Sonne der Wahrheit/Jahrgang 18/Heft 4-5/Text
←Heft 3 | Sonne der Wahrheit November/Dezember 1947 |
Heft 6-7→ |
![]() |
SONNE DER WAHRHEIT Zeitschrift für Weltreligion und Welteinheit ORGAN DER BAHA’I IN DEUTSCHLAND UND ÖSTERREICH Verantwortlich für die Herausgabe und Schriftleitung: Paul Gollmer, Stuttgart O, Neckarstraße 127 |
Heft 4/5 Preis vierteljährlich RM 1.80 |
NOVEMBER/DEZEMBER 1947 Qudrat - Qawl - Masá’il (104) Stärke - Sprache - Fragen |
18. JAHRGANG |
- Leitgedanken: Einheit der Menschheit - Universaler Friede — Universale Religion
Inhalt: Ährenlese - Göttliche Lebenskunst - Der verheißene Tag ist gekommen - Die
Sendung von Bahá’u’lláh - Der Herr des neuen Zeitalters - Der Bahá’i-Menschheitsglaube und die
Deutschen - Weltordnung ist das Ziel - Gedanken beim Lesen des Koran - Aus der Bahá’i-Welt
SO MÄCHTIG
ist das Licht der Einheit, daß es die ganze Erde erleuchten kann. Der eine wahre Gott, der, welcher alle Dinge weiß, bekennt sich zu der Wahrheit dieser Worte ... Dieses Ziel überragt jedes andere Ziel, und dieses Streben ist der Fürst alles Strebens.
BAHÁ’U’LLÁH
ÄHRENLESE[Bearbeiten]
AUS DEN SCHRIFTEN VON BAHÁ’U’LLÁH
Deutsche Übertragung aus „Gleanings from the writings of Bahá’u’lláh;
englische Übersetzung von Shoghi Effendi
XI. Alle Herrlichkeit sei diesem Tag, dem Tag, an dem die Düfte der
Gnade über alle erschaffenen Dinge ausgegossen wurden, ein Tag, so
gesegnet, daß vergangene Zeitalter und Jahrhunderte niemals hoffen können,
ihm zu gleichen, ein Tag, an dem das Angesicht des Urewigen Tags sich
Seinem heiligen Thron zugewandt hat. Daraufhin wurden die Stimmen aller
erschaffenen Dinge und darüber hinaus diejenigen der Heerscharen der
Höhe vernommen, die laut riefen: „Beeile dich, o Karmel, denn siehe,
das Licht des Angesichts Gottes, des Herrschers des Königreichs der
Namen und Gestalters der Himmel, ist über dir aufgerichtet worden.“
Vom Freudenausbruch ergriffen und hoch seine Stimme erhebend, rief er aus: „Möge mein Leben ein Opfer für Dich sein, da Du Deinen Blick auf mich gerichtet, mich mit Deiner Freigebigkeit überschüttet und Deine Schritte zu mir gelenkt hast. Die Trennung von Dir, o Du Quell des ewigen Lebens, hat mich nahezu verzehrt, und meine Entfernung aus Deiner Gegenwart hat meine Seele hinweggebrannt. Aller Lobpreis sei Dir, da Du mich befähigtest, Deinem Rufe zu lauschen, da Du mich beehrtest mit dem Tritte Deiner Füße und meine Seele wiedererwecktest durch den belebenden Duft Deines Tages und die ergreifende Stimme Deiner Feder, einer Stimme, die Du zum Posaunenruf inmitten Deines Volkes bestimmt hast. Und als die Stunde schlug, an der Dein unwiderstehlicher Glaube geoffenbart werden sollte, bliesest Du einen Hauch Deines Geistes in Deine Feder und siehe, die ganze Schöpfung erbebte in ihren Grundfesten und enthüllte der Menschheit solche Geheimnisse, wie sie verborgen in den Schatzkammern Dessen liegen, der der Besitzer aller erschaffenen Dinge ist.“
Kaum hatte seine Stimme jenen erhabensten Punkt erreicht, als Wir
erwiderten: „Danke Deinem Herrn, o Karmel. Das Feuer deiner Trennung
von Mir hatte stark an dir gezehrt, als das Weltmeer Meiner Gegenwart
vor deinem Antlitz wogte und deine Augen und die aller Schöpfung
tröstete und mit Entzücken alle sichtbaren und unsichtbaren Dinge erfüllte.
Frohlocke, denn Gott hat an diesem Tage Seinen Thron auf dir errichtet,
hat dich zum Dämmerungsorte Seiner Zeichen und zum Tagesanbruch der
Beweise Seiner Offenbarung gemacht. Wohl dem, der dich umkreist, der die
Offenbarung deiner Herrlichkeit verkündet und berichtet von dem, was
die Freigebigkeit des Herrn, deines Gottes, über dir ausgegossen hat.
Ergreife du den Kelch der Unsterblichkeit im Namen deines Herrn, des
Allherrlichen, und zolle Ihm Dank, da Er, als Zeichen Seines Erbarmens mit
dir, deine Sorge in Freude gewandelt und deinen Kummer umgestaltet hat
in seliges Entzücken. Er, wahrlich, liebt den Ort, der zum Sessel Seines
Throns gemacht wurde, den die Tritte Seiner Füße berührten, der durch
[Seite 99]
Seine Gegenwart beehrt wurde, von dem aus Er Seinen Ruf erhob und
über den Er Seine Tränen goß.
„Rufe aus gen Zion, o Karmel, und verkündige die frohen Botschaften: Er, Der sterblichen Augen verborgen war, ist gekommen! Seine allbesiegende Herrschaft ist offenbar; Sein alles umstrahlender Glanz ist enthüllt. Hüte dich, daß du nicht zögerst oder schwankest. Eile hin und umschreite die Stadt Gottes, die vom Himmel herabgekommen ist, die himmlische Kaaba, welche die Lieblinge Gottes in Anbetung umkreist haben, die Reinen im Herzen und die Schar der erhabensten Engel. O, wie sehne Ich Mich danach, jedem Orte an der Oberfläche der Erde die frohen Botschaften dieser Offenbarung zu verkünden und in jede ihrer Städte sie zu tragen, — eine Offenbarung, zu der das Herz Sinai’s hingezogen wurde und in deren Namen der Brennende Busch ausruft: ‚Gott, dem Herrn der Herren, gehören die Reiche der Erde und des Himmels.‘ Wahrlich, dies ist der Tag, an dem beide, Land und Meer, frohlocken bei dieser Verkündigung, der Tag, für den jene Dinge aufgespeichert wurden, die Gott, aus einer Freigebigkeit, die über die Fassungskraft des menschlichen Verstandes oder Herzens hinausgeht, zur Offenbarung bestimmt hat. Binnen kurzem wird Gott Seine Arche auf dich zusteuern und das Volk Bahá’s offenbaren, das im Buch der Namen erwähnt worden ist.“
Geheiligt sei der Herr der ganzen Menschheit, bei Erwähnung dessen Namens alle Atome der Erde veranlaßt wurden, zu schwingen und die Zunge der Erhabenheit bewegt wurde, das zu offenbaren, was in Seiner Erkenntnis verhüllt und in der Schatzkammer Seiner Macht verborgen lag. Er ist wahrlich durch die Kraft Seines Namens der Machtvolle, der Allmächtige, der Höchste, der Herrscher alles dessen, was in den Himmeln und alles dessen, was auf Erden ist.
XII. Rührt euch, o Völker, in Erwartung der Tage Göttlicher Gerechtigkeit, denn die verheißene Stunde ist nun gekommen. Hütet euch, daß ihr nicht verfehlt, ihre Bedeutung zu erfassen und zu den Irrenden gerechnet werdet.
XIII. Betrachte die Vergangenheit! Wie viele, hoch und niedrig, haben zu allen Zeiten sehnsüchtig das Erscheinen der Manifestationen Gottes in den geheiligten Persönlichkeiten Seiner Erwählten erwartet. Wie oft haben sie Sein Kommen erhofft, wie häufig haben sie gefleht, daß der Wind göttlicher Gnade wehen und die verheißene Schönheit hinter dem Schleier der Verborgenheit hervortreten und aller Welt offenbar gemacht werden möge. Und wann auch immer die Tore der Gnade sich öffneten und die Wolken göttlicher Freigebigkeit auf die Menschheit herabregneten und das Licht des Unsichtbaren über dem Horizont himmlischer Macht leuchtete, haben sie alle Ihn verleugnet und sich abgewandt von Seinem Antlitz — dem Antlitz von Gott Selbst...
Überlege,. was könnte der Grund zu solchen Taten gewesen sein? Was
könnte ein solches Verhalten gegenüber den Offenbarern der Schönheit
des Allherrlichen hervorgerufen haben? Was auch immer in vergangenen
Tagen die Ursache der Verleugnung und des Widerstandes jener Leute
gewesen sein mag, hat nun zur Verworfenheit der Menschen dieses
Zeitalters geführt. Zu behaupten, daß das Zeugnis der Vorsehung
unvollständig
[Seite 100]
war, daß es daher die Ursache der Verleugnung bei den Leuten war, ist
offene Gotteslästerung. Wie fern von der Gnade des Allfreigebigen und
von Seiner liebenden Vorsehung und milden Barmherzigkeit liegt es, eine
Seele unter allen Menschen zur Führung Seiner Geschöpfe herauszugreifen
und einerseits Ihr das volle Maß Seines göttlichen Zeugnisses
vorzuenthalten und andererseits schreckliche Vergeltung über Sein
Volk zu verhängen, weil es sich von Seinem Erwählten abgewandt hat!
Nein, die mannigfachen Gaben des Herrn aller Wesen haben zu allen Zeiten
durch die Manifestationen Seiner göttlichen Wesenheit die Erde und
alle, die darinnen leben, umfaßt. Nicht einen Augenblick lang wurde
Seine Gnade zurückgehalten, noch haben die Schauer Seiner liebenden
Güte aufgehört, auf die Menschheit zu regnen. Folglich kann ein
derartiges Verhalten nur der Kleinheit solcher Seelen zugeschrieben
werden, die das Tal der Anmaßung und des Stolzes beschreiten,
in den Wüsten der Entfernung verloren gehen, die Wege ihrer eitlen
Einbildungen gehen und den Vorschriften der Führer ihres Glaubens folgen.
