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Die Bahá’i-Weltreligion
Der Glaube, der von Bahá’u’lláh begründet wurde, entstand in Persien um die Mitte des
neunzehnten Jahrhunderts. Nach längerer Verbannung des Gründers, zuletzt nach der türkischen
Strafkolonie von Akka, und späterhin nach Seinem Tod und Seiner Beisetzung in Akka, hat der
Glaube sein endgültiges Zentrum im Heiligen Land gefunden und ist jetzt im Begriff, die
Grundlagen seines Verwaltungszentrums für die ganze Welt in der Stadt Haifa aufzubauen.
Wenn man seinen Anspruch, wie er unmißverständlich durch seinen Begründer verfochten wurde, und die Art des Wachstums der Bahá’i-Gemeinde in allen Teilen der Welt betrachtet, so kann dieser Glaube nicht anders angesehen werden als eine Weltreligion, die dazu bestimmt ist, sich im Laufe der Zeiten in ein weltumfassendes Gemeinwesen zu entwickeln. Dessen Kommen muß das goldene Zeitalter der Menschheit ankündigen, das Zeitalter, das die Einheit des Menschengeschlechtes unerschütterlich begründet, seine Reife erreicht und seine Bestimmung durch die Geburt und das Errichten einer alles umfassenden Zivilisation erfüllen wird.
Neue Darlegung ewiger Wahrheiten
Obwohl dem schiitischen Islam entsprungen und in den ersten Entwicklungsphasen von den Anhängern des mohammedanischen und des christlichen Glaubens nur als eine obskure Sekte, ein asiatischer Kult oder ein Ableger der mohammedanischen Religion betrachtet, beweist dieser Glaube nunmehr in wachsendem Maße sein Anrecht auf eine andere Beurteilung als nur die eines weiteren religiösen Systems, das den sich bekämpfenden Glaubensbekenntnissen, die so viele Geschlechter lang die Menschheit zerspalten und ihre Wohlfahrt verwüstet haben, sich zugesellt hat. Vielmehr ist er eine neue Darlegung der ewigen Wahrheiten, die allen Religionen der Vergangenheit zugrunde liegen, und eine einigende Macht, die den Anhängern dieser Religion einen neuen geistigen Elan einflößt, eine neue Hoffnung und Liebe zur Menschheit und sie durch eine neue Vision befeuert, die der grundsätzlichen Einheit der religiösen Lehren, und vor ihren Augen die herrliche Berufung ausbreitet, die dem Menschengeschlecht winkt.
Die Anhänger dieses Glaubens stehen fest zu dem grundlegenden Prinzip, wie es von Bahá’u’lláh verkündet worden ist, daß religiöse Wahrheit nicht absolut, sondern relativ ist, daß Gottesoffenbarung ein fortdauerndes und fortschreitendes Geschehnis ist, daß alle großen Religionen der Welt göttlich in ihrem Ursprung sind, daß ihre Grundsätze zueinander in völligem Einklang stehen, daß ihre Ziele und Absichten eine und dieselben sind, daß ihre Lehren nur Widerspiegelungen der einen Wahrheit sind, daß ihr Wirken sich ergänzt, daß sie sich nur in unwesentlichen Teilen ihrer Lehren unterscheiden und daß ihre Sendungen aufeinanderfolgende geistige Entwicklungsstufen der Menschheit darstellen.
Zur Versöhnung der sich streitenden Bekenntnisse
Die Ziele Bahá’u’lláh’s, des Propheten dieses neuen und großen Zeitalters, in das die Menschheit eingetreten ist — denn Sein Kommen erfüllt die Prophezeiungen des Neuen und Alten Testamentes wie auch des Koran, die sich auf das Erscheinen des Verheißenen am Ende der Zeiten, am Tage des Gerichtes beziehen — sind nicht die Zerstörung, sondern die Erfüllung der Offenbarungen der Vergangenheit und viel mehr die Versöhnung als die Betonung der Gegensätze der sich streitenden Glaubensbekenntnisse, welche die heutige Menschheit noch zerreißen.
Er ist weit davon entfernt, die Stufe der Ihm vorausgegangenen Propheten herabsetzen oder ihre Lehren schmälern zu wollen. Vielmehr will Er die Grundwahrheiten, die in allen diesen Lehren beschlossen sind, in einer Weise aufs neue darlegen, wie sie den Nöten der Menschheit entsprechen und auf ihre Fassungskraft abgestimmt sind und auf die Fragen, Leiden und Verwirrungen der Zeit, in der wir leben, angewendet werden können.
Seine Sendung ist: zu verkünden, daß die Zeiten der Kindheit und Unreife des Menschengeschlechtes dahin sind, daß die Erschütterungen; der heutigen Stufe der Jugend langsam und schmerzvoll sie zur Stufe der Reife vorbereiten und das Nahen jener Zeit der Zeiten verkünden, da die Schwerter in Pflugscharen umgewandelt werden und das von Jesus Christus verheißene Reich begründet wird und der Friede auf diesem Planeten endgültig und dauernd gesichert ist. Auch stellt Bahá’u’lláh nicht den Anspruch auf Endgültigkeit Seiner eigenen Offenbarung, sondern erklärt vielmehr ausdrücklich, daß ein volleres Maß der Wahrheit, als Ihm von dem Allmächtigen für die Menschheit in einem so kritischen Zeitpunkt gestattet wurde, in den späteren Phasen der endlos weiterschreitenden Menschheitsentwicklung enthüllt werden muß.
Einheit des Menschengeschlechtes
Der Bahá’i-Glaube hält die Einheit Gottes hoch, anerkennt die Einheit Seiner Propheten und betont vor allem den Grundsatz der Einheit und Ganzheit aller Menschenrassen. Er verkündet, daß die Einigung der Menschen notwendig und unvermeidbar ist, hebt hervor, daß wir uns ihr schrittweise nähern und stellt die These auf, daß nichts anderes als der verwandelnde Geist Gottes, der durch Sein erwähltes Sprachrohr an
SONNE DER WAHRHEIT Zeitschrift für Weltreligion und Welteinheit |
Heft 3 Preis vierteljährlich DM 1.80 |
MAI 1949 Jamal - Schönheit (106) |
19. JAHRGANG |
- Leitgedanken: Einheit der Menschheit - Universaler Friede - Universale Religion
Inhalt: Wiederkunft Christi - Das Wort Gottes - Ährenlese - Göttliche Lebenskunst - Der verheißene Tag ist gekommen - Aus der Bahá’i-Welt
An die Leser und Freunde unserer Zeitschrift!
Aus technischen und finanziellen Gründen konnte vom 19. Jahrgang der „Sonne der Wahrheit“ bis jetzt nur die Doppelnummer Heft 1/2 März/April 1948 erscheinen. Mit dem vorliegenden Heft beginnt nun wieder das regelmäßige monatliche Erscheinen unseres Organs mit einem Umfang von 32 Seiten.
Herausgeber und Schriftleitung bitten alle Leser der „Sonne der Wahrheit“, für diese unter dem Zeichen der geistigen Einheit der Menschheit und ihrer friedlichen Verständigung auf dem Quellgrund der Religion stehenden Zeitschrift einen wachsenden Kreis von Freunden zu gewinnen.
Auf die beiliegende Übersicht des heute lieferbaren deutschen Bahá’i-Schrifttums möchten wir noch besonders hinweisen.
- SCHRIFTLEITUNG
DIE WIEDERKUNFT CHRISTI[Bearbeiten]
Nach einem Vortrag von 0tto Geldreich
Die Gesegnete Vollkommenheit, Bahá’u’lláh, schreibt im „Buch der Gewißheit“1):
„Es gibt zweierlei Art, die Manifestationen Gottes2) zu betrachten.
Die erste ist, ihren Zustand als solchen, rein und ungetrübt, ins Auge zu
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fassen, den Zustand der unvergleichlichen Einheit. Auf dieser Stufe könnt
ihr die Propheten mit einem einzigen Namen benennen und ihnen allen die
gleichen Eigenschaften geben. Es ist gesagt: ,Wir machen keinen Unterschied
zwischen den Propheten Gottes3). Denn sie alle erziehen die Menschen
zur Einheit Gottes und geben ihnen die frohen Botschaften des unerschöpflichen
Kawthar4) der Barmherzigkeit. Sie alle haben das herrliche
Gewand des Prophetentums angelegt. Muhammad sagte folgendes:
,In Mir sind alle Propheten verkörpert, und ebenso bin Ich Adam, Noah,
Moses, Jesus.‘ Das gleiche wurde durch ‘Ali gesagt, durch alle Quellen ewiger
Worte und durch alle Schatzkammern ohnegleichen, welche die Ausstrahlung der
Gebote und die Morgenröten der Ursachen sind und über aller Einreihung stehen.
,Unsere Sache ist eine, sagt das Hadith5). Darum sind
die Manifestationen einheitlich ... Ihr wißt doch und könnt nicht mehr
daran zweifeln, daß die verschiedenen Propheten, als Körper der Sache
Gottes, unter verschiedenen Gesichtspunkten erschienen sind. Und wenn
ihr darauf achtet, so werdet ihr erkennen, daß sie alle im gleichen
Garten wohnen, in denselben Höhen schweben, auf dem gleichen Teppich
ruhen, die gleiche Sprache sprechen, die gleichen Gesetze verkünden. So ist
die Einheitlichkeit dieser Wesenheiten des Daseins und dieser unermeßlichen
Sonnen. Wenn die eine dieser Manifestationen sagt: ,Ich bin jener
Prophet und auf die Erde wiedergekommen, so sagt sie die Wahrheit. Es
ist gewiß, daß jedes Kommen die Wiederkehr des Vorhergegangenen ist.
Und wenn nach den Schriften die Wiederkehr der Propheten sicher ist,
so ist es auch die der Auserwählten. Jedes weitere Wort ist überflüssig.“
An einer späteren Stelle6) führt die Gesegnete Vollkommenheit, Bahá’u’lláh, folgendes aus:
„Wir haben früher gesehen, daß es zwei verschiedene Arten gibt, die
Sonnen zu betrachten, die sich an den göttlichen Horizonten erheben: die
eine, haben wir gesagt, ist die, in ihnen die Einheit ohnegleichen zu
sehen. ,Wir machen keinen Unterrschied zwischen den Propheten Gottes.‘
Die andere betrifft, gerade dem entgegen, ihre Verschiedenheit. In
diesem Falle betrachten wir die Propheten als begrenzte Geschöpfe,
eingeschlossen in die Schranken der Menschlichkeit. Eine jede Manifestation
ist in einen Menschen einverleibt, hat eine besondere Sendung, ist in
ihrem Erscheinen vorherbestimmt und hat feste Grenzen. So trägt jede
einen Namen, der sie und ihre wunderbare Sache kennzeichnet, wie auch
die neuen Gesetze, die sie vertritt. ,Wir erhoben von den Propheten die
einen über die anderen. Die erhabensten sind die, zu denen Gott geredet
hat. Wir haben Jesus gesandt, den Sohn Marias, begleitet von offenbaren
Zeichen und haben Ihn gestärkt durch den Heiligen Geist7).‘ Je nach
ihren verschiedenen Graden von Geistigkeit sind die Worte, die aus diesen
Quellen göttlichen Wissens strömen, mehr oder weniger erhaben. Nur wer
die Geheimnisse göttlicher Rätsel kennt, begreift, daß alle diese
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Manifestationen einen einzigen Ursprung haben. Aber die meisten Menschen,
die nur auf die Verschiedenheit der Worte dieser Wesen der Einheit achten,
gehen des Friedens und der Ruhe verlustig. Wir wissen zwar, daß der
Unterschied ihrer Worte von dem Unterschied ihrer Erhabenheit herrührt,
doch in der Einheit und in den Höhen des Wesenhaften nennen sich diese
Perlen des Daseins Autorität, Göttlichkeit, Einheit und Gleichheit ohne
Unterschied. Denn sie alle thronen auf dem Herrscherstuhle göttlicher
Offenbarung, und sie alle weilen in den göttlichen Höhen des Unsichtbaren.
Das heißt: Gott erscheint durch sie. Seine Schönheit strahlt in ihrer
Schönheit, wie es ja diese Wesen der Einheit so manches Mal verkündet
haben.“
„Im Hinblick auf ihre Verschiedenheit, ihr Begrenztsein, ihre Menschwerdung legen die Gottgesandten Zeugnis ab von einer Ergebenheit, einer Entsagung, einem Verzicht ohne gleichen, wie auch Muhammad sagt: ,Ich bin der Diener Gottes und bin nur Mensch wie ihr8).‘
„Das ist die Antwort auf eure Fragen, und ich wünsche, ihr werdet so gefestigt in der Religion Gottes, daß ihr euch nicht verwirren lasset durch die Verschiedenheit, die ihr in den Worten der Propheten und der Auserwählten finden werdet. Wenn eine der allumfassenden Manifestationen spricht: ,Ich bin Gott, so ist dies richtig, denn wir haben wiederholt klargelegt, daß mit ihrem Erscheinen die Namen und Eigenschaften Gottes auf Erden sichtbar werden. So ist gesagt: ,Wenn du einen Federstrich tust, so bist nicht du es, der dies tut, sondern Gott‘9). Und ebenso: ,Wer dir die Hand gibt und den Eid der Treue schwört, der schwört ihn Gott. Gottes Hand ist auf seine Hände gelegt‘10)". — Wenn dagegen der Gottgesandte spricht: ,Ich bin der Prophet Gottes', so ist dies ebenfalls richtig und außer allem Zweifel: ,Muhammad ist nicht der Vater irgendeines Menschen unter euch, er ist der Prophet Gottes11). Alle diese Gottgesandten kommen aus der Gegenwart des Königs der Wirklichkeit und der ewigen Wesenseinheit. — Selbst wenn ein jeder sprechen würde: ,Ich bin das Siegel der Propheten‘12), so wäre dies ebenfalls unanfechtbar, denn sie alle sind einander wesenseins, sie haben nur eine Seele, einen Geist, einen Körper, eine Ursache, und sie sind alle das Erscheinen des Anfangs und des Endes, des A und des 0, des Sichtbaren und des Unsichtharen, des Geistes aller Geister und des Wesens der ewigen Wesen. — Wenn der Prophet dagegen spricht: ,Ich bin der Diener Gottes', so ist dies nicht weniger richtig. Denn, äußerlich betrachtet, erscheint er im höchsten Grade des Dienstes. Niemand vermag so demütig zu sein wie diese Perlen des Daseins, in die Meere ewiger Heiligkeit versenkt, aus geistigem Wesen des Königs der Wahrheit gebildet. Ein jedes ihrer Worte ist ein Wort der höchsten Autorität.“
„Mit ein wenig Aufmerksamkeit werdet ihr verstehen, daß dem unumschränkten
Sein gegenüber die Manifestationen Gottes gleichsam auf der letzten Stufe
der Sterblichkeit und Nichtigkeit stehen, so sehr, daß sie
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sich fast als nicht bestehend ansehen. Gehen sie doch selbst soweit, die bloße
Erwähnung ihres eigenen Namens vor Gott als eine Tat des Unglaubens zu
betrachten; denn dies hieße, sich als bestehend anzusehen und eine schwere
Sünde begehen. Wenn so ihr Zustand ist, wie anders müßte alsdann der von
Menschen sein, deren Herz, Seele und Geist allein von irdischen Dingen
erfüllt sind, deren Augen andere Schönheiten sehen, deren Ohren andere
Gesänge hören als die göttliche Schönheit und die göttlichen Gesänge, und
deren Füße auf anderen Pfaden wandeln als auf denen Gottes!“ . . .
„Solcherart hahen die Propheten uns ihre Würde geoffenbart, als sie unter uns erschienen, und ihre Worte sind jedesmal der Ausfluß ihrer Sendung gewesen, aus der Welt des Gebotes in die Welt der Schöpfung. Wenn sie die Worte der Göttlichkeit, der Autorität, der Weissagung, der Gottgesandten, der Apostel, des Meisters, des Beschützers und des Dieners verkünden, so hat man ihnen zu glauben und ihre Worte nicht in Zweifel zu ziehen. Gehe allen diesen Folgerungen nach und laß dich nicht von der Verschiedenheit der Worte, deren sich die Manifestationen der unsichtbaren Heiligkeit bedient haben, verwirren.“
Ferner schreibt Bahá’u’lláh im „Buch der Gewißheit“13):
„Einsichtsvolle Menschen wissen, wie einst die Flamme der Liebe Jesu den Aberglauben der Juden verbrannte und seine Gebote sich rasch verbreiteten. Und eines Tages, als diese geheimnisvolle Schönheit, Jesus, von Seinem Weggang zu einem Seiner Jünger redete und so in ihm der Ängste Feuer entfachte, da sprach Er: ,Ich gehe von hinnen und werde wiederkommen'. Und abermal: ,Ich gehe von hinnen. Ein Anderer wird kommen; der wird euch sagen, was Ich nicht gesagt. Er wird Mein Wort erfüllen.‘ Diese beiden Sprüche sind in Wahrheit eines, wenn ihr euch mit göttlicher Einsicht in die Manifestationen der Einheit vertieft.“
„Als Muhammad später erschien, da waren Gesetz und Religion von Jesus
Christus stark geworden, und darum sagte jener selbst: ,Ich bin der
Christus.‘ So nahm Er Gesetz und Worte Jesu an, weil sie von Gott gekommen.
