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Die Bahá’i-Weltreligion
Der Glaube, der von Bahá’u’lláh begründet wurde, entstand in Persien um die Mitte des
neunzehnten Jahrhunderts. Nach längerer Verbannung des Gründers, zuletzt nach der türkischen
Strafkolonie von Akka, und späterhin nach Seinem Tod und Seiner Beisetzung in Akka, hat der
Glaube sein endgültiges Zentrum im Heiligen Land gefunden und ist jetzt im Begriff, die
Grundlagen seines Verwaltungszentrums für die ganze Welt in der Stadt Haifa aufzubauen.
Wenn man seinen Anspruch, wie er unmißverständlich durch seinen Begründer verfochten wurde, und die Art des Wachstums der Bahá’i-Gemeinde in allen Teilen der Welt betrachtet, so kann dieser Glaube nicht anders angesehen werden als eine Weltreligion, die dazu bestimmt ist, sich im Laufe der Zeiten in ein weltumfassendes Gemeinwesen zu entwickeln. Dessen Kommen muß das goldene Zeitalter der Menschheit ankündigen, das Zeitalter, das die Einheit des Menschengeschlechtes unerschütterlich begründet, seine Reife erreicht und seine Bestimmung durch die Geburt und das Errichten einer alles umfassenden Zivilisation erfüllen wird.
Neue Darlegung ewiger Wahrheiten
Obwohl dem schiitischen Islam entsprungen und in den ersten Entwicklungsphasen von den Anhängern des mohammedanischen und des christlichen Glaubens nur als eine obskure Sekte, ein asiatischer Kult oder ein Ableger der mohammedanischen Religion betrachtet, beweist dieser Glaube nunmehr in wachsendem Maße sein Anrecht auf eine andere Beurteilung als nur die eines weiteren religiösen Systems, das den sich bekämpfenden Glaubensbekenntnissen, die so viele Geschlechter lang die Menschheit zerspalten und ihre Wohlfahrt verwüstet haben, sich zugesellt hat. Vielmehr ist er eine neue Darlegung der ewigen Wahrheiten, die allen Religionen der Vergangenheit zugrunde liegen, und eine einigende Macht, die den Anhängern dieser Religion einen neuen geistigen Elan einflößt, eine neue Hoffnung und Liebe zur Menschheit und sie durch eine neue Vision befeuert, die der grundsätzlichen Einheit der religiösen Lehren, und vor ihren Augen die herrliche Berufung ausbreitet, die dem Menschengeschlecht winkt.
Die Anhänger dieses Glaubens stehen fest zu dem grundlegenden Prinzip, wie es von Bahá’u’lláh verkündet worden ist, daß religiöse Wahrheit nicht absolut, sondern relativ ist, daß Gottesoffenbarung ein fortdauerndes und fortschreitendes Geschehnis ist, daß alle großen Religionen der Welt göttlich in ihrem Ursprung sind, daß ihre Grundsätze zueinander in völligem Einklang stehen, daß ihre Ziele und Absichten eine und dieselben sind, daß ihre Lehren nur Widerspiegelungen der einen Wahrheit sind, daß ihr Wirken sich ergänzt, daß sie sich nur in unwesentlichen Teilen ihrer Lehren unterscheiden und daß ihre Sendungen aufeinanderfolgende geistige Entwicklungsstufen der Menschheit darstellen.
Zur Versöhnung der sich streitenden Bekenntnisse
Die Ziele Bahá’u’lláh’s, des Propheten dieses neuen und großen Zeitalters, in das die Menschheit eingetreten ist — denn Sein Kommen erfüllt die Prophezeiungen des Neuen und Alten Testamentes wie auch des Koran, die sich auf das Erscheinen des Verheißenen am Ende der Zeiten, am Tage des Gerichtes beziehen — sind nicht die Zerstörung, sondern die Erfüllung der Offenbarungen der Vergangenheit und viel mehr die Versöhnung als die Betonung der Gegensätze der sich streitenden Glaubensbekenntnisse, welche die heutige Menschheit noch zerreißen.
Er ist weit davon entfernt, die Stufe der Ihm vorausgegangenen Propheten herabsetzen oder ihre Lehren schmälern zu wollen. Vielmehr will Er die Grundwahrheiten, die in allen diesen Lehren beschlossen sind, in einer Weise aufs neue darlegen, wie sie den Nöten der Menschheit entsprechen und auf ihre Fassungskraft abgestimmt sind und auf die Fragen, Leiden und Verwirrungen der Zeit, in der wir leben, angewendet werden können.
Seine Sendung ist: zu verkünden, daß die Zeiten der Kindheit und Unreife des Menschengeschlechtes dahin sind, daß die Erschütterungen; der heutigen Stufe der Jugend langsam und schmerzvoll sie zur Stufe der Reife vorbereiten und das Nahen jener Zeit der Zeiten verkünden, da die Schwerter in Pflugscharen umgewandelt werden und das von Jesus Christus verheißene Reich begründet wird und der Friede auf diesem Planeten endgültig und dauernd gesichert ist. Auch stellt Bahá’u’lláh nicht den Anspruch auf Endgültigkeit Seiner eigenen Offenbarung, sondern erklärt vielmehr ausdrücklich, daß ein volleres Maß der Wahrheit, als Ihm von dem Allmächtigen für die Menschheit in einem so kritischen Zeitpunkt gestattet wurde, in den späteren Phasen der endlos weiterschreitenden Menschheitsentwicklung enthüllt werden muß.
Einheit des Menschengeschlechtes
Der Bahá’i-Glaube hält die Einheit Gottes hoch, anerkennt die Einheit Seiner Propheten und betont vor allem den Grundsatz der Einheit und Ganzheit aller Menschenrassen. Er verkündet, daß die Einigung der Menschen notwendig und unvermeidbar ist, hebt hervor, daß wir uns ihr schrittweise nähern und stellt die These auf, daß nichts anderes als der verwandelnde Geist Gottes, der durch Sein erwähltes Sprachrohr an
SONNE DER WAHRHEIT Zeitschrift für Weltreligion und Welteinheit |
Heft 4 Preis vierteljährlich DM 1.80 |
JUNI 1949 Nur - Licht (106) |
19. JAHRGANG |
- Leitgedanken: Einheit der Menschheit - Universaler Friede - Universale Religion
Inhalt: Worte der Weisheit - Weltfrieden durch Weltordnung - Ährenlese - Göttliche Lebenskunst - Der verheißene Tag ist gekommen - Aus der Bahá’í-Welt
WORTE DER WEISHEIT[Bearbeiten]
Die Quelle alles Guten ist: Vertrauen in Gott, Unterwerfung unter Sein Gebot und Zufriedenheit mit Seinem heiligen Willen und Wohlgefallen.
Das Wesen der Weisheit ist die Ehrfurcht vor Gott, die Furcht vor Seiner Strafe und die Erkenntnis Seiner Gerechtigkeit und Seines Ratschlusses.
Das Wesen der Religion ist, das anzuerkennen, was der Herr offenbarte, und das zu befolgen, was Er in Seinem mächtigen Buche verordnet hat.
Die Quelle alles Ruhmes ist die Annahme dessen, was der Herr verlieh, und Zufriedenheit mit dem, was Gott verordnet hat.
Das Wesen der Liebe ist für den Menschen: sein Herz dem Geliebten zuzuwenden, sich von allem außer Gott zu lösen und nichts zu wünschen außer dem, was sein Herr wünscht.
- Bahá’u’lláh*)
*) Entnommen aus „BAHA’I WORLD FAITH“, Wilmette, Illinois (USA.) 1943,
nach der englischen Übersetzung von Shoghi Effendi, ins Deutsche übertragen.
WELTFRIEDEN DURCH WELTORDNUNG[Bearbeiten]
Nach einem Vortrag anläßlich des Bahá’í-„We1tjugendtages“ in Heidelberg vom 12./13. Februar 1949 von Prof. Dr. Hans Peter
Die Zeit, als nur die ältere Generation sich eines Krieges erinnerte,
an dem sie selbst oder ihre Brüder und Freunde teilgenommen hatten,
liegt mehr als ein Menschenalter zurück, ebenso lange, wie damals der
Krieg. Die Erinnerung an diese Zeit vermischt sich uns mit der Erinnerung
an unsere Kindertage. Aus dem Frieden und aus dem Elternhaus wurden wir
plötzlich durch den Befehl des Staates herausgerissen, um zu kämpfen, um
Menschen zu töten, die wir niemals gekannt hatten, von denen man uns sagte,
sie hätten unseren Frieden bedroht. Und diesen Menschen, die da gegen uns
kämpften, ging es vermutlich genau so wie uns.
Der Kriegslärm hinderte am Nachdenken. Die Verantwortlichen ließen uns auch dann nicht zu uns selbst kommen, wenn die Schlacht ruhte — gerade dann nicht. Sie witterten Gefahr Für den Bestand ihrer Herrschaft, wenn der Soldat anfing, nachzugrübeln. Der Soldat sollte kämpfen und nicht denken. —
Der Krieg ging trotz aller Anstrengungen verloren, zum Entsetzen eines irregeleiteten, betrogenen Volkes, weniger zum Erstaunen derer, die vor dem wahren Sachverhalt die Augen nicht verschlossen hatten.
Als wir dann wieder zu Hause waren und Zeit zur Besinnung hatten, legten wir der älteren Generation die Frage vor, die uns heute, nach der zweiten, noch gräßlicheren Katastrophe wiederum die Jugend stellt, stellen muß: „Warum habt ihr Väter und Mütter uns nicht eine Welt des Friedens geschaffen? Warum habt ihr es zum Kriege kommen lassen?“
Uns wurde damals die Antwort: „Wir haben den Krieg nicht gewollt. Der Krieg war auf einmal da.“ —
Ja, damals war nach fast einem halben Jahrhundert des Friedens der Krieg auf einmal da. — Aber nur wenige Menschen waren empört. In den ersten Tagen hatte das Volk geradezu ein Taumel ergriffen. Erst als die Kreuze auf den Gräbern zu Wäldern wurden, begann die Lähmung. Zunächst suchte man ihrer Herr zu werden. Man wollte natürlich siegen und brauchte dazu alle Kraft.
Nachdem der Krieg einmal angefangen hatte, ging es ja auch um die Existenz, ging es auf Leben und Tod. Und ist es nicht eine erhabene Tat für die Verteidigung der Heimat, für das Recht das höchste irdische Gut einzusetzen, das Leben?
Nach dem Kriege hieß es bei Besiegten und bei Siegern: Nie wieder Krieg! Krieg ist ein Verbrechen!
Der Krieg schien geächtet. Wer wollte es noch einmal wagen, die Schande eines Kriegsverbrechens auf sich zu nehmen!
Und doch erlebten wir einen neuen Krieg.
Freilich scheute man sich, ihn offen vorzubereiten.
Laut erklangen die Friedensbeteuerungen.
Nur im Geheimen bereitete eine Clique die Rüstungen vor. In den
Massen wirkte noch das Grauen des letzten Kriegserlebnisses.
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Aber zielbewußt wurde von denen, die zum Kriege drängten, das Gift der Lehre verbreitet: „Kriege sind unvermeidlich.“
Wer das bezweifelte, galt zuerst als ein weltfremder Phantast, der in einer Traumwelt lebte und offenbar sehr dumm sein mußte, daß er die Binsenwahrheit nicht begriff: Seit Jahrtausenden hat es Kriege gegeben; es wird immer wieder Kriege geben. Das ist Menschheitsschicksal.
Langsam aber fraß das Gift weiter. Bald galt es nicht mehr als dumm, die Unvermeidlichkeit des Krieges zu bezweifeln. Wer solchen Zweifel hegte, wurde als Feigling beschimpft, der hinter dem Ofen sitzen wolle, während die kühnen Helden auf Kriegsfahrt auszögen.
Und dann galt es als Verbrechen, so zu denken.
Dann war der Terror da!
Freilich darf man nicht übersehen: Diese Entwicklung vollzog sich in einem Lande, das einen sinnlosen Krieg plante, den jeder Einsichtige von Anfang an verloren wußte.
Nicht nur die Lehre von der Unvermeidlichkeit des Krieges wurde gegen bessere Einsicht verbreitet; die Wahrheit überhaupt wurde durch Terror unterdrückt.
Je aussichtsloser der Kampf gegen die Wahrheit und gegen die Übermacht war, um so mehr verschärfte sich der Terror, mußte er sich verschärfen.
Und dann kam, kaum mehr für irgendwen überraschend, der Zusammenbruch. —
Die Jugend fragt mit Recht: „Warum habt ihr uns vor diesem Geschehen nicht bewahrt? Warum habt ihr den Frieden preisgegeben?“
Es ist kein Zweifel, es hat Personen gegeben, die bewußt und in voller Kenntnis der Folgen den Krieg vorbereitet haben. Sie haben, einmal zur Macht gekommen, die Kriegsgegner bis zur Vernichtung bekämpft. —
Wir wollen aber nicht richten und über das, was geschehen ist, die Aufmerksamkeit nicht von dem ablenken, was zu geschehen hat, damit das Verbrechen des Krieges in Zukunft verhindert werde.
Wer die Verantwortung für die Vergangenheit trägt, wird seinen Richter finden. Jetzt geht es um die Verantwortung für die Zukunft!
Es genügt nicht, daß wir uns jeden Tuns enthalten, das aus einer Kriegsabsicht geboren wird.
Wir tragen die Verantwortung, daß auch nichts unterlassen werde, was den Frieden erhalten kann.
Und diese Verantwortung zwingt zu unverzüglichem Handeln. Die Erfahrung lehrt, daß die Zeit, die für dieses Handeln zur Verfügung steht, urplötzlich vorüber sein kann.
Ich will damit nicht etwa sagen, daß der nächste Krieg schon wieder vor der Türe steht.
Auf die Gefahr, für einen Phantasten gehalten zu werden, sage ich sogar: „Ich habe den festen Glauben, daß der Krieg verhindert werden kann. Ich bin der Überzeugung, daß er wirklich verhindert wird, wenn alle diesen Glauben haben!“
Es ist die Eigentümlichkeit aller idealen Ziele, daß sie nur erreicht werden, wenn man an sie glaubt. Ein Zweifel an ihre Erreichbarkeit macht sie wirklich unerreichbar.
In dem Augenblick, in dem die Machthaber in einem Lande den
Krieg beschließen, wird er kommen; dagegen hilft der Glaube dann nichts
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mehr. Im gleichen Augenblick wird es auch wieder verboten sein für den
Frieden zu wirken.
Es wird dann mehr Mut erfordern, gegen den Krieg zu sprechen, als in den Krieg zu ziehn. Und dann wird sehr bald der Ruf nach Frieden, jede Aufforderung, sich für den Frieden einzusetzen, wirkungslos verhallen, bis wieder Gräber und Ruinen Entsetzen verbreiten.
Dann ist es wieder zu spät.
Für dieses „Zu spät“ aber tragen dann wir die Verantwortung.
Wie aber lassen sich in Zukunft Kriege verhindern?
Bisher wissen wir nur: Der Zweifel an der Möglichkeit, ihn zu verhindern, macht den Krieg nur wahrscheinlicher. Aber die Vermeidung des Zweifels verhindert den Krieg noch nicht. Das zu glauben, wäre wohl doch Phantasterei.
Wer die Frage: „Wie lassen sich Kriege verhindern?“ beantworten will, muß zuvor die andere beantworten: „Wie kommt es denn eigentlich zum Kriege?“ — Auf sie werden uns die Kenner der Weltgeschichte und die Praktiker des täglichen Lebens mit selbstgefälligem Lächeln die weltkundige Antwort geben: „Es gibt keinen noch so belanglosen Konflikt, der die Menschen nicht schon zur Waffe hat greifen lassen. Und kein Mensch, der seine gesunden Sinne beisammen hat, wird glauben, daß sich die Konflikte jemals aus der Welt schaffen lassen.“
Wir können nicht umhin, diese Erfahrung anzuerkennen.
Also?
Also wird es immer Konflikte geben, wo Menschen nebeneinander leben! Es wäre weltfremd, das zu leugnen. Die Konflikte sind da. Wo aber die Menschen miteinander leben wollen, müssen die Konflikte aufgelöst werden. Die Frage ist, wie das ohne Krieg geschehen kann.
Gibt es einen Grundsatz, der diese Lösung möglich macht?
