser Freund David Hofman, London, durch die ergänzende. Anrede „Bahá’i“ unterstrich, wurde von den Konferenzteilnehmern gerne beherzigt.

Die Begeisterung und überzeugende Zuversicht, wovon die Kopenhagener Bahá’i-Woche getragen war, mögen wie ein Leuchtfeuer in unsere Gemeinden und besonders in unsere deutsche Bahá’i-Jugend hineingetragen werden. Kopenhagen war ein beredter Beweis für den selbstvergessenen persönlichen Einsatz vieler Bahá’i-Pioniere, die ihre Heimat verließen und in andere Länder mit anderer Sprache und anderen Sitten gingen, um aus innerster Überzeugung und Gewißheit von der herrlichen Botschaft einer neuen göttlichen Weltordnung im Zeichen eines alle Menschen und Völker vereinenden Glaubens den glaubensmüden Menschen zu künden.

Kann es für uns Bahá’i, vornehmlich für unsere Jugend, eine befriedigendere und segensreichere Aufgabe geben als die, Fackelträger dieses Glaubens an die geistige Einheit der Menschheit und Brückenbauer im Verstehen der Völker zu werden, als Pionier die Trümmer der Vorurteile und des Mißtrauens zu beseitigen und den Weg zu einer wahren, göttlich bestimmten und gerechten Weltordnung freizumachen? Wem es vergönnt war, Delegierter oder Gast der Kopenhagener Konferenz zu sein, der hat die lebensvolle Wirklichkeit einer Weltgemeinschaft gläubiger und tatkräftiger Menschen verschiedener Sprachen und Mentalität, eines verantwortungsfreudigen und aufbauenden Menschheitsbewußtseins in beglückender und verpflichtender Eindringlichkeit erfahren. Die in Kopenhagen dargebotenen Erfahrungen, nicht zuletzt die Berichte der Delegierten und Pioniere, zeigten die Notwendigkeit des tiefen Eindringens in die Lehren von Bahá’u’lláh, in die Auslegungen von 'Abdu'l-Bahá und in die Erklärungen von Shoghi Effendi, unsrem Hüter, der als das geistige Oberhaupt die Lenkung der weltweiten Bahá’i-Arbeit innehat. Die Einheit der Gläubigen im „Bündnis“ und die organische Wirksamkeit der administrativen Ordnung mit ihren wesentlichen Elementen der Beratung, der Autorität, des Gehorsams und der Zusammenarbeit kennzeichnen in ihrer unlöslichen Zusammengehörigkeit den völlig neuartigen Charakter religiöser Lebenshaltung und sittlichen Handelns.

Wenn die Zahl der jugendlichen Teilnehmer an der Kopenhagener Konferenz aus Platz- und anderen Gründen verhältnismäßig gering war, so ist zu wünschen, daß künftig zu den europäischen Bahá’i-Konferenzen und vor allem den internationalen Sommerschulen auch Bahá’i-Jugendliche „delegiert“ werden.

Der letzte Brief des Hüters an die Bahá’i in Deutschland und Österreich kündigt an, daß der Zeitpunkt näher rückt, zu dem die deutschen Bahá’i dazu berufen sein werden, die Botschaft von Bahá’u’lláh über ihre Landesgrenzen hinaus zu anderen Nationen zu tragen. Das Interesse der Kopenhagener Konferenzteilnehmer an diesem bedeutsamen Brief war so groß, daß der Delegierte Deutschlands gebeten wurde, ihn zu verlesen. Der Eindruck war sehr stark und für uns Deutsche besonders ermutigend, weil der herzlichen Verbundenheit der Vertreter der anderen Länder mit uns und dem Willen zu enger Zusammenarbeit auf europäischer Ebene [Seite 96] lebhafter und freudiger Ausdruck verliehen wurde. Daß sich für uns nach längerer, bitterer Abgeschlossenheit die Tore zur Welt zu öffnen beginnen, geht zugleich aus der Botschaft des Hüters an die Konferenz hervor, in der der Hüter die Erwartung enger Zusammenarbeit unter den Schwestergemeinden in Europa ausspricht.

Dieser gedrängte Bericht soll nicht abgeschlossen werden, ohne der bewunderungswürdigen, selbstlosen Leistungen der amerikanischen Freunde und der aufopferungsfreudigen Hingabe der amerikanischen Pioniere dankbar zu gedenken und die herzliche Gastfreundschaft der jungen Kopenhagener Gemeinde zu unterstreichen.