Kein Unterschied ist darum, weder zwischen ihnen noch zwischen
ihren Geboten, denn sie beide verkündeten die Gebote Gottes, der sie
ihnen gegeben. Dies ist der Sinn der Worte Jesu, als Er sprach: ,Ich gehe
von hinnen und werde wiederkommen'. So ist auch die Sonne die gleiche,
heute wie gestern, und wechselt doch alle Tage; die Tage wiederum sind
unter sich verschieden, zum wenigstens durch ihre Namen und die
Ereignisse, die ihnen eigen, und doch sind sie im Wesen gleich.
Ersehet daraus den Unterschied und ebenso die Einheit der heiligen
Manifestationen und verstehet es, die verborgene Bedeutung dieser Worte des
Schöpfers der Namen und Eigenschaften zu erfassen in dem, was Einheit
bedeutet, und warum die ewige Schönheit sich unter verschiedenen Namen
und in verschiedenen Formen geoffenbart hat. — Die Jünger Christi baten
oft um Zeichen Seiner Wiederkunft und auch, zu welcher Zeit sie
wäre, und jedesmal gab Seine Erhabenheit ihnen die Antwort, wie sie
geschrieben steht in den vier Evangelien.“
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Befassen wir uns nun des näheren mit diesen bekannten Stellen, besonders im 24. Kapitel des Matthäusevangeliums, dessen Inhalt z. Z. vielfach lebhaft erörtert und auch mitunter ahnungsmäßig richtig erfaßt wird. Bei diesen Prophezeiungen Jesu Christi hinsichtlich seiner Wiederkunft handelt es sich in erster Linie um Sein Wiedererscheinen in Muhammad, doch spricht Er auch gelegentlich von Seiner Wiederkunft „in der Herrlichkeit Seines Vaters“, die ja seit nunmehr zwei Jahrtausenden den Gegenstand der heißen Sehnsucht so vieler Menschenherzen bildete und die nach dem aller Welt verkündeten Anspruch Bahá’u’lláh’s an Ihm und Seiner Sendung in Erfüllung gegangen ist.
Es bedarf nun vor allem einiger Darlegungen hinsichtlich der richtigen Auffassung des von Seiner Heiligkeit Christus Für Seine Wiederkunft angegebenen Zeitpunktes, wie auch dieser eintretenden Erscheinung selbst.
Da ist vom „Ende“ und vom „Ende der Welt“14) die Rede und außerdem
davon, daß nur der Vater diesen Zeitpunkt wisse. Nach der Lehre
Bahá’u’lláh’s ist hier unter dem Ende nicht das Ende der sichtbaren Welt
bzw. der Untergang unseres Planeten Erde zu verstehen, sondern das Ende
der christlichen Ära als solcher, das Ende der äußeren christlichen Welt,
nachdem durch das Verschulden der Menschen der Geist aus ihr entwichen.
Zwar wird Christus auch weiterhin in der geistigen Aura dieses Planeten
wirken, aber unter einem anderen Namen regieren in der Menschenwelt,
unter dem „neuen“, wie es in der Offenbarung Johannis15) heißt,
unter dem Namen Seines Vaters, der, wie Er selbst sagt, „größer ist als Er“. Er
wird herrschen, wie geschrieben steht, „in der Herrlichkeit Seines Vaters“,
unter dem wir uns in diesem Zusammenhang den ersten Menschen im reinen
Geiste, das Haupt der geistigen Hierarchien, die Spitze der der sichtbaren
Schöpfung vorangehenden unsichtbaren Schöpfung Gottes vorzustellen
haben. — „Ende der Welt“, „Tag des Gerichts“, „Tag der Auferstehung“
ist immer dann, wenn der neue Gottgesandte auftritt. Und auch
nach Bahá’u’lláh werden, wenn auch, wie es heißt, „unter
Seinem Schatten“16), neue Gottgesandte kommen. Er ist der von
allen heiligen Schriften der Erde verheißene große Einiger. Sein Zyklus
begann schon mit dem Gottgesandten Adam.
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Nun zur Frage der Erscheinung selbst des nach dem Schriftwort „in den Wolken des Himmels mit großer Macht und Herrlichkeit wiederkommenden Menschensohnes“. Was hat man sich da im Laufe der Jahrtausende nicht alles zusammengereimt und erträumt, sowohl in ehrlichem und ehrfürchtigem Bemühen und Ringen um Klarheit wie in selbst der Sensationslüsternheit nahekommender Haltung! Wir müssen uns aber von all diesen mehr oder weniger phantasiereichen Vorstellungen frei machen und die Dinge ganz einfach und nüchtern betrachten, nämlich daß der neue geistige Regent nicht anders kommt, wie alle Regenten der bisherigen Religionszyklusse auf der Erde erschienen sind: in einem menschlichen Körper. Dieser stellt nach der Lehre von Bahá’u’lláh die Wolke dar, hinter der die himmlische Herrlichkeit des Gottgesandten jeweils verborgen ist. Ist es deshalb erstaunlich, wenn schon Seine Heiligkeit Christus im Hinblick auf Seine selbst gemachten Erfahrungen klagend ausruft: „Wenn der Menschensohn wiederkommen wird, wird Er auch Glauben finden auf Erden?!“ - Lassen wir in folgendem 'Abdu'l-Bahá über diesen Punkt zu uns sprechen: „Wie in den Evangelien ausführlich berichtet wird, kam Christus bei Seinem ersten Erscheinen vom Himmel. Er sagte selber: ,Niemand fährt gen Himmel denn der, welcher vom Himmel herniederkam, eben des Menschen Sohn, der im Himmel ist.“ Es wird allen einleuchten, daß Christus vom Himmel kam, obgleich Er vom Schoße der Maria geboren wurde. Bei Seinem ersten Erscheinen kam Er vom Himmel, obgleich er zweifellos vom Weibe geboren war, und so wird Er auch bei Seinem zweiten Erscheinen vom Himmel kommen, obgleich Er zweifellos vom Weibe geboren wird. Die Bedingungen, die im Evangelium Für das zweite Kommen Christi erwähnt sind, sind die gleichen, wie sie für das erste Kommen angesagt sind und wie wir sie schon erwähnten17).“
Im „Buche der Gewißheit“18) gibt die Gesegnete Vollkommenheit, Bahá’u’lláh, u. a. ausführliche Erklärungen zu jenen Worten Christi: „Bald nach der Trübsal derselbigen Zeit werden Sonne und Mond den Schein verlieren, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte der Himmel werden sich bewegen. Und alsdann wird erscheinen das Zeichen des Menschensohnes am Himmel.“ — Es sei mir erlaubt, diese Erklärungen hier teilweise in gedrängter Form wiederzugeben. Dem Sinne nach ist zunächst ungefähr folgendes gesagt:
Die Priester des Evangeliums hahen nie verstanden, was diese Worte
bedeuten und besagen. Da sie sie rein buchstäblich auffaßten und die darin
genannten Zeichen beim Erscheinen Muhammad’s nicht wahrnahmen,
blieb ihnen wie auch ihren Gläubigen diese erste Wiederkunft Christi
verborgen. Und dennoch warten sie immer noch auf das Erscheinen der
berühmten Zeichen, um das Kommen des Verheißenen zu erkennen. „Auch
andere Völker“, fährt Bahá’u’lláh wörtlich fort, „sind durch ähnliche
Zweifel dieses Quells von Gottes unendlicher Güte beraubt und klammern
sich an ihre Vorstellungen. Hat Jesus in den Evangelien nicht außerdem
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gesagt: ,Himmel und Erde werden vergehen, aber Meine Worte werden
nicht vergehen.‘? Die Völker des Evangeliums ziehen daraus den
Schluß, daß die Verordnungen Christi niemals aufgelöst werden, und daß,
wenn irgend wann der Verheißene mit allen Zeichen kommen wird, er
dann die Religion des Evangeliums bestätigen muß, so daß dann diese
unter Ausschluß aller anderen über die Erde verbreitet werde. Und dies
ist für sie unbedingte Überzeugung so sehr, daß, wenn zu ihnen einer
mit allen verheißenen Zeichen entsandt würde und ihnen Gebote
aufstellte, die sich dem Scheine nach von denen des Evangeliums
unterscheiden, sie ihm bestimmt nicht gehorchen würden, ungläubig
wären und ihn gar verspotteten, wie sie es einst mit
Muhammad getan.“ . . .
„Die Worte Jesu ,nach der Trübsal derselbigen Zeit' bedeuten: wenn die Menschen von Not und Unglück befallen werden. Dies tritt dann ein, wenn die Spuren der Sonne der Wirklichkeit verschwinden, die Früchte des Baumes der Erkenntnis und Weisheit erschöpft sind und die Menschen von Unwissenden geführt werden. Dann werden die Tore geschlossen sein, die zur Einheit und zur Lehre Gottes führen, dem höchsten Ziel der Schöpfung. Dann wird Wissen sich in Zweifel verwandeln und Führung in Elend. Solches ist in unseren Tagen zu sehen. Werden die Völker nicht von Toren geführt, die sie leiten, wohin sie wollen? Kennen sie von Gott mehr als den Namen und von Seinem Willen viel mehr als den ersten Buchstaben? Die Winde der Süchte und Lüste verwüsten so sehr die Welt, daß sie in den Herzen die Fackel des Wissens und der Einsicht ausgelöscht haben.“ ... Hieran anschließend schildert Bahá’u’lláh den Tanz um das goldene Kalb in allen seinen geistlichen und weltlichen Formen, dem die Menschen verfallen sind und der schließlich im größten Wirrwarr endet, und fährt dann wörtlich fort: „Welche Not könnte größer sein denn solche? Ein Mensch, der nach Wahrheit und Wissen sucht, weiß nicht, wohin gehen noch wen befragen, so zahlreich und voll Widerspruch sind Meinungen und Wege. Doch immer ist derartiges zu sehen vor dem Kommen eines Gottgesandten. Sonst wäre ja kein Grund da, daß je die Sonne der Wahrheit erschiene. . . . Aus Mangel an göttlichem Wissen und an Verständnis der heiligen Worte quillt Trübsal: sie bricht herein, wenn die Sonne und ihre Spiegel verschwunden sind, wenn die Welt ohne Führung gelassen ist . . . Die ,Trübsal der Tage' hat also keine andere Bedeutung. Alle Auslegungen anderer Art können der Wirklichkeit nicht entsprechen.“ . . .
„Sonne, Mond und Sterne“, die nach den Worten Jesu „den Schein verlieren“ und "vom Himmel fallen werden“, haben nach der Auslegung Bahá’u’lláh’s verschiedene Bedeutung, je nach der Stelle, an der sie stehen. Unter „Sonne“ sind manchmal die Sonnen der Wirklichkeit zu verstehen, d. h. die vollkommenen Manifestationen Gottes, die Gottgesandten, durch die allein die Welt belebt und erneuert wird. Erstlich also bedeuten „Sonne, Mond und Sterne“ die Propheten sowie ihre wahren Jünger, die Erwählten, jene geistigen Leuchten, „die durch das Licht ihrer Erkenntnis die sichtbare und unsichtbare Welt in Strahlung versetzen“.
„In zweiter Linie“, so schreibt
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Bahá’u’lláh wörtlich, „bezieht es sich auf die Gelehrten und Priester des
vergangenen Gottgesandten, die in der jetzigen Zeit leben und die Leitung
der Religion in Händen haben. Wenn sie beim Erscheinen der neuen Sonne
von deren Licht widerstrahlen, dann sind sie bestätigt; sie erstehen dann
in neuem Glanze. Wenn sie aber im Gegenteil in Gleichgültigkeit verharren,
mögen sie wohl dem Scheine nach die Menschen führen, sie bleiben
aber in der Nacht. . . . Für jeden Einsichtigen ist es klar, daß mit dem
Sonnenaufgang das Licht der Sterne verblaßt. Wenn also die Sonne der
Wirklichkeit erscheint, schwinden die Lichter der Gelehrten und Priester.
Sie sind den Sonnen gleich in ihrem Glanze, dessen sie sich unter den
Menschen ihres Landes erfreuen. Wenn sie durch ihr Verhalten an die
göttliche Sonne erinnern, dann werden sie aufgehende Sonnen werden.
Sonst aber werden sie Sonnen der Hölle sein.“ . . .
Zum Dritten bedeuten „Sonne, Mond und Sterne“ die Lehren und Gebote, Gebräuche und Gewohnheiten, die in jeder Religion verkündet sind und hochgehalten werden und die jeweils von der neuen Manifestation unter Anpassung an die veränderten Verhältnisse des Zeitalters umgestaltet werden.
„So bedienen sich die Manifestationen Gottes der Bildersprache. Verfinsterung von Sonne und Mond und Herabfallen der Sterne bedeutet also Demütigung der Gelehrten und Abschaffung der Gebote. . . . Die Sonne der Gebote und Verbote der vorangehenden Manifestationen verfinstert sich mit dem Kommen einer neuen, und auch die Völker, die im Schatten dieser Gebote gelebt haben, sind nun plötzlich gedemütigt: die Gewalt der vorhergehenden Manifestation ist erloschen.“
Die Betrachtung dieser Wiederkunftsvorhersage Christi wäre unvollständig ohne die Berücksichtigung Seiner gleichzeitigen Warnung vor „falschen Christi und falschen Propheten, die große Zeichen und Wunder tun werden, um die Menschen zu verführen“. Auch macht aus diesem Grunde der Anspruch Bahá’u’lláh’s, die fortsetzende allumfassende Gottesoffenbarung zu sein, in zunächst begreiflicher Weise vielfach suchenden Menschen innerlich zu schaffen. Hier ist folgendes zu sagen:
Die Zeichen bei Bahá’u’lláh bestanden in der schuldlosen, vierzigjährigen,
qualvollen Kerkerhaft eines — äußerlich betrachtet — Hochgeborenen und
Höchstbegabten, der sich wirklich ein anderes Erdenlehen hätte
bereiten können, lange sogar in Ketten und Halseisen, und all dies um
der Erlösung der Menschheit willen, bei nimmer versiegender, von
Menschenzunge überhaupt nicht zu würdigender Arbeit im alleinigen Dienste
dieses Zieles; fermer bestehen Seine Zeichen, in dem Blutzeugnis
Zehntausender von Märtyrern für Seine heilige Sache, Sein einziges Wunder in
dem Wunder der Selbstverwandlung mit göttlicher Hilfe, das Er in Seinen
Jünger legt und aus dem das Wunder einer neuen Welt entstehen wird; und
von Verführenwollen kann schon gar keine Rede sein, wenn man beachtet,
daß Sein allererstes Gebot von jedem Einzelnen das selbständige Forschen
nach der Wahrheit fordert. Wie kein Gottgesandter vor Ihm betont Er die
Abwegigkeit blinden Glaubens, auch Seiner eigenen Offenbarung gegenüber,
denn nur auf dem Wege
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selbständigen und hingebenden Forschens kann der Mensch zu wahrem
Glauben an Ihn gelangen.
Und so ist es auch für den ernsten Anhänger der Gesegneten Vollkommenheit, Bahá’u’lláh, schmerzlich, wenn er beobachtet, daß bei der Zustimmung zur heiligen Sache irgendwo die Oberflächlichkeit Pate gestanden hat, oder wenn bei genauerem Hinsehen sich gar herausstellt, daß für den Betreffenden andere Gründe bestimmend waren als die Sehnsucht nach Wahrheit und nach menschlichem Aufstieg und Fortschritt. Wir gehen nicht auf das aus, was man so gemeinhin mit Seelenfang bezeichnet, noch viel weniger aber auf Seelenzwang, sondern wir bemühen uns, zu helfen, wo man sich helfen lassen will, zu helfen im Dienste einer Sache, die wir als die einzige Rettung für die ganze Menschheit erkannt haben. Wit bemühen uns an Hand der heiligen Lehre und nach Maßgabe unseres jeweiligen eigenen Erfassens die nimmermehr auszuschöpfenden, letzten Endes unbeschreibbaren inneren und äußeren Herrlichkeiten zu verkünden, die Gott für eine Menschenwelt bereithält, die Ihn liebt, und wir brennen darauf, für diese Jubelbotschaft immer mehr selbstüberzeugte Geführten zu finden, auf daß die Welt in der Glut göttlicher Begeisterung endlich ihr urbestimmtes, geeintes und friedvolles Dasein finde. Wir brauchen, zumal angesichts der noch kommenden schweren Zeiten, vor allem glaubensstarke Menschen, denn Glaubensstärke ist eben jener Fels, auf dem allein der Tempel der Einheit, das in sich geeinte Reich im Inneren des Menschen fest gegründet werden kann, was seinerseits wieder die Voraussetzung für die erfolgreiche Errichtung und den dauerhaften Bestand der gleichzeitig zu erstrebenden äußeren Einheit bildet. Und zur Erlangung solchen Glaubens aus selbsterrungener Überzeugung ist eben vö11ig unabhängiges Forschen vonnöten.