Ich will die Antwort mit den Worten eines deutschen Philosophen geben, die er 1803 niederschrieb, als die Welt auch in Kriegsgefahr stand. Jakob Friederich Fries sagt in der Einleitung seiner philosophischen Rechtslehre:
„Außer uns folgt alles Sein und alles Werden der Dinge einer unabänderlichen Notwendigkeit der Naturgesetze. In jeder Begebenheit der Natur wirken Kräfte gegen Kräfte und die Stärke entscheidet. Gleichheit der Kraft bestimmt hier das einzige Gleichgewicht. Aber in unserm Innern haben wir ein anderes Gesetz, welches sich in der Idee von Tugend und Recht ausspricht. Tugend gilt hier als Gesetz für den einzelnen, das Recht für das Ganze. Nach diesem innern Gesetz, welches die Vernunft in jedem Menschen sich selbst gibt, soll nicht die Stärke oder Gewalt, sondern nur die Gleichheit des Rechts entscheiden. Das Recht des schwächsten Arms soll die Kraft des stärksten überwinden, das Recht des unmündigen Kindes soll der Gewalt des gebildetsten Verstandes überlegen sein.“
Ku Hung-Ming, ein chinesischer Philosoph des 20. Jahrhunderts, hält den europäischen Völkern vor:
„Der einzig mögliche Weg für die Völker Europas, um dem Ruin zu
entgehen, ist der Kampf um die neue moralische Kultur. Innerhalb dieser
neuen Kultur wird die Freiheit für den Gebildeten nicht bedeuten, daß
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er tun kann, was er mag, sondern daß er tun kann, was recht ist. Der Sklave
oder der noch nicht kultivierte Mensch tut nichts Böses, weil er in dieser
Welt die Knute oder die Polizei fürchtet und das höllische Feuer in der
nächsten. Aber der freie Mann der neuen Kultur ist der, für den weder
Knute noch Polizei noch höllisches Feuer mehr nötig ist. Er tut recht,
weil er das Rechttun liebt; er tut nichts Böses, nicht aus der Triebfeder
einer knechtischen gemeinen Furcht, sondern weil er haßt, Böses
zu tun. In allen Dingen der Lebensführung macht er nicht das Gesetz
einer äußeren Autorität, sondern das der inneren Vernunft und des
Gewissens zu seinem Gesetz. Er kann leben ohne Herrscher, aber er lebt
nicht ohne Gesetz. Bahá’u’lláh spricht:
„O Sohn des Menschen! Würdest du Barmherzigkeit beachten, dann würdest du nicht auf deinen eigenen Nutzen, sondern auf den Nutzen der Menschheit sehen. Würdest du Gerechtigkeit beachten, dann würdest du für andere nur wählen, was du für dich selbst erwählst.“
Allein die Gerechtigkeit kann uns helfen Kriege zu vermeiden! Aber mit dieser Einsicht ist es noch nicht getan.
Gerade die skrupellosesten Menschen werden die Würde, die das Recht gibt, mißbrauchen, sie werden den Schein zu wahren versuchen, werden jeden Anspruch, den sie stellen, für ihr Recht, ihr „gutes Recht“, erklären und ihn nur mit umso größerer Bestimmtheit, ja mit besonderer Arroganz geltend machen.
Welcher Krieg wäre nicht unter Vorwänden begonnen worden, die ihn als Krieg ums Recht in verklärtem Lichte erscheinen lassen sollten?
Denn in der Tat! Der Krieg ums Recht, um die Wiederherstellung verletzten Rechtes, ist berechtigt. Ich spreche damit eine Selbstverständlichkeit aus.
Alle Verherrlichung des Krieges, jede Feier des Helden hat nur vor dem Hintergrunde Sinn, daß voll Mut und Tapferkeit Taten für das Recht geschehen sind, daß für das Recht Opfer gebracht worden sind, daß für das Recht das Leben in die Schanze geschlagen worden ist.
Unsere Gedanken ließen sich leicht zu Ende führen, wenn immer diejenigen auch die Heldentaten vollbrächten, die den Entschluß zum Kriege fassen.
Das war in den Heldensagen der Vorzeit so, als noch derselbe Mann den Arm im Kampf, den Kopf im Rate lieh. Ihn traf die ganze Verantwortung sowohl für den Entschluß zum Kriege, als auch für seine Durchführung.
Freilich ist der Sieg nicht immer die Bewährung des Rechts. Und deshalb ist der Krieg nicht etwa das vorgezeichnete Mittel, um die Konflikte im richtigen Sinne zu entscheiden. —
Mit der Trennung des Kriegsentschlusses von der Ausübung des Kriegshandwerkes entsteht ein schweres sittliches Problem, das den Soldaten in einen tragischen Zwiespalt bringt.
Der Soldat wird zur Tapferkeit erzogen. Er sieht seine Ehre darin, im Kampfe nicht zu versagen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Erfüllung dieser Aufgabe ein hohes Verdienst ist.
Ebenso gilt die Pflicht zum Gehorsam
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im Kampf unverbrüchlich. Wo der Erfolg einer gemeinschaftlichen
Handlung von der Disziplin abhängt, muß sich der einzelne dem
Befehl der Leitung fügen.
Etwas ganz anderes ist die Frage der Verantwortung, sich überhaupt am Kriege zu beteiligen. Diese trägt jeder einzelne persönlich. Ihrer ist er durch keinen Befehl überhoben. Nur der Zwang, der gegen ihn angewendet wird, entlastet ihn, wenn er sich ihm nicht entziehen kann.
Der Befehl ist sittlich nur verpflichtend, solange die befohlene Tat nicht sittlich verboten ist. An diese Bedingung ist auch jedes Versprechen des Gehorsams gebunden. Das Versprechen unbedingten Gehorsams ist unsittlich.
Wegen der Funktionsteilung zwischen Beschluß und Durchführung des Krieges bleibt aber noch eine Frage offen, die das Gewissen des Soldaten belastet.
Solange die waffentragende Mannschaft mit der Volksversammlung identisch war, die dem Kriegsbeschluß wenigstens zustimmen mußte, war Verantwortung und Gehorsamspflicht klar. In den modernen Großstaaten hat allenfalls noch die Volksvertretung im Augenblick des Entschlusses Einblick in die internationalen Zusammenhänge; der Soldat aber nicht. Jedenfalls nicht die Massen des Heeres, die identisch sind mit der kampffähigen Jugend des Volkes.
Wie kann diese Jugend die Verantwortung tragen, die auf ihr lastet? — Sie kann es nur, wenn sie sich auf die Rechtlichkeit derer verlassen kann, die über Krieg und Frieden entscheiden. Wird dieses Vertrauen getäuscht, dann sind alle Eide nichtig.
Der Mißbrauch dieses Vertrauens ist das schwerste Verbrechen, dessen sich eine Regierung schuldig machen kann. Das ist mehr als Hochverrat!
Dieser Verrat zerstört das Fundament des Staates. Bestehen bleibt nur die nackte Gewalt. Der Staat ist seiner Würde verlustig gegangen. Er hat es verwirkt, im Namen des Rechtes irgend etwas von den Staatsangehörigen zu verlangen. Es ist dann nicht mehr die Pflicht, die seine Heere zusammenhält, sondern nur noch die Furcht vor der angedrohten Gewalt, die nicht einmal mehr den Namen der Strafe verdient.
Der Tyrann, der sich dieses Verrates schuldig weiß, fürchtet natürlich die Entdeckung. Er verbietet, daß sich irgendwer Kenntnis der Wahrheit verschafft. Er unterbindet, wie schon Aristoteles ausführt, jede Möglichkeit des Meinungsaustausches; er schickt überallhin seine Spitzel; er läßt die Presse nur drucken, was er für unbedenklich hält; er verbietet, fremde Sender zu hören; er bricht das Postgeheimnis; er muß schließlich jede Freiheit des Staatsbürgers aufheben.
Trotzdem dringt schließlich die Wahrheit durch. Wir haben erlebt, wie schließlich das morsche Gebäude zusammenbricht.
Und nun?
Die Frage der Jugend haben wir noch nicht beantwortet,
„Wie konntet ihr unser Vertrauen so mißbrauchen? Wie wird künftig solcher Mißbrauch vermieden werden?“
Besinnen wir uns, was die Katastrophe lehrt!
Die Niederlage ist furchtbar.
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Furchtbarer aber war die Schändung des Rechts!
Diese Schande hätte kein Sieg abgewaschen; er hätte sie nur verhüllen können.
Denn nicht der Sieg schafft Recht; er wird nur durch das Recht verklärt, wenn er in seinem Dienste erfochten worden ist.
Wir würden uns unsere Aufgabe zu leicht machen, wenn wir den Krieg unter allen Umständen verdammten; freilich gibt es auch nur einen einzigen Grund, ihn zu rechtfertigen.
Wir finden beide Gedanken ausgesprochen hei Bahá’u’lláh: „Sollte sich einer von euch gegen einen andern erheben, so tretet allesamt gegen ihn auf; denn dies ist nichts als offenbare Gerechtigkeit.“
Aber in seinem Sendschreiben an die Monarchen schreibt er auch: „Hütet euch, die Grenzen zu überschreiten, die der Allmächtige euch gesetzt hat. Seid wachsam, daß ihr niemandem Unrecht tuet, und sei euer Unrecht auch noch so klein wie ein Senfkorn. Beschreitet den Pfad der Gerechtigkeit; denn dieser, wahrlich, ist der gerade Pfad.“
Die Klärung dieser Einsicht führt uns auch einen Schritt weiter. Die Konflikte, in die das Leben nun einmal verwickelt, müssen mit anderen Mitteln gelöst werden als durch die Gewalt. Der Wille zum Frieden bedeutet, sich in jedem Falle, der nicht gegen einen Angriff auf das Recht gerichtet ist, der Gewaltanwendung zu enthalten und selbst in diesem Falle zu versuchen, die Gewaltanwendung zu vermeiden.
Die Idee des ewigen Friedens ist alt; aber die Menschen haben lange nicht zu hoffen gewagt, ihn wirklich einmal durchführen zu können. Noch Kant hält es für geraten, sich in seinem Philosophischen Entwurf zum ewigen Frieden gegenüber den „Staatsoberhäuptern, die des Krieges nie satt werden können“ ausdrücklich „wider alle bösliche Auslegung zu verwahren“, damit sie nicht „hinter seinen auf gut Glück gewagten und öffentlich geäußerten Meinungen Gefahr für den Staat wittern“.
Kant hielt damals die Zeit für gekommen, wo es gilt, für die Verwirklichung eines solchen Friedens etwas zu tun. Er schreibt: „Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird; so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex sowohl des Staats- als Völkerrechts zum Menschenrechte überhaupt und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.“
Damit ist der Blick auf den Schritt gelenkt, den die Menschheit tun muß, um den Frieden, der bisher nur im einzelnen Lande herrscht, über die ganze Erde zu verbreiten.
Es ist noch nicht überlange her, daß der Schritt zum Landfrieden bei
uns in den europäischen Ländern getan wurde. Wir wollen uns schnell
vergegenwärtigen, wie wir denn innerhalb der Länder, unter der Herrschaft
des Landfriedens die Konflikte, die durch das Zusammenleben der
Menschen stets gegeben sind, ohne
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Krieg lösen, ohne daß man heute auch nur den Gedanken an eine
gewaltsame Lösung solcher Konflikte hegte.
Daß der Stärkere seinen Willen durch Gewalt, der Klügere durch List, der Gewissenlose durch Betrug verwirkliche, verbietet das Gesetz. Wer es übertritt, wird bestraft. Deshalb braucht man dem in seinem Recht Geschädigten nicht die Gewalt zu verleihen, um selbst seinen Gegner zu überwinden; steht doch hinter dem Gesetz die Macht des Staates, der die öffentliche Ordnung wahrt und jederzeit aus dem Kreise derer, die guten Willens sind, eine dem Unrecht Tuenden überlegene Kraft zusammenrufen kann.
Freilich, der Rechtsgedanke muß in der Gemeinschaft hinreichend lebendig sein, und es gibt kein Naturgesetz, wonach das etwa notwendig ist. Hier liegt schließlich das entscheidende Problem. Aber ich will zunächst einmal als Beispiel einen Rechts- oder Kulturstaat unterstellen, in dem das der Fall ist.
Darf oder kann man seinen Willen nicht beliebig durchsetzen, so wird man sich gezwungen sehen, sich zu „vertragen“. Man kommt mit dem Kontrahenten zusammen, friedlich, ohne Waffen, und berät sich über den Konfliktsgegenstand. Man bespricht das Für und Wider und kommt, wie wir einmal annehmen wollen, zu einer Einigung. Da werden dann beide Teile nachgegeben haben. Keiner der beiden hat seinen Willen ganz durchgesetzt, jeder hat auf etwas verzichtet, was er sich gewünscht hat und wovon er vielleicht hoffen konnte, es durch Gewalt, List oder Betrug an sich zu bringen.
Einigen sich die Streitenden nicht, so können sie sich zunächst einfach aus dem Wege gehen. Sie müssen dann ganz auf ihre Pläne verzichten, die sie miteinander in Konflikt gebracht haben. Die Öffentlichkeit wird das ziemlich ungerührt zur Kenntnis nehmen. Die einzig Leidtragenden sind zumeist sie selbst.
Berührt aber die Öffentlichkeit der Ausgang des Streites, dann wird sie sich einmischen und versuchen, den Streit zu schlichten. Wenn die Streitenden selbst sich einen Vorteil von der Schlichtung versprechen, werden sie sogar versuchen, das öffentliche Interesse an der Schlichtung nachzuweisen und um Schlichtung ersuchen.
Zwischen den kleineren Gemeinwesen, die innerhalb der großen eine
mehr oder weniger selbständige Existenz führen, pflegt man bereits seit
Jahrhunderten dieselben Verkehrssitten, die zwischen den einzelnen üblich
sind. Man kommt zusammen, hält gemeinsam Beratung über Fragen, die — wie
man sagt — von gemeinsamem Interesse sind. Hier wird der Gegenstand, über
den man sich auseinanderzusetzen hat, mit dem Prädikat „gemeinsam“ belegt.
Stärker kann die Verträglichkeit nicht bezeichnet werden. — Auch hier gibt
es Meinungsverschiedenheiten, Streitfälle. Aber auch hier ist Unterwerfung
unter einen Schiedsspruch schließlich selbstverständlich. Man zieht nicht
gegeneinander zu Felde, wenn auch die Auseinandersetzung über die
gegenseitigen Ansprüche mit größter Bestimmtheit und unter unnachgiebiger
Wahrung des Vorteils geführt werden. Der Ton solcher Auseinandersetzung
mag manchmal heftig werden, —
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Kann diese Selbstverständlichkeit, im Falle von Meinungsverschiedenheiten
nicht zu den Waffen zu greifen, nicht auch auf internationale
Auseinandersetzungen übertragen werden?
Der Kantsche Gedanke ist seither nicht wieder zur Ruhe gekommen. Um die Wende des Jahrhunderts fand die Friedensbewegung ihren vornehmsten Ausdruck in den Haager Friedenskongressen 1899 und 1907. In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts hat Bahá’u’lláh die Menschen aufgerufen, den Weltfrieden aufzurichten. In einem schiedsrichterlichen Haus der Gerechtigkeit will er alle Grenzfragen nationaler Ehre, nationalen Eigentums und aller internationaler Lebensinteressen zur Entscheidung bringen.
Abdu'l-Bahá, der Sohn Bahá’u’lláh’s, schildert die Ideen zum Weltfrieden folgendermaßen: „Die Einheit des Menschengeschlechts, wie sie von Bahá’u’lláh geschaut wird, schließt die Begründung eines Weltgemeinschaftswesens in sich, in welchem alle Nationen, Rassen, Glaubensbekenntnisse und Klassen eng und dauerhaft vereint und in dem die Selbständigkeit ihrer Staatsglieder und die persönliche Freiheit und Tatbereitschaft der Einzelwesen, die sie bilden, endgültig und vollständig gesichert sind. Dieses Gemeinwesen muß aus einer Weltgesetzgeberschaft bestehen, deren Mitglieder als die Bevollmächtigten der ganzen Menschheit die gesamten Hilfsquellen aller sie zusammensetzenden Nationen durchaus in der Hand haben; und es müssen Gesetze erlassen werden, die geeignet sind, das Leben in geregelte Bahnen zu bringen, alle Nöte zu befriedigen und die Beziehungen aller Rassen und Völker zu ordnen. Eine Weltexekutivgewalt, gestützt auf ein internationales Machtmittel, wird die Entscheidungen ausführen, die durch die Weltgesetzgeberschaft an sie herangetragen werden, und wird die Gesetze anwenden, welche durch jene erlassen sind und die organische Einheit des ganzen Gemeinwesens schützen. Ein Weltgerichtshof wird seine bindende und endgültige Entscheidung in allen einzelnen Streitfragen erlassen und abgeben, die zwischen den verschiedenen Elementen, die dieses allumfassende System bilden, entstehen können.“
Damit ist die äußere Form angedeutet, die der Weltordnung gegeben werden soll, Aber die Schaffung einer äußeren Organisation genügt nicht.