Ihr Hauptansinnen ist nichts als Widerstand; ihr einziger Wunsch ist,
die Wahrheit zu verleugnen. Für jeden scharfsichtigen Beobachter ist es
einleuchtend und offenbar, daß, wenn diese Leute in den Tagen einer jeden
der Manifestationen der Sonne der Wahrheit ihre Augen, ihre Ohren und
ihre Herzen von allem, was auch immer sie sahen, hörten und fühlten,
geheiligt hätten, sie sicherlich nicht des Schauens der Schönheit Gottes
beraubt worden, noch weit von den Wohnstätten der Herrlichkeit abgeirrt
wären. Da sie aber das Zeugnis Gottes mit dem Maße ihres eignen
Wissens wogen, das zusammengetragen war aus den Lehren der Führer
ihres Glaubens, und es im Widerspruch fanden mit ihrem begrenzten
Verständnis, erhoben sie sich, um solch ungeziemende Taten zu begehen...
Betrachte Moses! Versehen mit dem Stab himmlischer Herrschaft, geschmückt mit der weißen Hand göttlichen Wissens und vom Párán der Liebe Gottes kommend und die Schlange der Macht und ewiger Hoheit führend, leuchtete Er hervor aus dem Sinai des Lichtes über die Welt. Er berief alle Völker und Geschlechter der Erde zum Königreich der Ewigkeit und lud sie ein, mitzuessen von der Frucht des Baumes der Treue. Sicher habt ihr Kenntnis von dem grimmigen Widerstand Pharao’s und seiner Leute und von den Steinen eitler Einbildungen, die die Hände der Ungläubigen nach jenem gesegneten Baume warfen. Das geschah in solchem Maße, daß Pharao und seine Leute sich schließlich erhoben und die äußerste Anstrengung machten, um mit den Wassern der Falschheit und der Verleugnung das Feuer jenes geheiligten Baumes auszulöschen, der Wahrheit nicht gedenkend, daß kein irdisches Wasser die Flammen göttlicher Weisheit unterdrücken kann, noch vergängliche Windstöße die Lampe ewiger Herrschaft auslöschen. Nein, ein solches Wasser kann das Brennen der Flamme nur verstärken und solche Windstöße können die Erhaltung der Lampe nur befestigen — so ihr mit dem Auge der Einsicht beobachtet und auf dem Pfade von Gottes heiligem Willen und Wohlgefallen wandelt...
Und als die Tage von Moses
[Seite 101]
beendet waren und das Licht Jesu, das aus dem Tagesanbruch des Geistes
hervorleuchtete, die Welt umfing, erhoben sich alle Völker Israels im
Widerstand gegen Ihn. Sie schrieen laut, daß Er, dessen Kommen die Bibel
vorausgesagt, durchaus die Gesetze Mose verkünden und erfüllen müsse,
während dieser junge Nazarener, der Anspruch auf die Stufe des göttlichen
Messias erhob, das Gesetz der Ehescheidung und des Sabbats - die wichtigsten
aller Gesetze Mose — aufgehoben habe. Wie war es überdies mit
den Zeichen der Manifestation bestellt, die nunmehr erscheinen sollte? Diese
Völker Israels erwarten noch bis auf den heutigen Tag die Manifestation,
welche die Bibel voraussagte! Wie viele Manifestationen der Heiligkeit,
wie viele Offenbarer des ewigen Lichtes sind seit der Zeit Mose erschienen,
und dennoch lebt Israel, eingehüllt in die dichtesten Schleier satanischer
Einbildungen und falscher Vorstellungen, weiter der Erwartung,
daß das Götzenbild ihres eignen Machwerkes mit solchen Zeichen erscheinen
wird, wie es selbst sie erdacht hat! Daher hat Gott sie geschlagen für
ihre Sünden, hat den Geist des Glaubens in ihnen vernichtet und sie
gepeinigt mit den Flammen des niedrigsten Feuers. Und dies aus keinem
andern Grunde, als daß Israel sich weigerte, den Sinn solcher Worte, die
in der Bibel bezüglich der Zeichen der kommenden Offenbarung enthüllt
wurden, zu erfassen. Da es ihre wahre Bedeutung niemals begriff und dem
äußeren Anschein nach solche Begebenheiten sich niemals zutrugen, blieb
es darum dessen beraubt, die Schönheit Jesu zu erkennen und das Angesicht
Gottes zu schauen. Und noch immer erwarten sie Sein Erscheinen!
Seit unvordenklicher Zeit, selbst bis auf den heutigen Tag, haben alle
Geschlechter und Völker der Erde solchen wunderlichen und unziemlichen
Gedanken angehangen und haben sich so selber der klaren Wasser beraubt,
die aus den Quellen der Reinheit und Heiligkeit strömen ...
Für diejenigen, die mit Einsicht ausgestattet sind, ist es klar und offenbar, daß, als das Feuer der Liebe Jesu die Schleier jüdischer Begrenzung vernichtete und Sein Einfluß sichtbar und teilweise gestärkt wurde, Er, der Offenbarer der unsichtbaren Schönheit auf Sein Hinscheiden hinwies, indem Er sich eines Tages an Seine Jünger wandte und, während Er in ihren Herzen das Feuer der Verlassenheit entzündete, zu ihnen sprach: „Ich gehe hin und werde wieder zu euch kommen.“ Und an anderer Stelle sagte Er: „Ich gehe und ein anderer wird kommen, der euch all das sagen wird, was ich euch nicht gesagt habe und all das erfüllen wird, was ich gesagt.“ Diese beiden Aussprüche haben nur eine Bedeutung, — so ihr über die Manifestationen der Einheit Gottes mit göttlicher Einsicht nachdenkt.
Jeder scharfsichtige Beobachter wird anerkennen, daß in der Sendung
des Qur’án beide, das Buch und die Sache Jesu, bestätigt wurden.
Hinsichtlich der Bedeutung der Namen, erklärte Muhammad Selbst: „Ich
bin Jesus.“ Er anerkannte die Wahrheit der Zeichen, Prophezeiungen und
Worte Jesu und bezeugte, daß sie alle von Gott waren. In diesem Sinne
haben sich weder die Person Jesu noch Seine Schriften von der Muhammad’s
und Seines Heiligen Buches unterschieden, insofern, als beide für die
Sache Gottes eingetreten sind, Seinen Lobpreis ausgesprochen und
[Seite 102]
Seine Gebote geoffenbart haben. Daher hat Jesus Selber erklärt: „Ich
gehe hin und werde wieder zu euch kommen.“ Betrachte die Sonne! Würde
sie jetzt sagen: „Ich bin die Sonne von gestern“, so würde sie die
Wahrheit sprechen. Und würde sie, in Anbetracht der Zeitfolge,
Anspruch erheben, eine andere, als jene Sonne zu sein, so würde sie noch
immer die Wahrheit sprechen. Wenn in gleicher Weise gesagt würde, daß
alle Tage nur einer und derselbe sind, so ist dies richtig und wahr.
Und wenn mit Bezug auf ihre besonderen Namen und Bezeichnungen gesagt
würde, daß sie voneinander abweichen, so ist dies wiederum wahr. Denn,
obgleich sie die gleichen sind, erkennt man doch in jedem eine
getrennte Bezeichnung, eine besondere Eigenschaft, einen eigenen
Charakter. Erfasse demgemäß die Unterscheidung, Verschiedenheit
und Einheit, die den verschiedenen Manifestationen der Heiligkeit
eigentümlich sind, damit du die Hinweise begreifen mögest, die vom Schöpfer
aller Namen und Eigenschaften auf die Geheimnisse der Unterscheidung
und Einheit gemacht wurden und du die Antwort auf deine Frage
entdeckest, warum jene ewige Schönheit sich Selbst zu verschiedenen
Zeiten mit verschiedenen Namen und Bezeichnungen benannt haben mag...
GÖTTLICHE LEBENSKUNST*)[Bearbeiten]
Eine Zusammenfassung, übersetzt aus dem Englischen: „The Divine Art of Living“ compiled by Mabel Hyde Paine, Bahá’i Publishing Committee, Wilmette, Ill., USA. 1944
- Vorwort
„Dein Wort ist meines Pfades Licht und meines Fußes Leuchte“, sang der Psalmist. Jesus Christus sprach von Sich selbst und von Seinen Lehren als „dem Weg, der Wahrheit und dem Leben“, und sagte: „die Worte, die Ich rede, sind Geist und Leben“. Buddha lehrte Seine Anhänger den „achtfachen Pfad“. Die große Aufgabe aller Gottgesandten ist gewesen, die Menschheit auf den Weg zu wahrem Leben und Wahrheit zu führen. Dafür haben sie gelebt und gelitten und der Menschheit Worte göttlichen Rates und göttlicher Eingebung geschenkt. Der Hüter des Bahá’i-Glaubens, Shoghi Effendi, versichert uns, daß das Fortschreiten geistiger Entwicklung endlos ist. ‘Abdu’l-Bahá nannte die „Straße des Königreiches“ „einen geraden und langen Pfad“. Es ist ein herrlicher Pfad, dem wir zu folgen haben.
Solche Gedanken wie die eben erwähnten veranlaßten die Herausgeber der
Bahá’i-Zeitschrift „World Order“, eine Zusammenfassung über „die Göttliche
Lebenskunst“ zu veröffentlichen, die in fortlaufenden Nummern dieser
[Seite 103]
Zeitschrift vom April 1940 bis September 1941 erschien. Dieses Buch
ist eine nochmalige Durchsicht dieser Zusammenfassung in der Zeitschrift.
Denn deren begrenzter Raum hatte zu einigen Unvollständigkeiten geführt,
und es bestand darum die Ansicht, eine nochmalige Durchsicht würde dem
ursprünglichen Zwecke mehr gerecht werden.
Der Titel ist einer von Mrs. M.M. Rabb früher herausgegebenen Zusammenstellung entnommen, die dasselbe Ziel und im allgemeinen denselben Charakter besaß. Das Buch von Mrs. Rabb war bei vielen Lesern sehr beliebt. Freundlicherweise hat sie dem Gebrauch ihres Titels für diese Auswahl zugestimmt. Diese ist jedoch eine völlig neue.
Das Quellenmaterial dieser Zusammenfassung ist in der Hauptsache den authentischen Schriften von Bahá’u’lláh, dem Gründer der Bahá’i-Religion, und den Niederschriften und öffentlichen Ansprachen von ‘Abdu’l-Bahá, dem Ausleger dieses Glaubens, entnommen. In einigen Fällen, in denen die Quelle verläßlich genug erschien, wurden auch nacherzählte Aussprüche ‘Abdu’l-Bahá’s verwandt. Auch finden sich hier einige Zitate des Neuen Testamentes. Da sowohl Bahá’u’lláh als auch ‘Abdu’l-Bahá die Bahá’i-Lehre der westlichen Welt als Fortführung und Erfüllung der Botschaft Christi verkündeten, schien es angezeigt, einige Abschnitte des Neuen Testamentes mit einzubeziehen, zumal das vorliegende Buch von Menschen gelesen wird, die im christlichen Glauben aufgewachsen sind.