Dieser von Gottgesandten angerufene Glaube besteht aber nicht allein in einer auf noch so starker meinungsmäßiger Überzeugung beruhenden Zustimmung und Anerkennung ihres Anspruchs und ihrer Botschaft, sondern es handelt sich dabei um viel mehr, nämlich um den unverbrüchlichen Glauben an das Gelingen des Wunders der Selbstverwandlung mit ihrer Hilfe und daraus heraus auch an die Verwandlung und Veredelung der äußeren Welt; es handelt sich um den Glauben an die Möglichkeit des Erlebens Gottes im eigenen Inneren durch Befolgung Seiner Gebote und Selbstaufopferung auf Seinem Pfade, um den Glauben im Sinne jenes „Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn“, der eine dauernde innere Kraftprobe darstellt im Hinblick auf die Tatsache, daß die Einflüsse der Materie, die „Fürsten und Gewaltigen dieser Erde“ alles daran setzen, um diesen Glauben in jedem Augenblick in uns zum Erlahmen zu bringen oder in falsche Bahnen zu leiten; es handelt sich um den Glauben, der durch das Selbsterleben des Geglaubten schließlich zur Gewißheit wird, die auch „die Pforten der Hö11e nicht mehr zu überwältigen vermögen“. „Bedenket“, sagt 'Abdu'l-Bahá einmal, „daß, wo dies auch nur von zwei Personen erreicht wird, die Geisteskraft dieser zwei Menschen so viel wert ist wie die ganze Welt“19).
Damit wären wir bereits mitten in
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Betrachtungen über eine zweite Warnung Jesu bei derselben Gelegenheit
angelangt, daß man nämlich denen nicht glauben solle, die da sagen werden:
„Siehe, hier ist Christus, oder da“. Es ist dies das gleiche, wie wenn
Er sagt: „Das Reich Gottes ist nicht da und nicht dort, es ist inwendig in
euch“. „Da“ und „dort“ sind Begriffe des Getrenntseins, sind Bezeichnungen,
die nur in der sichtbaren Welt Gültigkeit haben, in der Welt der Zweiheit,
der Welt der voneinander getrennten Eigenständigkeiten, während
die unsichtbare Welt, die Welt der trotz all ihrer Mannigfaltigkeiten in
sich beschlossenen Einheit diese Begriffe nicht kennt und eben deshalb
ihrerseits von dem nur im zweiheitlichen Denken der äußeren Welt Bewanderten
und Befangenen einfach nicht begriffen wird. Es ist jene Welt,
die der Gesalbte so grandios umschreibt mit den schlichten Worten:
„Der Vater in Mir und Ich in Ihm und ihr in Mir und Ich in euch“.
Desgleichen sagt Er in Seiner ergreifenden Abschiedsansprache an Seine
Jünger: „Wenn ihr Mich kenntet, so kenntet ihr auch Meinen Vater; denn
wer Mich sieht, sieht auch den Vater. . . . Ihr habt gehört, daß Ich euch
gesagt habe: ,Ich gehe hin und komme wieder zu euch'. Hättet ihr Mich lieb,
so würdet ihr euch freuen, daß Ich gesagt habe: ,Ich gehe zum Vater',
denn der Vater ist größer als Ich. . . . Und Ich will den Vater bitten, und Er
wird euch einen anderen Tröster geben, daß Er bei euch bleibe ewiglich:
den Geist der Wahrheit, welchen die Welt nicht empfangen kann, denn sie
sieht Ihn nicht und kennt Ihn nicht. Ihr aber kennet ihn, denn Er bleibt
bei euch und wird in euch sein. Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen.
Ich komme zu euch. . . . An dem Tage werdet ihr erkennen, daß Ich in
Meinem Vater bin und ihr in Mir und Ich in euch. Wer Meine Gebote
hat und sie hält, der ist’s, der Mich liebt. Wer Mich aber liebt, der wird
von Meinem Vater geliebt werden, und Ich werde ihn lieben und Mich
ihm offenbaren. . . . Mein Vater und Ich werden zu ihm kommen und
Wohnung hei ihm nehmen. Wer Mich aber nicht liebt, der hält Meine Worte
nicht. Solches habe Ich zu euch geredet, solange Ich bei euch gewesen
bin. . . . Wenn aber der Tröster kommen wird, welchen Ich euch senden
werde vom Vater, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, der wird
zeugen von Mir und wird euch alles lehren und euch an alles erinnern,
was Ich euch gesagt habe. . . . Es ist gut, daß Ich hingehe, denn so Ich
nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch; so Ich aber gehe, will
Ich Ihn zu euch senden. . . . Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt
es jetzt nicht ertragen. Wenn aber Jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird,
der wird euch in alle Wahrheit leiten. . . . Ich habe zu euch in
Gleichnissen geredet. Es kommt aber die Zeit, da Ich nicht mehr in
Gleichnissen mit euch reden, sondern euch frei herausverkünden
werde von Meinem Vater.“
Diese Worte und Verheißungen Christi haben, wie stets das Wort des
Gottgesandten, eine innere und eine äußere Bedeutung. Einmal beziehen
sie sich auf die geistige Entwicklung des Einzelmenschen, der durch
wirklich ernsthaftes Leben der göttlichen Lehre, zu der er sich bekennt, des
heiligen Geistes, des Geistes der Wahrheit, des Trösters, des dauernden
Pfingsterlebens, der Gnadengaben des
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Vaters, oder wie man es sonst nennen will, in sich teilhaftig wird, denn, wie
'Abdu'l-Bahá ausdrücklich betont, kann ein Mensch auf diese Weise
schon ein wahrer Bahá’í sein, ohne je etwas von Bahá’u’lláh gehört zu
hahen20). Außerdem aber haben die erwähnten Worte Christi die
ganze Menschheitsentwicklung im Auge, insonderheit das dereinstige Kommen
des Vaters in äußerer Offenbarungsform, das Kommen des Vaters, der in
alle Wahrheit leiten und das sagen wird, was der Sohn selbst noch nicht
sagen konnte, da die Menschen Seiner Zeit es noch nicht verstanden hätten.
So verkünden also wir Anhänger Bahá’u’lláh’s den Vater wie den Sohn nicht da und dort in irgendeinem Himmel über und außerhalb von uns, noch gar in einem Gotteshaus aus Stein, in letzter Wirklichkeit auch nicht in einem selbst noch so hehren Tempel aus Fleisch und Blut in der Gefängnisstadt von 'Akká, sondern wir verkünden den Vater und den Sohn im Menschen selbst, wo allein Sie von einem jeden wahrhaft gefunden werden können. Wer Sie hier nicht findet, findet Sie nimmermehr, auch wenn er Ihnen ein Leben lang im heiligen Lande zu Füßen gesessen hätte. — In dem Apostel Philippus der Abschiedsnacht zeigt sich uns die Verkörperung solches noch „da und dort“ und noch nicht „in sich selbst“ Suchens. Wie schmerzerfüllt klingt die Antwort seines Meisters auf seine Bitte hin, ihnen den Vater zu zeigen: „Wie lange bin Ich nun schon unter euch, und du kennst Mich immer noch nicht, Philippus! Deshalb ist es gut, daß Ich von euch gehe“, nämlich damit sie wahren Glaubens teilhaftig würden. — Aus demselben heraus ist auch die große Traurigkeit zu verstehen, die 'Abdu’l-Bahá jedesmal befiel, wenn Pilger hei der persönlichen Verabschiedung von Ihm weinten und klagten. So bildet das persönliche Bekanntgewordensein mit einem Meister oder auch ein gütiges Schreiben aus Seiner Hand, bei aller damit verbundenen hohen Gnade, gleichzeitig eine nicht geringe Gefahr für die geistige Entwicklung des Betreffenden insofern, als er, sei es auch nur aus unterbewußtem menschlichen Denken und Fühlen heraus, unter Umständen sein ganzes Leben lang von solchem äußeren Eindruck nicht loskommt und damit nicht zu Seiner wahren Begegnung in seinem Inneren gelangt. Ohne selbst erfaßt und beseelt zu sein von Ihrem Wesen der Heiligung, von ständigem inneren Ringen um Befreiung aus den Ketten des niederen Selbstes, getrieben von einer nie versiegenden Sehnsucht nach immer wachsender eigener Ausstrahlung Ihrer göttlichen Eigenschaften, ohne wahre Nachfolge also wird es nie zur Begegnung des Menschen mit Gott kommen, sondern es wird auch im besten Fall nur immer ein Hin- und Herpendeln sein zwischen Wunsch und Einbildung. Und wenn dann Prüfungsstürme kommen, ist es plötzlich geschehen um die vermeintliche Gottverbundenheit und Gottwohlgefälligkeit. — —
Die wenn auch umschriebene, so doch wohl deutlichste Vorhersage
Christi in bezug auf das dereinstige Kommen des Vaters enthält Sein
Gleichnis vom Hausvater, der einen Weinberg anlegte, ihn den Weingärtnern
zur Pflege übergab und von Zeit zu Zeit seine Knechte sandte, um die
Früchte einzufordern. Anstatt aber solche auszuliefern, marterten und
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töteten die Weingärtner jeweils die Knechte. Da sandte der Vater seinen
Sohn; doch auch diesen töteten sie, indem sie ihn kreuzigten. Und nun
kommt aus dem Munde des Sohnes die Frage, die an Deutlichkeit wohl
nichts vermissen läßt: „Wenn nun der Herr des Weinbergs“, also sein Vater,
„selber kommen wird, was wird er diesen Weingärtnern tun?“ Enthält
diese Frage nicht eine unzweideutige Vorbereitung auf das Kommen des
Vaters selbst, die den Irrtum jener Meinung nachweist, als sei mit der
Mission des Sohnes das göttliche Offenbarungs- und Erlösungswerk an der
Menschheit ein für allemal abgeschlossen? Und die Antwort auf Seine
Frage, die Seiner Heiligkeit Christus daran anschließend zum Teil selbst
in den Mund gelegt wird, müßte allerorts ernstlich zu denken geben.
Heute aber, wo der Vater selbst von den Menschen die Früchte aus der Mission des Sohnes fordert — wo sind sie, diese Früchte?! — heute erscheint in Flammenschrift am Horizont der neu aufgegangenen Wahrheitssonne der Spruch des Gerichts: Wer Mich sieht, der hat auch den Sohn erkannt, und wer Mich nicht erkennt, der hat den Sohn nie gesehen, wie Er gesehen sein will. Darum kommet herzu, ihr Menschenkinder, und prüfet! Es geht um euer Heil, nicht um das Unsrige!
1) Bahá’í-Monatsschrift „Sonne der Wahrheit“ (abgekürzt: S.d.W.),
Jahrgang X, Seite 123 f.
2) D. h. die Gottesoffenbarer, Gottgesandten.
3) Koran 2, 285.
4) Einer der beiden Paradiesströme.
5) Satz der muhammedanischen Überlieferung.
6) S. d. W., Jahrg. XI, Seite 3 f.
7) Koran 2, 254.
8) Koran 18, 110; Hadith 226.
9) Koran 8, 17; Gott sagt dies zu Muhammad.
10) Koran 48, 10.
11) Koran 33, 40.
12) Koran 33, 40.
13) S. d. W., Jahrg. X, Heft 3, Seite 2.
14) Im griechischen Urtext des Neuen Testaments steht an dieser Stelle (Matth. 24, 3) für das Wort Welt nicht wie an anderen Stellen, wo auch von der Welt die Bede ist, „kosmos“ oder „gä“ (Erde), sondem „aion“, das heißt soviel wie Zeitraum, Zeitalter, Ära, Epoche, Weltperiode. Das gleiche ist der Fall an folgenden Stellen: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Matth. 28, 20) und „Des Menschen Sohn ist’s, der da guten Samen sät. Der Acker ist die Welt (kosmos). Die Ernte ist das Ende der Welt“ (lies: das Ende der Epoche -—— tu aionos). (Matth. 13, 37 ff.)
Über die vergangenen Offenbarungsepochen und die Ablieferung ihrer Ernten bis zum Beginn der Epoche des „Vaters“ siehe das Gleichnis vom Hausvater, der einen Weinberg pflanzte (Matth. 21, 33 ff.).
Das Wort syntéleia, das jeweils mit dem Wort Ende in „Ende der Welt“ wiedergegeben ist, hat zwei Bedeutungen: 1. Ziel, Ende, Vollendung; 2. gemeinschaftliche Abgabenentrichtung. „Ende der Welt“ bedeutet also soviel wie Abrechnungstag der Offenbarungsepoche.
15) Offenbarung Johamnis 3, 12.
16) Shoghi Effendi, „The Dispensation of Bahá’u’lláh“, Kapitel Bahá’u’lláh, etwa Ende des zweiten Drittels.
17) 'Abdu'l-Bahá, „Beantwortete Fragen“, 26. Kapitel.
18) S. d. W., Jahrg. X, Heft 3, Seite 3 ff.
19) S. d. W., Jahrg. XVIII, Seite 48 r. o.
20) S. d. W., Jahrg. III, Seite 88 r. o.
ÄHRENLESE AUS DEN SCHRIFTEN VON BAHA’U’LLAH[Bearbeiten]
Nach der englischen Übersetzung von Shogi Effendi (New York, Bahá’í Publishing Committee 1935) ins Deutsche übertragen.
Sprich: Die Himmel sind verhüllt und die Erde wird in Seiner Gewalt
gehalten und die Verführten wurden bei ihrem Stirnhaar erfaßt, und noch
immer verstehen sie nicht. Sie trinken vom verseuchten Wasser und wissen es
nicht. Sprich: Der Jubelschrei erklang und die Menschen sind aus ihren
Gräbern getreten und schauen um sich, während sie sich erheben. Einige
haben sich beeilt, um den Hof des Gottes des Erbarmens zu erreichen, andere
sind im Höllenfeuer auf ihr Antlitz niedergesunken, während noch andere
sich in Bestürzung verloren. Die Verse Gottes wurden geoffenbart, und dennoch
haben sie sich von ihnen abgewandt. Sein Beweis ist erbracht, und dennoch
achten sie seiner nicht. Und sobald sie das Antlitz des Allbarmherzigen
schauen, sind ihre eigenen Angesichter dunkel, derweil sie sich ergötzen. Sie
eilen dem Höllenfeuer entgegen und halten es fälschlich für Licht. Fern von
Gott sei, was sie so närrisch ersinnen! Sprich: Ob ihr euch freut, oder ob
ihr vor Wut zerberstet, die Himmel sind zerteilt und Gott ist herniedergekommen,
ausgestattet mit strahlender Herrschaft. Alles Erschaffene ruft aus:
„Das Reich ist Gottes, des Allmächtigen, des Allwissenden, des Allweisen.“
Wisse ferner, daß Wir in ein schmachvolles Gefängnis geworfen wurden
und Wir als Ergebnis dessen, was die Hände der Ungläubigen taten, von den
Heerscharen der Tyrannei umgeben sind. Die Freude jedoch, die der Jüngling
gekostet hat, ist derart, daß kein irdisches Glück sich mit ihr vergleichen
kann. Bei Gott! Der Harm, den Er unter den Händen des Unterdrückers
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DAS WORT GOTTES[Bearbeiten]
Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängt. Es ist der Geist der Wirklichkeit und das Wasser des Lebens. Ihm verdanken alle Dinge ihr Dasein. Es offenbart sich stets nach der Fähigkeit und Farbe des Spiegels, der es zurückstrahlt. Wird zum Beispiel sein Licht auf den Spiegel des Weisen geworfen, so bringt es Weisheit zum Ausdruck. Wird es vom Geist des Künstlers widergespiegelt, so schafft es Offenbarungen neuer und schöner Künste. Leuchtet es durch den Geist des Forschenden, so offenbart es Wissen und enthüllt es Geheimnisse.
Alle Dinge der Welt erheben sich durch den Menschen und sind in ihm offenbar, durch den sie Leben und Entwicklung finden; und der Mensch hängt in seinem geistigen Dasein von der Sonne des Wortes Gottes ab. Alle guten Namen und erhabenen Taten kommen aus diesem Wort. Das Wort ist das Feuer Gottes, das in den Herzen der Menschen glüht und alles verbrennt, was nicht von Gott ist. Der Geist der Liebenden ist immer von diesem Feuer entflammt. Es ist das Wesen des Wassers, das sich in der Gestalt des Feuers offenbarte. Äußerlich ist es brennendes Feuer, innerlich dagegen ruhiges Licht. Dies ist das Wasser, das allen Klarheit verleiht.
Wir bitten Gott, an dem lebenspendenden Wasser des Himmels teilhaben und aus dem geistigen Kelch der Ruhe trinken zu dürfen, und so frei zu sein von allem, was uns hindern könnte, uns Seiner Liebe zu nähern. Ruhm sei dem Volk der Herrlichkeit!
- Bahá’u’lláh*)
- *) (Aus: David Hofmann, SELECTIONS FROM BAHA’I SCRIPTURE, London, Bahá’í Publishing Trust, 1941; aus dem Englischen ins Deutsche übertragen.)
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erleidet, kann Sein Herz nie bekümmern, noch kann Ihn die Gewalt solcher
betrüben, die Seine Wahrheit verwarfen.