Die Macht der Weltorganisation muß stark sein, damit sie jeden Widerstand eines Rechtsbrechers überwinden kann. Aber die Macht selbst ist willfährig zum Guten, wie zum Bösen.
Es kommt darauf an, daß die entscheidenden Menschen zur Erfüllung der sittlichen Forderung bereit sind, den Gebrauch der Macht zum Unrechttun zu meiden.
Abdu’l-Bahá schrieb 1875 bei seinem Hinweis auf die Errichtung eines
allumfassenden Völkerbundes: „Ja, die wahre Zivilisation wird ihr
Banner inmitten der Weit aufrichten, wenn einige edle Herrscher, mit
hohen Zielen, als glänzende Sonnen der Welt, der Menschenliebe und
Begeisterung, sich für das Gute und das Glück der menschlichen Rasse
erheben und mit festem Entschluß und starker Geisteskraft vorgehen und
eine Konferenz über die Frage des Weltfriedens halten.“
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Das Entscheidende ist offenbar, in welchem Geist die Verantwortlichen dieser Organe einer Weltregierung ihre Aufgaben erfüllen, Es genügt nicht, daß die Menschen organisatorisch eine Einheit sind, sie müssen sich auch als Einheit fühlen.
Denn diese Einheit des Menschengeschlechts besteht! Die Trennungslinien sind zufällig gezogen.
Eines der für die Zukunft der Menschen bedeutendsten Worte Bahá’u’lláh’s ist: „Ihr seid alle die Blätter eines Baumes, die Blüten eines Zweiges, die Blumen eines Gartens.“
Das will nicht sagen, daß zwischen den Menschen keine Unterschiede bestehen, sie können so verschieden sein, wie die Blumen eines Gartens, aber sie bilden deshalb doch, wie Abdu’l-Bahá sagt, eine Einheit in der Mannigfaltigkeit.
Der einzelne gehört stets engeren und engsten Lebensgemeinschaften an, innerhalb deren sich sein tägliches Leben vollzieht. Die Lebensgewohnheiten dieser Gemeinschaften sind vielfach durch Tradition verschieden. Aber wie die einzelnen in Gemeinschaften zusammenleben, so bilden wiederum die Gemeinschaften größere Gesamtheiten, die miteinander in Verkehr stehen, und schließlich die allumfassende Einheit der Menschheit bilden.
Der Fortschritt der Kultur wird von altersher darin erblickt, daß Trennendes mehr und mehr zurücktritt.
Der Grieche blickte auf die Barbaren herab, der dem Fremdling das Gastrecht verweigerte, das innerhalb der griechischen Kulturgemeinschaft galt. Man hat es stets zu den Kulturtaten der Großreiche gerechnet, daß sie die Grenzen gegenüber den Barbaren immer weiter hinausschoben und in ihrem Herrschaftsbereich einen allgemeinen Frieden schufen und sicherten.
Ich übersehe bei dieser Beschreibung nicht, daß die Beweggründe der Staaten keineswegs durchweg ideal waren, vielleicht nicht einmal überwiegend. Aber diese Leistung stellt eben eine Kulturtat dar, die Anerkennung verdient.
Den einzelnen hat diese Entwicklung stets vor die Notwendigkeit gestellt, den Angehörigen des „Reiches“, z.B. des Imperium Romanum mit zur Gemeinschaft zu rechnen, der unter dem gleichen Frieden stand wie er selbst. Die Staaten, die sich dem Imperium gebeugt hatten, waren gehalten, miteinander in Frieden zu leben.
Das Ziel einer solchen Entwicklung war jeweils erreicht, wenn „die ganze Welt“ befriedet erschien.
Die ganze Welt war freilich zunächst bloß die Kulturgemeinschaft in einem geographisch geschlossenen Raum. Zumeist war sie durch Meere und Wüsten von anderen Welten getrennt, die die Verkehrstechnik noch nicht in wirtschaftlichem Verkehr zu überwinden ermöglichte.
Die Weltreiche zerfielen, wurden mit andern verschmolzen. Revolutionierende Umwälzungen hatten Völkerwanderungen im Gefolge, die zu neuen, geographisch von den früheren verschiedenen Zusammenfassungen führten.
Die Probleme, vor denen die Menschheit steht, sind heute kaum wesentlich anders als irgendwann früher.
Aber gleichviel! — Jeder Schritt fordert von den Menschen das gleiche:
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daß sie sich über Trennendes hinwegsetzen.
Heute ist es zum Bestandteil des in der Welt geltenden, wenn auch noch ungeschriebenen Rechtes geworden, die Menschen nicht in höhere und niedere Rassen einzuteilen und rechtlich verschieden zu behandeln. Damit wird im Grunde nur eine Trennung abgelehnt, die das Christentum schon seit 2000 Jahren verwarf.
Abdu’l-Bahá sagt in eindrucksvoller Kürze: „Das Rassenvorurteil ist eine Einbildung, reiner Aberglaube; denn Gott schuf uns alle von einer Rasse.“ Er wiederholt damit einen Gedanken Bahá’u’lláh’s „Gott hat die Menschen nicht erschaffen, damit sie einander vernichten sollen. Alle Rassen, Stämme, Bekenntnisse und Klassen haben gleichen Anteil an den Gaben des himmlischen Vaters.“
Nicht weniger verderblich als das Rassenverurteil hat sich die Klassenscheidung zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden in der Menschheit ausgewirkt. Sie ist nicht nur die Ursache von Bürgerkriegen. Marx sieht in ihr den Anlaß zu allem Unfrieden in der Geschichte.
Schon Aristoteles zählt unter den schlechten Staatsformen die Oligarchie auf, in der, wie er sagt, eine Minderheit von Besitzenden die Regierung im Volke innehat. Sie tritt in der Sklaverei, in der Leibeigenschaft und in der kapitalistischen Form der Lohnarbeit auf.
Die Überwindung solcher Zustände ist die Voraussetzung für die Schaffung des inneren Friedens. Abdu'l-Bahá sagt: „Die Verhältnisse des Volkes müssen so geordnet werden, daß Armut verschwindet und jedermann, so weit es möglich ist, seinem Rang und Stand entsprechend an Bequemlichkeit und Wohlstand teilnehme... Es ist ebenso wichtig, Reichtum einzuschränken wie Armut zu beheben. Jedes Übermaß ist vom Übel.“ τὸ μηδὲν ἃγαν, hieß es bei den Griechen.
Bei aller Wichtigkeit dieser Frage, die eine der Hauptursachen menschlichen Zwistes betrifft und den Lauf der Geschichte wesentlich mitgestaltet hat, muß ich mich auf diese Bemerkung beschränken.
Eine besondere Überlegung müssen wir der Religion widmen. Wahre Religion ist zugleich der stärkste Antrieb sittlichen Handelns. Aber gerade religiöse Vorurteile zählen zu den Ursachen zahlreicher und grausamer Kriege. Es gehört daher zu den vornehmsten Aufgaben der Menschheit, diese Vorurteile zu überwinden. In einer seiner Reden in Paris sagte Abdu’l-Bahá: „Die Religion sollte alle Herzen einigen und Kriege und Streitigkeiten von der Erdoberfläche verschwinden lassen. Sie sollte der geistigen Natur zum Leben verhelfen und jeder Seele Licht und Leben geben. Wenn die Religion zur Ursache der Abneigung, des Hasses und der Spaltung wird, dann wäre es besser, ohne sie zu sein; und sich von einer solchen Religion fernzuhalten, wäre eine wahre religiöse Tat. Denn es ist klar, daß es der Zweck eines Heilmittels ist, zu heilen. Wenn aber das Heilmittel das Leiden nur verschlimmert, dann ist es besser, es wegzulassen. Eine Religion, die nicht die Ursache der Liebe und Einigkeit ist, ist keine Religion.“
Werfen wir einen kurzen Blick auf die Entwicklungslinie der Geschichte
der Religionen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der hat, die wir vorhin
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im Hinblick auf das Gastrecht andeuteten.
Der Primitive baute seinen Altar der geheimnisvollen Macht, die ihm Glück und Unglück brachte und suchte sie sich günstig zu stimmen. Er bat um Stärkung seines Arms im Kampf gegen den Feind. Der Gott seines Feindes war der Feind seines Gottes, der die Waffen des Gegners segnete und feite, während sein Gott seine Waffen segnen und feien sollte.
Mit der meist durch Unterwerfung bewirkten Vereinigung von Gemeinschaften zu größeren politischen Gebilden vereinigten sich auch die Kultgemeinden, und die vielen Götter bevölkerten den Olymp oder andere Götterberge, wo sie nach der Rangordnung ihrer irdischen Verehrer ihren Platz bekamen.
Mit dem Aufstieg der Kultur läuterte sich auch der Gottesglauben zum Eingottglauben, dessen notwendiges Ziel jeweils die Erstreckung auf die ganze Welt war.
Wir kennen die Entwicklung des Christentums, das mit dem Imperium Romanum die ganze Mittelmeerwelt umfaßte und nachher in einer Pax christiana die ganze bekannte Welt umschloß und zu umschließen strebte, als die Verkehrsentwicklung um die Wende des Mittelalters neue Welten eröffnete.
In den unabhängig voneinander entstandenen Kulturkreisen haben sich nun auch Kulturreligionen berührt, die unter verschiedener Symbolik die gleichen Grundwahrheiten verkünden und die gleiche Ethik lehren.
Indem sich diese Religionen als etwas Fremdes gegenübertreten, tragen sie zur Betonung des Trennenden in der Menschheit bei und geraten so in einen Widerspruch zu ihrer Aufgabe, die ganze Welt zu umfassen. Müssen sie sich bekämpfen, bis eine den Sieg davonträgt? Wer hat den echten Ring?
„Sämtliche Propheten Gottes kamen, um die Menschen zu vereinigen, nicht sie zu entzweien“, sagt ‘Abdu’l-Bahá.
Der Eingottglaube hat die Vielgötterei überwunden.
Wie ist aber eine Mehrheit verschiedener Religionen, von denen jede nur einen Gott kennt, überhaupt denkbar? — Offenbar nur in den Formen, in denen der eine Gott verkündet und verehrt wird; denn Gott ist der gleiche auf allen Altären.
Ohne diese Toleranz kann die Religion ihre wahre Aufgabe nicht erfüllen; denn sonst wird sie selbst zur Ursache der Spaltung. Und die Religionskriege vergangener Zeiten haben gezeigt, zu welcher Leidenschaft gerade hier die Intoleranz aufflammen kann.
Die Religion ist wiederum die stärkste Kraft, die zur Überwindung der Gegensätze führen kann.
Das Recht, die Einsicht in die Pflicht, entbehrt nie einer gewissen
Kälte. Es verbietet. Es setzt Schranken. Es straft Übertretungen. Aber
wenn kein Unrecht geschieht, so geschieht darum noch nichts Gutes.
Kant erinnert in der ersten Zeile seines Entwurfes zum ewigen Frieden,
daß auch auf dem Kirchhof ewiger Frieden herrscht. Was wir suchen, ist
jedoch das Leben in ewigem Frieden. Die positive Kraft, die eine
Verwirklichung dieses Ideals ermöglicht, ist aber die Tugend, die alle
großen Religionen als das Höchste fordern: die Liebe. Ohne sie ist die
Sinnesänderung
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nicht möglich, die eine Annäherung an das Ideal erhoffen läßt.
„Ich gebiete euch allen und jedem einzelnen, alle Gedanken eurer Herzen auf Liebe und Einigkeit zu sammeln. Wenn Kriegsgedanken in euch aufsteigen, so begegnet ihnen mit den stärkeren Gedanken des Friedens. Ein Gedanke des Hasses muß zerstört werden durch einen viel mächtigeren Gedanken der Liebe“, sagt ‘Abdu’l-Bahá.
Ohne die Liebe bleibt jede Organisation des Zusammenlebens in der Welt toter Buchstabe.
Wenn es gelingt, im Geiste wahrer Religiosität den Gedanken der Einheit über alle Grenzen der Rassen, Klassen, Nationen und auch der Religionsgemeinschaften hinweg in den Herzen lebendig zu machen, dann werden sich die Widerstände gegen den Gedanken einer äußeren Weltordnung leichter überwinden lassen.
Jeder Ansatz zu dieser Entwicklung ist zu begrüßen und verdient Förderung. Die unmittelbare Arbeit in diesen Institutionen liegt den Staatsmännern ob.
Woran aber jeder zu seinem Teil beitragen kann, das ist, den Geist der Menschen aufnahmebereit zu machen für den Gedanken einer Weltordnung, die die Welt über alle Verschiedenheiten der Menschen hinweg zu einer Einheit werden läßt, so daß die Welt zu einer Heimat wird für jeden einzelnen Menschen, der guten Willens ist.
Dieses Ziel zu erreichen ist keine leichte Aufgabe.
Schwer zu überwinden sein wird der Argwohn der Menschen, die sich immer wieder betrogen sahen von solchen, die den guten Willen der anderen mißbraucht haben, die die höchsten Ideale verfälscht haben, um unter dem Scheine des Rechtes ihre Mitmenschen in den Dienst ihres Egoismus zu stellen.
Trotzdem — und obwohl immer wieder mit diesen Gefahren gerechnet werden muß — darf die Hoffnung nicht aufgegeben werden, die Menschen für diesen Gedanken des Friedens zu gewinnen.
Dieser Friede darf kein Traum bleiben.
Die Jugend muß sich bewußt werden, daß der Weltfrieden möglich ist, daß er aber nur wirklich werden kann, wenn in den Menschen der Wille zur Gerechtigkeit und die Bereitschaft zur Beratung lebendig wird.
Die Jugend selbst muß die Trägerin dieses Strebens werden.
Wir wissen, daß der Kampf ums Recht im äußersten Falle sogar den Krieg rechtfertigen kann. Der Friede ist also nicht so einfach zu gewinnen, daß man die Waffen zerbricht. Aber gerade weil die Möglichkeit des Krieges sich nicht ausschließen läßt, muß der Wille zum Frieden um so lebendiger in uns sein. Der Rechtsbrecher muß wissen, daß die Gutgesinnten das Schwert zu führen fähig sind; aber die Menschen müssen dahin kommen, ihren Stolz darein zu setzen, ohne Schwert, allein mit geistigen Waffen ihrer Konflikte Herr zu werden.
Der Diplomat muß es als Versagen in seinem Beruf empfinden, wenn er den Krieg nicht verhindern kann.
Der Krieg aber, der nicht ums Recht geführt wird, muß Schande werden.
ÄHRENLESE AUS DEN SCHRIFTEN VON BAHA’U’LLAH[Bearbeiten]
Nach der englischen Übersetzung von Shoghi Effendi (New York, Baha’i Publishing Committee 1935) ins Deutsche übertragen.
(Fortsetzung)
XXII. Die Träger des Pfandes Gottes werden den Völkern der Erde als die
Vertreter einer neuen Sache und die Offenbarer einer neuen Botschaft enthüllt.
Da diese Vögel des himmlischen Thrones alle vom Himmel des Willens
Gottes herabgesandt werden und da sie sich alle erheben, um Seinen
unwiderstehlichen Glauben zu verkünden, werden sie angesehen wie eine Seele in der
gleichen Person. Denn sie alle trinken aus dem einen Becher der Liebe Gottes
und alle haben Teil an der Frucht des gleichen Baumes der Einheit.
Diese Manifestationen Gottes haben alle eine doppelte Stufe. Die eine ist die Stufe reiner Loslösung und wesentlicher Übereinstimmung. In dieser Beziehung bist du, wenn du sie alle bei einem Namen nennst und ihnen die gleichen Attribute zuschreibst, nicht von der Wahrheit abgewichen, wie Er enthüllt hat: „Wir machen keinen Unterschied zwischen irgendwelchen Seiner Boten“; denn sie fordern alle die Menschen der Erde auf, die Einheit Gottes anzuerkennen und kündigen ihnen den Kawthar einer unendlichen Gnade und Güte an. Sie sind alle bekleidet mit dem Gewande der Prophetenschaft und geschmückt mit dem Mantel der Herrlichkeit. Daher hat Muhammad, der Punkt des Qur’án, geoffenbart: „Ich bin alle Propheten.“ So sagt Er auch: „Ich bin der erste Adam, Noah, Moses und Jesus.“ Ähnliche Darlegungen wurden von dem Imám ‘Ali gemacht. Erklärungen wie diese, die die wesentliche Übereinstimmung jener Vertreter der Einheit andeuten, sind auch aus den Kanälen von Gottes ewiger Äußerung geflossen und aus den Schatzkammern der Edelsteine göttlicher Erkenntnis hervorgekommen und in den Schriften niedergelegt. Diese Antlitze sind die Empfänger des göttlichen Befehls und die Morgenröten Seiner Offenbarung. Diese Offenbarung ist erhaben über die Schleier der Vielheit und die Erfordernisse der Zahl. Daher sagt Er: „Unsere Sache ist nur eine.“ Weil die Sache eine und die gleiche ist, müssen deren Vertreter notwendigerweise auch einer und der gleiche sein. So haben auch die Imame des muhammedanischen Glaubens, jene Lampen der Gewißheit, gesagt: „Muhammad ist unser Erster, Muhammad ist unser Letzter, Muhammad unser alle.“
Es ist dir klar und offenbar, daß alle Propheten die Tempel der Sache
Gottes sind, die verschieden gestaltet in Erscheinung traten. Wenn du mit
unterscheidendem Auge beobachtest, wirst du erkennen, daß sie alle in
demselben Heiligtume wohnen, in demselben Himmel schweben, auf demselben
Throne sitzen, dieselbe Rede führen und denselben Glauben verkünden. Das
ist die Einheit jener Wesen des Seins, jener Leuchten unendlicher und
unermeßlicher Herrlichkeit! Sollte daher eine dieser Manifestationen der
Heiligkeit verkünden und sagen: „Ich bin die Wiederkehr aller Propheten“, so
spricht sie wahrlich die Wahrheit, und ebenso ist die Wiederkehr der
vorhergegangenen Offenbarung in jeder ihr nachfolgenden Offenbarung
eine feststehende Tatsache...