Die Kapitel des Buches handeln von den hervorragenden Eigenschaften, die einen heiligen Lebenswandel kennzeichnen und Marksteine sind auf dem strahlenden Pfade des Königreiches. Die Worte Bahá’u’lláh’s und ‘Abdu’l-Bahá’s über diesen allumfassenden Gegenstand füllen viele Bände. Wir hoffen, daß diese ausgewählten Kapitel den Leser anregen, diese Schriften selbst zu durchforschen und so in vollen Zügen von dem wirklichen Wasser des Lebens zu trinken.
- Urbana/Ill. M.H. Paine
- 1. KAPITEL: GOTTVERTRAUEN
Verkauft man nicht fünf Sperlinge für zwei Pfennige? Dennoch ist vor Gott deren nicht einer vergessen. Aber auch die Haare auf eurem Haupte sind alle gezählet. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge. (1)**)
O, vertraue auf Gott, denn Seine Freigebigkeit währet ewig, und vertraue Seinen Segnungen, denn sie sind herrlich! Setze deinen Glauben in den Allmächtigen, denn Er fehlt nie und Seine Güte währet ewig! Seine Sonne spendet immerwährend Licht, und aus den vollen Wolken Seiner Gnade fließet das Wasser des Mitleids in die Herzen all derer, die Ihm vertrauen. Sein erfrischender Hauch bringt auf seinen Fittichen immerzu Heilung den schmachtenden Seelen der Menschen. (2)
Schaue nicht auf deine Schwäche; blicke vielmehr auf die Macht deines Herrn, die alle Regionen umfaßt. (3)
Vertraue auf die Hilfe deines Meisters
[Seite 104]
und erbitte, was du wünschest von den Gaben deines Herrn, des Unumschränkten. (4)
Suchst du nach geistiger Ruhe, so wende dein Gesicht allezeit dem Königreich Abhá zu... Laß weder deine Hände erzittern noch dein Herz beunruhigt sein, sondern sei vertrauend und standhaft in der Liebe deines Herrn, des Gnadenvollen, des Milden. (5, 6)
Vertraue auf Gott und lasse dich weder durch Lobpreis noch durch falsche Anschuldigungen erschüttern... sei ganz von Gott nur abhängig. (7)
Setze dein Vertrauen in all deinen Angelegenheiten auf Gott und überlasse sie Ihm. (8)
Die Quelle alles Guten ist Vertrauen in Gott, Unterwerfung unter Seinen Befehl und Zufriedenheit in Seinem heiligen Willen und Wohlgefallen. (9)
- Vertrauen in Schwierigkeiten
Heute ist die Menschheit niedergedrückt durch Sorgen, Not und Kummer, denen niemand entrinnt. Die Erde ist benetzt mit Tränen; doch danke Gott, denn das Heilmittel ist greifbar nahe. Laßt uns unsere Herzen abwenden von der materiellen Welt und in der geistigen Welt leben, die allein uns Freiheit zu geben vermag. Sind wir eingeschlossen von Schwierigkeiten, so brauchen wir nur Gott anzurufen, und es wird uns durch Seine große Gnade geholfen werden.
Wenn Sorge und Unglück über uns kommen, wollen wir unser Antlitz dem Königreich zuwenden, und himmlischer Trost wird uns zuteil werden. Sind wir krank und in Not, so wollen wir zu Gott um Heilung flehen, und Er wird unser Gebet erhören.
Wenn unsere Gedanken voll der Bitternis dieser Welt sind, wollen wir unsere Augen der Lieblichkeit göttlichen Mitleids zuwenden, und Er wird uns himmlische Ruhe senden. Sind wir gefangen in der materiellen Welt, so kann sich unser Geist dennoch zu den Himmeln erheben, und wir werden in der Tat frei sein.
Wenn unsere Tage sich dem Ende zuneigen, so wollen wir der ewigen Welten gedenken, und wir werden voll Freude sein. (10)
Verzweifle nicht, lächle vielmehr durch die Gnade deines Herrn; sei nicht betrübt, wenn weltliche Schwierigkeiten und Bedrückungen dir entgegentreten, denn sie sind vergänglich — und dein soll ewige Unsterblichkeit sein, Menschenalter und Jahrhunderte, Zeiten und Zyklen lang. (11)
Und wenn ich in Sorgen bin... schaue ich die Offenbarungen Deiner Gnadenfülle von überallher im Geiste voraus. (12)
Aber in allen Lagen mußt du dich Gott unterwerfen und Ihm vertrauen, und Er wird dir verleihen, was deinem Wohlbefinden dient, Wahrlich, Er ist gnadenvoll und mitleidig! Wie manche Angelegenheit war mit Schwierigkeiten verbunden und wurde dann geglättet, wie viele Probleme wurden gelöst durch den Willen Gottes! (13)
Was nun Säuglinge, kleine Kinder und Schwache betrifft, die durch die Hände von Unterdrückern getötet wurden: Hierin liegt eine große Weisheit und diese Sache ist von höchster Wichtigkeit. Kurz gesagt: Für diese Seelen gibt es eine Belohnung in einer andern Welt. Viele Einzelheiten hängen damit zusammen. Für solche Seelen ist dieses Leiden größte Gnade Gottes.
Wahrlich, diese Gnade Gottes ist weit besser und sie ist jeglicher [Seite 105]
Bequemlichkeit dieser Welt und dem Wachstum und der Entwicklung dieser
Stätte der Sterblichkeit vorzuziehen. (14)
- Gottvertrauen ist besser als Selbstvertrauen
Diese Geschehnisse (wie der Untergang der „Titanic“) haben tiefere Gründe. Ihr Zweck ist, den Menschen gewisse Lehren zu erteilen. Wir leben in einer Welt des Vertrauens auf materielle Verhältnisse. Die Menschen bilden sich ein, die enorme Größe und Stärke eines Schiffes, vollendete Maschinenanlagen oder die Geschicklichkeit eines Steuermanns werden ihnen Sicherheit bieten; aber diese Unglücksfälle finden zuweilen statt, damit die Menschen wissen mögen, daß Gott allein ihr wirklicher Beschützer ist. Wenn es der Wille Gottes ist, den Menschen zu beschützen, mag ein kleines Boot der Zerstörung entgehen, während das größte und bestgebaute Schiff mit dem erfahrensten und geschicktesten Steuermann einer solchen Gefahr nicht entrinnen vermag, wie sie das Meer in sich birgt. Die Absicht ist, daß die Menschen auf der Welt sich Gott, dem einzigen Beschützer, zuwenden, daß die Menschenseelen sich Seiner Vorsehung anvertrauen und in Ihm ihre wahre Sicherheit erkennen mögen. Diese Dinge geschehen, damit der Menschen Glaube größer und stärker werde. Deshalb müssen wir, auch wenn wir traurig und entmutigt sind, Gott anflehen, daß Er unsere Herzen dem Königreiche zuwende, und für diese abgeschiedenen Seelen beten im Glauben an Seine unendliche Gnade, so daß sie sich, wenn schon dieses irdischen Lebens beraubt, eines neuen Daseins in den höchsten Wohnstätten des himmlischen Vaters erfreuen mögen.
Laßt nun nicht die Meinung aufkommen, diese Worte besagten, der Mensch sollte nicht gründlich und vorsichtig in seinen Unternehmungen sein. Gott hat dem Menschen den Verstand gegeben, daß er sich vorsehe und selbst beschütze. Darum muß er achtsam sein und sich mit all dem versehen, was wissenschaftliches Können hervorbringt. Er müß überlegend, bedachtsam und gründlich in seinem Vorhaben sein, die besten Schiffe bauen und für den erfahrensten Kapitän sorgen, doch bei alledem Gott vertrauen und Gott als den einen Erhalter betrachten. (15)
- Gnade, Vergebung und Barmherzigkeit Gottes
Du bist Der, o mein Gott, durch dessen Namen die Kranken geheilt, die Leidenden wieder gesund gemacht, die Durstigen erfrischt, die vom Schmerz Gepeinigten beruhigt, die Eigenwilligen geführt, die Erniedrigten erhöht, die Armen bereichert, die Unwissenden belehrt, die Schwermütigen erleuchtet, die Betrübten erheitert, die Erstarrten erwärmt und die Niedergeschlagenen aufgerichtet werden. Durch Deinen Namen, o mein Gott, wurden alle erschaffenen Dinge bewegt, die Himmel ausgebreitet, die Erde erschaffen und die Wolken erweckt und bestimmt, ihr Regen zu spenden. Dies, wahrlich, ist ein Zeichen Deiner Gnade zu allen Deinen Geschöpfen. (16)
Alles Dasein, ob sichtbar oder unsichtbar, o mein Herr, bezeugt, daß
Deine Gnade alle erschaffenen Dinge übertrifft, und Deine liebende Güte
die gesamte Schöpfung umfaßt. (17)
[Seite 106]
Du bist der Wohltätige, durch dessen Gnade die überströmende Fülle hoch und niedrig zuteil wurde und Dein Glanz über Gehorsame und Empörer erstrahlte. (18)
So reinige mich denn, o mein Gott, von meinen Sünden durch Deine Gnade und Güte und zähle mich zu denen, die sich weder durch Furcht noch durch Kummer niederdrücken lassen. (19)
O Du, der Du der Allwissende bist! Obgleich eigenwillig, klammern wir uns dennoch an Deine Freigebigkeit; obgleich unwissend, wenden wir doch unser Antlitz hin nach dem Ozean Deiner Weisheit. Du bist der Wohltätige, den alle unsere Sünden nicht davon abhalten, uns Deine Freigebigkeit zu gewähren, und dessen Gabenflut nicht gehemmt wird durch die Abkehr der Menschen der Welt. Von Ewigkeit an war das Tor Deiner Gnade weit geöffnet. Ein Tautropfen aus dem Ozean Deiner Barmherzigkeit vermag alle Dinge mit dem Schmuck der Heiligkeit zu zieren, und nur ein Sprühhauch von den Wassern Deiner Güte kann der gesamten Schöpfung wahren Reichtum verleihen.