Sprich: Trübsal ist ein Horizont Meiner Offenbarung. Die Sonne der Gnade leuchtet über ihm und strahlt ein Licht aus, das die Wolken der eitlen Einbildungen der Menschen ebensowenig verdunkeln können, wie die falschen Vorstellungen des Angreifers.
Folge den Fußtapfen deines Herrn und gedenke Seiner Diener, so, wie Er deiner gedenkt, unbeirrt durch das Geschrei der Achtlosen und das Schwert des Feindes . . . Verbreite die süßen Düfte deines Herrn und zögere nicht, und sei es auch weniger als einen Augenblick lang, im Dienste Seiner Sache. Der Tag nähert sich, da der Sieg deines Herrn, des Immervergebenden, des Großmütigsten, verkündet werden wird.
XVIII. Sprich: Wir hießen die Ströme göttlicher Äußerung unter Unserem Throne hervortreten, auf daß die zarten Kräuter der Weisheit und des Verstehens aus dem Boden eures Herzens sprießen. Wollt ihr nicht dankbar sein? Diejenigen, die es verschmähen, ihren Herrn anzubeten, werden zu denen gehören, die verstoßen sind. Und oft verharren sie, wenn Unsere Verse ihnen vorgetragen werden, in stolzer Verachtung und in großer Verletzung Seines Gesetzes und wissen es nicht. Diejenigen, die nicht an Ihn geglaubt haben, werden sich im Schatten eines schwarzen Rauches befinden. „Die Stunde“ ist über sie hereingebrochen, während sie sich ergötzen. Sie wurden bei ihrem Stirnhaar erfaßt und wissen es dennoch nicht.
Das, was kommen mußte, ist plötzlich da — siehe, wie sie davor fliehen! Das Unvermeidliche ist geschehen - bezeuge, wie sie es hinter sich geworfen haben! Dies ist der Tag, an dem jeder Mensch vor sich selber fliehen wird, wie viel mehr noch vor seinem Geschlechte - könntet ihr es doch erkennen! Sprich: Bei Gott! Der Posaunenruf ist erschollen und siehe, die Menschheit ist vor Uns in Ohnmacht gesunken! Laut hat der Herold gerufen und der Vorlader erhob seine Stimme und sprach: „Das Reich ist Gottes, des Machtvollsten, des Helfers in Gefahr, des Selbstbestehenden.“
Dies ist der Tag, an dem alle Augen in Entsetzen erstarren, der Tag, an dem die Herzen derer, die auf Erden wohnen, erzittern außer jenen, die zu erlösen dein Herr, der Allwissende, der Allweise, geruhte. Die Angesichter aller haben sich verdunkelt außer denen, welchen der Gott der Gnade ein strahlendes Herz gegeben hat. Trunken sind die Augen jener Menschen, die sich offen geweigert haben, das Antlitz Gottes, des Allherrlichen, des Allgepriesenen, zu schauen.
Sprich: Habt ihr den Qur’án nicht aufmerksam gelesen? So vertieft euch doch in ihn, damit ihr vielleicht die Wahrheit erkennt, denn dieses Buch ist wahrlich der rechte Pfad. Es ist der Weg Gottes für alle, die in den Himmeln und auf Erden sind. Wenn ihr auch dem Qur’án gegenüber gleichgültig waret, so könnt ihr den Bayán nicht wie etwas, das euch fremd ist, betrachten. Siehe, . er öffnet sich vor euren Augen! Leset seine Verse, damit ihr vielleicht davon abstehet zu tun, was die Boten Gottes zum Wehklagen und Trauern brächte.
Eilet aus euern Gräbern hervor! Wie lange wollt ihr denn noch schlafen?
Der zweite Posaunenruf ist erschollen. Auf wen blickt ihr denn noch? Dies ist
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euer Herr, der Gott der Gnade. Seht, wie ihr Seine Zeichen leugnet! Die Erde
erbebt in einem großen Beben und schleudert ihre Bürden von sich. Wollt
ihr es denn nicht zugeben? Sprich: Wollt ihr nicht erkennen, wie die Berge
Wollflocken gleich werden, wie die Menschen schwer beunruhigt sind über die
furchtbare Majestät der Sache Gottes? Sehet, wie ihre Häuser leere Ruinen
und sie selber ein ertrunkener Schwarm sind.
Dies ist der Tag, an dem der Allbarmherzige in den Wolken der Erkenntnis herniedergekommen ist, bekleidet mit offenbarer Herrschaft. Er kennt die Taten der Menschen wohl. Er ist es, dessen Herrlichkeit niemand verkennen kann - könntet ihr es doch begreifen! Der Himmel jeder Religion ist zerrissen und die Erde menschlichen Begreifens auseinandergespalten, und die Engel Gottes siehst du herabsteigen. Sprich: dies ist der Tag gegenseitigen Betruges. Wohin entfliehest du? Die Gebirge sind dahingeschwunden und die Himmel wurden verhüllt und die ganze Erde wird in Seiner Gewalt gehalten - könntet ihr es doch verstehen! Wer ist es, der euch beschützen könnte? Niemand — bei Ihm, dem Allbarmherzigen! Niemand außer Gott, dem Allmächtigen, dem Allherrlichen, dem Wohltätigen. Jedes Weib, das eine Bürde in seinem Schoße trug, hat seine Bürde abgeworfen. Wir sehen die Menschen an diesem Tage trunken, dem Tag, an dem Menschen und Engel miteinander versammelt wurden.
Sprich: Besteht irgendein Zweifel über Gott? Siehe, wie Er vom Himmel Seiner Gunst herniederkam, mit Macht gegürtet und mit Herrschaft bekleidet! Gibt es irgendeinen Zweifel über Seine Zeichen? Öffnet eure Augen und schaut Seinen deutlichen Beweis. Das Paradies ist zu eurer Rechten und euch nabegebracht, während die Hölle zur Glut entfacht wurde. Seid Zeugen ihrer verzehrenden Flamme. Beeilet euch, das Paradies zu betreten als ein Zeichen Unserer Gnade für euch, und trinket aus den Händen des Allbarmherzigen den Wein, der in Wahrheit Leben ist.
Trinke mit Hochgenuß, o Volk Bahá’s. Du bist in der Tat das wohlgelittene. Dies ist, was jene erreichten, die nahen Zutritt bei Gott haben. Dies ist das strömende Wasser, das euch im Qu’án und später im Bayán als Belohnung von eurem Herrn verheißen wurde, dem Gott der Barmherzigkeit. Gesegnet sind die, so es trinken.
O Mein Diener, der du Mir dein Gesicht zugewandt hast! Danke Gott, daß Er dir diese Schrift in dieses Gefängnis niedersandte, auf daß du die Menschen an die Tage deines Herrn, des Allherrlichen, des Allwissenden, gemahnest. Also haben Wir für dich durch die Wasser Unserer Weisheit und Äußerung die Grundlagen deines Glaubens errichtet. Dies wahrlich, ist das Wasser, auf dem der Thron deines Herrn erhoben wurde. „Sein Thron stand auf den Wassern.“ Sinne im Herzen darüber nach, damit du seine Bedeutung begreifest. Sprich: Preis sei Gott, dem Herrn aller Welten.
XIX. Jedem einsichtsvollen und erleuchteten Herzen ist es offenbar, daß
Gott, das unfaßbare Wesen, das göttliche Sein, unermeßlich erhaben über
jede menschliche Eigenschaft wie körperliches Dasein, Aufstieg und Abstieg,
Austritt und Eintritt erhaben ist. Fern sei Seiner Herrlichkeit, daß die
menschliche Zunge Seinen Ruhm angemessen künde und das menschliche
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Herz sein unergründliches Geheimnis erfasse. Er ist immer in die Urewigkeit
Seines Wesens gehüllt gewesen und bleibt dies und wird in Seiner Wirklichkeit
ewiglich vor den Augen der Menschen verborgen bleiben. „Keine Erscheinung
umfaßt Ihn, aber Er umfaßt alle Erscheinung. Er ist der Scharfsinnige, der
Alleswahrnehmende.“ . . .
Da das Tor der Erkenntnis des Urewigen Tages dem Angesicht aller Wesen also verschlossen war, hat die Quelle unendlicher Gnade in Übereinstimmung mit Seiner Erklärung „Seine Gnade hat alle Dinge überragt; Meine Gnade hat sie alle umfaßt“, jene leuchtenden Edelsteine der Heiligkeit veranlaßt, aus dem Reich des Geistes in der edlen Form des menschlichen Tempels in Erscheinung zu treten und allen Menschen offenbar zu werden, damit sie der Welt die Geheimnisse des unveränderlichen Seins übermitteln und von der Klarheit Seines unvergänglichen Wesens berichten.
Diese geheiligten Spiegel, diese Morgenröten urewiger Herrlichkeit sind allesamt auf Erden die Vertreter von Ihm, dem Mittelpunktsgestirn des Weltalls, sein Wesen und letztes Ziel. Aus Ihm entspringen ihr Wissen und ihre Macht, von Ihm stammt ihre Herrschaft. Die Schönheit ihres Angesichts ist nur ein Abglanz Seines Bildes und ihre Offenbarung ein Zeichen Seiner unvergänglichen Herrlichkeit. Sie sind die Schatzkammern göttlicher Erkenntnis und die Verwahrungsorte himmlischer Weisheit. Durch sie wird eine Gnade vermittelt, die unendlich ist, und von ihnen wird das Licht enthüllt, das nie erlöschen kann . . . Diese Worte der Heiligkeit, diese ersten Spiegel, die das Licht unvergänglicher Herrlichkeit widerstrahlen, sind nur der Ausdruck Seiner, des Unsichtbaren der Unsichtbaren. Durch die Offenbarung dieser Edelsteine göttlicher Tugend werden alle Namen und Attribute Gottes, wie Erkenntnis und Macht, Oberhoheit und Herrschaft, Barmherzigkeit und Weisheit, Herrlichkeit, Güte und Gnade offenbar.
Diese Eigenschaften Gottes werden und wurden nie gewissen Propheten gewährt und anderen vorenthalten. Nein, alle Propheten Gottes, Seine Vielgeliebten, Seine Heiligen und erwählten Boten sind vielmehr ohne Ausnahme die Träger Seiner Namen und die Verkörperungen Seiner Attribute. Sie unterscheiden sich nur im Grade ihrer Offenbarung und der verschieden gesteigerten Kraft ihres Lichtes, so wie Er geoffenbart hat: „Wir haben veranlaßt, daß einige der Glaubensboten die anderen überragen.“
Es hat sich daher gezeigt und erwiesen, daß in dem Heiligtum dieser
Propheten und Erwählten Gottes das Licht Seiner unendlichen Namen und
erhabenen Kennzeichen zurückgestrahlt wurde, ob nun das Licht einiger dieser
Kennzeichen aus diesen leuchtenden Tempeln den Augen der Menschen
äußerlich enthüllt worden sein mag oder nicht. Daß ein gewisses Kennzeichen
Gottes durch diese Wesen der Loslösung äußerlich nicht geoffenbart wurde,
besagt in keiner Weise, daß sie, die Tagesanbrüche der Kennzeichen Gottes
und die Schatzkammern Seiner heiligen Namen, sie nicht tatsächlich auch
besaßen. Daher sind diese erleuchteten Seelen, diese wunderbaren Angesichter,
allesamt mit allen Attributen Gottes, wie Oberhoheit, Herrschaft und
dergleichen ausgestattet, wenn sie auch dem äußeren Anschein nach aller
irdischen Majestät beraubt sind . . .
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XX. Wisse wahrlich, daß der Unsichtbare in keiner Weise Sein Wesen mit Fleisch bekleiden und es den Menschen offenbaren kann. Er ist immer unermeßlich erhaben über allem gewesen, was berichtet werden kann oder was wahrnehmbar ist. Von Seinem Ruhesitz der Herrlichkeit aus verkündet Seine Stimme immer wieder: „Wahrlich, ich bin Gott. Es ist kein Gott außer Mir, dem Allwissenden, dem Allweisen. Ich habe Mich den Menschen enthüllt und habe Ihn herabgesandt, den Morgen der Zeichen Meiner Offenbarung. Durch Ihn ließ ich die ganze Schöpfung dessen Zeuge sein, daß kein Gott ist außer ihm, dem Unvergleichlichen, dem Allunterrichteten, dem Allweisen.“ Er, der ewiglich vor den Augen der Menschen verborgen ist, kann niemals, außer durch Seine Manifestation, bekannt werden, und Seine Manifestation kann keinen größeren Beweis Für die Echtheit ihrer Sendung erbringen, als den Beweis ihrer eigenen Person.
XXI. O Salmán! Das Tor der Erkenntnis des Urewigen Seins ist immer vor dem Angesicht der Menschen verschlossen gewesen und wird es auch immer bleiben. Keines Menschen Begreifen wird jemals Zutritt zu Seinem heiligen Hofe gewinnen. Als ein Zeichen Seiner Barmherzigkeit und als Beweis Seiner göttlichen Gnade hat Er jedoch den Menschen die Sonnen Seiner göttlichen Führung enthüllt, die Sinnbilder Seiner göttlichen Einheit, und hat bestimmt, daß die Erkenntnis dieser geheiligten Wesen mit der Erkenntnis Seines eigenen Selbstes gleichbedeutend ist. Wer sie erkennt, hat Gott erkannt. Wer ihrem Rufe lauscht, hat der Stimme Gottes gelauscht, und wer die Wahrheit ihrer Offenbarung bezeugt, hat die Wahrheit Gottes selbst bezeugt. Wer sich von ihnen abwendet, hat sich von Gott abgewandt, und wer nicht an sie glaubt, hat nicht an Gott geglaubt. Jeder von ihnen ist der Weg Gottes, der diese Welt mit den Reichen droben verbindet, und der Maßstab Seiner Wahrheit für jeden in den Reichen der Erde und des Himmels. Sie sind die Offenbarungen Gottes unter den Menschen, die Beweise Seiner Wahrheit und die Zeichen Seiner Herrlichkeit. (Fortsetzung folgt)
GÖTTLICHE LEBENSKUNST[Bearbeiten]
5. KAPITEL: DIE MACHT DES HEILIGEN GEISTES
(Fortsetzung)
Was ist der Heilige Geist?
Der Heilige Geist ist der Vermittler zwischen Gott und Seinen Geschöpfen.
Er gleicht einem Spiegel, der der Sonne zugewandt ist. Wie der reine
Spiegel das Licht von der Sonne empfängt und ihre Strahlen auf andere
Gegenstände überträgt, so ist der Heilige Geist der Vermittler des heiligen
Lichtes der Sonne der Wirklichkeit, das er den geheiligten Wesen gibt. Er
ist geschmückt mit allen göttlichen Vortrefflichkeiten. So oft er erscheint,
wird die Welt erneuert und ein neuer Zyklus gegründet. Der Körper der
Menschheit legt ein neues Gewand an. Dies kann verglichen werden mit dem
Frühling; so oft dieser kommt, tritt die Welt von einem Zustand in einen
andern ein. Durch das Kommen der Frühlingszeit wird die Erde grün und
blühend und alle Arten von Blumen und wohlriechenden Kräutern wachsen;
die Bäume bekommen neues Leben und neue Früchte erscheinen, ein
neuer Zyklus ist gegründet. Mit dem
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Erscheinen des Heiligen Geistes ist es ebenso; so oft er erscheint, erneut er
die Menschheit und gibt den menschlichen Seelen ein neues Leben, er kleidet
die Welt in ein lobenswertes Gewand, vertreibt die Finsternis der
Unwissenheit und verursacht das Leuchten des Lichts der Vollkommenheit.
Mit dieser Macht hat Christus den geistigen Zyklus erneuert, der
himmlische Frühling breitete sein Zelt mit höchster Frische und Lieblichkeit
unter der Menschheit aus, und die lebengebenden Düfte durchströmten alle
Erleuchteten.
So gleicht auch das Erscheinen Bahá’u’lláh’s einer neuen Frühlingszeit, die mit heiligen Düften, mit den Heerscharen des ewigen Lebens und mit himmlischer Macht erschien. Sein Kommen errichtete den Thron des göttlichen Königreiches im Mittelpunkt der Welt, und durch die Macht des Heiligen Geistes belebte Er die Seelen und gründete ein neues Zeitalter. (1)
Die göttliche Wirklichkeit ist unausdenkbar, grenzenlos, ewig, unsterblich und unsichtbar.
Die erschaffene Welt ist den Naturgesetzen unterworfen, sie ist endlich und sterblich.
Man kann nicht sagen, daß die unendliche Wirklichkeit auf irgend etwas zurückgehe oder von irgendwoher stamme. Sie ist jenseits des menschlichen Begriffsvermögens und kann nicht in Ausdrücken geschildert werden, die sich auf Vorgänge im Erscheinungsbereich der erschaffenen Welt beziehen.
Die Menschheit ist also ganz und gar auf die einzige Kraft angewiesen, durch welche ihr die Hilfe der göttlichen Wirklichkeit zuteil werden kann, denn allein vermittels dieser Kraft kann sie mit der Quelle in Berührung kommen, aus der alles Leben strömt.