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Die andere Stufe ist die Stufe der Unterscheidung, und sie gehört der Welt der Schöpfung und deren Begrenzungen an. In dieser Beziehung hat jede Manifestation Gottes eine verschiedene Individualität, eine genau vorgeschriebene Sendung, eine vorherbestimmte Offenbarung und besonders bezeichnete Grenzen. Jede von ihnen ist durch einen anderen Namen bekannt, ist gekennzeichnet durch ein besonderes Attribut, erfüllt eine bestimmte Sendung und ist mit einer besonderen Offenbarung betraut, so wie Er sagt: „Wir haben veranlaßt, daß einige der Gottesboten die anderen überragen. Zu einigen hat Gott gesprochen, einige hat Er erhoben und erhöht. Und Jesus, dem Sohn Marias, gaben Wir offenbare Zeichen und stärkten Ihn mit dem Heiligen Geist.“
Durch die Verschiedenheit ihrer Stufe und Sendung scheint es, als ob die Worte und Aussprüche, die aus diesen Quellen göttlicher Erkenntnis fließen, auseinandergehen und voneinander abweichen. Aber alle ihre Verkündungen sind in den Augen derer, die in die Geheimnisse göttlicher Weisheit eingedrungen sind, in Wirklichkeit nur die gleichen Ausdrücke einer Wahrheit. Da die meisten Menschen versäumten, jene Stufen, auf die Wir Uns bezogen haben, richtig zu würdigen, fühlen sie sich verwirrt und bestürzt bei den verschiedenen Äußerungen aus dem Munde der Manifestationen, die im Wesen nur eine und dieselben sind.
Es ist immer einleuchtend gewesen, daß alle Abweichungen in ihren Aussprüchen aus der Verschiedenheit ihrer Stufen entspringen. So waren und sind, vom Standpunkt ihrer Einheit und höchsten Loslösung aus betrachtet, die Attribute der Gottheit, Göttlichkeit, erhabensten Einzigkeit und innersten Wesenheit insofern auf jene Wesen des Seins anwendbar, als sie alle auf dem Thron göttlicher Offenbarung ruhen und den Sitz göttlicher Verborgenheit einnehmen. Durch ihr Erscheinen ist die Offenbarung Gottes enthüllt und durch ihr Angesicht die Schönheit Gottes geoffenbart worden. Also haben wir die Sprache Gottes, von diesen Manifestationen göttlichen Seins gekündet, vernommen.
Im Lichte ihrer zweiten Stufe, der Stufe der Unterscheidung, Verschiedenheit, der zeitlichen Begrenzungen, besonderen Merkmale und Maßstäbe betrachtet, offenbaren sie vollkommene Dienstbarkeit, äußersten Mangel und völlige Selbstauslöschung, so, wie Er spricht: „Ich bin der Diener Gottes. Ich bin nur ein Mensch wie ihr.“ ...
Sollte eine der allumfassenden Manifestationen Gottes erklären: „Ich bin
Gott“, so spricht Sie wahrlich und ohne jeden Zweifel die Wahrheit. Denn
es ist wiederholt erwiesen, daß durch ihre Offenbarung, ihre Attribute und
Namen die Offenbarung Gottes, Seine Namen und Seine Attribute in der Welt
enthüllt wurden. So hat Er geoffenbart: „Jene Pfeile waren von Gott, nicht
von Dir.“ Und ebenso sagt Er: „In Wahrheit haben sie, die dir Treue gelobten,
tatsächlich jene Treue Gott gelobt.“ Und sollte einer von ihnen die Äußerung
tun, „Ich bin der Bote Gottes“, so spricht Er gleichfalls die Wahrheit,
die zweifellose Wahrheit. Also spricht Er auch: „Muhammad ist nicht der
Vater irgend eines Menschen unter euch, sondern Er ist der Bote Gottes.“
In diesem Licht betrachtet, sind sie alle nur Boten jenes wahren Königs, jenes
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unveränderlichen Seins. Und sollten sie alle verkünden, „Ich bin das Siegel der
Propheten“, so sprechen sie wahrlich nur die über den leisesten Schatten eines
Zweifels erhabene Wahrheit, denn sie alle sind nur eine Person, eine Seele,
ein Geist, ein Sein, eine Offenbarung. Sie sind alle die Enthüllung von dem
„Anfang“ und dem „Ende“, dem „Ersten“ und dem „Letzten“, dem „Sichtbaren“ und
„Verborgenen“, — die alle Ihm zugehören, dem innersten Geist allen Geistes und
ewigen Wesen allen Wesens. Und sollten sie sagen, „Wir sind die Diener Gottes“,
so ist auch dies eine offenbare und unbestreitbare Tatsache, denn sie sind im
äußersten Grade der Dienstbarkeit — einer Dienstbarkeit, die kein Mensch irgend
je erreichen kann — geoffenbart worden.
Daher erhoben diese innersten Wesen des Seins in Augenblicken, in denen sie tief in die Meere urewiger und immerwährender Heiligkeit versenkt waren, oder, wenn sie sich zu den höchsten Gipfeln göttlicher Geheimnisse emporschwangen, den Anspruch, daß ihre Äußerungen die Stimme der Gottheit, der Ruf von Gott selbst seien.
Würde das Auge der Unterscheidung sich öffnen, so würde es erkennen, daß sie sich gerade in diesem Zustand als vollkommen ausgelöscht und nichtbestehend in Gegenwart Seiner, des Alldurchdringenden, des Unvergänglichen, betrachtet haben. Mich dünkt, sie sahen sich selbst als äußerstes Nichts an und haben ihre Erwähnung an jenem Hof als einen Akt der Gotteslästerung empfunden. Denn das leiseste Flüstern des Selbstes ist an solchem Hof ein Beweis der Selbstbejahung und des selbständigen Daseins. In den Augen derer, die jenen Hof erreicht haben, ist ein solches Ansinnen an sich schon eine schwere Verfehlung. Wie viel schwerer würde sie sein, würde irgend etwas anderes in jener Gegenwart erwähnt, würde des Menschen Herz, seine Zunge, sein Geist oder seine Seele mit einem anderen als dem Vielgeliebten beschäftigt sein, würden seine Augen ein anderes Gesicht als Seine Schönheit schauen, würde sein Ohr sich einer andern Melodie als Seiner Stimme neigen und würden seine Füße einen anderen Pfad als Seinen Pfad betreten...
Vermöge dieser Stufe haben sie für sich den Anspruch auf die Stimme der Gottheit und dergleichen erhoben, während sie vermöge der Stufe des Verkündertums sich als die Boten Gottes erklärt haben. Bei jeder Veranlassung haben sie einen Ausspruch getan, der den Anforderungen der Gelegenheit genügte, und haben alle diese Erklärungen sich selber zugeschrieben, Erklärungen, die sich vom Reiche göttlicher Offenbarung auf das Reich der Schöpfung und vom Gebiet der Gottheit selbst auf das Gebiet irdischen Daseins erstrecken. Daher ist — ob ihre Aussprüche nun das Reich der Gottheit betreffen, der Herrschaft, des Prophetentums, des Botentums, des Hütertums, der Apostelschaft oder der Dienstbarkeit — über dem Schatten eines Zweifels alles wahr. Diese Verkündigungen, die Wir zur Bekräftigung Unseres Beweises angeführt haben, müssen deshalb aufmerksam erwogen werden, damit die voneinander abweichenden Äußerungen der Manifestationen des Unsichtbaren und der Tagesanbrüche der Heiligkeit nicht mehr fürderhin die Seele erschüttern und den Geist verwirren.
XXIII. Betrachte die früheren Geschlechter. Bezeuge, wie jedesmal, wenn
die Sonne göttlicher Güte das Licht Seiner Offenbarung über die Welt ergoß,
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die Menschen Seines Tages sich gegen Ihn erhoben und Seine Wahrheit
verwarfen. Jene, die als Führer der Menschen galten, waren beständig bestrebt,
ihre Anhänger daran zu hindern, sich Ihm zuzuwenden, der das Weltmeer der
grenzenlosen Güte Gottes ist.
Sieh, wie die Menschen als Ergebnis des Urteils, das die Priester Seiner Zeit fällten, Abraham, den Freund Gottes, ins Feuer warfen, wie Moses, Er, der mit dem Allmächtigen Zwiesprache hielt, als Lügner und Verleumder hingestellt wurde. Denke darüber nach, wie Jesus, der Geist Gottes, trotz Seiner äußersten Sanftmut und vollkommenen Milde von Seinen Feinden behandelt wurde. So grimmig war der Widerstand, dem Er, das Wesen des Seins und der Herr des Sichtbaren und Unsichtbaren, gegenübertreten mußte, daß Er nichts hatte, Sein Haupt hinzulegen. Er wanderte, einer dauernden Wohnstätte beraubt, unaufhörlich von Ort zu Ort. Überlege, was Muhammad befiel, das Siegel der Propheten — möge das Leben aller anderen ein Opfer für Ihn sein! Wie schwer waren die Heimsuchungen, die die Führer des jüdischen Volkes und der Götzenanbeter auf Ihn, den höchsten Herrn von allen, infolge Seiner Verkündigung der Einheit Gottes und der Wahrheit Seiner Botschaft herabregnen ließen! Bei der Gerechtigkeit Meiner Sache! Meine Feder seufzt und alles Erschaffene weint mit großem Weinen wegen des Leides, das Ihm unter den Händen derer geschah, die das Bündnis Gottes gebrochen, Sein Testament verletzt, Seine Beweise zurückgewiesen und Seine Zeichen in Zweifel gezogen haben. So erzählen Wir dir die Geschichte dessen, was in vergangenen Tagen geschah, auf daß du vielleicht begreifest.
Du hast gehört, wie schwer die Propheten Gottes, Seine Boten und Erwählten, heimgesucht wurden. Sinne eine Weile über den Beweggrund und die Ursache nach, welche die Verantwortung für eine solche Verfolgung trugen. Zu keiner Zeit, in keiner Ausgießung sind die Propheten Gottes der Lästerung ihrer Feinde, der Grausamkeit ihrer Unterdrücker, der Anklage der Gelehrten ihres Zeitalters, die in der Maske der Rechtschaffenheit und Frömmigkeit auftraten, entronnen. Tag und Nacht gingen sie durch Qualen hindurch, wie niemand sie je ermessen kann außer der Weisheit des einen, wahren Gottes — gepriesen sei Sein Ruhm!
Betrachte diesen Unterdrückten! Obwohl die klarsten Beweise die Wahrheit
Seiner Sache bezeugen, obwohl die Weissagungen, die Er in deutlicher
Sprache getan hat, erfüllt wurden, obwohl Er die Schauer Seines mannigfachen
und gotteingegebenen Wissens über die Menschen geregnet hat - trotzdem
Er nicht unter die Gelehrten gerechnet wurde und ungeschult und
unerfahren in den bei Geistlichen geläufigen gelehrten Streitigkeiten
war —, so kannst du dennoch sehen, wie dieses Geschlecht Seine Autorität
verworfen und sich gegen Ihn empört hat! Er ist während des größeren Teils
seines Lebens in den Krallen Seiner Feinde schrecklich gepeinigt worden.
Seine Leiden haben nun in diesem schmählichen Gefängnis, in das Seine
Unterdrücker Ihn so ungerechterweise geworfen haben, ihren Höhepunkt
erreicht. Gott gebe, daß du mit durchdringendem Blick und strahlendem
Herzen die Dinge, die geschehen sind und sich jetzt ereignen, betrachten
und, während du sie im Herzen überdenkst, erkennen mögest, was die
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meisten Menschen an diesem Tage wahrzunehmen versäumten. So Gott will,
möge Er dich befähigen, den süßen Wohlgeruch Seines Tages einzuatmen, an
den grenzenlosen Ausgießungen Seiner Gunst teilzunehmen, dich durch Seine
gnädige Gewogenheit satt zu trinken aus dem größten Meer, das an diesem
Tage im Namen des urewigen Königs wogt, und fest und unbeweglich wie der
Felsen in Seiner Sache zu verharren.
Sprich: Ruhm sei Dir, der Du alle Heiligen ihre Hilflosigkeit vor den mannigfachen Offenbarungen Deiner Macht bekennen und jeden Propheten seine Nichtigkeit vor dem Glanze Deiner bleibenden Herrlichkeit gestehen hießest. Ich bitte Dich bei Deinem Namen, der die Tore des Himmels aufgetan und die Scharen der Höhe mit Entzücken erfüllt hat, mache mich fähig, Dir an diesem Tage zu dienen, und gib mir Kraft, zu halten, was Du in Deinem Buche verordnet hast. Du weißt, o mein Herr, was in mir ist, ich aber weiß nicht, was in Dir ist. Du bist der Allwissende, der Allkennende.
XXIV. Hütet euch, o ihr, die ihr an die Einheit Gottes glaubt, daß ihr nicht versucht werdet, einen Unterschied zwischen irgendwelchen der Manifestationen Seiner Sache zu machen oder zu unterscheiden zwischen den Zeichen, die ihre Offenbarung begleitet und verkündet haben. Dies ist in der Tat die wahre Bedeutung göttlicher Einheit, so ihr zu denen gehört, die diese Wahrheit begreifen und an sie glauben! Seid zudem versichert, daß die Werke und Taten einer jeglichen dieser Manifestationen Gottes, ja, was immer zu ihnen gehört und was auch immer sie in Zukunft verkünden mögen, alles von Gott verordnet und eine Widerspiegelung Seines Willens und Planes ist. Wer auch den geringsten nur möglichen Unterschied zwischen ihrer Person, ihren Worten, ihrer Botschaft, ihren Handlungen und ihrer Art macht, hat wahrlich nicht an Gott geglaubt, hat Seine Zeichen zurückgewiesen und die Sache Seiner Botschafter verraten.
XXV. Es ist klar, daß jedes Zeitalter, in dem eine Manifestation Gottes gelebt hat, göttlich verordnet ist und in gewissem Sinn als Gottes festgesetzter Tag bezeichnet werden mag. Dieser Tag indessen ist einzigartig und muß von denen unterschieden werden, die ihm vorangegangen sind. Die Bezeichnung „Siegel der Propheten“ offenbart völlig seine hohe Stufe. Der prophetische Zyklus ist wahrlich beendet. Die ewige Wahrheit ist nun gekommen. Er hat das Banner der Macht erhoben und verströmt jetzt über die Welt den ungetrübten Glanz Seiner Offenbarung.
XXVI. Ruhm sei Gott, dem Allbesitzenden, dem König unvergleichlicher
Herrlichkeit, ein Ruhm, der unermeßlich hoch über dem Begreifen alles
Erschaffenen steht und erhaben ist über das Fassungsvermögen menschlichen
Geistes. Kein anderer außer Ihm ist jemals fähig gewesen, Seinen Lobpreis
angemessen zu erheben, noch wird es irgend einem Menschen zu irgend einer
Zeit jemals gelingen, das volle Maß Seiner Herrlichkeit zu beschreiben. Wer
könnte für sich beanspruchen, die Höhe Seines erhabenen Wesens erreicht zu
haben, und welcher Geist kann die Tiefen Seines unergründlichen Geheimnisses
ermessen? Aus einer jeden Offenbarung, die aus der Quelle Seiner Herrlichkeit
hervorging, sind heilige und nie endende Beweise unvorstellbaren
Glanzes erschienen, und aus jeder Enthüllung Seiner unbesiegbaren Macht
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sind Meere ewigen Lichtes geströmt. Wie unendlich erhaben sind die wunderbaren
Zeugnisse Seiner allmächtigen Herrschaft, davon ein Schimmer, wenn
er sie nur berührte, alle, die in den Himmeln und auf Erden sind, völlig
verzehren würde! Wie unbeschreiblich groß sind die Beweise Seiner vollendeten
Macht! Ein einziges Zeichen davon, wie belanglos es auch erscheine, muß
die Fassungskraft alles dessen übersteigen, was vom Anfang her, der keinen
Anfang hat, ins Dasein gerufen wurde oder in Zukunft erschaffen werden
wird bis zum Ende, das kein Ende hat. Alle Verkörperungen Seiner Namen
irren durch die Wildnis des Suchens, durstig und begierig, Sein Wesen zu
entdecken, und alle Offenbarungen Seiner Eigenschaften fleben Ihn vom
Sinai der Herrlichkeit aus an, Sein Geheimnis zu enthüllen.