In ihrer Ansprache an die Konferenz über das „Bündnis Gottes“ zitierte Fräulein Elsa Steinmetz, Bern, die Worte von Bahá’u’lláh:

„Gesegnet ist der, welcher seinen Bruder
lieber hat als sich selbst: Ein solcher gehört
zum Volke Bahá.“

Die Kopenhagener Konferenz war ein unvergeßliches Manifest der Bruderliebe, ohne die die Menschheit keinen Frieden finden kann.

E. Sch.


Deutsche Gemeindearbeit.

Berlin:

Erfreulicherweise konnten wir erfahren, daß auch in Berlin in mehreren Stadtteilen Lese- und Studienabende veranstaltet, sowie Neuzehntage-Feste und Gedenktage regelmäßig gefeiert werden. — Am 25. 11. wurde über RIAS ein Kurzvortrag über die Bahá’i-Weltreligion gesendet.


Darmstadt:

Auch hier finden neben öffentlichen Vortragsabenden regelmäßige Zusammenkünfte in Studienkreisen statt. Letztere dienen dem Lesen und Studium von Bahá’i-Literatur und der gegenseitigen Aussprache zur Förderung und Vertiefung.


Frankfurt (Main):

Außer den regelmäßigen Vortragsabenden im Verwaltungszentrum fand dort am 16. September ein Vortrag von Dr. Hermann Großmann statt, der zu dem Thema „Wissenschaftliche Fragen in ihrer Beziehung zur Bahá’i-Offenbarung“ sprach. Nach den einzelnen Vorträgen erfolgt jeweils eine Aussprache.


Hamburg:

Die Gemeinde veranstaltet regelmäßige wöchentliche Zusammenkünfte. Einige Teilnehmer der 3. Europäischen Lehrkonferenz in Kopenhagen besuchten auf ihrer Heimreise die Hamburger Freunde.


Karlsruhe:

Die Freunde dieser Gemeinde berichten, daß sie mehr und mehr zu der Überzeugung gelangen, daß Studienabende in kleinen Gruppen für das innere Wachstum von großer Wichtigkeit sind. Es finden dort wöchentlich Studienabende in zwei Gruppen statt. Für den Zeitraum eines Monats wird das Thema festgelegt, das jeweils in beiden Gruppen behandelt wird. Einmal im Monat kommen die beiden Gruppen zusammen, um in gemeinsamer Arbeit das jeweilige Thema nochmals zusammenfassend zu erläutern und durchzusprechen.

Sehr viel Anregung brachten der Gemeinde Karlsruhe die beiden Besuche von Mrs. Ashton, USA. Mrs. Ashton sprach sowohl in Neunzehntage-Festen über Administration als auch in einem Kreis geladener Gäste, um diese mit den Grundsätzen der Bahá’i-Religion vertraut zu machen. Ein besonderer Abend war dem Bericht über die Kopenhagener Lehrkonferenz gewidmet.


Stuttgart:

Neben den wöchentlichen Zusammenkünften an den öffentlichen Vortragsabenden, sowie den Neunzehntage-Festen, haben sich in einigen Vororten der Stadt Studienkreise gebildet.

H. Sch.


Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’i in Deutschland und Österreich e.V., Stuttgart. Hauptschriftleiter: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart.

In der „Sonne der Wahrheit“ finden nur solche Manuskripte Veröffentlichung, bezüglich deren Weiterverbreitung keine Vorbehalte gemacht werden. — Alle auf den Inhalt der Zeitschrift bezüglichen Anfragen, ferner schriftliche Beiträge, Besprechungsexemplare wie auch alle die Schriftleitung betreffenden Zuschriften sind an Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart N, Menzelstraße 24, zu senden. — Abonnementsbestellungen sowie Zahlungen sind an die Geschäftsstelle der „Sonne der Wahrheit“, Jakob Bucher, Wiesbaden-Sonnenberg, Platterstr. 16,

Postscheckkonto Stuttgart Nr. 35 768, zu richten.
Druck von J. Fink KG., Stuttgart N — Juli-September 1950

Veröffentlicht unter Lizenz US-W-Nr. 6871 der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung.