Um die beiden Gegenpole in Verbindung zu bringen, ist ein Mittler erforderlich. Reichtum und Armut, Fülle und Mangel — ohne eine vermittelnde Kraft kann es keine Beziehung zwischen diesen Gegensätzen geben.
So können wir also auch sagen, daß es einen Mittler zwischen Gott und Mensch geben muß, und dieser ist eben der Heilige Geist, der die Schöpfung mit dem „Unausdenklichen“, mit der göttlichen Wirklichkeit in Verbindung bringt.
Die göttliche Wirklichkeit läßt sich mit der Sonne vergleichen und der Heilige Geist mit den Sonnenstrahlen. So wie die Sonnenstrahlen Licht und Wärme der Sonne zur Erde tragen, allen Geschöpfen Leben spendend, so sind die „Manifestationen“ Träger des Heiligen Geistes, von der göttlichen Sonne der Wirklichkeit entsandt, um den Menschenseelen Licht und Leben zu bringen.
Der Heilige Geist ist es, welcher durch den Mund der Gottesboten, der Propheten, die Menschheit in den geistigen Tugenden unterweist und sie befähigt, ewiges Leben zu erlangen. (2)
Es ist klar, daß die Seelen Gnade empfangen vom Heiligen Geist, der in den Manifestationen Gottes erscheint, und nicht von der Persönlichkeit der Manifestation. (3)
. . . Materielle Quellen sind es nicht, die den Menschengeist erleuchten und
beflügeln, und keine Erforschung der Erscheinungen der materiellen Welt
kann ihn zu neuem Leben wecken. Der Menschengeist braucht den Schutz
des Heiligen Geistes. In dem Maße, als er fortschreitend aus der rein
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natürlichen Daseinswelt sich in den Bereich des Verstandes hineinbegibt,
muß er sich auch in sittlichen Eigenschaften und geistigen Gaben
höherentwickeln. In diesen Bestrebungen ist er auf die Gaben des
Heiligen Geistes angewiesen.
Materielle Entwicklung kann mit einer Glühlampe verglichen werden, während göttliche Tugenden und geistiges Empfinden das Licht sind, das in ihrem Inneren leuchtet. Die Glühbirne ist wertlos ohne das Licht; ebenso bedarf auch der Mensch in seiner materiellen Wesenheit der Erleuchtung und Belebung durch die göttlichen Tugenden und gnadenvollen Eigenschaften. Ohne den Heiligen Geist ist er leblos; selbst wenn Körper und Intellekt lebendig sind, so ist er doch geistig tot. Christus hat verkündet: „Was aus dem Fleische geboren wird, ist Fleisch, und was aus dem Geiste geboren wird, ist Geist“, womit Er meint, daß der Mensch wiedergeboren werden muß. So, wie der Säugling in das Licht dieser körperlichen Welt hineingeboren wird, so muß der körperhafte und intellektuelle Mensch in das Licht der göttlichen Welt hineingeboren werden. (4)
Die Kraft des Heiligen Geistes.
Als Christus mit diesem wunderbaren Atem des Heiligen Geistes beseelt hervortrat, da sprachen die Kinder Israel: „Wir sind ganz unabhängig von Ihm, wir können ohne Ihn auskommen und Moses nachfolgen; wir besitzen ein Buch, in dem die Lehre Gottes enthalten ist, wozu brauchen wir also diesen Menschen noch?“ Christus sprach zu Ihnen: „Das Buch allein genügt euch nicht!“ —
Ein Mensch kann ein Buch über Heilkunde besitzen und sagen: „Ich brauche keinen Arzt, ich werde mich nach dem Buch richten; es ist jede Krankheit darin mit Namen genannt, alle Symptome sind erläutert, die Diagnose Für jegliches Leiden ist vollständig gestellt, und gegen jede Krankheit ist ein Rezept gegeben, daher brauche ich gar keinen Arzt!“ Aus diesem Manne spricht die platte Unwissenheit. Es ist ein Arzt erforderlich, um die Heilverfahren zu verschreiben. Erst dank seiner Kunst werden die Grundsätze des Buches richtig und wirksam angewandt, bis die Gesundheit des Patienten wiederhergestellt ist.
Christus war ein himmlischer Arzt. Er brachte der Welt geistige Gesundung und Heilung.
Bahá’u’lláh ist gleichfalls ein göttlicher Arzt. Er offenbarte Vorschriften zur Gesundung des Staatskörpers und heilte die menschlichen Verhältnisse durch geistige Kräfte. (5)
Es ist sehr leicht, die Herrschaft über physische Körper zu erlangen, aber es ist ein schwieriges Unterfangen, Gemütern den Seelenfrieden zu bringen. Es ist dies nicht jedermanns Sache. Hierfür ist eine göttliche, heilige Macht vonnöten, die Macht der Inspiration, die Kraft des Heiligen Geistes. So hatte z. B. Seine Heiligkeit Christus die Gabe, die Gemüter in diese Zuflucht des Seelenfriedens zu führen, die Herzen in diesen Ruhehafen zu lenken. Von dem Tage Seiner Offenbarung an bis zum heutigen Tage hat Er Herzen wiedererweckt und die Gemüter belebt. Er hat diesen belebenden Einfluß im Bereich der Herzen und Geister ausgeübt und daher hat die Wiedererweckung durch Ihn Ewigkeitswert.
In diesem Jahrhundert der „letzten
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Tage“ ist nun Bahá’u’lláh erschienen und hat die Geister so wiederbelebt,
daß sie übermenschliche Kräfte offenbarten. Tausende Seiner Anhänger
haben ihr Leben hingegeben und während sie ihr Blut unter Schwerthieben
verströmten, kündeten sie: „Ya — Bahá’u’l-Abhá!“ („O du Glanz
des Allerherrlichsten!“) Solche Wiedererweckung ist nur durch eine
Macht möglich, die vom Himmel kommt, eine übernatürliche Kraft — die
Gotteskraft des Heiligen Geistes. (6)
Es ist uns klar, daß der Heilige Geist dem Menschenleben geistigen Ansporn verleiht. Wer dieser Kraft teilhaftig wird, vermag jeden zu beeinflussen, mit dem er in Berührung kommt . . .
Der Unterschied zwischen durchgeistigten Philosophen und anderen ist aus dem Verlauf ihres Lebens ersichtlich. Der wahrhaft durchgeistigte Lehrer beweist seinen Glauben an seine eigene Lehre, indem er selbst das vorlebt, was er anderen empfiehlt.
Ein geringer Mensch ohne Bildung, jedoch erfüllt vom Heiligen Geist, ist mächtiger als der gründlichste Gelehrte ohne diese Inspiration. Wer durch Gottes Geist erzogen wurde, kann zu gegebener Zeit auch andere dahin führen, daß sie dieses Geistes teilhaft werden.
Ich bete Für euch, daß ihr durch das Leben des göttlichen Geistes belehrt werden möget und so zum Mittel der Erziehung anderer werdet. Leben und Sitten eines erleuchteten Menschen wirken schon an und für sich erzieherisch auf seine Umgebung.
Grübelt nicht über eure eigene Unzulänglichkeit nach, sondern widmet euch ganz der Arbeit zum Wohle des Reiches der Herrlichkeit! Denkt daran, welchen Einfluß Jesus Christus auf Seine Jünger ausübte, und dann überlegt euch, welche Wirkung diese auf die Welt hatten!
Diese schlichten Menschen waren durch die Kraft des Heiligen Geistes befähigt, die frohe Botschaft zu verbreiten.
So möge denn euch allen göttlicher Beistand zuteil werden, denn Gottes Geist wirkt selbst durch den Schwächsten mächtig. (7)
Wie kann man der Kräfte des Heiligen Geistes teilhaftig werden?
Wisse, daß der Geist des Messias und die Ausgießung des Heiligen Geistes stets gegenwärtig sind, jedoch sind Aufnahmefähigkeit und Vermögen, solche zu empfangen, individuell verschieden. Nach der Kreuzigung vermochten die Jünger das Wesen des Messias noch nicht zu erkennen, denn sie waren erregt. Nachdem sie sich jedoch zu Festigkeit und Standhaftigkeit durchgerungen hatten, öffnete sich ihnen die innere Schau, und sie erfaßten das Wesen des Messias, wie es geoffenbart war. (8)
Eine standhafte Seele wird ein Kind des Gottesreiches und wird mit der Kraft des Heiligen Geistes gestärkt werden. (9)
Der Heilige Geist redet zu den reinen Herzen und rechtschaffenen Gemütern überall auf der Erde . . . Wende dich ganz ihm zu, und du wirst dich von seinem Einfluß und seiner Allmacht, seiner Lebenskraft und der Grüße seiner Bestätigung überzeugen. (10)
Schaue nicht auf deine Schwachheit, sondern vertraue auf die Kraft
des Heiligen Geistes. Wahrlich, er macht den Schwachen stark, den
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Geringen mächtig, das Kind mündig . . . und den Kleinen groß! (ll)
Der Heilige Geist läßt heute seinen Odem einströmen in die Herzen, die ergriffen, hingerissen, rein und von der Liebe zu Gott hingezogen sind. (12)
Ich versichere dir nun, o Diener Gottes, daß, wenn dein Gemüt ledig und rein ist von allen Worten und Gedanken und dein Herz ganz hingezogen ist zum Reiche Gottes, so daß es alles außer Gott vergißt und mit dem Geiste Gottes Zwiesprache hält, daß dann der Heilige Geist dir mit Kräften beistehen wird, die dich in die Lage versetzen werden, alle Dinge zu verstehen (alle Zusammenhänge zu begreifen). Mit einem blendenden Funken, der alles erleuchtet, einer hellen Flamme am Zenit des Himmels, wird er dich belehren über das, was dir an Tatsachen über das Weltall und die göttliche Lehre unbekannt ist. Wahrlich, ich sage dir, jede Seele, die heute aufsteht, um andere auf den sicheren Pfad zu führen und sie mit dem Geiste des Lebens zu tränken, eine jede solche Seele wird der Heilige Geist erfüllen mit Zeugnissen, Beweisen und Tatsachen, und das Licht aus dem Reich Gottes wird auf sie herabstrahlen.
Vergiß nicht, was ich dir durch den Atem des Geistes kundtat! Wahrlich, es ist der strahlende Morgen und die rosige Morgenröte, welche dir dieses Licht mitteilen, die Geheimnisse offenbaren und dir maßgebliches Wissen geben, welche die Bilder der höchsten Welt deinem Herzen einprägen und das Wesen der Geheimnisse des göttlichen Königreiches vor dir erstrahlen lassen werden. (13)
(Fortsetzung folgt)
DER VERHEISSENE TAG IST GEKOMMEN[Bearbeiten]
Von Shoghi Effendi
(Fortsetzung)
Das Schicksal des türkischen Reiches
Ein umwälzendes Geschehen, eines der bemerkenswertesten der neuesten
Geschichte geriet von der Zeit an in Bewegung, da Bahá’u’lláh als Gefangener
in Konstantinopel einem türkischen Beamten Seine an den Sultan
'Abdu’l-Aziz und dessen Minister gerichtete Schrift übergab, die an 'Ali
Pascha, den Großwesir, weitergeleitet werden sollte. Es war die Schrift,
welche, wie durch diesen Beamten bezeugt und durch Nabil in seiner Chronik
bestätigt, den Großwesir so tief ergriff, daß er erbleichte, als er sie las.
Dieses Geschehen erhielt neuen Antrieb, als das Law-i-Ra'is geoffenbart
wurde, am Morgen der letzten der Verbannungen seines Verfassers, von
Adrianopel nach Akka. Unbarmherzig, verheerend, mit immer gesteigerter
Wucht wuchs es sich zum Verhängnis aus, schädigte das Ansehen des
Reiches, zerstückelte sein Gebiet, entthronte seine Sultane, fegte
deren Dynastie hinweg, nahm seinem Kalifen Amt und Würden, löste seine Religion
vom Staat und löschte seinen Ruhm aus. Der „kranke Mann“ Europas,
dessen Zustand von dem göttlichen Arzt unbeirrbar diagnostiziert und
dessen Schicksal als unvermeidlich verkündet war, brach während der
Regierung von fünf Sultanen — alle entartet, alle entthront — als Beute
einer Reihe von Erschütterungen zusammen, die sich am Ende als
verhängnisvoll für sein Leben erwiesen.
[Seite 22]
Das türkische Reich, das unter 'Abdu’l-Majid in das europäische Konzert
aufgenommen und siegreich aus dem Krimkrieg hervorgegangen war,
geriet unter dessen Nachfolger 'Abdu’l-'Aziz in eine Zeit raschen Niedergangs,
die bald nach 'Abdu’l-Bahá’s Heimgang in dem Schicksal endete, das
Gottes Gericht über es ausgesprochen hatte.
Aufstände in Kreta und auf dem Balkan kennzeichneten die Regierung
dieses 32. Sultans seines Geschlechtes, eines Despoten, dessen Gemüt leer,
dessen Leichtsinn ungeheuer war, dessen Ausschweifungen keine Grenzen
kannten. Die östliche Frage trat in ein akutes Stadium. Seine grobe
Mißregierung ließ Bewegungen aufkommen, die weitreichende Wirkungen
auf sein Reich ausüben sollten, während seine fortwährenden, übermäßigen
Anleihen ihn an den Rand des Bankrottes brachten und das System
ausländischer Kontrolle über die Finanzen seines Reiches einleiteten.
Eine Verschwörung, die zu einer Palastrevolution führte, setzte ihn
schließlich ab. Ein Fatwa des Mufti bezichtigte ihn der Unfähigkeit und
der Verschwendung. Vier Tage später wurde er ermordet. Sein Nachfolger
war sein Neffe, Murád V., dessen Geist durch Unmäßigkeit und durch eine
lange Abgeschlossenheit im Gefängnis zu einer Null zusammengeschrumpft
war. Schwachsinnig erklärt, wurde er nach einer Regierung von drei
Monaten abgesetzt und erhielt zum Nachfolger den verschlagenen, schlauen,
argwöhnischen, tyrannischen 'Abdu’l-Hamid II., der „sich als der erbärmlichste,
listigste, unzuverlässigste und grausamste Ränkeschmied des langen
Herrschergeschlechtes der Osmanen erwies“. „Nicht einer wußte“, so steht
über ihn geschrieben, „von einem Tag auf den anderen, wer die Person war,
auf deren Rat hin der Sultan über seine Ministerpuppen schaltete, ob
eine Lieblingsfrau seines Harems oder ein Eunuch oder irgendein fanatischer
Derwisch oder ein Astrolog oder ein Spion.“ Die Unmenschlichkeiten
in Bulgarien eröffneten die finstere Regierung dieses „großen Meuchelmörders“,
die Europa vor Schaudern erzittern ließen und von Gladstone
als „der gemeinste und schwärzeste Schandfleck in der Chronik jenes
(19.) Jahrhunderts“ gekennzeichnet wurde. Der Krieg von 1877—78
beschleunigte den Prozeß der Zerstückelung des Reiches. Nicht weniger
als elf Millionen Menschen wurden vom türkischen Joche befreit.
Russische Truppen besetzten Adrianopel. Serbien, Montenegro
und Rumänien erklärten ihre Unabhängigkeit. Bulgarien wurde ein
Staat mit eigener, wenn auch dem Sultan noch tributpflichtiger
Regierung. Zypern und Ägypten wurden besetzt. Die Franzosen übernahmen
das Protektorat über Tunis. Ostrumelien wurde an Bulgarien abgetreten.
Die Massenahschlachtungen der Armenier, die unmittelbar und mittelbar
hunderttausend Menschen erfaßten, waren nur ein Vorgeschmack der noch
ausgedehnteren Gemetzel, die in einer späteren Regierung folgten. Bosnien
und die Herzegowina gingen an Österreich verloren. Bulgarien erreichte
seine Unabhängigkeit. Allgemeine Verachtung und Haß gegen einen so
schändlichen Herrscher, gleicherweise von seinen christlichen wie von seinen
mohammedanischen Untertanen, gipfelten schließlich in einer raschen und
durchgreifenden Revolution. Der Ausschuß der Jungtürken sicherte sich
von dem Shaykhu’l-Islám die Verurteilung
[Seite 23]
des Sultans. Verlassen und ohne Freunde, verabscheut von seinen
Untertanen und verachtet von den anderen Herrschern, wurde er zur
Abdankung gezwungen und zum Staatsgefangenen gemacht und beschloß so
seine Regierung, die „unheilvoller war durch ihre sofortigen Gebietsverluste
und durch die Gewißheit, daß noch andere folgen werden, und auffallender
durch die Verschlechterung der Lebensbedingungen der Untertanen,
als die irgendeiner anderen seiner dreiundzwanzig entarteten
Vorgänger seit dem Tode Solimans des Prächtigen“.