Seit Ewigkeit haben die Zeichen Deiner Güte das All umgeben, und der Glanz Deines allergrößten Namens wurde auf alle erschaffenen Dinge ergossen. Versage nicht Deinen Dienern die Wunder Deiner Gnade. Lasse sie Dich gewahr werden, damit sie Deine Einheit bezeugen mögen, und befähige sie, Dich zu erkennen, damit sie Dir entgegeneilen. Deine Barmherzigkeit umfaßt die gesamte Schöpfung und Deine Gnade durchdringt alle Dinge. Durch die Wogen des Ozeans Deiner Großmut wurden die Meere des Verlangens und der Begeisterung offenbar. Du bist Der, der Du bist. Alles außer Dir ist so lange jeglicher Erwähnung unwürdig, bis es in Deinen Schatten eingeht und Zutritt zu Deinem Hofe erreicht.
Was immer uns befällt, wir bitten um Deine altewige Vergebung und suchen Deine alles durchdringende Gnade. (20)
- Vertrauen auf Gott, daß Er uns Seine göttlichen Manifestationen sende
Es steht uns nicht an, zu behaupten, die göttliche Gnade habe aufgehört, der Glanz der Göttlichkeit sei erloschen oder die Sonne der Wahrheit sei auf ewig verschwunden in jene Nacht, der kein Dämmern und kein Sonnenaufgang folgt, in jenen Tod, dem kein Leben folgt, in jenen Irrtum, dem keine Wahrheit folgt. Ist es denkbar, daß die Sonne der Wirklichkeit in ewiges Dunkel versinkt? Nein! Die Sonne wurde erschaffen, damit sie Licht über die Welt ausstrahle und alle Reiche des Daseins belebe. Wie kann dann die herrliche Sonne der Wahrheit, das Wort Gottes, für immer untergehen? Dies würde ja das Aufhören göttlicher Gnade bedeuten, und göttliche Gnade ist in ihrem wahren Wesen fortdauernd und ewig. Ihre Sonne erstrahlt immer, ihre Wolken schenken stets Regen, ihr Hauch weht allezeit, ihre Gaben sind allumfassend und immer vollendet. Daher müssen wir immer zuversichtlich, immer hoffnungsvoll sein und zu Gott beten, daß Er uns Seine heiligen Manifestationen in Ihrer vollendeten Macht, mit der göttlichen, durchdringenden Kraft Seines Wortes sende. (21)
*) Nachdem uns unter diesem Titel eine neue Textzusammenstellung in Buchform
aus USA. kürzlich zuging, brechen wir den wiederholten Abdruck der Zusammenstellung von Mary M. Rabb
ab und bringen die neue Textauswahl in Fortsetzungen zum Abdruck. Die „Göttliche Lebenskunst“ von
M. M. Rabb erschien in dieser Zeitschrift, Jahrgänge XII bis XV. (Anmerkung der Schriftleitung.)
**) Die Ziffern in Klammern bezeichnen die Quellen, die wir in der letzten Nummer dieses Jahrganges anführen werden.
DER VERHEISSENE TAG IST GEKOMMEN[Bearbeiten]
- Von Shoghi Effendi
(Fortsetzung)
Merkmale dieses ergreifenden Dramas
Einige wenige auffallende Merkmale dieses ergreifenden Dramas aufzuzählen, wird genügen, um in dem mit der Geschichte des Glaubens schon vertrauten Leser dieser Seiten die Erinnerung an jene Wechselfälle wachzurufen, die Er durchmachen mußte und welche die Welt bis jetzt mit so kalter Gleichgültigkeit betrachtet hatte: Die erzwungene und plötzliche Zurückgezogenheit Bahá’u’lláh’s in die Berge von Sulaymániyyih und die schmerzlichen Folgen, die aus Seiner zweijährigen Zurückgezogenheit entsprangen; die unaufhörlichen Ränkespiele, welche die Spitzen des schiitischen Islam in Najaf und Karbilá, die in enger, ständiger Fühlung mit ihren Verbündeten in Persien arbeiteten, sich erlaubten; die Verschärfung der Unterdrückungsmaßnahmen durch einen Erlaß des Sultans 'Abdu’l-'Aziz, die den Abfall gewisser hervorragender Mitglieder der verbannten Gemeinde auf die Spitze trieben; die Durchführung noch einer weiteren Verbannung auf Befehl des gleichen Sultans, dieses Mal nach jener weit abseits gelegenen und trostlosesten Stadt, was solche Verzweiflung hervorrief, daß dadurch zwei der Verbannten zum Selbstmordversuch getrieben wurden; die gleich scharfe Überwachung, welcher sie auch bei ihrer Ankunft in Akká durch feindliche Beamte unterworfen wurden, und die unerträgliche Gefangenschaft zwei Jahre lang in der Kaserne dieser Stadt; das Verhör, dem hernach der türkische Pascha seinen Gefangenen im Hauptquartier der Regierungsbehörde unterwarf; Seine Haft nicht weniger als acht Jahre lang in einer bescheidenen Wohnung, von der fauligen Luft dieser Stadt umgeben, wohei Seine einzige Erholung dahin beschränkt war, daß Er den engen Raum Seines Zimmers abschreiten durfte — all dieses wie auch andere Trübsale verkünden einerseits die Natur der strengen Prüfungen und erlittenen Beleidigungen und zeigen andererseits mit dem Finger der Anklage auf jene Mächtigen auf Erden, die Ihn entweder so schmerzlich mißhandelt oder wohlbedacht Ihm ihre Hilfe vorenthalten hatten.
Kein Wunder, daß von der Feder Dessen, der diese Qual mit solch
erhabener Geduld trug, diese Worte offenbart worden waren: „Er, der
Herr des Sichtbaren und des Unsichtbaren, ist jetzt allen Menschen
offenkundig. Sein gesegnetes Selbst ist mit solchem Leid gequält worden,
daß, wenn alle Meere, die sichtbaren und die unsichtbaren, in Tinte verwandelt
würden und alle, die im Königreiche wohnen, in Federn und alle, die in
den Himmeln sind, und alle, die auf Erden sind, in Schreiber, sie gewißlich
unfähig wären, dies aufzuzeichnen.“ Und hinwiederum: „Ich bin die meisten
Meiner Lebenstage wie ein Sklave gewesen, der unter einem Schwerte
sitzt, das an einem Faden hängt, und der nicht weiß, ob es bald oder spät
auf ihn herabfällt.“ „Alles, was dieses Geschlecht“, so bekräftigt Er,
„Uns darbieten konnte, waren Wunden von seinen Pfeilen, und der einzige Kelch,
den es Unseren Lippen darreichte, war der Kelch seines Giftes. Auf Unserem
[Seite 108]
Nacken tragen Wir noch die Narben von Ketten und Unserem Körper sind
die Beweise unbarmherziger Grausamkeit aufgedrückt.“ „Zwanzig Jahre
sind verronnen, o Könige!“ hat Er geschrieben, als Er sich auf dem
Höhepunkt Seiner Sendung an die Könige der Christenheit wandte, „während
derer Wir jeden Tag die herben Qualen einer neuen Trübsal verschmeckt
haben. Keiner derer, die vor Uns waren, hat das erduldet, was Wir
erduldet haben. Könntet ihr doch dies erfassen! Die, welche sich gegen Uns
erhoben, haben Uns hingerichtet, haben Unser Blut vergossen, haben Unseren
Besitz geplündert und Unsere Ehre verletzt. Obwohl der meisten
Unserer Leiden gewahr, habt ihr es dennoch unterlassen, dem Angreifer
in die Hand zu fallen. Ist es denn nicht eure klare Pflicht, der Tyrannei
des Unterdrückers Einhalt zu gebieten und euere Untertanen unparteiisch
zu behandeln, auf daß euer hoher Gerechtigkeitssinn der ganzen
Menschheit voll bewiesen werde?“ Wo ist der Herrscher — darf man
das nicht zuversichtlich fragen? — im Osten oder Westen, der irgendwann
einmal seit dem Heraufdämmern einer so überragenden Offenbarung sich
dazu entschlossen gefühlt hätte, seine Stimme zu erheben zu ihrem Lobpreis
oder gegen jene, die sie verfolgten? Welche Menschen haben im Laufe
einer so langen Gefangenschaft sich gedrängt gefühlt, sich zu erheben und
die Flut solcher Trübsale zu dämmen? Wo ist der Herrscher — eine einzelne
Frau ausgenommen, die in einsamer Glorie leuchtet — der, in auch nur
bescheidenem Maße, sich zu einer Antwort auf den durchdringenden Ruf
Bahá’u’lláh’s getrieben gefühlt hätte? Wer unter den Großen der Erde war
geneigt, diesem kindlichzarten Gottesglauben die Wohltat seiner Anerkennung
und Unterstützung zu gewähren? Welche der vielen Glaubensbekenntnisse,
Sekten, Rassen, Parteien und Klassen und der so verschieden entwickelten
Schulen menschlichen Denkens hielt es für nötig, ihren Blick
auf das emporsteigende Licht dieses Glaubens zu richten, sein sich
entfaltendes System zu betrachten, sein verborgenes Fortschreiten zu bedenken,
seine gewichtige Botschaft zu werten, seine lebenserneuernde Kraft
anzuerkennen, seine heilbringende Wahrheit zu erfassen oder seine ewigen
Wahrheiten zu verkünden? Wer unter den Weltweisen und sogenannten
Männern von Einsicht und Weisheit, kann, nach Verlauf von nahezu einem
Jahrhundert, mit Recht den Anspruch erheben, uneigennützig seinen
Hauptgedanken gut geheißen, unparteiisch seine Ansprüche betrachtet, genügend
um die Erforschung seines Schrifttums sich bemüht zu haben, beharrlich die
Trennung von Wahrheit und Dichtung erstrebt oder seiner Sache die
Behandlung, die sie verdiente, gewährt zu haben? Wo sind die hervorragenden
Vertreter der Künste oder Wissenschaften, einige wenige Einzelfälle
ausgenommen, die einen Finger gerührt oder ein Wort der Empfehlung
geflüstert haben, zur Verteidigung oder zum Lob eines Glaubens,
welcher der Welt eine so unschätzbare Wohltat beschert hat, welcher so lang
und schmerzlich gelitten hat und welcher in seiner Schale eine so
bezaubernde Verheißung für eine so jammervoll zerschlagene, so
offensichtlich bankrotte Welt bewahrt?