[Seite 97] diesem Tage wirkt, letzten Endes diesen Zustand herbeizuführen fähig ist. Noch mehr: Der Bahá’i-Glaube legt seinen Anhängern vor allem die Pflicht des ungehemmten Suchens nach Wahrheit auf, verwirft alle Arten von Vorurteil und Aberglauben und erklärt, daß der Zweck der Religion die Förderung von Freundschaft und Eintracht sei; er verkündet in wesentlichen Fragen ihr Zusammengehen mit der Wissenschaft und erkennt sie als die größte Kraft der Befriedigung und des geregelten Fortschrittes der Menschheit. Er hält ohne Zweideutigkeit den Grundsatz gleicher Rechte, gleicher Möglichkeiten und Vorrechte für Männer und Frauen hoch, besteht auf guter Erziehung als Pflicht, tilgt die Extreme von Armut und Reichtum aus, schafft die Einrichtungen eines Priesterstandes ab, verbietet Sklaverei, Askese, Bettelei und Mönchtum und schreibt Einehe vor, mißbilligt Scheidung, betont die Notwendigkeit festen Gehorsams zur Regierung, erhöht jede Arbeit, die im Geiste des Dienens getan wird, auf den Rang des Gottesdienstes, drängt auf die Schaffung oder Auswahl einer Welthilfssprache und gibt einen Umriß für die Einrichtungen, welche den Weltfrieden begründen und dauerhaft machen sollen.


Der Herold

Der Bahá’i-Glaube kreist um drei Hauptgestalten, deren erste ein Jüngling aus Schiras namens Mirzá ‘Ali Muhammád war, bekannt als der Báb (das Tor). Er erhob im Mai 1844, im Alter von 25 Jahren den Anspruch, der Herold Dessen zu sein, der nach den Heiligen Schriften früherer Offenbarungen den Einen, der größer ist als Er selbst, verkünden und den Weg für Sein Kommen bereiten soll. Seine Sendung sei, nach eben diesen Schriften, eine Ära des Friedens und der Gerechtigkeit einzuleiten, die als die Vollendung aller früheren Sendungen begrüßt würde, um einen neuen Zyklus in der Religionsgeschichte der Menschheit einzuleiten. Rasch setzte strenge Verfolgung ein, die von den organisierten Mächten der Kirche und des Staates Seines Geburtslandes ausging und schließlich zu Seiner Gefangenschaft, Verbannung und zu Seiner Hinrichtung im Juli 1850 in Täbris führten. Nicht weniger als 20000 Seiner Anhänger wurden in so barbarischer Grausamkeit hingemordet, daß sie das warme Mitgefühl und die unbegrenzte Bewunderung abendländischer Schriftsteller, Diplomaten, Reisender und Gelehrter hervorrief.


Bahá’u’lláh

Mirzá Husayn - ‘Ali, genannt Bahá’u’lláh (die Herrlichkeit Gottes), aus der Provinz Mázindarán stammend, dessen Kommen der Báb verkündet hatte, wurde von diesen gleichen Mächten der Dummheit und des Fanatismus angegriffen, in Teheran eingekerkert, 1852 aus Seinem Heimatland nach Bagdad verbannt und von dort nach Konstantinopel und Adrianopel und schließlich in die Gefängnisstadt Akka, wo Er nicht weniger als 24 Jahre noch gefangengehalten wurde. Unweit davon starb Er im Jahre 1892. In der Zeit seiner Verbannung, vor allem in Adrianopel und in Akka, gab Er den Gesetzen und Vorschriften Seiner Sendung Ausdruck und erklärte in mehr als hundert Bänden die Grundsätze Seines Glaubens, verkündete Seine Botschaft den Königen und Herrschern des Ostens und des Westens, Christen sowohl wie Mohammedanern.


‘Abdu’l-Bahá

Sein ältester Sohn, ‘Abbás Effendi, bekannt als ‘Abdu’l-Bahá (Diener Bahá’s), war von Bahá’u’lláh zu dessen gesetzlichem Nachfolger und bevollmächtigtem Ausleger Seiner Lehren ernannt worden. Er war seit Seiner frühesten Kindheit Seinem Vater eng verbunden und teilte dessen Verbannung und Leiden. Er blieb ein Gefangener bis 1908, wo Er in Auswirkung der jungtürkischen Revolution aus der Haft entlassen wurde. Nunmehr verlegte Er Seinen Wohnsitz nach Haifa, schiffte sich dann bald zu einer drei Jahre langen Reise nach Ägypten, Europa und Nordamerika ein, in deren Verlauf Er vor einer zahlreichen Hörerschaft die Lehren Seines Vaters auslegte und das Nahen der Katastrophe voraussagte, die bald darauf die Menschheit überfallen sollte. Er kehrte nach Hause zurück am Vorabend des ersten Weltkrieges, in dessen Verlauf Er dauernd Gefahren ausgesetzt war bis zur Befreiung Palästinas.