Das Ende einer so schändlichen Regierung war aber der Beginn einer neuen Zeit, die, wie freudig sie auch zuerst begrüßt wurde, doch nur dazu bestimmt war, Zeuge des Zusammenbruches des wackeligen und wurmstichigen ottomanischen Staates zu sein. Muhammad V., ein Bruder 'Abdu’l-Hamids IL, eine bloße Null, erwies sich als unfähig, den Zustand seiner Untertanen zu verbessern. Die Torheiten seiner Regierung besiegelten schließlich das Schicksal des Reiches. Der Krieg von 1914—18 brachte die Gelegenheit. Militärische Rückschläge ließen die Kräfte hochkommen, die seine Grundlagen untergruben. Während der Krieg noch ausgefochten wurde, deuteten der Abfall des Scheriffs von Mekka und der Aufstand der arabischen Provinzen schon auf die Erschütterungen hin, welche den türkischen Thron bedrohten. Die überstürzte Flucht und völlige Auflösung des Heeres Jamál Paschas, des Oberbefehlshabers in Syrien — der nach seiner siegreichen Rückkehr aus Ägypten geschworen hatte, das Grab Bahá’u’lláh’s dem Erdboden gleich zu machen und den Mittelpunkt des Bundes auf einem Marktplatz in Konstantinopel vor aller Augen zu kreuzigen — war das Signal Für die Rachegöttin, die ein Reich in seiner Not ereilen sollte. Neun Zehntel der großen türkischen Armeen waren dahingeschmolzen. Ein Viertel der ganzen Bevölkerung war durch Krieg, Seuchen, Hunger und Gemetzel umgekommen.
Ein neuer Herrscher, Muhammad VI., der letzte in der Reihe der fünfundzwanzig entarteten Sultane, war einstweilen seinem jämmerlichen Bruder nachgefolgt. Der Bau seines Reiches zitterte und wankte jetzt seinem Sturz entgegen. Mustafa Kamáli gab ihm den Gnadenstoß: die Türkei, nunmehr zu einem kleinen asiatischen Staat zusammengeschrumpft, wurde eine Republik. Der Sultan wurde abgesetzt, das ottomanische Sultanat war zu Ende, ein Herrschertum, das sechseinhalb Jahrhunderte ununterbrochen gedauert hatte, war erloschen. Ein Reich, das sich von der Mitte Ungarns bis zum Persischen Meerbusen und zum Sudan und vom Kaspischen Meer bis Oran in Afrika erstreckt hatte, war nun zu einer kleinen asiatischen Republik herabgesunken. Konstantinopel selbst, das nach dem Fall von Byzanz als die glänzende Metropole des römischen Reiches geehrt und zur Hauptstadt des ottomanischen Reiches gemacht worden war, wurde von seinen einstigen Eroberern aufgegeben und seines Pompes und Ruhmes entkleidet — ein stummer Zeuge der gemeinen Tyrannei, die so lange seinen Thron befleckt hatte.
Das waren in nackten Zügen die so schrecklichen Beweise jener vergeltenden
Gerechtigkeit, die so tragisch 'Abdu’l-Aziz, seine Nachfolger, seinen
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Thron und seine Dynastie befiel. Was geschah nun mit Schah Násiri'd-Din,
dem anderen Partner bei jener kaiserlichen Verschwörung, die den
keimenden Gottesglauben mit Wurzeln und Zweigen auszurotten suchte?
Seine Gegenmaßnahmen auf die ihm von dem furchtlosen Badi, dem „Stolz
der Märtyrer“, der sich aus eigenem Antrieb diesem Zwecke angeboten
hatte, zugetragene göttliche Botschaft hin waren kennzeichnend für jenen
unversöhnlichen Haß, der seine ganze Regierungszeit hindurch so heftig in
seiner Brust glühte.
Göttliche Vergeltung am Hause der Kadscharen
Der französische Kaiser hatte, wie berichtet, Bahá’u’lláh’s Sendschreiben fortgeschleudert und, wie Bahá’u’lláh selbst bestätigt, seinen Minister angewiesen, dem Verfasser eine unehrerbietige Antwort zu erteilen. Der Großwesier von ‘Abdu’l-Aziz — das ist zuverlässig festgestellt — erbleichte, als er die Mitteilung an seinen kaiserlichen Herrn und dessen Minister las, und tat folgende Äußerung: „Es ist, wie wenn der König der Könige seinen Befehl an seinen untersten Vasallenkönig gibt und dessen Verhalten rügt.“ Königin Viktoria soll beim Lesen des für sie geoffenbarten Tablets bemerkt haben: „Wenn dies von Gott ist, wird es fortdauern; wenn nicht, kann es keinen Schaden anrichten.“ Es war jedoch dem Schah Násiri'd-Din vorbehalten, auf Anstiften der Geistlichen hin seine Rache an Ihm, den er nicht länger persönlich strafen konnte, dadurch auszuüben, daß er dessen Boten, einen Jüngling von etwa 17 Jahren, gefangennahm, mit Ketten belud, auf der Folter quälte und schließlich tötete.
Diesem despotischen Herrscher hatte Bahá’u’lláh, der ihn als den „Fürsten der Unterdrücker“ bezeichnete und als einen, der bald zu einem „Schulbeispiel für die Welt“ werden würde, geschrieben: „Blicke auf diesen jungen Mann, o König, mit den Augen der Gerechtigkeit. Urteile sodann aufrichtig, was ihn befallen hat. Wahrlich, Gott hat dich zu Seinem Schatten gemacht unter den Menschen und zum Zeichen Seiner Macht für alle, die auf Erden wohnen.“ Und ferner: „O König! Würdest du dein 0hr dem Ertönen der Feder der Herrlichkeit zuneigen und dem Gurren der Taube der Ewigkeit . . . , so würdest du zu einer Stufe gelangen, von der ans du in der Welt des Daseins nichts als den Glanz des Angebeteten schauen und deine Herrschaft als das verächtlichste deiner Besitztümer ansehen würdest und sie jedem überließest, der sie gerade begehrt, und dein Angesicht dem Horizonte zuwendetest, der im Lichte Seines Antlitzes erglüht.“ Und hinwiederum: „Wir sind jedoch geneigt zu hoffen, daß Seine Majestät der Schah diese Dinge selbst erforschen und den Herzen Hoffnung bringen werde. Was Wir dir unterbreitet haben, dient fürwahr deinem höchsten Gut.“
Diese Hoffnung sollte jedoch unerfüllt bleiben. Sie wurde in der Tat zerschmettert durch eine Regierung, die mit der Hinrichtung des Báb und der Einkerkerung Bahá’u’lláh’s im Siyáh—Chál in Teheran begonnen hatte, durch einen Herrscher, der wiederholt Bahá’u’lláh’s Verbannungen, eine nach der anderen veranlaßt hatte, und durch ein Herrscherhaus, das durch die Abschlachtung von nicht weniger als zwanzigtausend Seiner Anhänger sich besudelt hatte. Des {{page|25|file=Sonne_der_Wahrheit_Jg_19_Nr_03.pdf|page=27} Schahs dramatische Ermordung, die schimpfliche Regierung der letzten Herrscher aus dem Hause der Kadscharen und das Verlöschen dieses Geschlechtes waren die Kennzeichen der göttlichen Vergeltung, welche diese Abscheulichkeiten herausgefordert hatten.
Die Kadscharen aus dem fremden Turkmenenstamme hatten den persischen Thron tatsächlich zu Unrecht an sich gerissen. ‘Aqá Muhammad Khán, der Eunuchenschah und Begründer des Herrscherhauses, war ein so abscheulicher, gieriger, blutdürstiger Tyrann, daß das Andenken keines Persers so verabscheut und allgemein verflucht ist wie das seine. Die Chronik seiner Regierung und der seiner unmittelbaren Nachfolger zeugt von Vandalismus, inneren Kriegen, widerspenstigen und aufrührerischen Häuptlingen, von Räubereien und mittelalterlicher Unterdrückung, während die Annalen späterer Kadscharen durch den Stillstand der Nation, die Unwissenheit des Volkes, die Verdorbenheit und Unfähigkeit der Regierung, die schändlichen Ränke des Hofes, die Entartung der Prinzen, die Verantwortungslosigkeit und Ausschweifungen der Herrscher und ihre elende Unterwürfigkeit einer offenkundig heruntergekommenen Priesterkaste gegenüber gekennzeichnet sind.
Der Nachfolger ‘Aqá Muhammad Kháns, der den Frauen verfallene, nachkommenreiche Schah Fath-‘Ali, der sogenannte „Darius seiner Zeit“, war ein eitler, anmaßender, gewissenloser Lump, berüchtigt wegen der Unzahl seiner Frauen und Kebsweiber, die sich auf über tausend belief, wegen seiner zahllosen Nachkommenschaft und wegen des Unheils, das seine Regierung über das Land brachte. Er war es, der befahl, seinen Wesir, dem er den Thron verdankte, in einen Kessel mit kochendem Öl zu werfen. Was seinen Nachfolger, den frömmelnden Schah Muhammad betrifft, so war einer seiner ersten, von Bahá’u’lláh’s Feder deutlich verdammten Taten der Befehl, seinen obersten Minister, den erlauchten Qa'im-Maqám, durch dieselbe Feder als der „Fürst der Stadt der Staatskunst und Schriftgelehrsamkeit“ unsterbljch geworden, zu erdrosseln und ihn durch den gemeinen, abgefeimten Schurken, Háji Mírzá Aqási, der das Land an den Rand des Bankrotts und der Revolution brachte, zu ersetzen. Es war dieser selbe Schah, der dem Báb eine Unterredung verweigerte und ihn in Aserbeidschan gefangensetzte und der im Alter von vierzig Jahren durch eine Reihe von Krankheiten befallen wurde, denen er erlag, somit das Schicksal beschleunigend, das durch die folgenden Worte im „Qayyumu’l-Asmá“ vorausgesagt war: „Ich schwöre bei Gott, o Schah! Wenn du Ihm, welcher Sein Gedenken ist, Feindschaft erweisest, so wird Gott am Tage der Auferstehung dich vor den Königen verdammen zu höllischem Feuer und du sollst, das ist gewißlich wahr, an jenem Tage keinen Helfer finden außer Gott, dem Erhabenen.“
Schah Násiri'd-Din, ein selbstsüchtiger, launischer, anmaßender Monarch,
folgte auf den Thron und war dazu bestimmt, ein halbes Jahrhundert
lang der einzige Gebieter dieses unglücklichen Landes zu bleiben.
Unheilvolle Geheimnistuerei, chaotische Verwaltung der Provinzen,
Zerrüttung der Finanzen des Reiches, Ränke, Rachsucht und Verruchtheit
der verzärtelten und gierigen Höflinge, die
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seinen Thron umsummten und umschwärmten, und seine eigene
Gewaltherrschaft, die nur aus unterdrückter Furcht vor der öffentlichen Meinung
Europas und dem Wunsche, daß man in den Hauptstädten des Westens gut
über ihn denke, nicht noch grausamer und wilder gewesen war — das waren
die Charakterzüge der blutigen Regierung eines Menschen, der sich selbst
als „Fußpfad des Himmels“ und „Asyl des Weltalls“ bezeichnete. Eine
dreifache Finsternis von Chaos, Bankrott und Unterdrückung hüllte das
Land ein. Seine eigene Ermordung war das erste Vorzeichen der Revolution,
welche die Vorrechte seines Sohnes und Nachfolgers beschränken, die
beiden letzten Herrscher aus dem Hause der Kadscharen absetzen und
ihre Dynastie austilgen sollte. Am Vorabend seines Jubiläums, das ein
neues Zeitalter einweihen sollte und dessen Fest bis ins einzelne
vorbereitet war, fiel er am Grabmal des Schahs ‘Abdu’l-Azim einer Mörderpistole
zum Opfer; sein toter Körper wurde in sein Kapitol zurückgefahren, in der
Königskutsche dem Großwesir gegenüber aufgestützt, um so die Nachricht
seines Mordes hinauszuschieben.
„Es wurde geflüstert“, schreibt ein Augenzeuge sowohl der Zeremonie wie auch der Ermordung, „daß der Festtag des Schahs der größte in der Geschichte Persiens werden sollte . . . Gefangene sollten bedingungslos freigelassen und eine allgemeine Amnestie sollte verkündigt werden; den Bauern wurde Steuerbefreiung für mindestens zwei Jahre versprochen . . . Die Armeen sollten auf Monate hinaus ernährt werden, Minister und Beamte spannen schon ihre Ränke wegen Ehrungen und Pensionen von seiten des Schah. Grabstätten und heilige Plätze sollten ihre Pforten allen Reisenden und Pilgern öffnen und die Siyyids und Mullahs nahmen Hustenarznei ein, um ihre Kehlen zu reinigen für den Preisgesang des Schah auf allen Kanzeln. Die Moscheen wurden ausgekehrt und Für Massenversammlungen und öffentliche Gebete für das Staatsoberhaupt vorbereitet . .. Geweihte Quellen wurden erweitert, um mehr des heiligen Wassers fassen zu können, denn die rechtschaffenen Behörden hatten vorgesehen, daß mit Hilfe dieser Brunnen viele Wunder am Jubiläumstage geschehen könnten . . . Der Schah hatte erklärt . . . daß er auf seine Vorrechte als Alleinherrscher verzichten und Sich zum „majestätischen Vater aller Perser“ erklären würde. Die Stadtbehörde sollte ihre strenge Wachsamkeit mildern. Kein Verzeichnis sollte über die Fremden geführt werden, die in den Karawansereien zusammenströmten, und der Bevölkerung sollte es freistehen, die ganze Nacht durch die Straßen zu wandern. Sogar die großen Mujtahids hatten, soweit durch denselben Augenzeugen berichtet worden ist, beschlossen, für den Augenblick die Verfolgung der Bábi und anderer Ungläubigen zu unterbrechen.“
So fiel der, dessen Regierung für immer mit dem verruchtesten Verbrechen
der Geschichte verbunden sein wird, dem Märtyrertod Dessen, den
die höchste Manifestation Gottes als „Punkt, um den die Wirklichkeiten
der Propheten und Gottgesandten kreisen“, verkündigt hat. In einem
Sendschreiben, worin die Feder Bahá’u’lláh’s den Schah verdammt,
lesen wir: „Unter ihnen (den Königen der Erde) ist es der König von
Persien, der Ihn, den Tempel der
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Sache (den Báb), im Freien aufhängen und hinrichten ließ mit solcher
Grausamkeit, daß alle erschaffenen Dinge und die Bewohner des Paradieses
und die Heerscharen der Höhe um ihn weinten. Noch mehr: er erschlug
etliche von den Unsrigen und plünderte unseren Besitz und machte
unsere Familien zu Gefangenen in den Händen der Unterdrücker. Mehr
als einmal nahm er auch Mich gefangen. Bei Gott, dem Wahren! Keiner
kann das ermessen, was Mich im Kerker befiel, außer Gott, dem Rechner,
dem Allwissenden, dem Allmächtigen. Hernach verbannte er Mich und
Meine Familie aus Meinem Lande, worauf Wir im Irak in offensichtlichem
Kummer anlangten. Wir weilten dort bis zu der Zeit, da der König
von Rum (Sultan der Türkei) sich gegen Uns wandte und Uns vor den
Thron seiner Herrschaft entbot. Als Wir ihn erreichten, kam über Uns
das, worüber sich der König von Persien erfreute. Später betraten Wir
dieses Gefängnis, worin die Hände Unserer Geliebten vom Saume Unseres
Gewandes weggerissen wurden. In solcher Weise ist er mit Uns verfahren.“
Die Tage des Kadscharenhauses waren nun gezählt. Die Erstarrung des Volksgewissens war verschwunden. Die Regierung des Schah Muzaffari'd-Din, Schah Násiri'd-Din’s Nachfolger, eines schwachen und ängstlichen Geschöpfes, verschwenderisch und nachgiebig seinen Höflingen gegenüber, führten das Land die breite Straße zum Verderben. Die Bewegung für eine Verfassung, die die Vorrechte des Oberhauptes beschränkte, gewann an Macht und gipfelte in der Unterzeichnung der Verfassung durch den sterbenden Schah, der wenige Tage später den Geist aufgab. Schah Muhammad-‘Ali, ein Despot schlimmster Sorte, grundsatzlos und geizig, folgte ihm auf den Thron. Verfassungsfeindlich beschleunigte er durch sein rasches Vorgehen mit der Beschießung von Baháristán, wo die Versammlung tagte, eine Revolution, die zu seiner Absetzung durch die Nationalisten führte. Nachdem er nach langem Herumfeilschen eine große Pension angenommen, zog er sich schmählich nach Rußland zurück. Der Königsknabe Schah Ahmad, der ihm nachfolgte, war eine leere Nummer und ohne Sorge um seine Pflichten. Die schreiende Not seines Landes blieb weiterhin unbeachtet. Wachsende Gesetzlosigkeit, die Ohnmacht der Zentralregierung, der Zustand der nationalen Finanzen, die fortschreitende Verschlechterung der allgemeinen Lage des Landes, das tatsächlich im Stich gelassen war von einem Staatsoberhaupt, das die fröhliche Leichtfertigkeit des gesellschaftlichen Lebens in den europäischen Hauptstädten der Erfüllung der ernsten, dringenden, vom Zustand seines Volkes erheischten Verantwortung vorzog, läuteten die Totenglocken einem Herrscherhause, das, wie jeder fühlte, die Krone verwirkt hatte.