Ein Tropfen aus dem wogenden Meer Seiner endlosen Gnade hat die ganze Schöpfung mit dem Schmuck des Daseins geziert, und ein Hauch, Seinem unvergleichlichen Paradiese entströmt, hat alle Wesen mit dem Gewand Seiner Heiligkeit und Herrlichkeit bekleidet. Ein Sprühen aus der unergründlichen Tiefe Seines höchsten und allesdurchdringenden Willens hat aus dem äußersten Nichtsein eine Schöpfung ins Dasein gerufen, die unendlich in ihrem Ausmaß und unvergänglich in ihrer Dauer ist. Die Wunder Seiner Freigebigkeit können niemals enden, und der Strom seiner gnädigen Gewogenheit kann niemals aufgehalten werden. Der Vorgang Seiner Schöpfung hat keinen Anfang gehabt und kann kein Ende haben.
- (Fortsetzung folgt)
GÖTTLICHE LEBENSKUNST[Bearbeiten]
6. KAPITEL: GLAUBEN UND GEWISSHEIT
(Fortsetzung)
Die Hand der Allmacht hat Gottes Offenbarung auf eine unangreifbare,
dauerhafte Grundlage gestellt. Stürme menschlichen Streitens vermögen
nicht ihren Grund zu unterwühlen, noch wird es den wunderlichen
Gedankengebilden der Menschen gelingen, ihrem Bau einen Schaden
zuzufügen. (1)
Ich bezeuge, o mein Gott, was Deine Erwählten bezeugt habe, und bekenne, was die Bewohner des allerhöchsten Paradieses und jene, die Deinen mächtigen Thron umkreist haben, bekannt haben: Die Reiche der Erde und des Himmels sind Dein, o Du Herr der Welten. (2)
Zeichen wahren Glaubens.
Obwohl ein Mensch auch allein um seiner guten Taten willen an der
Schwelle des Allmächtigen Aufnahme finden kann, so ist es doch wesentlich,
erst zu wissen und dann danach zu handeln. Auch ein Blinder kann ein
wundervolles und erhabenes Kunstwerk schaffen, doch ist ihm der Anblick
desselben verwehrt. Vergegenwärtige dir, wie die meisten Tiere für
den Menschen schaffen, seine Lasten ziehen, ihm das Reisen erleichtern;
aber weil sie unwissend sind, erhalten sie keinen Lohn für ihre Mühe und
Arbeit. Es regnet aus den Wolken;
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Rosen und Hyazinthen wachsen, Flur und Feld, Gärten und Bäume blühen
und grünen und wissen doch nicht, wozu und weshalb. Die Lampe leuchtet;
da sie aber ihrer selbst nicht bewußt ist, kann sie sich dessen nicht
erfreuen.
Eine Seele, die trefflich handelt und von edler Art ist, wird zweifellos in der Entwicklung fortschreiten, von welcher Himmelsrichtung aus sie auch das Licht erstrahlen sieht. Doch hierin liegt der Unterschied: Unter Glauben versteht man zuerst bewußtes Wissen, dann die Ausübung guter Taten. (3)
Gesegnet der Mann, der an Gott glaubt, seine Zeichen anerkennt und einsieht, daß „nach Seinen Taten nicht gefragt werden soll“. Diese Erkenntnis ist von Gott zur Zier jedes Glaubens und zu dessen wahrer Grundlage gesetzt. Richtet euer Augenmerk darauf, damit das Geflüster der Rebellen euren Fuß nicht zum Gleiten bringe. ... Wer diesen Grundsatz sich zu eigen gemacht hat, dem wird die vollkommenste Beständigkeit zuteil werden. Dies ist die Lehre, die Gott euch beschert, die Lehre, die euch von allem Zweifel und aller Verwirrung erlösen und euch befähigen wird, in dieser und in der nächsten Welt die Seligkeit zu erringen. Er ist wahrlich der stets Vergebende, der Allergütigste. (4)
Nun ist der Glaube aber ein Gewißsein von etwas Erhofftem, ein Überzeugtsein von etwas Ungesehenem... Durch den Glauben begreifen wir, daß die Welten durch Gottes Wort aufgebaut sind, so daß also das Sichtbare nicht aus den Dingen der Erscheinungswelt erschaffen ist...
Wer zu Gott kommt, muß glauben, daß Er ist, und daran, daß Er diejenigen belohnen wird, die Ihn suchen. Durch den Glauben wurde Noah, den Gott vor etwas zunächst noch gar nicht Vorausschaubarem gewarnt hatte, dazu bewogen, in Gottesfurcht eine Arche für die Rettung seines Hauses zu bereiten...
Der Glaube war es, dem Abraham folgte, als er berufen ward, auszuwandern an den Ort, der ihm zum Erbteil bestimmt war, und so zog er davon, ohne zu wissen, wohin seine Reise ging. Durch den Glauben ward er zum Gast des verheißenen Landes und lebte darin als ein Fremdling, in Zelten, zusammen mit Isaak und Jakob, seinen Miterben in der Verheißung. Denn er suchte nach der Stadt, deren Grundfesten von Gott erschaffen waren. Um des Glaubens wegen verließ Moses Ägypten und fürchtete nicht den Zorn des Königs, denn er beharrte darauf, Ihn zu sehen, der unsichtbar ist...
Was sollte ich denn noch sagen? Meine Zeit würde nicht ausreichen,
wenn ich euch von Gideon... von David und Samuel und den Propheten
sprechen wollte, die durch den Glauben Königreiche eroberten, rechtschaffen
handelten, Versprechungen empfingen, Löwenrachen verschlossen,
die Macht des Feuers überwanden, des Schwertes Schneide entkamen, die
schwach waren und mächtig wurden. ... Andere wurden durch Spott und
Schläge, ja durch Ketten und Kerkerhaft heimgesucht; sie wurden
gesteinigt und gevierteilt, sie wurden in Versuchung geführt und mit dem
Schwerte erschlagen; sie gingen in Schafs- und Ziegenfellen, waren armselig,
geplagt, mißhandelt, sie — deren die Welt nicht wert war - irrten durch
Wüsten, Gebirgsschluchten und Höhlen
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und hausten in den Schlupflöchern, die die Erde ihnen bot...
So wollen wir also, da wir doch sehen, von welcher Masse von Zeugen wir umgeben sind, alle Last und Sünde, die uns so leicht befällt, beiseite legen und mit Geduld auf dem Pfade voraneilen, der uns vorbestimmit ist. (5)
DER VERHEISSENE TAG IST GEKOMMEN[Bearbeiten]
Von Shoghi Effendi
(Fortsetzung)
Solange der Schah auf einem seiner zeitweiligen Besuche im Ausland
weilte, setzte das Parlament ihn ab und erklärte das Ende seiner Dynastie,
die den Thron Persiens hundertdreißig Jahre eingenommen hatte, deren
Herrscher stolz beanspruchten, von keinem Geringeren als von Japhet,
dem Sohne Noahs, abzustammen, ünd deren aufeinanderfolgende
Monarchen mit nur einer Ausnahme entweder ermordet, abgesetzt oder
von tödlicher Krankheit dahingerafft wurden.
Ihre zahllose Nachkommenschaft, ein wahrhafter „Bienenstock von Prinzchen“, eine „Brut königlicher Drohnen“, war eine Schande und eine Bedrohung für ihre Landsleute. Denn nun werden durch diese freudlosen Nachkömmlinge eines gestürzten Hauses, aller Macht beraubt und teilweise gar bis zur Bettelei herabgesunken, in ihrem Unglück die Folgen der Scheußlichkeiten, die ihre Erzeuger verübt haben, öffentlich bekannt. Die Reihen der seligen Sprößlinge des Hauses der Osmanen und der Herrscher der Romanow, der Hohenzollern, der Habsburger und der Napoleoniden vermehrend, irren sie in der Welt umher, des Wesens jener Kräfte kaum bewußt, die so tragische Umwälzungen in ihrem Leben bewirkt und so mächtig zu ihrer jetzigen Lage beigetragen haben.
Schon haben Enkel sowohl von Schah Nasiri’d-Din wie auch von Sultan ‘Abdu’l-Aziz in ihrer Hilflosigkeit und Not sich an den weltlichen Mittelpunkt des Glaubens Bahá’u’lláh’s gewandt und jeweils um politischen Beistand und Geldunterstützung nachgesucht. Im Falle des ersteren wurde die Bitte sofort und entschieden abgewiesen, während sie im Falle des letzteren unverzüglich gewährt wurde.
Der Niedergang in den Geschicken des Königtums.
Und wenn wir den Niedergang in den Geschicken des Königtums in
anderen Bereichen überblicken, sei es in den dem großen Kriege
unmittelbar vorausgehenden Jahren, sei es später, und das Unheil betrachten,
welches das chinesische Reich, die portugiesische und die spanische
Monarchie und neuerdings die Staatsoberhäupter von Norwegen, Dänemark
und Holland in wechselvollen Begebenheiten der Vergangenheit und
Gegenwart befallen hat, und die Ohnmacht der übrigen Herrscher
betrachten und die Furcht und das Zittern bemerken, die ihre Throne
ergriffen haben, sollten wir da nicht ihren Zustand mit den Anfangsstellen
der Suriy-i Muluk verbinden, die angesichts ihrer wichtigen Bedeutung ein
zweitesmal auszuführen ich mich
[Seite 54]
bewogen fühle: „Fürchtet Gott, o Schar der Könige, und laßt euch nicht dieser
höchst erhabenen Gnade berauben ... Bringet eure Herzen dem Antlitze
Gottes entgegen und gebt auf, wozu eure Begierden euch angetrieben haben,
und seid nicht von denen, die da untergehen... Ihr erforschtet nicht
Seine (des Báb) Sache, wo dies zu tun doch besser für euch gewesen
wäre als alles, was die Sonne bescheint — könntet ihr das doch
wahrnehmen! ... Hütet euch, daß ihr nicht weiterhin achtlos seid, wie ihr
achtlos gewesen seid ehedem ... Mein Antlitz ist den Schleiern entstiegen
und hat seine Strahlen ergossen auf alles, was im Himmel und auf Erden
ist, und doch habt ihr euch Ihm nicht zugewandt... Erhebet euch denn...
und tut Buße für das, was ihr euch entgehen ließet... Wenn ihr der
Ratschläge nicht achtet, die Wir in unerreichter und unzweideutiger
Sprache in diesem Sendschreiben euch geoffenbart haben, so wird göttliche
Strafe von allen Seiten euch überfallen und der Spruch Seiner Gerechtigkeit
wird gegen euch gefällt werden... Zwanzig Jahre sind dahingegangen,
o Könige, in denen Wir jeden Tag die Qualen neuer Trübsal erfahren haben...
Obwohl der meisten Unserer Nöte gewahr, habt ihr dennoch es unterlassen,
dem Angreifer in den Arm zu fallen. Ist es denn nicht
eure klare Pflicht, der Tyrannei des Unterdrückers Einhalt zu gebieten
und billig mit euren Untertanen zu verfahren, so daß euer hoher
Gerechtigkeitssinn vor aller Menschheit klar erwiesen werde?“
Kein Wunder, daß Bahá’u’lláh angesichts der Ihm von den Staatsoberhäuptern der Erde zugemessenen Behandlung, wie schon angeführt, diese Worte schreiben mußte: „Von zwei Klassen unter den Menschen ist die Macht ergriffen worden: von den Königen und von den Geistlichen.“ Er geht sogar noch weiter und stellt in Seinem Sendschreiben an Scheich Salmán fest: „Eines der Reifezeichen der Welt ist dieses, daß niemand es auf sich nehmen will, die Last der Königswürde zu tragen. Das Königtum wird niemanden finden, der seine Last allein zu tragen gewillt wäre. Jener Tag wird der Tag sein, da die Wahrheit inmitten der Menschheit geoffenbart werden wird. Nur um die Sache Gottes zu verkünden und Seinen Namen weiterhin zu verbreiten, wird sich jemand finden, diese drückende Bürde zu tragen. Wohl dem, der aus Liebe zu Gott und zu Seiner Sache und um Gottes Willen und in der Absicht, Seinen Glauben zu verkünden, sich dieser großen Gefahr aussetzen und diese Mühen und Beschwerden auf sich nehmen will.“
Anerkennung des Königtums.
Doch niemand soll, aus Irrtum oder Unwissen, sich die Absicht Bahá’u’lláh’s
falsch vorstelllen. So streng Er auch jene Ihn verfolgenden
Staatsoberhäupter verdammte, und so scharf Er auch jene verurteilte, die
offenkundig ihre klare Pflicht versäumten, die Wahrheit seines Glaubens
zu erforschen und dem Übeltäter in die Hand zu fallen, so verkörpern
doch Seine Lehren keinen Grundsatz, der irgendwie als eine Verwerfung oder
nur auch als eine, wenn auch verschleierte, Herabsetzung der Einrichtung des
Königtums ausgelegt werden kann. Der verhängnisvolle Sturz und die Vernichtung
der Herrscherhäuser und Reiche jener Monarchen, deren verhängnisvolles Ende
Er einzeln geweissagt
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hatte, und das sinkende Glück der Staatsoberhäupter Seiner eigenen
Generation, die Er allgemeinhin tadelte — beides einen vorübergehenden
Entwicklungsabschnitt des Glaubens bildend - sollten in keiner Weise mit
der zukünftigen Stellung dieser Einrichtung zusammengeworfen werden.
Tatsächlich müssen wir sogar, wenn wir in den Schriften des Begründers
des Bahá’i-Glaubens forschen, unvermeidlich ungezählte Stellen entdecken,
worin in Ausdrücken, die keiner mißverstehen kann, das Prinzip des
Königtums gelobt, die Würde und Haltung gerechter, edelgesinnter
Könige hervorgehoben, das Auftreten von Monarchen, die mit Gerechtigkeit
herrschen und sich sogar zu Seinem Glauben bekennen, betrachtet und die
feierliche Verpflichtung, sich zu erheben und den Triumph von
Bahá’i-Staatsoberhäuptern sicherzustellen, uns eingeschärft wird. Aus den
oben angeführten, von Bahá’u’lláh an die Monarchen der Erde gerichteten Worten
zu schließen, und aus der Schilderung der schmerzensreichen Verhängnisse,
die so viele von ihnen befallen haben, zu folgern, daß Seine Anhänger die
endgültige Vernichtung der Einrichtung des Königtums entweder vertreten oder
voraussetzen, wäre wahrlich gleichbedeutend mit einer Verzerrung Seiner Lehre.