Der ansteigenden Flut von Prüfungen, die den Báb niederwarfen, dem
lange hingedehnten Unglück, das auf
[Seite 109]
Bahá’u’lláh herniederströmte, den Warnungen, die vom Herold sowohl
wie vom Begründer der Bahá’i-Offenbarungen erschollen, müssen die nicht
weniger als siebzig Jahre lang von 'Abdu’l-Bahá erduldeten Leiden
hinzugezählt werden, und ebenso Seine Beschwörungen und Bitten, die Er an
Seinem Lebensabend in Verbindung mit den in wachsendem Maße die
Menschheit als Ganzes bedrohenden Gefahren aussprach. Geboren gerade
in dem Jahre, das Zeuge war des Anfangs der Bábi-Offenbarung, getauft
mit den ersten Feuern der Verfolgung, die um diese werdende Sache rasten,
als achtjähriger Knabe Augenzeuge der gewaltsamen Umwälzungen, die
den Glauben, dessen Sein Vater sich angenommen hatte, erschütterten, mit
Ihm die Schmach teilend und die Gefahren und Härten, welche die
aufeinanderfolgenden Verbannungen aus der Heimat in Länder weit jenseits
deren Grenzen nach sich ziehen mußten, verhaftet und gezwungen, bald
nach Seiner Ankunft in Akka in einer dunklen Zelle den Schimpf der
Gefangenschaft zu ertragen, Gegenstand wiederholter Nachforschungen
und Zielscheibe dauernder Angriffe und Beleidigungen unter der
despotischen Herrschaft des Sultans ‘AbdwlHamid und später unter der unbarmherzigen Militärdiktatur des argwöhnischen und grausamen Jamál Pascha — war auch Er, der Mittelpunkt und
die Achse des unvergleichlichen Bündnisses von Bahá’u’lláh und das vollkommene
Beispiel Seiner Lehren, dazu erschaffen, aus den Händen von
Machthabern, Geistlichen, Regierungen und Völkern den Schmerzenskelch
zu kosten, den der Báb und Bahá’u’lláh und auch so viele Ihrer
Anhänger geleert hatten.
Mit den Warnungen, die Seine Feder und Seine Stimme in zahllosen Sendschreiben und Reden während einer fast lebenslangen Haft und im Verlaufe Seiner ausgedehnten Reisen im europäischen wie auch amerikanischen Kontinent geäußert haben, sind diejenigen, die für die Verbreitung des Glaubens Seines Vaters in der westlichen Welt arbeiten, genügend bekannt. Wie oft und wie leidenschaftlich richtete Er Seinen Ruf an Menschen von Einfluß und an das breite Publikum, die von Seinem Vater verkündeten Lehren sachlich zu prüfen! Mit welcher Genauigkeit und welchem Nachdruck entwickelte Er das System des Glaubens, den Er auslegte, erläuterte Er dessen Grundwahrheiten, betonte Er dessen Unterscheidungsmerkmale und verkündigte Er den erlösenden Charakter seiner Grundsätze! Wie eindringlich deutete Er das bevorstehende Chaos voraus, die nahenden Umwälzungen, den Weltbrand, der in den Sein Leben abschließenden Jahren erst begonnen hatte, das Ausmaß seiner Gewalt und die Bedeutung seines Stoßes auf die menschliche Gesellschaft zu enthüllen.
Als Mitbetroffener an den schmerzlichen Prüfungen und plötzlichen Enttäuschungen,
die den Báb und Bahá’u’lláh heimsuchten, zu Lebzeiten eine Ernte einbringend, die
zu Seinem erhabenen, unaufhörlichen, tätigen Bemühen in gar keinem Verhältnis
stand, die ersten Verwirrungen der welterschütternden Katastrophe,
die einer ungläubigen Menschheit wartete, noch erlebend, vom Alter gebeugt
und das Auge getrübt durch den sich zusammenbrauenden Sturm,
den die Aufnahme, die ein glaubensloses Geschlecht der Sache Seines Vaters
bot, sich entfesseln ließ, und das
[Seite 110]
Herz blutend über das Gottes eigensinnigen Kindern unmittelbar drohende
Verhängnis — so sank Er zuletzt unter dem Gewicht von Mühsalen dahin, für welche
jene, die sie Ihm und den Ihm Vorangegangenen auferlegt hatten, bald zu
einer schrecklichen Abrechnung geladen wurden.
„Beschleunige, o mein Gott“, so rief Er zu einer Zeit, da Unglück Ihn schmerzlich überfallen hatte, „die Tage meines Aufstiegs zu Dir und meines Kommens zu Dir und meines Eintritts in Deine Gegenwart, auf daß ich befreit werde von der Finsternis der Grausamkeit, die sie mir zufügten, und einziehe in die lichten Lüfte Deiner Nähe, o mein Herr, Du Allherrlicher, und daß ich raste unter dem Schatten Deines größten Erbarmens.“ „Yá-Bahá’u’l-Abhá (O du Herrlichkeit der Herrlichkeiten)!“ schrieb Er in einem Tablet in der letzten Woche Seines Lebens, „ich habe der Welt und ihren Menschen entsagt und bin gebrochenen Herzens und leidbetrübt wegen der Ungläubigen. In dem Käfig dieser Welt flattere ich wie ein geängstigter Vogel und sehne mich jeden Tag, den Flug nach Deinem Königreich anzutreten. Yá-Bahá’u’l-Abhá! Lasse mich vom Kelche des Opfers trinken und setze mich in Freiheit. Erlöse mich aus diesen Wehen und Prüfungen, aus diesen Mühen und Trübsalen.“
Liebe Freunde! Wehe, tausendmal wehe, daß eine so unvergleichlich große, so unendlich kostbare, so machtvoll gewaltige, so offensichtlich lautere Offenbarung von seiten eines so blinden und so verdorbenen Geschlechtes eine so schändliche Behandlung erfahren hat! „O Meine Diener!“ bezeugt Bahá’u’lláh selbst, „der eine wahre Gott ist Mein Zeuge! Dieser größte, unergründliche, aufwogende Ozean ist euch nahe, wunderbar nahe. Seht, er ist euch näher als euere Lebensader! Schnell, wie ein Augenzwinkern, könnt ihr, wenn ihr nur wollt, ihn erreichen und teilnehmen an dieser unvergänglichen Gunst, an dieser gottgeschenkten Gnade, an dieser unverderblichen Gabe, an dieser höchst machtvollen und unaussprechlich herrlichen Gnadenfülle.“
Eine Welt verschloß sich Ihm
Nach einer Umwälzung von fast hundert Jahren — was begegnet da
dem Auge, wenn es die internationale Bühne betrachtet und zurückschaut
auf den ersten Beginn der Bahá’i-Geschichte? Eine Welt, verkrampft in
die Todeskämpfe streitender Systeme, Rassen und Nationen, verstrickt in
die Maschen ihrer angehäuften Falschheiten, ferner und ferner abtreibend
von Ihm, welcher der alleinige Schöpfer ihrer Geschicke ist, und immer
tiefer versinkend in ein selbstmörderisches Blutbad, welches die
Vernachlässigung und Verfolgung Dessen, der ihr Erlöser ist, beschleunigt hat.
Ein Glaube, noch geächtet, aber schon seine Puppenschale durchbrechend,
aus dem Dunkel einer hundertjährigen Unterdrückung auftauchend, im
Angesicht der schrecklichen Beweise von Gottes wütendem Zorn dazu ausersehen,
sich über die Trümmer einer zerschmetterten Zivilisation zu erheben — und
ihm gegenüber eine Welt, geistig verlassen, moralisch bankrott, politisch
zerrissen, sozial erschüttert, wirtschaftlich gelähmt, sich windend,
blutend und zerberstend unter der rächenden Rute Gottes. Ein Glaube,
dessen Ruf ungehört verhallte, dessen Ansprüche verworfen, dessen
Warnungen beiseite geschoben, dessen
[Seite 111]
Anhänger niedergemäht, dessen Zwecke und Ziele verleumdet, dessen
Aufforderungen an die Herrscher der Erde nicht beachtet würden,
dessen Herold den Kelch des Märtyrertums leerte, dessen Begründer
ein Meer von unerhörten Trübsalen über sich brausen sah und dessen
Vorbild unter dem Gewicht lebenslanger Kümmernisse
und gräßlicher Mißgeschicke dahinsank — und eine Welt, die ihren Halt
verloren hat, in der die helle Flamme der Religion nahe am Erlöschen ist, in
der die Kräfte eines lärmenden Nationalismus und Rassendünkels die Rechte
und Vorrechte von Gott selbst an sich gerissen haben, in der ein offen
wütender Säkularismus, der direkte Auswuchs von Religionslosigkeit, sein
triumphierendes Haupt erhoben hat und mit seinen häßlichen Zügen sich
vordrängt, in der „die Majestät des Königstums“ entehrt worden ist und
diejenigen, die seine Sinnbilder trugen, größtenteils von ihren Thronen
geschleudert worden sind, in der die einmal allmächtigen kirchlichen
Priesterherrschaften des Islam und in geringerem Ausmaß jene des
Christentums in Verruf gekommen sind und in der das Gift von Vorurteil und
Verderbnis in den lebenswichtigen Organen einer schon schwer in Unordnung
geratenen Gesellschaft nagt. Ein Glaube, dessen Einrichtungen — Urbild und
krönende Glorie des kommenden Zeitalters — nicht beachtet
und in einigen Fällen sogar zertreten und entwurzelt wurden, dessen
sich entfaltendes System belächelt und teilweise unterdrückt und verstümmelt
wurde, dessen aufsteigende Ordnung, die einzige Zuflucht einer vom
Verhängnis ereilten Zivilisation, verschmäht und herausgefordert worden
ist, dessen Muttertempel beschlagnahmt und enteignet worden ist und
dessen „Haus“ — „der Leitstern einer anbetenden Welt“ — durch einen groben
Rechtsmißbrauch, wie vom höchsten Weltgerichtshof bezeugt, seinen
unversöhnlichen Feinden in die Hände geliefert und von ihnen
geschändet worden ist.