- (Fortsetzung folgt)
AUS DER BAHA’I-WELT[Bearbeiten]
Über unser Verhältnis zu den Vereinten Nationen
Wie in Heft 1/2 dieses Jahrgangs, S.63, angekündigt, veröffentlichen wir
nachstehend die dort erwähnte Denkschrift, die als ein Beitrag der Bahá’í
von dem Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í der Vereinigten Staaten und
von Kanada zugleich
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im Namen der Nationalen Geistigen Räte der Bahá’í auf den Britischen Inseln, in
Deutschland, Ägypten and Sudan, Irak, Iran, Indien und Burma, Australien und
Neu-Seeland der „Kommission für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen“ im
Februar 1947 vorgelegt wurde. Inzwischen sind, wie wir von unseren amerikanischen
Freunden hören, weitere Fortschritte in unserer Arbeit mit der UN zu verzeichnen.
Die Bahá’í entsandten Vertreter zu weiteren Konferenzen der UN nach Paris und
San Franzisko sowie zu einer Sitzung in der Universität von Kansas. Das UN-Komitee
des NGR von USA sendet regelmäßig Bahá’í-Literatur an Mitglieder der UN, um diese
in wachsendem Maße mit der Bahá’í-Weltreligion und ihren Lehren bekannt zu machen.
Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in USA ist ermächtigt, die Internationale Bahá’í-Gemeinschaft in der erstrebten und von dem Hüter der Bahá’í-Weltreligion, Shoghi Effendi, Haifa, ausdrücklich gutgeheißenen Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen zu vertreten. Soweit UN-Konferenzen in Ländern stattfinden, die einen Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í haben, erfolgt die Entsendung von Bahá’í-Delegierten im Einvernehmen mit dem zuständigen Nationalen Geistigen Rat (NGR), um zugleich die Vertretung der Internationalen Bahá’í—Gemeinschaft auf eine breite und weltweite Grundlage zu stellen.
Die Bahá’í erblicken in den Zielen und Bemühungen der UN einen „wesentlichen Schritt Für die Errichtung des ,Kleineren Friedens'. Sie enthalten sich deshalb jeder „unbedachten Kritik an der Politik der UN“ and hoffen aufrichtig, daß eine baldige Überwindung der Krisen dieser Weltorganisation im Interesse der Sicherung des Weltfriedens gelingen möge.
Eine Bahá’í-Erklärung der Menschenpflichten und -rechte
- I.
Die Quelle der Menschenrechte ist die Ausstattung mit Eigenschaften, Tugenden und Kräften, die Gott dem Menschen ohne Ansehen des Geschlechtes, der Rasse, des Bekenntnisses und der Nation verliehen hat. Vollen Gebrauch von dieser gottgegebenen Ausstattung zu machen, ist der Daseinszweck des Menschen.
Menscheneinrichtungen können sich in sozialen Einrichtungen verkörpern, wenn Mitglieder der Gemeinschaft sich vergegenwärtigen, daß die Gabe des Lebens und Bewußtseins sie verpflichtet, Verantwortungen gegenüber Gott, der Gesellschaft und sich selbst auf sich zu nehmen. Durch die gegenseitige Anerkennung der Wahrheit, durch die Mitglieder der Gemeinschaft, daß ihr Leben aus ein und derselben Quelle des Alls strömt, sind sie in den Stand gesetzt, geordnete Beziehungen in einer öffentlichen sozialen Körperschaft aufrecht zu erhalten.
Die soziale Körperschaft ist nicht die eigentliche Schöpferin der Menschenrechte. Ihr Amt ist das eines Treuhänders, mit der Aufgabe, für die Gemeinschaft zu handeln unter Aufrechterhaltung der Beziehungen, welche die sittliche Reife ihrer Mitglieder darstellen, und die geistige Einheit zu pflegen und zu schützen, die ihre höchste gegenseitige Verpflichtung ist.
Keine soziale Körperschaft, welcher Form sie auch sei, hat die Macht, wirkliche Menschenrechte für Personen aufrecht zu erhalten, die ihre sittliche Pflicht und das göttliche Geschenk, das den Menschen vom Tier unterscheidet, abgeschüttelt und preisgegeben haben. Wenn Rechtsbegriffe politischer und wirtschaftlicher Verfassungen sittlichen Wertes und Wirkens bar sind, dann stellen sie keine wirklichen Menschenrechte dar, sondern geben sich zu Werkzeugen der Parteipolitik her. Eine geordnete Gesellschaft kann nur durch sittliche Wesen aufrecht erhalten werden.
- II.
Das dem Menschen verliehene Gottesgeschenk bindet den einzelnen an eine Menschheit, die sich entwickelt und reift. Die Menschenrasse ist dem Prinzip der progressiven Entwicklung unterworfen, die sich jenseits des menschlichen Willens vollzieht. Kein Zeitalter bringt die Verhältnisse der Vergangenheit zurück.
Die in der Zivilisation sichtbare Entwicklung ist das Ergebnis der geistigen Entwicklung,
die überall im Menschengeschlecht wirksam ist. Wenn neue Eigenschaften sich
entfalten, kann ein neues Feld von geordneten Beziehungen geschaffen werden,
[Seite 29]
welches Veränderungen der Gesellschaftsstruktur erfordert.
Der moderne Nationalstaat kam als ein Vereiniger von verschiedenen Rassen und Völkern zur Entstehung. Er bedeutet einen sozialen Frieden, von Gemeinwesen eingegangen oder ihnen aufgezwungen, die bis dahin voneinander getrennt, in Unabhängigkeit und Feindschaft gelebt hatten. Geschichtlich betrachtet, stellt die Nation einen großen Sieg der Moral dar, eine deutliche und wichtige Stufe im menschlichen Fortschritt. Sie hob die Lage der Volksmassen, setzte ein Verfassungsrecht an Stelle der Willkürherrschaft des Stammes, verbreitete Erziehung und Wissenschaft, milderte die Folgen sektiererischen Streites und erweiterte den Lebensraum des einfachen Mannes. Sie schuf Voraussetzungen, unter denen sich eine Naturwissenschaft entwickeln konnte, Erfindungen Wirklichkeit werden und die Industrialisierung dem Menschen Herrschaft über die Naturkräfte geben konnte.
Die neuen Kräfte und Hilfsquellen, erschlossen durch die Nation, konnten nicht auf den nationalen Raum beschränkt bleiben, sondern erzeugten einen Internationalismus von Ursachen und Wirkung in den Gesellschaftsbeziehungen, den keine Nation hintanhalten konnte. Der Nationalstaat hat die Grenzen seiner Entwicklungsmöglichkeit als ein unabhängiges, sich selbstregierendes gesellschaftliches Gebilde erreicht. Eine Weltwissenschaft, eine Weltwirtschaft und ein Weltbewußtsein, getragen von der Welle einer neuen und allgemeinen Bewegung der geistigen Entwicklung schaffen die Grundlagen einer Weltordnung. Der Idee nach erstrebt als Endzustand, ist der Nationalstaat heute dahin gekommen, ein Hindernis auf dem Wege zur Einheit des Menschengeschlechtes zu sein, die Quelle allgemeiner Zerrissenheit, die den wahren Interessen seiner Bevölkerung zuwiderläuft. Aus den Tiefen des göttlichen Geschenkes an die Menschen drängt ein Wille zur Bejahung der Einheit empor, welche unserem Zeitalter seine Haupttriebkraft und Richtung gibt. Die Gesellschaft steht in einer Wandlung, um eine neue Ordnung werden zu lassen, die sich auf die Ganzheit der menschlichen Beziehungen gründet.
- III.
Elementare Menschenrechte wurden in der Vergangenheit von verschiedenen Völkern unter verschiedenen sozialen Bedingungen angenommen: das Bürgerrecht, als das Volk Nation wurde an Stelle der Dynastie; das Recht auf kodifiziertes Gesetz, als geschriebene Verfassungen Gewohnheitsrecht und Überlieferung ersetzten; das Recht auf Unantastbarkeit der Person und des Eigentums, als der Staat streitende Parteien zum Frieden zwingen konnte, das Recht, Beruf und Wohnsitz zu wählen, als das Individuum nicht mehr an die Scholle gebunden war. Eine Geschichte der Menschenrechte würde die bedeutendsten moralischen Errungenschaften des Menschengeschlechtes in seinem unaufhörlichen Kampf um eine dauernde Gesellschaftsform zu verzeichnen haben.
Aber ein Recht ist nur gültig und wirksam, wenn hinter ihm eine unabhängige Staatsgewalt steht. Unsere ererbte Rechtsvorstellung ist ins Wanken geraten, seitdem der Nationalstaat die wirkliche Staatshoheit verloren hat. Um die Grundrechte der Vergangenheit wieder zur Geltung zu bringen und wirklich neue in Einklang mit unserem Zeitalter zu schaffen, ist eine Welthoheit zu fordern. Die ganze Rechtsauffassung hat sich gewandelt. Früher bedeutete ein Recht den Schutz gegen einen Übergriff; heute bedeutet ein Recht einen Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand innerhalb des Menschengeschlechts. Sittliches und soziales Gesetz können zum enstenmal in der menschlichen Geschichte sich zu einer Einheit verschmelzen, wenn die Menschheit als Ganzes dem gleichen Gesetz unterworfen ist. Alles Allgemeine ist göttliche Wahrheit; alles Beschränkte und Parteiische ist menschliche Meinung.
Pflicht und Recht, in einer sittlichen Gesellschaft zu leben, ist zur entscheidenden
Bewährungsprobe unseres Willens zu weiterem Gedeihen geworden. Der moderne
Kampf, der die Nationen als seine Werkzeuge benutzt, ist kein Krieg der Völker
oder Dynastien: er ist ein Krieg der Wertauffassungen. Die Auseinandersetzung über
Werte löst sich selbst in einen Streit zwischen den menschlichen Wesen auf, die sich
zu einer Menschheitsgemeinschaft und einer gemeinsamen Körperschaft vereinigen wollen
und müssen. Der Nationalstaat ist selbst zerrissen und in einen Streit verwickelt, der
sich vor allem an die bewußte Haltung der einzelnem Menschen wendet. Aber in dem
Grade, in dem der Nationalstaat als ein einheitlicher Körper handeln kann, ist er
unfähig, sich der Parteinahme in dieser
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Entscheidung zu entziehen. Kein einzelner und keine Körperschaft kann
dem Schicksal entgehen.
- IV.
Der Zweck dieser Erklärung ist nicht, jedes wünschbare menschliche Recht aufzuzählen, sondern einen Versuch anzuregen, wie das Wesen wirklicher Rechte sich bestimmen läßt. Wie hier erklärt, ist ein Menschenrecht ein Ausdruck des Gottesgeschenkes an den Menschen, dem eine sittliche und souveräne Körperschaft gesellschaftlichen Charakter verliehen hat. Ein Recht erhält erst dann gesellschaftlichen Charakter, nachdem es ein sittlicher Wert geworden ist, den die Glieder der Gemeinschaft als notwendige Eigenschaft der menschlichen Beziehungen festgelegt und beibehalten haben.
Unter den wirklichen Menschenrechten, die die neue Weltära kennzeichnen, befinden sich jene, die sich beziehen auf: 1. das Individuum; 2. die Familie; 3. Rasse; 4. Arbeit und Vermögen; 5. Erziehung; 6. Religionsausübung; 7. soziale Ordnung.
1. Die menschliche Person ist ein geistiges Wesen sowohl wie ein Glied der Gesellschaft. Seine geistige Natur kommt zum Ausdruck in der Erhaltung sittlicher menschlicher Beziehungen überall im ganzen Bereich der Gemeinschaft, und verkümmert in einem Zustand des Sichzurückziehens und der Absonderung auf sich selbst, auf die Familie, auf die Rasse oder auf die Klasse. Die Pflicht des einzelnen ist, den Bedürfnissen einer fortschreitenden Gesellschaft zu dienen. Immer wenn die Gemeinschaft Forderungen an den einzelnen stellt, die der überlegenen sittlichen Norm widerstreiten, oder duldet, daß ihm durch private Stellen solche Forderungen auferlegt werden, ist die Gemeinschaft in Gefahr, auseinanderzubrechen; denn das sittliche Gesetz findet Anwendung auf Einrichtungen und Gemeinschaften, große und kleine.
Eine gleiche Norm der Menschenrechte muß gewährleistet sein, und jedem einzelnen müssen gleiche Voraussetzungen gegeben werden. Mannigfaltigkeit, nicht Einförmigkeit ist der Wesenszug der organischen Gesellschaft. Nachdem Mangel an Voraussetzungen, Hemmung und entwürdigende Lebensbedingungen Menschenmassen haben entstehen lassen, die unfähig sind, ihre bürgerlichen Aufgaben zu erfüllen, sind solche Menschen den übrigen als sittliche Pflicht ans Herz gelegt, mit der Bestimmung, die Unwissenden zu lehren, die Unmündigen zu erziehen und die Kranken zu heilen.
2. Der Mensch ist die geistige Einheit des Menschengeschlechtes, aber die Familie ist die unverletzliche und gottgeschaffene gesellschaftliche Einheit. Das Recht des einzelnen, sich selbst zu behaupten ist gleichbedeutend mit dem Recht der Familie, sich unter Bedingungen zu erhalten, die Leib, Gemüt und Geist zuträglich sind. Während das mündige Einzelwesen die politische Einheit ist, stellt die Familie die wirtschaftliche Einheit dar, und das Einkommen schafft die Grundlage des Familienlebens und seiner Wohlfahrt.
Die Gleichberechtigung Von Mann and Frau in der modernen Gemeinschaft gibt der Familie eine neue und stärkere Verbindung mit den Kräften, die die sittliche Entwicklung bewirken.
3. Die Mitgliederschaft der nationalen Gemeinschaften ist in vielen Ländern aus rassischen Gruppen zusammengesetzt, die in verschiedenen Stadien der Entwicklung stehen. Die Lebensbedingungen, die in der Vergangenheit zur Herbeiführung einer Rassenabschließung geschaffen wurden, sind im Schwinden. Die Rechte und Bedürfnisse der modernen Gemeinschaft sind den Rechten der Rasse überlegen. Rassische Vorrechte können nur aufgegeben werden, wenn sie ausgetauscht werden gegen Rassengleichheit in der Anteilschaft an höheren Rechten und Vorrechten im Besitz einer vielrassigen Gesellschaft.
4. Die Arbeit, die der einzelne in Handel, Handwerk, Kunst oder Amt leistet, ist der Sinn seines Lebens und nicht nur die Quelle seines Unterhalts. Arbeit, die im Geist des Dienens verrichtet wird, kann heute als Gottesdienst angesehen werden. Die Arbeitspflicht ist eine wirklich sittliche Pflicht, die nicht durch den Besitz von Reichtum aufgehoben werden kann. Die Gemeinschaft hat keinerlei Verpflichtung gegenüber denen, die arbeiten können, sich aber weigern, es zu tun.
Der Anspruch auf Lehensunterhalt gründet sich auf Arbeit. Darüber hinaus hat der Arbeiter Anspruch auf einen Anteil am Gewinn des Unternehmens.
Reichtum ist das Ergebnis der Koordination einer Reihe verschiedener Anstrengungen,
betätigt an Ausrüstung und Material. Eine gesunde Wirtschaft befaßt sich
mit dem ganzen Vorgang in der Mannigfaltigkeit der menschlichen Beziehungen
und strebt nicht danach, den Vorgang nach
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dem Vorteil einer bestimmten Gruppe auszurichten, sei dies das Eigentum, die
Leitung, das technische Wissen, das handwerkliche Können oder der Verbrauch.
Reichtum ist zum Teil Recht des einzelnen, zum Teil Recht der Gemeinschaft.
Unter den Bedingungen internationaler Konkurrenz entsteht verzweifelte soziale
Not, wenn keine klare Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Eigentum
gemacht werden kann. Wahrer Rechtssinn und echte Staatsphilosophie erwarten die
Bildung von Welteinrichtungen und die Geltendmachung des Weltgesichtspunkts.
Die Verwerfung des nationalen Rechts und der nationalen Vollmacht, Krieg zu erklären, stellt den ersten Schritt auf dem Wege zu allseitigem Reichtum und zu einer gesunden Wirtschaft dar. Ohne Weltwirtschaft wird das Menschengeschlecht nicht die Früchte der Zivilisation ernten.
5. Die Wurzeln der Erziehung liegen in dem Gottesgeschenk an den Menschen, und die Propheten sind die allgemeinen Erzieher des Menschengeschlechts gewesen.
Der Zweck der Erziehung ist, dem einzelnen die Herrschaft über sich selbst zu geben, eine schöpferische Einordnung in die Gesellschaft und die Erkenntnis seines Platzes im Weltganzen. Erziehung befaßt sich mit dem ganzen Menschen, mit Gemüt, Gefühlen und Willen. Die jetzt noch bestehende Unterscheidung zwischen schöngeistiger, wissenschaftlicher, technischer, politischer und religiöser Bildung erzeugt unvollständige und unausgeglichene Persönlichkeiten. Falsch erzogene Personen erleben jede größere gesellschaftliche Krisis von verschiedenem Blickwinkel aus, wobei deren jeder eine parteiische Auffassung rechtfertigt.