Ich kann nichts Besseres tun als einige von Bahá’u’lláh’s eigenen Zeugnissen anzuführen und es dem Leser zu überlassen, sich sein eigenes Urteil über die Unwahrheit solcher Schlußfolgerungen zu bilden. In Seinem „Brief an den Sohn des Wolfes“ zeigt Er die wahre Quelle des Königtums an: „Achtung vor dem Range der Staatsoberhäupter ist von Gott verordnet, wie es klar durch die Worte der Propheten Gottes und Seiner Erwählten bezeugt ist. Er, welcher der Geist ist (Jesus) — Friede ruhe auf Ihm — wurde gefragt: ‚O Geist Gottes! Ist es gesetzlich, dem Kaiser Tribut zu zahlen, oder nicht? Und Er gab zur Antwort: ‚Ja, gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist‘. Er verbot es nicht. Diese beiden Sätze sind in der Schätzung einsichtsvoller Menschen ein und dasselbe, denn wenn, was des Kaisers ist, nicht von Gott gekommen wäre, so hätte Er es verboten. Und ebenso in dem geheiligten Verse: ‚Gehorchet Gott und gehorchet dem Glaubensboten und denen unter euch, die mit Machtbefugnis bekleidet sind. Unter den mit ‚Machtbefugnis Bekleideten‘ sind erstlich und im besonderen die Imame gemeint - Gottes Segen ruhe auf ihnen. Wahrlich, sie sind die Offenbarung der Macht Gottes und die Quellen Seiner Machtbefugnis und die Verwahrungsorte Seiner Erkenntnis und die Tagesanbrüche Seiner Gebote. In zweiter Linie beziehen sich diese Worte auch auf die Könige und Herrscher, auf jene, durch deren Gerechtigkeitsglanz die Horizonte der Welt strahlen und leuchten.“
Und ferner: „Im Römerbrief hat der heilige Paulus geschrieben: ‚Laßt jedermann untertan sein den Obrigkeiten, denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Darum, wer immer der Gewalt sich widersetzt, widersetzt sich Gottes Verordnung‘. Und weiterhin: ‚Denn er ist ein Minister Gottes und ein Rächer des Zornes über den, der Übles tut.‘ Er sagt, daß das Auftreten der Könige und ihre Majestät und Macht von Gott sind.“
Und wiederum: „Ein gerechter König
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erfreut sich näheren Zutritts bei Gott als sonst irgendwer. Dies bezeugt
Er, welcher in Seinem größten Gefängnis spricht.“
Ebenso erklärt Bahá’u’lláh in den Bishárát (frohe Botschaften), daß „die Majestät des Königtums eines der Zeichen Gottes“ ist. „Wir wünschen nicht“, fügt Er hinzu, „daß die Länder der Welt dessen beraubt würden.“
Im Buche Aqdas tut Er Seinen Plan kund und lobt den König, der Seinen Glauben bekennen wird: „Bei der Rechtschaffenheit Gottes! Es ist nicht Unser Wunsch, Hand an euere Königreiche zu legen. Unsere Sendung ist, die Menschenherzen zu erfassen und zu besitzen. Auf sie sind die Augen Bahá’s gerichtet. Dies bezeugt das Reich der Namen — könntet ihr das doch begreifen. Wer seinem Herrn folgt, wird auf die Welt verzichten und auf alles, was darinnen ist. Wieviel größer denn muß die Loslösung Dessen sein, der eine so erhabene Stufe innehat!“ „Wie groß ist der Segen, der des Königs wartet, der sich erheben wird, Meine Sache in Meinem Reiche zu unterstützen, der sich von allem trennen wird außer von Mir! Solch ein König wird unter die Gefährten der hochroten Arche gezählt werden, der Arche, die Gott dem Volke Bahá’s bereitet hat. Alle müssen seinen Namen verherrlichen, seiner Stufe huldigen und ihm helfen, die Städte mit den Schlüsseln Meines Namens zu erschließen, des allmächtigen Beschützers aller, welche die sichtbaren und die unsichtbaren Reiche bewohnen. Solch ein König ist das eigentliche Auge der Menschheit, der leuchtende Schmuck auf der Stirne der Schöpfung, der Segensquell für die ganze Welt. Opfert, o Volk von Bahá, euer Vermögen, ja sogar euer Leben zu seinem Beistand.“
In dem Lawh-i-Sultán enthüllt Bahá’u’lláh des weiteren die Bedeutung des Königtums: „Ein gerechter König ist der Schatten Gottes auf Erden. Alle sollten unter dem Schatten seiner Gerechtigkeit Schutz suchen und im Schatten seiner Gunst ruhen. Dies ist nicht eine Sache, welche abgesondert oder in ihrer Reichweite begrenzt ist, so daß sie auf die eine oder andere Person beschränkt wäre, da der Schatten ja von dem Einen kündet, der ihn aussendet. Gott — verherrlicht sei Sein Gedenken — hat Sich selbst den Herren aller Welten genannt, denn Er hat einen jeden erzogen und erzieht ihn noch. Verherrlicht sei denn Seine Gnade, die über allen erschaffenen Dingen ist, und Seine Barmherzigkeit, die alle Welten übertroffen hat.“
In einer Seiner Schriften hat Bahá’u’lláh zudem geschrieben: „Der eine wahre Gott — erhaben sei Sein Ruhm - hat die Regierung der Erde den Königen anvertraut. Niemandem ist das Recht gegeben, irgendwie so zu handeln, daß es den wohlbedachten Ansichten derer, welche die Amtsgewalt haben, zuwiderläuft. Was Er für Sich selbst vorbehalten hat, sind die Städte der Menschenherzen, und an diesem Tage sind die Geliebten Dessen, der die höchste Wahrheit ist, wie deren Schlüssel.“
In der folgenden Stelle drückt Er diesen Wunsch aus: „Wir hegen die
Hoffnung, daß einer der Könige der Erde um der Sache Gottes willen, sich
erheben werde für den Triumph dieser mißhandelten, unterdrückten
Menschen. Ein solcher König wird
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ewig gerühmt und verherrlicht werden, Gott hat es diesen Menschen zur
Pflicht gemacht, jedem zu helfen, wer immer ihnen helfen will, und seinem
Wohle zu dienen und ihm ihre dauernde Treue zu beweisen.“
Im Lawh-i-Ra’is weissagt Er bestimmt und eindeutig das Erscheinen eines solchen Königs: „Binnen kurzem wird Gott aus den Königen einen erheben, der Seinen Geliebten helfen wird. Er, wahrlich, umfaßt alle Dinge. Er wird in die Herzen die Liebe zu Seinen Geliebten eingießen. Wahrlich, dies ist unwiderruflich beschlossen durch den Einen, den Allmächtigen, den Wohltätigen.“ Im Ridvánu’l-Adl, wo die Tugend der Gerechtigkeit gepriesen wird, gibt Er eine gleichgerichtete Weissagung: „Binnen kurzem wird Gott Könige auf Erden erscheinen lassen, welche auf den Lagern der Gerechtigkeit ruhen und inmitten der Menschen herrschen werden, wie sie sich selbst beherrschen. Wahrlich, in der gesamten Schöpfung gehören sie zu den Auserwähltesten Meiner Geschöpfe.“
Im Kitáb-i-Aqdas vergegenwärtigt Er in folgenden Worten, wie in Seiner Geburtsstadt, „der Mutter der Welt“, „dem Tagesanbruch des Lichtes“, ein König auf den Thron erhoben wird, der mit dem doppelten Schmuck der Gerechtigkeit und der Ergebenheit zu Seinem Glauben geziert sein wird. „Lasse nichts dich betrüben, o Land Tá, denn Gott hat dich dazu erwählt, der Freudenquell aller Menschheit zu sein. Er wird, wenn es Sein Wille sein mag, deinen Thron mit einem segnen, der in Gerechtigkeit herrschen und die Herde Gottes, welche die Wölfe zerstreut haben, sammeln wird. Ein solcher Herrscher wird in Freude und Frohsinn sein Antlitz dem Volke Bahá’s zuwenden und seine Gunst ihm bezeigen. Wahrlich, er wird in den Augen Gottes als ein Kleinod unter den Menschen betrachtet. Auf ihm ruhet für immer die Herrlichkeit Gottes und die Herrlichkeit aller, die im Reiche Seiner Offenbarung wohnen.“
Der Zerfall religiöser Rechtgläubigkeit
Liebe Freunde! Der Niedergang in den Schicksalen der gekrönten Inhaber zeitlicher Macht spielte sich zur selben Zeit ab wie die nicht minder erschütternde Abnahme des Einflusses der geistigen Führer der Welt. Die gewaltigen Ereignisse, die der Auflösung so mancher Königreiche und Kaiserreiche vorausgingen, sind zeitlich fast zusammengefallen mit dem Abbröckeln der scheinbar unverletzlichen Bollwerke religiöser Rechtgläubigkeit. Dieses gleiche Geschehen, das in tragischer Schnelle den Urteilsspruch über Könige und Kaiser besiegelte und ihre Herrscherhäuser auslöschte, hat den Nimbus auch der kirchlichen Führer sowohl des Christentums wie des Islams geschädigt und in einigen Fällen zum Sturze ihrer höchsten Einrichtungen sich ausgewirkt. Wahrhaftig, „die Macht ist entrissen“ beiden, „Königen und Geistlichen“. Die Glorie dieser ist verdunkelt, die Macht jener ist unwiderruflich dahin.
Diese Führer, die Leitung und Aufsicht über die geistlichen Hierarchien
ihrer betreffenden Religionen ausübten, sind von Bahá’u’lláh ebenfalls
angerufen, gewarnt und getadelt worden, in nicht weniger deutlichen
Ausdrücken wie die Staatsoberhäupter,
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die das Schicksal ihrer Untertanen bestimmten. Auch sie; und ganz besonders
die Häupter des moslemitischen Kirchenordens, haben zusammen mit
Despoten und Machthabern ihre Angriffe gegen die Begründer des Gottesglaubens,
dessen Anhänger, Grundsätze und Einrichtungen geführt und
ihre Bannflüche gegen sie gedonnert. Waren nicht die Geistlichen Persiens
die ersten, welche die Fahne der Empörung hißten, die unwissenden und
unterwürfigen Massen gegen ihn entflammten und die Zivilbehörden
durch ihr Geschrei, ihre Drohungen, ihre Lügen, ihre Verleumdungen und
Beschuldigungen dazu anstifteten, Verbannungen zu verordnen, Gesetze
zu erlassen, Strafexpeditionen auszuschicken und die Hinrichtungen und
Metzeleien auszuführen, welche die Blätter seiner Geschichte füllen? So
abscheulich und wild waren die an einem einzigen Tag auf Antreiben
dieser Geistlichen begangenen Schlächtereien und so kennzeichnend für die
„Verhärtung des Rohlings und die List des Teufels“, daß Renan in seinem
Werk „Les Apôtres“ diesen Tag als „vielleicht beispiellos in der
Weltgeschichte“ darstellte.
Diese Geistlichen waren es, die gerade durch diese Taten die Saaten der Zersetzung ihrer eigenen Einrichtungen säten, Einrichtungen, die so mächtig, so berühmt waren und so unverwundbar erschienen zu der Zeit, als der Glaube geboren ward. Sie waren es, die so leichtfertig und töricht so schreckliche Verantwortungen übernahmen und damit in erster Linie für die Auslösung so gewaltsamer und zersetzender Einflüsse einzustehen hatten, die nun so verhängnisvolles Unheil entfesselten, daß es Könige, Herrscherhäuser und Kaiserreiche überwältigte und die denkwürdigsten Daten in der Geschichte des ersten Jahrhunderts des Bahá’i-Zeitalters bildet.
Dieser Zersetzungsprozeß, wie ergreifend er auch gerade in seinen Anfangserscheinungen war, geht noch weiterhin vor sich mit unveränderter Kraft und wird, da die Gegnerschaft des Gottesglaubens aus verschiedenen Quellen und auf weiten Gebieten an Bedeutung gewinnt, weiterhin sich beschleunigen und noch bedeutendere Beweise seiner verwüstenden Macht offenbaren. Ich kann angesichts der Ausmaße, welche diese Schilderung schon angenommen hat, nicht so ausführlich, als ich gerne wünschte, mich über die Gesichtspunkte dieses wichtigen Stoffes auslassen, der, zusammen mit der Haltung der Staatsoberhäupter der Erde gegen die Botschaft Bahá’u’lláh’s, eine der fesselndsten und lehrreichsten Begebnisse in der dramatischen Geschichte seines Glaubens ist. Ich will nur die heftigen Angriffe der Kirchenführer des Islam und, in geringerem Grade, gewisse Häupter der christlichen Orthodoxie und die Rückschläge auf ihre entsprechenden eigenen Einrichtungen betrachten. Ich will diesen Bemerkungen einige Stellen aus der großen Masse von Bahá’u’lláh’s Schriften vorausschicken, die sowohl unmittelbar als auch mittelbar moslemitische und christliche Geistliche betreffen und die ein machtvolles Licht auf das düstere Unheil werfen, das die geistlichen Hierarchien der beiden Religionen, mit denen der Glaube unvermittelt in Berührung kam, ergriffen hat und noch ergreift.
Jedoch darf nicht daraus gefolgert
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werden, daß Bahá’u’lláh Seine historischen Anreden ausschließlich an die
Führer des Islam und der Christenheit richtete oder daß der Ansturm
eines alles durchdringenden Glaubens gegen die Bollwerke religiöser
Strenggläubigkeit auf die Einrichtungen dieser beiden Religionssysteme
sich beschränken sollte. „Die den Völkern und Geschlechtern der Erde
vorherbestimmte Zeit ist jetzt gekommen“, so bekräftigt Bahá’u’lláh. „Gottes
Verheißungen, wie sie in den heiligen Schriften verzeichnet stehen, sind
erfüllt worden... Dies ist der Tag, den die Feder des Höchsten verherrlicht
hat in allen heiligen Schriften. Es gibt keinen Vers darin, der nicht
den Ruhm Seines heiligen Namens verkündet, und kein Buch, das nicht
die Höhe dieses erhabensten Gegenstandes bezeugt.“ „Würden wir“, so
fügt Er hinzu, „all dessen, was in diesen himmlischen Büchern und
heiligen Schriften über diese Offenbarung enthüllt ist, Erwähnung tun,
so würde diese Schrift unmögliche Ausmaße annehmen.“
(Forts. folgt)
AUS DER BAHA’I-WELT[Bearbeiten]
Haifa:
Am 40. Jahrestag der Beisetzung des Báb im Grabmal in Haifa ist mit dem Bau der Arkaden zu diesem ehrwürdigen Monument begonnen worden.
England:
Die Pionierarbeit schreitet erfreulich voran. Eine Tagung der Pioniere, zu welcher 76 Bahá’i aus allen Teilen zusammenkamen, verlief im Geiste eindrucksvoller Opferbereitschaft und fruchtbarer Aussprache. In einer Werbewoche vom 30. Januar bis 6. Februar mit dem Thema „Der Verheißene aller Zeiten“ wurden in 22 Städten Englands Vorträge gehalten.
Iran:
Der Hüter hat zum diesjährigen Ridván-Fest den Bahá’i in Iran ein bedeutsames Sendschreiben übermittelt, worin er ihnen die Größe dieser letzten Sendung Bahá’u’lláh’s erläutert. Eine Präambel dazu in Arabisch ist ein Schmuckstück klassischen Stils. 95 junge Bahá’i bereiteten sich auf Pionierdienste in entlegenen Provinzen vor.
Südamerika:
In Sao Paulo (Brasilien) — und gleichzeitig in Guatemala — hatten unlängst die ersten Tagungen des Interamerikanischen Ausschusses (Interamerican Committee des NGR in USA) stattgefunden. Dabei kam aufs neue die Aktivität und Hingabe der Bahá’i in den verschiedenen südamerikanischen Staaten zum Ausdruck. Besonders dank den rührigen Vorbereitungen der Gemeinde Sao Paulo wurde die Tagung in der Öffentlichkeit sehr beachtet.
USA:
Der Jahresbericht 1948/49 des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’i in USA zeigt, dem Ziel des zweiten Siebenjahresplanes entsprechend, vor allem eine innere Festigung der Gemeinden und der administrativen Ordnung, sodann auch einen weiteren Fortschritt im Ausbau des Tempels in Wilmette bei Chikago.
Im April 1948 hatte sich ja, wie vorausgeplant, Kanada verwaltungsmäßig selbständig gemacht und einen eigenen Nationalen Geistigen Rat gewählt. In USA befinden sich nunmehr 179 Gemeinden. Sie sind vier großen Lehrbezirken eingegliedert. Die Lehrtätigkeit hat sich den noch kleinen und schwachen Gemeinden und allen Gruppen in besonderem Maße zugewandt.
Die Tätigkeit der amerikanischen Bahá’i-Pioniere in den westeuropäischen Ländern zeitigte weitere Erfolge.
Auch im abgelaufenen Jahr sind eine Menge von CARE- und anderen Paketen an die Bahá’i in Deutschland gesandt worden.
Die Vollendung des Tempels, auf die nunmehr fast alle Kräfte und Mittel
konzentriert werden, ist in zweieinhalb Jahren zu erhoffen.
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Deutschland:
In diesem Jahr finden im Bahá’i-Heim, Eßlingen-Krummenacker zwei Sommerschulwochen statt, und zwar vom 24. bis 30. 7. und vom 14. bis 20. 8. Neben einigen Vorträgen stehen im Mittelpunkt des für beide Wochen gleichen Programms zwei den Teilnehmern zur Wahl gestellte Arbeitskreise mit den Themen „Das sinnerfüllte Leben“ und „Religion und soziale Ordnung“. Wegen Anmeldung und Programm wende man sich an Frl. Martha Weiß, Eßlingen a/N., Kesselwasen 4.
Der Nationale Bahá’i-Jugend-Ausschuß veranstaltet vom 30. 7. bis 6. 8. in Wart (Schwarzwald) seine diesjährige Jugend-Sommerschule, Näheres durch Werner Langohr, Darmstadt, Rheinstr. 322.
Über die letztjährigen Sommerschulen in Eßlingen bringen wir in dieser und der folgenden Nummer je einen Bericht über die beiden Leitthemen.