Wir leben tatsächlich in einer Zeit, die, wollen wir sie richtig einschätzen, so angeschaut werden muß, daß sie ein zweifaches Phänomen bezeugt: Das erste gibt die Todesqualen einer verbrauchten und gottlosen Ordnung zu erkennen, die sich trotz der Zeichen und Vorbedeutungen einer jahrhundertalten Offenbarung stur geweigert hat, ihren Gang nach den Vorschriften und Idealen, die dieser vom Himmel gesandte Glauben ihr bot, abzustimmen. Das zweite verkündet die Geburtswehen einer göttlichen und erlösenden Ordnung, welche unvermeidlich die erstere verdrängen wird und in deren Verwaltungsgefüge keimhaft eine unvergleichliche, weltumfassende Zivilisation unmerklich heranreift. Die eine ist im Begriff aufgerollt zu werden und kracht zusammen in Bedrängnis, Blutvergießen und Trümmern. Die andere eröffnet neue Ausblicke auf eine Gerechtigkeit, Einigkeit, Friedenszeit und Kultur, wie kein Zeitalter sie je gesehen. Die erstere hat ihre Kraft erschöpft, ihre Falschheit und Unfruchtbarkeit erwiesen, ihre Gelegenheiten unwiederbringlich verpaßt und eilt in ihr Verderben. Die letztere, mannhaft und unüberwindlich, reißt ihre Ketten auseinander und rechtfertigt ihren Titel, die eine Zuflucht zu sein, worin die schmerzgeprüfte Menschheit, von ihren Schlacken gereinigt, ihre Bestimmung erreichen kann.
„Bald“, hat Bahá’u’lláh geweissagt,
[Seite 112]
„wird die Ordnung des heutigen Tages aufgerollt und eine neue an ihrer
Statt verbreitet werden.“ Und hinwiederum: „Bei Mir selbst! Der Tag naht
heran, da Wir die Welt und alles, was darinnen ist, aufgerollt und eine
neue Ordnung an ihrer Statt ausgebreitet haben.“ „Der Tag naht heran,
da Gott ein Volk erweckt, das Unsere Tage ins Gedächtnis rufen, die
Geschichten Unserer Prüfungen erzählen und die Wiederherstellung Unserer
Rechte verlangen wird von denen, die ohne ein Tüttelchen von Beweisen
Uns mit offenbarer Ungerechtigkeit behandelt haben.“
Liebe Freunde! Um der Prüfungen willen, die den Glauben Bahá’u’lláh’s
betroffen haben, ruht eine erschreckende und unentrinnbare Verantwortung
auf denen, in deren Hände die Zügel bürgerlicher und kirchlicher
Gewalt gelegt waren. Die Könige der Erde sowohl wie die religiösen Führer
der Welt müssen in erster Linie die Wucht einer solchen schrecklichen
Verantwortung tragen. „Ein jeder weiß wohl“, bezeugt Bahá’u’lláh selbst, „daß
alle Könige sich von Ihm abgewandt und alle Religionen sich Ihm widersetzt
haben.“ „Seit unvordenklichen Zeiten“, erklärt Er, „haben die mit
äußerlicher Vollmacht Bekleideten die Menschen daran gehindert, ihr
Angesicht Gott zuzuwenden. Sie haben es nicht leiden mögen, daß die Menschen
sich um den allergrößten Ozean versammeln sollten, da sie ein solches sich
Versammeln als Ursache und Beweggrund des Zusammenbruchs ihrer eigenen
Herrschaft betrachtet haben und es noch so betrachten.“ „Die Könige“,
hat Er überdies geschrieben, „haben, wie auch die Minister und
Geistlichen, wohl bemerkt, daß es nicht in ihrem Nutzen liegt, Mich
anzuerkennen, obwohl mein Plan ganz deutlich in den göttlichen Büchern
und Sendschreiben geoffenbart worden ist und der eine Wahre laut
verkündet hat, daß diese allergrößte Offenbarung für die Besserung der Welt
und die Erhöhung der Völker erschienen ist.“ „Barmherziger Gott!“ schreibt
der Báb in den Dalá’il-i-Sab'ih (Sieben Beweise) in bezug auf die „sieben
mächtigen Herrscher, die die Welt regieren“ zu Seiner Zeit, „keiner von
ihnen ist von Seiner (des Báb) Manifestation benachrichtigt worden, und
wenn er benachrichtigt worden wäre, hätte keiner an Ihn geglaubt. Wer
weiß, sie mögen die Welt hienieden verlassen voll von Wünschen, und
ohne sich bewußt geworden zu sein, daß das, worauf sie gewartet haben,
eingetreten war. Das ist, was einst den Herrschern zustieß, die am
Evangelium festhielten. Sie warteten auf das Kommen des Propheten Gottes
(Muhammad) und als Er wirklich erschien, erkannten sie Ihn nicht. Schaut,
wie groß die Geldsummen sind, die diese Herrscher ausgeben, ohne auch
nur auf den leisesten Gedanken zu kommen, einen Beamten zu ernennen
und mit der Aufgabe zu betrauen, ihnen von der Manifestation Gottes
in ihren eigenen Reichen zu berichten, Sie würden dadurch den Zweck
erfüllt haben, für den sie erschaffen worden sind. Alle ihre Wünsche
waren und sind noch darauf gerichtet, Spuren ihrer Namen zurückzulassen.“
Der Báb gibt außerdem in dieser gleichen Abhandlung, bei der Kritik
des Versagens der christlichen Geistlichen in der Anerkennung der Wahrheit
der Sendung Muhammad’s, folgende erleuchtende Darlegung: „Der
Tadel fällt auf ihre Gelehrten; denn, wenn diese geglaubt hätten,
wäre die
[Seite 113]
Masse ihrer Landsleute ihnen gefolgt. So sehet denn, was geschehen ist! Die
gelehrten Männer der Christenheit werden deshalb für gelehrt gehalten,
weil sie die Lehren Christi schützen — und betrachtet nun, wie sie selbst
die Ursache dazu gewesen sind, daß die Menschen verfehlten, den Glauben
anzunehmen und Erlösung zu erlangen!“
Empfänger der Botschaft
Man darf nicht vergessen, daß es die Könige der Erde und die religiösen Führer der Welt waren, die vor allen anderen Menschenklassen zu unmittelbaren Empfängern der vom Báb sowohl wie von Bahá’u’lláh verkündeten Botschaft gemacht wurden. Sie waren es, die wohlüberlegt in zahlreichen historischen Sendschreiben angeredet und aufgefordert wurden, auf den Ruf Gottes zu hören, und an die in klarer, zwingender Sprache die Aufrufe, Ermahnungen und Warnungen Seiner verfolgten Botschafter gerichtet wurden. Sie waren es, die, als der Glaube geboren, und später, als seine Sendung verkündet ward, noch größtenteils unbestrittene und unumschränkte zivile und kirchliche Gewalt über ihre Untertanen und Anhänger ausübten. Sie waren es, die, herrlich thronend in Pomp und Prunk eines durch konstitutionelle Begrenzungen kaum erst eingeengten Königtums oder verschanzt in den Bollwerken einer scheinbar unverletzlichen Kirchenmacht, letzten Endes die Verantwortung übernahmen für jederart Unrecht, das durch jene begangen wurde, deren Schicksal sie unmittelbar beherrschten. Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß in den meisten Ländern des europäischen und asiatischen Festlandes Absolutismus einerseits und völlige Unterwürfigkeit unter die Kirchenherrschaft andererseits noch auffallende Charakterzüge des politischen und religiösen Lebens der Massen waren. Diese, beherrscht und gefesselt, waren der nötigen Freiheit beraubt, die sie befähigt hätte, die Ansprüche und Verdienste der ihnen dargebrachten Botschaft abzuschätzen oder vorbehaltlos ihre Wahrheit anzunehmen.
Kein Wunder denn, daß der Begründer des Bahá’i-Glaubens, und in
geringerem Maße auch sein Herold, auf die höchsten Herrscher und
religiösen Führer der Welt die volle Kraft Ihrer Botschaften gerichtet und sie
zu Empfängern einiger Ihrer erhabensten Sendschreiben gemacht und sie
in klarer und eindringlicher Sprache aufgefordert haben, auf Ihren Ruf zu
achten. Kein Wunder, daß Sie sich der Mühe unterzogen haben, vor deren
Augen die Wahrheiten Ihrer Offenbarungen zu entrollen und Ihre Schmerzen
und Leiden zu schildern. Kein Wunder, daß sie die Kostbarkeit günstiger
Gelegenheiten betont haben, die zu ergreifen in der Macht dieser Herrscher
und Führer lag, und sie in bedeutsamer Sprache vor der schweren
Verantwortung gewarnt haben, welche mit der Verwerfung von Gottes
Botschaft auf sie zurückfallen würde, und daß Sie, nachdem Sie
zurückgestoßen und abgewiesen waren, ihnen die furchtbaren Folgen vorausgesagt
haben, die solch eine Abweisung mit sich bringt. Kein Wunder, daß Er, der
König der Könige und Statthalter Gottes selbst, als Er aufgegeben,
verschmäht und verfolgt ward, diese epigrammatische und bedeutungsvolle
Weissagung ausgesprochen hat: „Zwei Klassen unter den Menschen haben
die Macht an sich gerissen: Könige und Geistliche.“
[Seite 114]
Was die Könige und Kaiser betrifft, die nicht nur in ihrer Person die Majestät irdischer Herrschaft versinnbildlichten, sondern meistens auch tatsächlich eine unanfechtbare Gewalt über die Massen ihrer Untertanen ausübten, so bildet ihre Beziehung zu dem Glauben Bahá’u’lláh’s eine der aufschlußreichsten Episoden des heroischen und des gestaltenden Zeitalters dieses Glaubens: Der göttliche Ruf, dessen Reichweite eine so große Zahl gekrönter Häupter Europas sowohl wie Asiens erfaßte, der Inhalt und die Sprache der Botschaften, die sie in unmittelbare Berührung mit dem Quell von Gottes Offenbarung brachten, die Art ihrer Reaktion auf einen so eindrucksvollen Anstoß und die Folgen, die sich ergaben und deren Zeuge wir heute noch sind, das sind die hervorragenden Züge eines Gegenstandes, den ich nur unzulänglich streifen kann und der voll und angemessen von künftigen Bahá’i-Geschichtsschreibern behandelt werden wird.