1921 verließ Er diese Welt. Er wurde in dem auf dem Berge Karmel errichteten Grabmal beigesetzt, das nach dem Gebot Bahá’u’lláh’s für die sterblichen Reste des Báb errichtet war.


Die Verwaltungsordnung

Das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahá’s bedeutete das Ende des heroischen Zeitalters des Bahá’i-Glaubens und bezeichnete zugleich den Beginn des gestaltgebenden Zeitalters, das den schrittweisen Aufstieg der Verwaltungsordnung des Glaubens schaffen soll. Ihre Errichtung war von dem Báb vorhergesagt, ihre Gesetze wurden von Bahá’u’lláh geoffenbart, ihre Umrisse wurden von 'Abdu'l-Bahá in Seinem Willen und Testament vorgezeichnet.

Die Verwaltungsordnung des Glaubens von Bahá’u’lláh ist dazu bestimmt, sich zu einem Bahá’i-Weltgemeinwesen zu entwickeln. Sie hat schon die Angriffe überdauert, die solche furchtbaren Feinde wie die Könige der Kadscharen-Dynastie, die Kalifen des Islam, die führenden Geistlichen Ägyptens und das Naziregime in Deutschland gegen ihre Einrichtungen gerichtet hatten, und hat ihre Zweige in alle Teile der Erde ausgedehnt, von Island bis zum äußersten Chile. Sie hat in ihren Bereichen die Vertreter von nicht weniger als 31 Rassen, darunter Christen verschiedener Bekenntnisse, Muselmänner der

[Seite 98] sunnitischen und schiitischen Sekten, Juden, Hindu, Sikhs, Zoroastrer und Buddhisten. Sie hat durch ihre festgesetzten Organe Bahá’i-Schriften in 48 Sprachen veröffentlicht und verbreitet.

Diese Verwaltungsordnung ist, im Unterschied von den anderen Systemen, die sich nach dem Tode der Gründer in den verschiedenen Religionen entwickelt haben, göttlich in ihrem Ursprung, beruht mit Gewißheit auf den Gesetzen, Vorschriften, Verordnungen und Einrichtungen, die vom Begründer des Glaubens selbst ausdrücklich niedergelegt und unzweideutig festgesetzt sind und waltet in fester Übereinstimmung mit den Auslegungen der bevollmächtigten Ausleger der heiligen Texte.

Der Glaube, dem diese Ordnung dient, den sie schützt und fördert, ist, das sollte in diesem Zusammenhang wohl bemerkt werden, in seinem Wesen übernatürlich, übernational, gänzlich unpolitisch, parteilos und jedem System oder jeder Schule von Ideen, die irgendeine besondere Rasse, Klasse oder Nation über die andere zu stellen sucht, völlig entgegengesetzt. Er ist frei von jeglicher Form von Kirchentum, hat weder Priesterstand noch Riten und wird allein durch freiwillige Gaben seiner erklärten Anhänger getragen.

Wenn auch die Bekenner des Bahá’i-Glaubens ihren Regierungen treu ergeben sind, in Liebe ihrem Vaterland verbunden und darauf bedacht, zu allen Zeiten dessen Wohl zu fördern, so werden sie doch, weil sie die Menschheit als eine Einheit betrachten und deren Lebensinteressen tief verpflichtet sind, ohne Zögern jedes Einzelwohl, sei es persönlich, örtlich oder national, dem übergeordneten Wohl der Menschheit als Ganzes unterordnen; denn sie wissen gar wohl, daß in einer Welt der gegenseitigen Abhängigkeit der Völker und Nationen der Vorteil des Teiles am besten durch den Vorteil des Ganzen erreicht werden kann, und daß kein Dauererfolg durch eines der zugehörigen Teile erreicht werden kann, wenn das Allgemeinwohl des Ganzen hintangestellt wird.

Shoghi Effendi


Die zwölf Grundsätze der Bahá’i-Weltreligion


1. Die gesamte Menschheit muß als Einheit betrachtet werden.

2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.

3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.

4. Die Religion muß die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.

5. Die Religion muß mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.

6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.

7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.

8. Der Weltfrieden muß verwirklicht werden.

9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung erfahren.

10. Die sozialen Fragen müssen gelöst werden.

11. Es muß eine Einheitssprache und eine Einheitsschrift eingeführt werden.

12. Es muß ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.