Die Erziehung dauert das ganze Leben an. Unwissenheit in Dingen, die den Erwachsenen angehen, ist schlimmer, aber weniger wahrnehmbar als Unwissenheit auf seiten des Kindes. Das Menschenrecht auf Erziehung ist das Recht, sich in die größere Aufwärtsentwicklung der Zivilisation einzuschalten. Schulformen, die erstarrte Einstellungen und Gefühlsschablonen erzeugen, können nicht mehr als erzieherisch gelten.
6. Das Menschenrecht, das die Religions- oder Gewissensfreiheit darstellt, bleibt nur solange ein gesetzlicher Schutz, der verschiedenen Religionsgemeinschaften gewährt wird, um ihre Glaubenssysteme auszuüben und zu verkünden, als der einzelne genügende geistige Kenntnis erlangt hat, um darüber zu einer eigenen, gereiften unabhängigen Entscheidung zu gelangen, wie sein Glaube beschaffen sein soll.
Seitdem aufgezeigt ist, daß der Religionstrieb allgemein ist, und verbunden ist mit einer unendlichen Zahl von mehr oder weniger zeitgebundenen Andachtsübungen, Sittengesetzen und Gesellschaftsformen, besteht kein wesentlicher Grund, warum dieser Instinkt nicht in Treue zur Menschheit und Hingabe an die Sache der Welteinheit in allen Bereichen erneut bekräftigt werden könnte. Der Gott der Menschheit kann nicht mehr als völkische Kraftquelle oder als Wille einer Nation, sich unter allen Umständen durchzusetzen, oder als konfessionelles Geschenk der persönlichen Erlösung ausgedrückt werden. Die reine Offenbarung Gottes wurde der Menschheit von Zeitalter zu Zeitalter durch seine Propheten und Boten geschenkt. Zweitrangige und begrenzte Religionsformeln verlängern die sittliche Krise, die den einzelnen blind machen für die Zuversicht einer Weltära.
Die Weltordnung ist nichts anderes als die verwaltungsmäßige Seite der Verbrüderung, und das Menschenrecht auf eine soziale Ordnung kann nicht von seinem Anspruch auf einen Weltglauben getrennt werden.
7. Jedes Zeitalter hat seine besondere Mission. Die Bildung einer Weltordnung ist heutzutage eine Pflicht, die der Menschheit auferlegt ist.
Die Weltordnung ist gesetzlich möglich geworden, vom gesellschaftlichen Standpunkt aus dringend geboten und von Gott verfügt. Das Prinzip des Bundesstaates hat schon früher unabhängige Gemeinschaften vereinigt, die in Rasse, Sprache, Religion und Bevölkerungszahl voneinander abwichen. Die Nationen können einen gerechten Ausgleich für ihre berechtigten Ansprüche und Bedürfnisse finden, wenn sie in einer übernationalen Körperschaft ihrer Größe entsprechend vertreten sind. Solange das Weltbürgerrecht nicht gesetzlich garantiert ist, werden die in der Vergangenheit entwickelten Menschenrechte und -freiheiten durch die Zerrüttung der modernen Gesellschaft in Frage gestellt.
Bis zur Schaffung einer übernationalen Ordnung haben die bestehenden Regierungen
das Recht, von ihren Bürgern bei allen Regierungsgeschäften und Entscheidungen
Treue und Gehorsam zu verlangen, außer dem einer Einmischung in des einzelnen
Glauben an Gott und seine Propheten. Die hierdurch dargelegte Ordnung setzt
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die Errichtung eines Weltstaates voraus, der alle Nationen, Rassen, Bekenntnisse und
Klassen vereinigt, und die Autonomie der Mitgliedstaaten wie auch die persönliche
Freiheit und Initiative der Einzelpersonen verbürgen, die sie zusammensetzen. Der
Weltstaat würde aus einem Weltparlament bestehen, das als Beauftragter der ganzen
Menschheit wirkt und die Gesetze erläßt, die das Leben regeln, die Bedürfnisse
befriedigen und die Beziehungen aller Rassen und Völker in Übereinstimmung bringen.
Unterstützt von einer internationalen Polizei würde seine Weltregierung die Gesetze und
Entscheidungen durchführen, die das Weltparlament erlassen hat und die organische
Einheit des ganzen Staates sichern. Bei allen Streitfällen irgendwelcher Art, die
zwischen den verschiedenen Gliedern dieses weltumspannenden Staatssystems entstehen,
würde sein Weltgerichtshof das höchste allgemeingültige Urteil fällen.
„Die Erde ist nur eine Heimat und die Menschheit ihre Bürger.“
- Bahá’u’lláh (1869).
Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í der Vereinigten Staaten und Kanadas,
536 Sheridan Road, Wilmette, Illinois.
Neues Bahá’í-Schrifttum
Unter dem Titel „Die Lösung der sozialen Fragen auf Grund der Bahá’í-Lehren“ liegt jetzt eine ausgezeichnete, wissenschaftliche Bahá’í-Arbeit von unserem Freund Dr. Manoutchehr Zabih, Teheran, in deutscher Sprache vor, die von der Geschäftsstelle unserer Zeitschrift, Neckarstraße 127, sofort bezogen werden kann.
Wir werden gelegentlich dieses Werk eingehender besprechen und beschränken uns heute auf diesen Hinweis. Unter Heranziehung vieler Originaltexte aus den Schriften von Bahá’u’lláh, 'Abdu'l-Bahá und Shoghi Effendi zeigt der Verfasser auf dem Boden der Einheit von religiöser und wissenschaftlicher Wahrheit den in der Bahá’i-Weltreligion gewiesenen Weg zu einer gerechten sozialen Weltordnung, die sich als die entscheidende Voraussetzung für einen dauernden Weltfrieden erweist.
Dem Buch ist ein Geleitwort von mit dem Verfasser befreundeten Prof. Dr. Hans Peter an der Universität Tübingen vorangestellt, worin dieser schreibt: „ . . . Manoutchehr Zabih bringt mit seiner Mahnung zugleich eine Botschaft. Er wurzelt in der Bahá’í-Gemeinschaft. Er macht sich zum Sprecher einer Lehre, die nicht neue trennende Wände errichten, sondern die Verbindungen schaffen will über die Grenzen der Völker, der Rassen und Klassen hinweg.“ Manoutchehr Zabih widmete dieses Buch der Bahá’í-Jugend in Deutschland, der er über ihr Leben und Arbeiten folgende Worte von 'Abdu'l-Bahá als Motto zu setzen wünscht: „Laßt uns mit vereinten Kräften arbeiten und das Feuer der Liebe überall entzünden, damit diese dunkle Welt beleuchtet werde und in neuem hellem Licht erstrahle.“
Das bekannteste Bahá’í-Buch „Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter“ von Dr. J. E. Esslemont ist kürzlich in einer neuen Auflage dank der Hilfe von Shoghi Effendi und unseres englischen Freundes David Hofman, London, erschienen. „Die Sendung von Bahá’u’lláh“ sowie eine Sammlung von Bahá’í-Gebeten können ebenfalls jetzt geliefert werden.
Auf die neue, textlich überarbeitete Ausgahe „Verborgene Worte“ von Bahá’u’lláh (1948) möchten wir unsere Leser besonders aufmerksam machen. Alles Nähere über die Preise wollen Sie dem beiliegenden Verzeichnis entnehmen.
Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’i in Deutschland und Österreich, e. V.,
Stuttgart. Verantwortlich für die Herausgabe: Paul Gollmer, Stuttgart O, Neckarstraße 127.
In der „Sonne der Wahrheit“ finden nur solche Manuskripte Veröffentlichung, bezüglich
deren Weiterverbreitung keine Vorbehalte gemacht werden. — Alle auf den Inhalt der Zeitschrift
bezüglichen Anfragen, ferner schriftliche Beiträge, Besprechungsexemplare wie auch
alle die Schriftleitung betreffenden Zuschriften sind an Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart N,
Menzelstr. 24, zu senden. — Abonnementbestellungen sowie Zahlungen sind an die Geschäftsstelle
der „Sonne der Wahrheit“, Paul Gollmer, Stuttgart O, Neckarstraße 127, Postscheckkonto Stuttgart
Nr. 35 768, zu richten.
Druck von J. Fink KG., Stuttgart N — Auflage 2000 — Mai 1949
Veröffentlicht unter Lizenz US-W-Nr. 6871 der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung.
diesem Tage wirkt, letzten Endes diesen Zustand herbeizuführen fähig ist. Noch mehr: Der Bahá’i-Glaube legt seinen Anhängern vor allem die Pflicht des ungehemmten Suchens nach Wahrheit auf, verwirft alle Arten von Vorurteil und Aberglauben und erklärt, daß der Zweck der Religion die Förderung von Freundschaft und Eintracht sei; er verkündet in wesentlichen Fragen ihr Zusammengehen mit der Wissenschaft und erkennt sie als die größte Kraft der Befriedigung und des geregelten Fortschrittes der Menschheit. Er hält ohne Zweideutigkeit den Grundsatz gleicher Rechte, gleicher Möglichkeiten und Vorrechte für Männer und Frauen hoch, besteht auf guter Erziehung als Pflicht, tilgt die Extreme von Armut und Reichtum aus, schafft die Einrichtungen eines Priesterstandes ab, verbietet Sklaverei, Askese, Bettelei und Mönchtum und schreibt Einehe vor, mißbilligt Scheidung, betont die Notwendigkeit festen Gehorsams zur Regierung, erhöht jede Arbeit, die im Geiste des Dienens getan wird, auf den Rang des Gottesdienstes, drängt auf die Schaffung oder Auswahl einer Welthilfssprache und gibt einen Umriß für die Einrichtungen, welche den Weltfrieden begründen und dauerhaft machen sollen.
Der Herold
Der Bahá’i-Glaube kreist um drei Hauptgestalten, deren erste ein Jüngling aus Schiras namens Mirzá ‘Ali Muhammád war, bekannt als der Báb (das Tor). Er erhob im Mai 1844, im Alter von 25 Jahren den Anspruch, der Herold Dessen zu sein, der nach den Heiligen Schriften früherer Offenbarungen den Einen, der größer ist als Er selbst, verkünden und den Weg für Sein Kommen bereiten soll. Seine Sendung sei, nach eben diesen Schriften, eine Ära des Friedens und der Gerechtigkeit einzuleiten, die als die Vollendung aller früheren Sendungen begrüßt würde, um einen neuen Zyklus in der Religionsgeschichte der Menschheit einzuleiten. Rasch setzte strenge Verfolgung ein, die von den organisierten Mächten der Kirche und des Staates Seines Geburtslandes ausging und schließlich zu Seiner Gefangenschaft, Verbannung und zu Seiner Hinrichtung im Juli 1850 in Täbris führten. Nicht weniger als 20000 Seiner Anhänger wurden in so barbarischer Grausamkeit hingemordet, daß sie das warme Mitgefühl und die unbegrenzte Bewunderung abendländischer Schriftsteller, Diplomaten, Reisender und Gelehrter hervorrief.
Bahá’u’lláh
Mirzá Husayn - ‘Ali, genannt Bahá’u’lláh (die Herrlichkeit Gottes), aus der Provinz Mázindarán stammend, dessen Kommen der Báb verkündet hatte, wurde von diesen gleichen Mächten der Dummheit und des Fanatismus angegriffen, in Teheran eingekerkert, 1852 aus Seinem Heimatland nach Bagdad verbannt und von dort nach Konstantinopel und Adrianopel und schließlich in die Gefängnisstadt Akka, wo Er nicht weniger als 24 Jahre noch gefangengehalten wurde. Unweit davon starb Er im Jahre 1892. In der Zeit seiner Verbannung, vor allem in Adrianopel und in Akka, gab Er den Gesetzen und Vorschriften Seiner Sendung Ausdruck und erklärte in mehr als hundert Bänden die Grundsätze Seines Glaubens, verkündete Seine Botschaft den Königen und Herrschern des Ostens und des Westens, Christen sowohl wie Mohammedanern.
‘Abdu’l-Bahá
Sein ältester Sohn, ‘Abbás Effendi, bekannt als ‘Abdu’l-Bahá (Diener Bahá’s), war von Bahá’u’lláh zu dessen gesetzlichem Nachfolger und bevollmächtigtem Ausleger Seiner Lehren ernannt worden. Er war seit Seiner frühesten Kindheit Seinem Vater eng verbunden und teilte dessen Verbannung und Leiden. Er blieb ein Gefangener bis 1908, wo Er in Auswirkung der jungtürkischen Revolution aus der Haft entlassen wurde. Nunmehr verlegte Er Seinen Wohnsitz nach Haifa, schiffte sich dann bald zu einer drei Jahre langen Reise nach Ägypten, Europa und Nordamerika ein, in deren Verlauf Er vor einer zahlreichen Hörerschaft die Lehren Seines Vaters auslegte und das Nahen der Katastrophe voraussagte, die bald darauf die Menschheit überfallen sollte. Er kehrte nach Hause zurück am Vorabend des ersten Weltkrieges, in dessen Verlauf Er dauernd Gefahren ausgesetzt war bis zur Befreiung Palästinas.
1921 verließ Er diese Welt. Er wurde in dem auf dem Berge Karmel errichteten Grabmal beigesetzt, das nach dem Gebot Bahá’u’lláh’s für die sterblichen Reste des Báb errichtet war.
Die Verwaltungsordnung
Das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahá’s bedeutete das Ende des heroischen Zeitalters des Bahá’i-Glaubens und bezeichnete zugleich den Beginn des gestaltgebenden Zeitalters, das den schrittweisen Aufstieg der Verwaltungsordnung des Glaubens schaffen soll. Ihre Errichtung war von dem Báb vorhergesagt, ihre Gesetze wurden von Bahá’u’lláh geoffenbart, ihre Umrisse wurden von 'Abdu'l-Bahá in Seinem Willen und Testament vorgezeichnet.
Die Verwaltungsordnung des Glaubens von Bahá’u’lláh ist dazu bestimmt, sich zu einem
Bahá’i-Weltgemeinwesen zu entwickeln. Sie hat schon die Angriffe überdauert, die solche
furchtbaren Feinde wie die Könige der Kadscharen-Dynastie, die Kalifen des Islam, die führenden
Geistlichen Ägyptens und das Naziregime in Deutschland gegen ihre Einrichtungen gerichtet
hatten, und hat ihre Zweige in alle Teile der Erde ausgedehnt, von Island bis zum äußersten
Chile. Sie hat in ihren Bereichen die Vertreter von nicht weniger als 31 Rassen, darunter
Christen verschiedener Bekenntnisse, Muselmänner der
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sunnitischen und schiitischen Sekten, Juden, Hindu, Sikhs, Zoroastrer und Buddhisten. Sie hat
durch ihre festgesetzten Organe Bahá’i-Schriften in 48 Sprachen veröffentlicht und verbreitet.
Diese Verwaltungsordnung ist, im Unterschied von den anderen Systemen, die sich nach dem Tode der Gründer in den verschiedenen Religionen entwickelt haben, göttlich in ihrem Ursprung, beruht mit Gewißheit auf den Gesetzen, Vorschriften, Verordnungen und Einrichtungen, die vom Begründer des Glaubens selbst ausdrücklich niedergelegt und unzweideutig festgesetzt sind und waltet in fester Übereinstimmung mit den Auslegungen der bevollmächtigten Ausleger der heiligen Texte.
Der Glaube, dem diese Ordnung dient, den sie schützt und fördert, ist, das sollte in diesem Zusammenhang wohl bemerkt werden, in seinem Wesen übernatürlich, übernational, gänzlich unpolitisch, parteilos und jedem System oder jeder Schule von Ideen, die irgendeine besondere Rasse, Klasse oder Nation über die andere zu stellen sucht, völlig entgegengesetzt. Er ist frei von jeglicher Form von Kirchentum, hat weder Priesterstand noch Riten und wird allein durch freiwillige Gaben seiner erklärten Anhänger getragen.
Wenn auch die Bekenner des Bahá’i-Glaubens ihren Regierungen treu ergeben sind, in Liebe ihrem Vaterland verbunden und darauf bedacht, zu allen Zeiten dessen Wohl zu fördern, so werden sie doch, weil sie die Menschheit als eine Einheit betrachten und deren Lebensinteressen tief verpflichtet sind, ohne Zögern jedes Einzelwohl, sei es persönlich, örtlich oder national, dem übergeordneten Wohl der Menschheit als Ganzes unterordnen; denn sie wissen gar wohl, daß in einer Welt der gegenseitigen Abhängigkeit der Völker und Nationen der Vorteil des Teiles am besten durch den Vorteil des Ganzen erreicht werden kann, und daß kein Dauererfolg durch eines der zugehörigen Teile erreicht werden kann, wenn das Allgemeinwohl des Ganzen hintangestellt wird.
- Shoghi Effendi
Die zwölf Grundsätze der Bahá’i-Weltreligion
1. Die gesamte Menschheit muß als Einheit betrachtet werden.
2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.
3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.
4. Die Religion muß die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.
5. Die Religion muß mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.
6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.
7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.
8. Der Weltfrieden muß verwirklicht werden.
9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung erfahren.
10. Die sozialen Fragen müssen gelöst werden.
11. Es muß eine Einheitssprache und eine Einheitsschrift eingeführt werden.
12. Es muß ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.