Der Kaiser von Frankreich, Napoleon III., der mächtigste Herrscher seiner Zeit auf dem europäischen Festland, Papst Pius IX., das oberste Haupt der höchsten Kirche des Christentums und Zepterträger weltlicher wie geistlicher Gewalt, Alexander II., der allmächtige Zar des weiten russischen Reiches, die berühmte Königin Viktoria, deren Herrschaft sich über das größte politische Bundesgebiet ausdehnte, das die Welt je gesehen hat, Wilhelm I., der Besieger Napoleons III., König von Preußen und neu ausgerufener Monarch des geeinigten Deutschland, Franz Joseph, der selbstherrliche Kaiser und König der österreichisch-ungarischen Monarchie, der Erbin des weltberühmten „Heiligen Römischen Reiches“, der tyrannische ‘Abdu’l-‘Aziz, der die zusammengefaßte Macht des Sultanats und Kalifats verkörperte, der berüchtigte Schah Násiri’d-Din, der despotische Beherrscher Persiens und der mächtigste Potentat des schiitischen Islám - in einem Wort, die meisten der hervorragenden Verkörperer der Macht und der Herrschergewalt Seiner Zeit, wurden einer nach dem andern Gegenstand von Bahá’u’lláh’s besonderer Aufmerksamkeit und hatten in verschiedenem Grade die Wucht der Kraft, die von Seinen Rufen und Warnungen ausging, zu ertragen.
Es sollte indessen immer festgehalten werden, daß Bahá’u’lláh sich nicht
darauf beschränkt hat, Seine Botschaft nur an wenige einzelne Herrscher
zu senden, wie mächtig auch das Zepter war, das jeder einzelne
trug, und wie weitläufig auch die Gebiete, die sie regierten. Alle Könige
der Erde sind auch gemeinsam durch Seine Feder angeredet, angerufen und
gewarnt worden zu einer Zeit, da der Stern Seiner Offenbarung zum Zenith
stieg und Er als Gefangener in den Händen und in der Nähe des Hofes
Seines königlichen Feindes lag. In einem denkwürdigen Sendschreiben,
Suriy-i-Muluk (Sure der Könige) bezeichnet, in welchem der Sultan selbst
und seine Minister sowie die Könige der Christenheit und der französische
und der persische Botschafter an der Hohen Pforte, die mohammedanischen
geistlichen Führer in Konstantinopel, die Gelehrten und die Bewohner
dieser Stadt, das Volk Persiens und die Philosophen der Welt ausdrücklich
angeredet und ermahnt worden sind, richtet Er also das Wort an die ganze
Schar von Monarchen im Osten und Westen:
[Seite 115]
Sendschreiben an die Könige
„O Könige der Erde! Schenket euer Ohr der Stimme Gottes, die von diesem
erhabenen, früchtebeladenen Baume aus ruft, der den hochroten Hügeln
auf der heiligen Ebene entsprossen ist und die Worte ertönen läßt: Es gibt
keinen Gott außer Ihm, dem Mächtigen, dem Allvermögenden, dem Allweisen.
... Fürchtet Gott, o Schar der Könige, und laßt euch nicht diese
höchsterhabene Gnade entgehen. So werfet hinweg die Dinge eures Besitzes
und haltet euch fest an dem Griff Gottes, des Erhabenen, des Großen.
Bringet eure Herzen dem Antlitz Gottes entgegen und gebet auf, wonach
euch eure Wünsche trachten ließen, und seid nicht von denen, die
zugrundegehen. Berichte ihnen, o Diener, die Geschichte ‘Ali’s (des Báb),
wie Er zu ihnen kam mit der Wahrheit, mit Seinem herrlichen und
gewichtigen Buch, in Seinen Händen ein Zeugnis und einen Beweis von Gott
und heilige und gesegnete Zeichen von Ihm. Ihr jedoch, o Könige, habt
versäumt, auf die Erinnerung Gottes in Seinen Tagen zu achten und euch
führen zu lassen von den Lichtern, die aufgingen und aufleuchteten über dem
Horizonte eines strahlenden Himmels. Ihr erforschtet nicht Seine Sache, wo
dies zu tun doch besser für euch gewesen wäre als alles, was die Sonne
bescheint — o könntet ihr das doch verstehen! Ihr bliebet unachtsam, bis
die Geistlichen Persiens, diese Grausamen, das Urteil gegen Ihn fällten
und Ihn zu Unrecht töteten. Sein Geist stieg zu Gott empor, und die Augen
der Bewohner des Paradieses und die Engel, die Ihm nahe sind, weinten
schmerzlich über diese Grausamkeit. Hütet euch, daß ihr nicht weiterhin
nachlässig seid, wie ihr nachlässig gewesen seid ehedem. So kehret denn
zurück zu Gott, eurem Schöpfer, und seid nicht unter den Achtlosen....
Mein Antlitz ist den Schleiern entstiegen und goß seine Strahlen auf alles,
was da im Himmel und auf Erden ist. Und doch habt ihr euch nicht Ihm
zugewandt, obwohl ihr für Ihn erschaffen seid, o Schar der Könige!
Befolget daher, was Ich euch sage, und höret darauf mit euren Herzen und
seid nicht von denen, die sich abgewandt haben, denn euer Ruhm besteht
nicht in eurer Herrschaft, sondern vielmehr in eurer Nähe bei Gott
und im Befolgen Seines Gebotes, wie es in Seinen heiligen und verwahrten
Sendschreiben geoffenbart worden ist. Sollte einer von euch über die ganze
Erde herrschen und über alles, was darinnen und darauf liegt, ihre Meere,
ihre Länder, ihre Berge und ihre Ebenen, und doch nicht seiner von
Gott gedacht werden, so würde all dies ihm nichts nützen — o könntet ihr
doch dies erkennen!... So erhebet euch denn und machet eure Füße
standhaft und macht wieder gut, was euch entgangen ist, und geht Seinem
heiligen Hof entgegen am Strande Seines mächtigen Ozeanes, auf daß die
Perlen der Erkenntnis und Weisheit, welche Gott euch vorbehalten hat in
der Hülle Seines strahlenden Herzens, euch offenbart werden mögen... Hütet
euch, daß ihr den Hauch Gottes nicht hindert, über eure Herzen zu
wehen, den Hauch, durch welchen die Herzen derer, die sich Ihm zugewandt
haben, belebt werden können ...“ „Legt nicht die Gottesfurcht zur
Seite, o Könige der Erde“, hat Er in demselben Tablet geoffenbart, „und
hütet euch, die Grenzen zu überschreiten, die der Allmächtige bestimmt hat.
[Seite 116]
Befolget, was Er euch eingeschärft hat in Seinem Buche, und gebt wohl acht,
dessen Schranken nicht zu übertreten. Seid wachsam, daß ihr niemandem
ein Unrecht zufügt, und sei es auch so klein wie ein Senfkorn, Beschreitet
den Pfad der Gerechtigkeit, denn dieser, wahrlich, ist der gerade Pfad.
Legt eure Streitigkeiten bei und setzet eure Kriegsrüstung herab, so daß
die Last eurer Ausgaben erleichtert und eure Gemüter und Herzen beruhigt
werden. Heilet die Zwistigkeiten, die euch zerspalten, und ihr werdet
nicht länger noch Kriegsrüstungen nötig haben, ausgenommen, was der
Schutz eurer Städte und Gebiete erfordert. Fürchtet Gott und gebet acht,
nicht aus den Grenzen der Mäßigkeit auszubrechen und zu den Unbesonnenen
gezählt zu werden. Wir haben erfahren, daß ihr jedes Jahr eure Ausgaben
vermehret und die Lasten dafür euren Untertanen aufbürdet. Dies,
wahrlich, ist mehr, als sie tragen können, und ist eine drückende
Ungerechtigkeit. Entscheidet gerecht zwischen den Menschen und seid die
Symbole der Gerechtigkeit unter ihnen. Dies ist, wenn ihr ehrlich
urteilt, das, was euch geziemt und was eurer Stufe angemessen ist.
Hütet euch, ungerecht zu handeln an jemandem, der euch anruft und unter euren Schatten tritt. Wandelt in der Furcht Gottes und seid unter denen, die ein gottseliges Leben führen. Verlaßt euch nicht auf eure Macht, eure Waffen und Schätze. Setzet euer ganzes Glauben und Vertrauen in Gott, der euch erschaffen hat, und suchet Seine Hilfe in allen euren Angelegenheiten. Hilfe kommt von Ihm allein. Er hilft, wem Er will, mit den Heerscharen der Himmel und der Erde.
Wisset, daß die Armen das Pfand Gottes sind in eurer Mitte. Seid achtsam, daß ihr Sein Pfand nicht veruntreut, daß ihr nicht ungerecht an ihnen handelt und daß ihr nicht auf den Wegen der Verräter wandelt. Ihr werdet ganz sicherlich zur Rechenschaft über Sein Pfand gerufen werden an dem Tage, da die Waage der Gerechtigkeit aufgestellt ist, an dem Tage, da jedermann das Seinige zu- . geteilt wird, da die Taten aller Menschen, ob reich oder arm, gewogen werden.
Wenn ihr den Ratschlägen, die Wir in unvergleichlicher und unzweideutiger Sprache in dieser Schrift geoffenbart haben, keine Achtung schenkt, dann wird von allen Seiten göttliche Züchtigung über euch kommen und der Urteilsspruch Seiner Gerechtigkeit wird gegen euch verkündet werden. An jenem Tage werdet ihr keine Macht haben, Ihm zu widerstehen, und werdet ihr eure eigene Ohnmacht erkennen. Habt Erbarmen mit euch selbst und mit denen, die euch unterstellt sind, und richtet sie nach dem von Gott auf Seiner hochheiligen und erhabenen Tafel verordneten Geboten, einer Tafel, worin Er allen und jedem sein festgesetztes Maß zugewiesen hat, worin Er deutlich eine Erklärung aller Dinge gegeben hat, und worin an sich schon eine Ermahnung liegt an alle, die an Ihn glauben.
Prüfet Unsere Sache, erforschet die Dinge, die uns befallen haben, und
entscheidet gerecht zwischen Uns und Unseren Feinden und seid unter
jenen, die unparteiisch handeln gegen ihre Nächsten. Wenn ihr dem
Unterdrücker nicht in den Arm fallet, wenn ihr versäumt, die Rechte
der Niedergetretenen zu schützen, welches Recht habt ihr dann, euch
unter den
[Seite 117]
Menschen zu rühmen? Was ist es, worauf ihr mit Recht euch großtun könnt?
Ist es euer Essen und Trinken, auf das ihr stolz seid, die Reichtümer, die
in euren Schatzkammern lagern, die Buntheit und der Wert des Schmuckes,
mit dem ihr euch bedecket? Wenn wahrer Ruhm im Besitze solch vergänglicher
Dinge bestände, dann müßte notwendigerweise die Erde, auf der
ihr wandelt, sich über euch brüsten, denn sie versorgt euch und beschenkt
euch gerade mit diesen Dingen nach dem Ratschluß des Allmächtigen. In
ihrem Innern ist alles, was ihr besitzet, enthalten so, wie Gott es
verordnet hat. Von ihr stammt euer Reichtum her als ein Zeichen Seiner Gnade.