Bahái-Sommerschule vom 13. bis 19. 6. 1948: Gottesoffenbarung
Nach einem Bericht von Anneliese Gerdes und Inge Berndt, Hamburg
Am Sonntagnachmittag erreichten wir nach langer anstrengender Reise Eßlingen,
wo unser erster Gang uns zu Fräulein Anna Köstlin führte. War das ein freudiges
Wiedersehen! Einige Freunde waren noch hier unten und stärkten sich. Wir machten uns
dann bald auf den Weg und stiegen in froher Erwartung den Berg zum Häusle in
Krummenacker hinan. Die meisten Freunde waren dort schon versammelt, saßen in
Gruppen zusammen, tauschten Erlebnisse aus, und alle freuten sich auf die bevorstehende
Woche. Wir hörten von der schönen und erhebenden Morgenfeier, die am Vormittag in
der Lehrerbildungsanstalt in Eßlingen stattgefunden und die Sommerschule eingeleitet
hatte. Der Sänger, Herr Brückner-Rüggeberg, und der Pianist, Herr Kleber, hatten
die musikalische Ausgestaltung übernommen. In der Ansprache, die Dr. Schmidt
hielt, war auf den Sinn und das Ziel der Sommerschule hingewiesen
und der Plan der kommenden Woche mit seiner Einteilung in Vorträge, Kolloquien
und Arbeitskreise erklärt worden. An jedem Vormittag sollte ein Vortrag mit
anschließendem Kolloquium stattfinden, bei dem jeder der Freunde seine Fragen, die
ihm während des Vortrages aufgetaucht waren, vorbringen konnte. Für die
Nachmittage waren Arbeitskreise vorgesehen, an denen sich die Freunde ein
bestimmtes Thema erarbeiten sollten. —
Am Montagvormittag begann Dr. Mühlschlegel mit dem Vortrag: „Mensch und Gott in der Geschichte“, in dem die Entwicklung der Menschen in ihrem Verhältnis zu Gott gegeben wurde, beginnend mit den Primitiven, die in Naturgewalten höhere Wesen und übernatürliche Kräfte anbeteten, über die Götterwelt der Griechen bis hin zu den Offenbarungsreligionen von Zarathustra, Moses, Buddha, Christus, Muhammad, dem Báb und Bahá’u’lláh.
Nach einer kleinen Pause hörten wir dann einen Vortrag über persönliches Gotterleben von Herrn Striller-Strom aus Frankfurt. Da der Referent leider verhindert war, zu kommen, wurde sein Vortrag von Herrn Schlingmann verlesen. Über dieses Thema zu sprechen, ist gewiß nicht leicht, und es ist wohl nur einem Dichter möglich, die zarten Schwingungen der Seele so zum Ausdruck zu bringen, Besonders tief empfunden war ein persönliches Gotterlebnis, das aus einem seiner Werke entnommen war. Es folgte ein angeregtes Kolloquium: Nur durch Gebet und Meditation, durch einen andächtigen Gemütszustand und völliges Selbstvergessen kann der Mensch Gott in sich erleben.
Am Nachmittag sprach Herr Nagel über die Wiederkunft Christi und las uns Bibelstellen vor, die auf das Erscheinen Bahá’u’lláh’s hindeuteten.
Abends gingen wir dann alle gemeinsam nach Eßlingen hinunter, wo in der
Lehrerbildungsanstalt Dr. Mühlschlegel einen öffentlichen Vortrag über das Thema:
„Die Stellung der Bahá’i-Religion zu anderen Offenbarungen“, und Herr Brückner-Rüggeberg
einen Vortrag über die drei Sprachen hielten. Der Künstler sang uns dann zum
Largo von Händel einen Bahá’i-Text nach dem Wort von Bahá’u’lláh: „Wir sind alle
die Blätter eines Baumes...“, das dem Abend einen wundervollen Abschluß gab.
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In Freude und Dankbarkeit für diesen gesegneten Tag traten wir die Rückkehr zum
„Häusle“ an.
Der nächste Morgen war hell und klar und die Sonne meinte es gut, so daß wir uns wieder unter freiem Himmel vor dem blühenden Steingarten zu dem Vortrag von Herrn Henseler über „Fortschreitende Gottesoffenbarung“ zusammenfinden konnten. Wir fühlten uns alle als eine wundervolle Einheit, die durch die Worte des Vortragenden noch verstärkt wurde. Worte, die wie ein einziges großes Gebet uns alle umschlossen. In der nun folgenden Aussprache über „Gott und Götter“, von Dr. Mühlschlegel geleitet, überlegten wir uns, was Gott eigentlich ist, wie wir Ihn erleben können und was uns zu Ihm hinführt. Und wir erkannten, daß Gott die einzig gedachte Wirklichkeit und daß ER allein allwissend ist. Wir sagten uns, daß wir Gott erleben können in der Natur, in der Kunst, in Symbolen, in Träumen, in der Liebe, in der Ekstase und in Visionen, im Denken, im Gebet und in der Meditation. Und der Weg, der uns hinführt zu Gott, geht über die Gottesoffenbarer. In ihnen hat Gott Gestalt angenommen und Seine Herrlichkeit geoffenbart. An sie sollen wir glauben, ihnen sollen wir vertrauen. Aber nicht Glaube allein; die wichtigste Auswirkung des Glaubens ist die Tat, denn letztlich ist Glaube geformter Wille. So können wir auch Gott erleben in der Tat, sei es in der beruflichen Arbeit oder sei es im Dienst an der heiligen Sache. Selbstlose Hingabe im Dienst für die Menschen, das wird von uns gefordert, das soll unser Weg sein. Auch sollen wir den rechten Ausgleich finden zwischen Gebet und Arbeit. Nicht weltfremdes Einsiedlertum in ständiger Meditation soll unser Streben sein und auch nicht Aufgehen in materiellen Dingen, sondern das rechte Maß für beides gilt es zu finden. Hilfsmittel, ein solches Leben zu führen, sind: Tat, Gebet, ja sogar die Not. Vor allem sind es die Manifestationen, von welchem geistige Impulse ausgehen, die uns Vorbild und Lehrer sind und uns Gottes Verordnungen kundtun. Frühere Einrichtungen, die eine Brücke zu Gott bilden sollten, wie Dogma, Priester und Kult fallen in der Bahá’i-Religion fort. Jeder Mensch hat dem anderen Priester und Helfer zu sein. An Stelle der Kirchenordnung tritt die große, göttliche, allumfassende Weltordnung Wart Bahá’u’lláh’s.
Am Nachmittag fanden wir uns in der Halle zu einem Arbeitskreis zusammen: „Zoroastrische Religion und Islam“ unter Leitung von Herrn Schreher.
Nach dem Abendessen sprach Manutschehr Zabih vom Wesen des Menschen. Bisher hatten wir immer nur nach Gott und Gotterleben gefragt, jetzt stellte er die Frage nach dem Menschen. Er sagte, daß der Mensch ein Sichtbares, Tastbares, Fühlbares sei, auf der einen Seite Organismus und Materie, auf der anderen Geist und Seele: also ein Sehendes, Tastendes, Fühlendes. Es ist notwendig, daß wir Kenntnis erlangen über den Menschen, daß wir ihn wirklich kennenlernen, und somit zur wahren Erkenntnis kommen. Ohne Selbsterkenntnis keine Erkenntnis Gottes. Wir sollen erkennen, daß wir durch die Liebe zu höheren Wesen werden, daß wir Träger eines absoluten Wertes sind. Wenn wir die Wirklichkeit in uns erleben, erleben wir Gott, denn Gott ist Wirklichkeit. Erkenntnis ist die Quelle alles Wissens. Wir wurden auf Darwin hingewiesen, dessen Entwicklungs- und Abstammungslehre in mißverstandener Weise gegen die Religion ins Feld geführt wurde. Menschen sind zu Tieren geworden, der Schwache wird bekämpft und ausgerottet, der Mächtige regiert, das Geistige verkümmert. Den wahren Menschen, der allein aus der Kraft des Geistes heraus handelt und wirkt, gibt es nicht mehr. In diesem Zusammenhang wurde die Frage aufgeworfen: Was ist Gnade? Nicht allein das Einströmen der göttlichen Kraft oder eine plötzliche Erkenntnis, oder Hilfe in der Not ist Gnade, sondern alles das, was wir täglich von Gott geschenkt bekommen, ist Gnade.
Am Mittwochmorgen bei strahlend klarem Wetter, versammelten wir uns im Garten
zu einem Vortrag von Dr. Schmidt über „Erkenntnis“. Religiöse Erkenntnis ist
Auffinden des Sinnes. Wir unterscheiden subjektive und objektive Erkenntnis, letztere
ist unabhängig vom Standpunkt des einzelnen, Erkenntnis zu erlangen ist möglich
mit Hilfe der Sinnesorgane, mit Hilfe des Verstandes und der Vernunft, durch
Überlieferungen und durch den Heiligen Geist. Religion ist die höchste Quelle der
Erkenntnis, doch ist heute die Verbindung zu ihr verlorengegangen. Zustand, Handeln,
Denken, ja, das ganze Sein sind zweckhaft geworden. Auch hier gingen wir wieder aus
von dem fundamentalen Satz: „Die Quelle
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alles Wissens ist die Erkenntnis Gottes, und diese Erkenntnis kann auf keine
andere Weise erlangt werden als durch die Erkenntnis Seiner Erhabenen Manifestation“.
Ihre Erkenntnis ist kein angelerntes Wissen, sondern die Manifestation ist mit
den innersten Kräften vertraut, weshalb wir uns mit ihr verbinden sollen, ihr allein
vertrauen als dem vollkommenen Spiegel aller Erkenntnis. Die Frucht aller Erkenntnis
aber ist die Weisheit. Wissen und Glauben bilden eine Einheit. Menschliche
Wissenschaft ist oft revisionsbedürftig, nur wenn sie sich letztlich aus dem Religiösen
ableitet, aus der einen Wahrheitsquelle schöpft, hat sie Bestand. Daher kann es nur
eine Einheit von Religion und Wissenschaft geben. Religion ist Offenbarungsweisheit,
während Wissenschaft sich auf Erfahrung gründet. — Anschließend folgte eine Aussprache
über die Grenzen der Erkenntnis. Der Nachmittag war frei, und am Abend wurde im Garten
von der Eßlinger Jugend ein Theaterstück aufgeführt, das Peter Rommel geschrieben hatte.
Am Donnerstag fanden wir uns wieder zusammen zu dem Vortrag von Dr. Mühlschlegel über „Mystik“. Mystik kann nur mit dem Herzen und dem Geist erlebt werden. 'Abdu'l-Bahá unterscheidet verschiedene Stufen des Geistes: Die Stufe des Pflanzengeistes, die Stufe des Tiergeistes, die Stufe des Menschengeistes, die Stufe des Glaubensgeistes und die Stufe des Heiligen Geistes. Die Bedeutung des Wortes Geist hat sich gewandelt, man bezeichnet heute fälschlicherweise auch Gedächtnis oder schnelle Auffassungsgabe mit Geist. Und Menschen, deren Gehirnapparat, also rein verstandesmäßige Funktionen, durch krankhafte Prozesse verändert sind, bezeichnet man als geisteskrank. Dabei sollten wir bedenken, daß es einen völlig normalen Menschen gar nicht gibt, Wir alle sind irgendwie „geisteskrank“, und neigen entweder mehr zu schizophrenen oder manisch-depressiven Zuständen, wobei wir als sogenannte Gesunde die Fähigkeit behalten haben, in die Ausgangsstimmungslage zurückkehren zu können. Von 'Abdu'l-Bahá hören wir nun, daß uns der Geist auf verschiedenen Stufen begegnet, und zwar als Pflanzengeist oder als Tiergeist; auf der dritten Stufe äußert er sich im menschlichen Körper in einer Form, die Gehirn und Gedankentätigkeit einschließt und den Menschen damit zu einem vernunftbegabten Wesen macht. Auf höherer Stufe werden uns Urteilskraft, Erleuchtung und Intuition gegeben, wir erkennen die wahre Gerechtigkeit, und der himmlische Geist der Liebe und des Glaubens erfüllt unser Herz; des Glaubens, der sich zusammensetzt aus geformtem Willen, Vertrauen und Kraft. Wir erfahren die Kraft des Heiligen Geistes, die uns befähigt, höchste Tugenden, sittliche Reinheit und Selbstlosigkeit in uns zu entwickeln.
Was heißt nun Mystik? Das Wort leitet sich ab von myein - schließen, sich vor der Welt verschließen; wir sollen uns versenken und loslösen vom Körperhaften und unser Herz öffnen, damit göttliche Kraft in uns einströmen kann. Wann werden die Menschen zu Mystikern? Meistens dann, wenn in ihrem äußeren Leben etwas nicht stimmt, wenn nicht alles so glatt geht, wie sie es sich wünschen. Es besteht dann allerdings eine Gefahr, daß die mystische Versenkung überbetont werden kann und nicht der rechte Ausgleich zwischen Gebet und Arbeit gefunden wird. Der Mystiker kommt leicht in den Bereich des Aberglaubens und der Phantasterei, wenn er seine Erlebnisse nicht richtig auszuwerten versteht, sondern in schönen Gefühlen schwelgt, ohne über das, was er erlebt, zu urteilen und die Forderungen des Geistes zu erfüllen. Wenn wir hier den rechten Weg finden wollen, so brauchen wir nur unseren Blick auf Bahá’u’lláh zu richten, da er uns im zweiten „Verborgenen Wort“ sagt: „O Sohn des Geistes! Die Gerechtigkeit ist in Meinen Augen vor allem anderen das Köstlichste. Wenn du nach Mir verlangst, dann wende dich nicht von ihr ab und vernachlässige sie nicht, damit Ich dir Mein Vertrauen schenke. Mit Hilfe der Gerechtigkeit wirst du mit deinen eigenen Augen und nicht mit den Augen anderer sehen, du wirst alles mit deinem eigenen Verständnis erkennen und nicht mit dem deines Nebenmenschen. Erwäge in deinem Herzen, wie du sein solltest. Wahrlich, die Gerechtigkeit ist Meine Gabe für dich; sie ist das Zeichen Meiner liebevollen Güte zu dir; deshalb halte sie dir stets vor Augen.“ Und im vierzigsten heißt es: „O Mein Diener! Befreie dich von den weltlichen Banden, und löse deine Seele aus dem Gefängnis des Selbstes. Ergreife die Gelegenheit, denn sie wird dir niemals mehr geboten werden."
Erfüllen wir Seine Forderungen, so werden uns zur rechten Zeit Unterscheidungskraft
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und Urteilskraft geschenkt. Dieses klare reine Denken ohne „Zweck“ im Bewußtsein
reicht weiter als das, was der Mystiker erleben kann. Hiermit sind schon die
Grenzen der Mystik angedeutet, über die in dem nun folgenden Kolloquium noch
weiter diskutiert wurde. Jedes mystische Erlebnis weckt ein Hochgefühl im
Menschen, das leicht zum Hochmut und damit zur Gottferne führen kann. Demut sollen
wir bewahren und damit erkennen, daß Gott viel zu groß und allumfassend ist,
als daß wir Ihn jemals in seiner ganzen Größe erleben könnten. Wir können immer
nur einen Teil Seiner Ausstrahlung erfassen. Um den Weg zu Gott zu finden,
ist es notwendig, daß wir die Worte des Göttlichen Offenbarers lesen und in uns
wirken lassen: Das Tablett der Weisheit, die „Verborgenen Worte“ und die „Sieben
Täler“, die in wunderbarer Weise den Weg und die einzelnen Stationen beschreiben
wie: das Tal des Suchens oder des Verlangens, das Tal der Liebe, das Tal des Wissens,
das der Einheit, der Fülle, der Erschütterung oder des Staunens und der Armut oder
Nichtswerdung. Wenn man den Weg betritt, so geht man ihn nicht nur für
sich, sondern auch für andere. Alles Irdische, das uns lieb ist, sollen wir verlassen
und uns nicht mehr umsehen. Im Tal des Verlangens müssen wir uns mit Geduld
wappnen und oft lange warten, bis der rechte Augenblick gekommen ist. Niemals
dürfen wir müde werden im Suchen nach Gott. Und wenn wir ganz erfüllt sind von
dem einen Verlangen und beseelt von dem einen Wunsch nur: Ihn zu finden, so wird
unsere Sehnsucht gestillt und unsere Geduld belohnt. Wenn wir ins Tal der Liebe
gelangen, so beginnt sie in uns zu glühen und überströmt uns wie ein Meer, und wir
sehen und erleben Gott in allen Dingen. Wir werden frei von allen Zweifeln, frei
von Kleinmut, abwegigen Wünschen und Bindungen und spüren in unserem Herzen
eine beseligende Kraft. So wird alles Alte und Häßliche verzehrt vom Feuer der
Liebe. Gelangen wir ins Tal der Erkenntnis, dann werden unsere Gefühle geordnet, und
wir sehen in Gottes Werk keine Widersprüche mehr. Wir werden Gerechtigkeit in
der Ungerechtigkeit und Gnade in der Gerechtigkeit schauen, im Krieg den Frieden
erblicken und im Nichtsein das Sein in seiner wahren Bedeutung erkennen. In den
unendlichen Offenbarungen Gottes werden wir Seine ewige Weisheit, im Atom ein
Sonnensystem und im Makrokosmos den Mikrokosmos erblicken. Doch je mehr sich
der Mensch dem Gefängnis des Selbstes und der leidenschaftlichen Wünsche entwindet
und sich mit Gott verbindet, um so einsamer wird er. Im Tal der Einheit ist der Mensch
soweit gereift, daß es für ihn Sympathie und Antipathie nicht mehr gibt, Dunkelheit
und Schatten haben für ihn keine Bedeutung mehr, denn nun sieht er alles mit dem
Auge der Einheit. Über die drei letzten Täler zu sprechen, ist mit menschlichen
Worten schwer möglich, da sie eine Stufe der Erkenntnis voraussetzen, wie sie nur
eine Offenbarung ermöglichen kann.
Zum Mittagessen hatten wir Herrn Professor Dr. Peter aus Tübingen zu Gast, Zabihs Doktorvater, der sich in unserem Kreis recht wohl fühlte. Manutschehr Zabih hat als erster eine Doktorarbeit über die Bahá’i-Religion geschrieben mit dem Thema: „Die Lösung der sozialen Fragen auf Grund der Bahá’i-Lehren.“ Zunächst war er auf Schwierigkeiten gestoßen, da sich zum erstenmal deutsche Professoren mit einer ihnen neuen Lehre auseinandersetzen mußten, aber schließlich wurde seine Arbeit auf Grund der klaren sachlichen Darstellung und scharfen Beweisführung allgemein anerkannt und gewann Anhänger.
Der Arbeitskreis am Nachmittag behandelte die Geschichte der Bahá’i-Religion vom Báb bis Shoghi Effendi. In dieses große Gebiet hatten sich Frau Schubert, Frau Dr. Heide Jäger und Rudolf Jockel geteilt.
Abends tauchten noch Fragen auf, wie die Bahá’i-Religion zu den anderen philosophischen
und religiösen Richtungen, wie z.B. zur Anthroposophie, stehe und wie weit wir
als Bahá’i ihnen entgegenkommen dürfen, ohne Kompromisse zu schließen. Hierzu
hörten wir von Dr. Mühlschlegel, daß wir in der Anthroposophie das Prinzip der
Vereinigung von Glauben und Wissen begrüßen, aber der größte Impuls, der einen
neuen Zyklus schafft, kann eben nur von einer Manifestation ausgehen. Rudolf
Steiner schuf ein System, das begrenzt ist, das wohl Christus-Ideen enthält, aber nicht
die Idee, die ausreicht, um alle Religionen und alle Bereiche des Lebens in einer neuen
Weltordnung zu vereinen. So ist die Anthroposophie wie alle anderen Bestrebungen
der heutigen Zeit nur ein Teil, ein Sektor in dem großen Kreis der Einheit, die uns
alle umschließt. Diese große Einheit kann
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nur von autoritärer Stellung aus gestaltet werden. Der Anthroposophismus steht zur
Bahá’i-Religion wie etwa der Neu-Platonismus zum Christentum.
Auch von Zabih erhielten wir auf diese Frage eine ganz klare und eindeutige Antwort, indem er sagte, daß es unsere erste und oberste Pflicht sei, die Bahá’i-Lehre gründlich zu studieren, denn in ihr seien alle Ziele und Bestrebungen, sei es auf religiösem oder auf wirtschaftlichem Gebiet, vereinigt. Die Bahá’i-Religion ist allumfassend; wenn wir sie intensiv studieren, so lernen wir damit auch alle anderen Bewegungen kennen und können dann auch mit Hilfe unserer Urteilskraft alles Ungesunde und Fortschritthemmende der anderen Bewegungen erkennen und ablehnen.
Am Freitagmorgen wurde noch ein Vortrag über Selbsterziehung von Frau Annel Großmann gehalten mit anschließender Aussprache über das Thema: Was ist ein Bahá’i? Wir hörten, daß der Anfang aller Dinge die Erkenntnis Gottes ist und das Ende die Befolgung seiner Gebote. Schöpfung ist nichts als der geoffenbarte Wille Gottes, und so wollen wir mit dem Auge der Einheit und Liebe auf dieses Schöpfung sehen, in die wir hineingestellt wurden. Um das Reich des Geistes zu erringen, erstehen dem Menschen Konflikte, Prüfungen, Schwierigkeiten. Viele betrachten diese Dinge als etwas Negatives, werden unglücklich in der Auseinandersetzung mit den äußeren Gegebenheiten des Lebens. Das Gleichnis, daß der Topf so lange aufs Feuer gestellt wird, bis sein Inhalt gar ist, bedeutet für unsere Entwicklung, daß wir durch das reinigende Feuer des Leides oder der Prüfungen so lange einem Läuterungsprozeß unterworfen werden müssen, bis das geistige Ergebnis erreicht ist. Wir sollen die Loslösung vom Irdischen und die Verbindung mit dem Geistigen suchen. In diesem Bemühen werden wir befreit von Furcht, doch können wir uns niemals sicher fühlen auf einer erhabenen abgeklärten Stufe. Immer wieder werden wir schwach, Gott schickt uns neue Prüfungen, bis unsere Schwäche wieder in Stärke verwandelt wird. 'Abdu'l-Bahá sagt, daß es ein Gesetz in der Natur sei, daß der Schwache sich an den Starken anlehnt. So sollen wir uns an Gott anlehnen, bei Ihm Schutz suchen und Hilfe, denn bei Ihm ist kein Wanken, bei Ihm gibt es keine Enttäuschung. Wie im Körperlichen das Gesetz des Sich-opferns herrscht, so gilt es auch im gleichen Maße für das Geistige. Weiter werden wir darauf hingewiesen, nie üble Nachrede zu führen und demütig vor Gott zu sein. Heilig ist der Mensch, wenn die göttliche Kraft in ihm die tierische Natur überwindet und beherrscht. Ganz, ganz wesentlich bei der Selbsterziehung ist die Aufrichtigkeit uns selbst gegenüber. Nicht wanken, weder rechts noch links sehen, sondern den Weg geradeaus gehen und täglich inbrünstig bitten um Standhaftigkeit und Beharrlichkeit.
Der letzte Tag der Sommerschule war gekommen, und es hieß Abschied nehmen von allen Freunden. In der Schlußfeier, die mit Musik umrahmt wurde, fanden wir uns noch einmal alle zusammen, Zabih hielt die Abschiedsrede. Er sprach von seiner unbändigen Sehnsucht nach Deutschland, die 'Abdu'l-Bahá’s Worte in ihm erweckt hätten, und daß er glücklich gewesen sei, als er vom Hüter den Auftrag bekam, nach Deutschland zu reisen und dort zu wirken. Und wenn wir nun wieder alle auseinandergehen, so wollen wir nicht traurig sein, denn für uns Bahá’i gibt es keine Trennung, da wir alle im Geiste Bahá’s vereinigt sind. In diesem Sinne haben wir voneinander Abschied genommen und haben voll Dankbarkeit für alles Empfangene unsere Heimreise angetreten.
Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’i in Deutschland und Österreich, e. V.,
Stuttgart. Verantwortlich für die Herausgabe: Paul Gollmer, Stuttgart O, Neckarstraße 127.
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Druck von J. Fink KG., Stuttgart N — Auflage 2000 — Juni 1949
Veröffentlicht unter Lizenz US-W-Nr. 6871 der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung.
diesem Tage wirkt, letzten Endes diesen Zustand herbeizuführen fähig ist. Noch mehr: Der Bahá’i-Glaube legt seinen Anhängern vor allem die Pflicht des ungehemmten Suchens nach Wahrheit auf, verwirft alle Arten von Vorurteil und Aberglauben und erklärt, daß der Zweck der Religion die Förderung von Freundschaft und Eintracht sei; er verkündet in wesentlichen Fragen ihr Zusammengehen mit der Wissenschaft und erkennt sie als die größte Kraft der Befriedigung und des geregelten Fortschrittes der Menschheit. Er hält ohne Zweideutigkeit den Grundsatz gleicher Rechte, gleicher Möglichkeiten und Vorrechte für Männer und Frauen hoch, besteht auf guter Erziehung als Pflicht, tilgt die Extreme von Armut und Reichtum aus, schafft die Einrichtungen eines Priesterstandes ab, verbietet Sklaverei, Askese, Bettelei und Mönchtum und schreibt Einehe vor, mißbilligt Scheidung, betont die Notwendigkeit festen Gehorsams zur Regierung, erhöht jede Arbeit, die im Geiste des Dienens getan wird, auf den Rang des Gottesdienstes, drängt auf die Schaffung oder Auswahl einer Welthilfssprache und gibt einen Umriß für die Einrichtungen, welche den Weltfrieden begründen und dauerhaft machen sollen.
Der Herold
Der Bahá’i-Glaube kreist um drei Hauptgestalten, deren erste ein Jüngling aus Schiras namens Mirzá ‘Ali Muhammád war, bekannt als der Báb (das Tor). Er erhob im Mai 1844, im Alter von 25 Jahren den Anspruch, der Herold Dessen zu sein, der nach den Heiligen Schriften früherer Offenbarungen den Einen, der größer ist als Er selbst, verkünden und den Weg für Sein Kommen bereiten soll. Seine Sendung sei, nach eben diesen Schriften, eine Ära des Friedens und der Gerechtigkeit einzuleiten, die als die Vollendung aller früheren Sendungen begrüßt würde, um einen neuen Zyklus in der Religionsgeschichte der Menschheit einzuleiten. Rasch setzte strenge Verfolgung ein, die von den organisierten Mächten der Kirche und des Staates Seines Geburtslandes ausging und schließlich zu Seiner Gefangenschaft, Verbannung und zu Seiner Hinrichtung im Juli 1850 in Täbris führten. Nicht weniger als 20000 Seiner Anhänger wurden in so barbarischer Grausamkeit hingemordet, daß sie das warme Mitgefühl und die unbegrenzte Bewunderung abendländischer Schriftsteller, Diplomaten, Reisender und Gelehrter hervorrief.
Bahá’u’lláh
Mirzá Husayn - ‘Ali, genannt Bahá’u’lláh (die Herrlichkeit Gottes), aus der Provinz Mázindarán stammend, dessen Kommen der Báb verkündet hatte, wurde von diesen gleichen Mächten der Dummheit und des Fanatismus angegriffen, in Teheran eingekerkert, 1852 aus Seinem Heimatland nach Bagdad verbannt und von dort nach Konstantinopel und Adrianopel und schließlich in die Gefängnisstadt Akka, wo Er nicht weniger als 24 Jahre noch gefangengehalten wurde. Unweit davon starb Er im Jahre 1892. In der Zeit seiner Verbannung, vor allem in Adrianopel und in Akka, gab Er den Gesetzen und Vorschriften Seiner Sendung Ausdruck und erklärte in mehr als hundert Bänden die Grundsätze Seines Glaubens, verkündete Seine Botschaft den Königen und Herrschern des Ostens und des Westens, Christen sowohl wie Mohammedanern.
‘Abdu’l-Bahá
Sein ältester Sohn, ‘Abbás Effendi, bekannt als ‘Abdu’l-Bahá (Diener Bahá’s), war von Bahá’u’lláh zu dessen gesetzlichem Nachfolger und bevollmächtigtem Ausleger Seiner Lehren ernannt worden. Er war seit Seiner frühesten Kindheit Seinem Vater eng verbunden und teilte dessen Verbannung und Leiden. Er blieb ein Gefangener bis 1908, wo Er in Auswirkung der jungtürkischen Revolution aus der Haft entlassen wurde. Nunmehr verlegte Er Seinen Wohnsitz nach Haifa, schiffte sich dann bald zu einer drei Jahre langen Reise nach Ägypten, Europa und Nordamerika ein, in deren Verlauf Er vor einer zahlreichen Hörerschaft die Lehren Seines Vaters auslegte und das Nahen der Katastrophe voraussagte, die bald darauf die Menschheit überfallen sollte. Er kehrte nach Hause zurück am Vorabend des ersten Weltkrieges, in dessen Verlauf Er dauernd Gefahren ausgesetzt war bis zur Befreiung Palästinas.
1921 verließ Er diese Welt. Er wurde in dem auf dem Berge Karmel errichteten Grabmal beigesetzt, das nach dem Gebot Bahá’u’lláh’s für die sterblichen Reste des Báb errichtet war.
Die Verwaltungsordnung
Das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahá’s bedeutete das Ende des heroischen Zeitalters des Bahá’i-Glaubens und bezeichnete zugleich den Beginn des gestaltgebenden Zeitalters, das den schrittweisen Aufstieg der Verwaltungsordnung des Glaubens schaffen soll. Ihre Errichtung war von dem Báb vorhergesagt, ihre Gesetze wurden von Bahá’u’lláh geoffenbart, ihre Umrisse wurden von 'Abdu'l-Bahá in Seinem Willen und Testament vorgezeichnet.
Die Verwaltungsordnung des Glaubens von Bahá’u’lláh ist dazu bestimmt, sich zu einem
Bahá’i-Weltgemeinwesen zu entwickeln. Sie hat schon die Angriffe überdauert, die solche
furchtbaren Feinde wie die Könige der Kadscharen-Dynastie, die Kalifen des Islam, die führenden
Geistlichen Ägyptens und das Naziregime in Deutschland gegen ihre Einrichtungen gerichtet
hatten, und hat ihre Zweige in alle Teile der Erde ausgedehnt, von Island bis zum äußersten
Chile. Sie hat in ihren Bereichen die Vertreter von nicht weniger als 31 Rassen, darunter
Christen verschiedener Bekenntnisse, Muselmänner der
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sunnitischen und schiitischen Sekten, Juden, Hindu, Sikhs, Zoroastrer und Buddhisten. Sie hat
durch ihre festgesetzten Organe Bahá’i-Schriften in 48 Sprachen veröffentlicht und verbreitet.
Diese Verwaltungsordnung ist, im Unterschied von den anderen Systemen, die sich nach dem Tode der Gründer in den verschiedenen Religionen entwickelt haben, göttlich in ihrem Ursprung, beruht mit Gewißheit auf den Gesetzen, Vorschriften, Verordnungen und Einrichtungen, die vom Begründer des Glaubens selbst ausdrücklich niedergelegt und unzweideutig festgesetzt sind und waltet in fester Übereinstimmung mit den Auslegungen der bevollmächtigten Ausleger der heiligen Texte.
Der Glaube, dem diese Ordnung dient, den sie schützt und fördert, ist, das sollte in diesem Zusammenhang wohl bemerkt werden, in seinem Wesen übernatürlich, übernational, gänzlich unpolitisch, parteilos und jedem System oder jeder Schule von Ideen, die irgendeine besondere Rasse, Klasse oder Nation über die andere zu stellen sucht, völlig entgegengesetzt. Er ist frei von jeglicher Form von Kirchentum, hat weder Priesterstand noch Riten und wird allein durch freiwillige Gaben seiner erklärten Anhänger getragen.
Wenn auch die Bekenner des Bahá’i-Glaubens ihren Regierungen treu ergeben sind, in Liebe ihrem Vaterland verbunden und darauf bedacht, zu allen Zeiten dessen Wohl zu fördern, so werden sie doch, weil sie die Menschheit als eine Einheit betrachten und deren Lebensinteressen tief verpflichtet sind, ohne Zögern jedes Einzelwohl, sei es persönlich, örtlich oder national, dem übergeordneten Wohl der Menschheit als Ganzes unterordnen; denn sie wissen gar wohl, daß in einer Welt der gegenseitigen Abhängigkeit der Völker und Nationen der Vorteil des Teiles am besten durch den Vorteil des Ganzen erreicht werden kann, und daß kein Dauererfolg durch eines der zugehörigen Teile erreicht werden kann, wenn das Allgemeinwohl des Ganzen hintangestellt wird.
- Shoghi Effendi
Die zwölf Grundsätze der Bahá’i-Weltreligion
1. Die gesamte Menschheit muß als Einheit betrachtet werden.
2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.
3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.
4. Die Religion muß die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.
5. Die Religion muß mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.
6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.
7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.
8. Der Weltfrieden muß verwirklicht werden.
9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung erfahren.
10. Die sozialen Fragen müssen gelöst werden.
11. Es muß eine Einheitssprache und eine Einheitsschrift eingeführt werden.
12. Es muß ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.