So schauet denn eure Stellung an, deren ihr euch so rühmet! Könntet
ihr sie doch begreifen! Nein, bei Ihm, der in Seiner Gewalt das Königreich
der ganzen Schöpfung hält! Nirgends thront euer wahrer und dauernder
Ruhm als in eurem Festhalten an den Geboten Gottes, in eurem Befolgen
Seiner Gesetze aus ganzem Herzen, in eurem Entschluß, auf ihre Ausführung
bedacht zu sein, und unbeirrt den rechten Weg zu wandeln...“
Und wiederum in derselben Schrift: „Zwanzig Jahre sind verronnen, o Könige, während derer Wir jeden Tag die herben Qualen einer neuen Trübsal verschmeckt haben. Keiner derer, die vor Uns waren, hat das erduldet, was Wir erduldet haben. Könntet ihr doch dies erfassen! Die, welche sich gegen Uns erhoben, haben Uns hingerichtet, haben Unser Blut vergossen, haben Unseren Besitz geplündert und Unsere Ehre verletzt. Obwohl der meisten Unserer Leiden gewahr, habt ihr es dennoch unterlassen, dem Angreifer in die Hand zu fallen. Ist es denn nicht eure klare Pflicht, der Tyrannei des Unterdrückers Einhalt zu gebieten und eure Untertanen unparteiisch zu behandeln, auf daß euer hoher Gerechtigkeitssinn der ganzen Menschheit voll bewiesen werde?
Gott hat euren Händen die Zügel der Regierung des Volkes übergeben, daß ihr in Gerechtigkeit über sie herrschen, die Rechte der Niedergetretenen schützen und die Übeltäter strafen möget. Wenn ihr die Pflicht vernachlässigt, die Gott euch in Seinem Buche vorgeschrieben hat, so werden eure Namen in Seinen Augen zu denen der Ungerechten gezählt werden. Schmerzlich, in der Tat, wird euer Irrtum sein. Hänget ihr daran, was eure Einbildung euch vorgespiegelt hat, und verwerfet ihr die Gebote Gottes, des Höchsterhabenen, des Unerreichbaren, des Allbezwingers, des Allmächtigen? Werfet hinweg die Dinge, die ihr besitzet, und haltet euch an das, was Gott euch zu tun geheißen hat. Suchet Seine Gnade, denn wer sie sucht, der wandelt Seinen geraden Pfad.
Bedenket den Zustand, in dem Wir Uns befinden, und betrachtet die Leiden
und Übel, mit denen Wir geprüft worden sind! Vernachlässigt Uns nicht,
und sei es auch nur für einen Augenblick, und urteilt unparteiisch über
Uns und Unsere Feinde! Dies wird sicherlich ein offenbarer Vorteil für
euch sein, So berichten Wir euch Unsere Geschichte und erzählen im
einzelnen die Dinge, die Uns zugestoßen sind, auf daß ihr Unsere Leiden
von Uns nehmen und Unsere Bürde erleichtern möget. Lasset den, der es
will, Uns von Unserem Übel befreien, und, was den betrifft, der nicht
will — Mein Herr ist sicherlich der beste aller Helfer.
[Seite 118]
Warne das Volk, o Diener, und mache es bekannt mit den Dingen, die Wir zu Dir herabgesandt haben, und lasse von niemandem Dich durch Furcht bestürzen und gehöre nicht zu denen, die wanken. Der Tag naht heran, da Gott Seine Sache erhöhet und Sein Zeugnis verherrlicht haben wird vor den Augen aller, die in den Himmeln, und aller, die auf Erden sind. Setze in allen Lebenslagen Dein ganzes Vertrauen auf Deinen Herrn und hefte Deinen Blick auf Ihn und wende Dich ab von all denen, die Seine Wahrheit verschmähen. Lasse Gott, Deinen Herrn, Dir als Beistand und Helfer genügen. Wir haben gelobt, Deinen Triumph auf Erden zu sichern und Unsere Sache über alle Menschen zu erheben, auch wenn kein König zu finden wäre, der Dir seinen Blick zuwendete...“
Im Kitáb-i-Aqdas (dem höchstheiligen Buche), dieser unschätzbaren Schatzkammer, die für alle Zeiten die hellsten Ausstrahlungen des von Bahá’u’lláh’s Geist in sich birgt, der Urkunde Seiner Weltordnung, dem Hauptverwahrungsort Seiner Gesetze, dem Vorboten Seines Bündnisses, dem Hauptwerk, das einige Seiner edelsten Ermahnungen, gewichtigsten Aussprüche und unheilverkündenden Prophezeiungen enthält, das geoffenbart wurde in der Hochflut Seiner Trübsale, zu einer Zeit, als die Herrscher der Erde Ihn endgültig verlassen hatten — in einem solchen Buche lesen wir folgendes:
„O Könige der Erde! Er, der oberste Herr über alle, ist gekommen. Das Reich ist Gottes, des allmächtigen Beschützers, des Selbstbestehenden. Betet niemand an als Gott und erhebet mit strahlenden Herzen euer Angesicht zu euerem Herrn, dem Herrn aller Namen. Dies ist eine Offenbarung, welcher nichts, was immer ihr besitzet, jemals gleichgestellt werden kann — könntet ihr das doch erkennen! Wir sehen euch in Freude über das, was ihr von anderen angehäuft habt, und so euch selbst von den Welten ausschließen, die nichts außer Meiner verwahrten Tafel ermessen kann. Die Schätze, die ihr gesammelt, haben euch weithin abgelenkt von euerem letzten Ziel. Dies ziemt euch schlecht — o könntet ihr das doch verstehen! Waschet euere Herzen rein von allen irdischen Besudelungen und eilet, einzutreten in das Königreich eueres Herrn, des Schöpfers von Erde und Himmel, der machte, daß die Welt erzittert und alle ihre Völker wehklagen, ausgenommen jene, die auf alle Dinge verzichtet haben und sich an das anklammerten, was die verborgene Tafel verordnet hat...“
Das allergrößte Gesetz geoffenbart
Und weiterhin: „O Könige der Erde! Das allergrößte Gesetz ist an diesem Ort geoffenbart worden, auf diesem Schauplatz höchsten Glanzes. Alles Verborgene ist ans Licht gebracht worden kraft des Willens des höchsten Gesetzgebers, Dessen, der die letzte Stunde angekündigt hat, durch welchen der Mond gespalten und jeder unwiderrufliche Befehl erklärt worden ist.
Ihr seid nur Vasallen, o Könige der Erde. Er, der König der Könige, ist
erschienen im Gewande Seiner wunderbarsten Herrlichkeit und entbietet
euch vor Sich, den Beistand in der Gefahr, den Selbstbestehenden. Hütet
euch, daß euch nicht der Hochmut davon abhalte, den Quell der Offenbarung
zu erkennen, daß die Dinge dieser Welt euch nicht durch einen
[Seite 119]
Schleier abschließen von Ihm, dem Schöpfer des Himmels. Erhebet euch
und dienet Ihm, der die Sehnsucht aller Völker ist, der euch durch ein
Wort von Sich erschaffen hat und euch verordnet hat, für alle Zeit die
Sinnbilder Seiner Herrschaft zu sein.
Bei der Rechtschaffenheit Gottes! Es ist nicht Unser Wunsch, Hand an euere Königreiche zu legen. Unsere Sendung ist, die Herzen der Menschen zu ergreifen und zu besitzen. Auf sie ist der Blick Bahá’s geheftet. Dies bezeugt das Königreich der Namen — könntet ihr das doch verstehen! Wer seinem Herrn nachfolgt, wird der Welt entsagen und allem, was darinnen ist. Wieviel größer muß dann die Loslösung Dessen sein, der eine so erhabene Stufe innehat! Verlasset euere Paläste und eilet, Einlaß in Sein Königreich zu gewinnen. Dies, wahrhaftig, wird euch von Nutzen sein sowohl in dieser Welt als in der nächsten. Dies bezeugt der Herr des Reiches in der Höhe — würdet ihr das doch erkennen!
Wie groß ist die Glückseligkeit, die den König erwartet, der sich erheben wird, Meiner Sache in Meinem Königreich zu helfen, der sich loslösen wird von allem außer Mir! Solch ein König wird zu den Gefährten der roten Arche gezählt, der Arche, die Gott dem Volke von Bahá bereitet hat. Alle müssen seinen Namen verherrlichen, müssen seine Stufe ehren und ihm helfen, die Städte aufzuschließen mit den Schlüsseln Meines Namens, des allmächtigen Beschützers aller, die die sichtbaren und unsichtbaren Reiche bewohnen. Solch ein König ist das wahre Auge der Menschheit, der leuchtende Schmuck auf der Stirne der Schöpfung, der Urquell von Segnungen für die ganze Welt. Opfert, o Volk von Bahá, eueren Besitz, ja selbst euer Leben, um ihm beizustehen.“
Und weiterhin die offensichtliche Anklage in jenem selben Buch: „Wir haben nichts von euch gefordert. Um der Sache Gottes willen, wahrlich, ermahnen Wir euch und werden Wir uns gedulden, wie Wir uns geduldet haben in dem, was Uns befallen hat von euerer Hand, o Schar der Könige.“
Noch mehr: in Seinem Sendschreiben an Königin Viktoria redet Bahá’u’lláh alle Könige der Erde also an und fordert sie auf, sich an den „geringeren“ Frieden zu halten — der von dem „allergrößten Frieden“ zu unterscheiden ist, den alle jene, die sich der Macht Seiner Offenbarung voll bewußt sind und sich offen zu den Grundsätzen Seines Glaubens bekennen, allein verkünden können und am Ende errichten müssen:
„O Könige der Erde! Wir sehen euch jedes Jahr euere Ausgaben vermehren
und deren Lasten eueren Untertanen aufbürden, Das ist, wahrlich,
ganz und gar ungerecht. Fürchtet die Seufzer und Tränen dieses
Mißhandelten und ladet nicht übermäßige Lasten auf euere Völker. Beraubet
sie nicht, um für euch selbst Paläste zu errichten. Nein, wählet vielmehr für:
sie das, was ihr für euch selbst wählet. So entrollen Wir vor eueren
Augen das, was euch nützt — würdet ihr das doch erkennen! Euere Völker
sind euere Schätze. Hütet euch, daß ihr mit euerem Regieren die Gebote
Gottes nicht verletzet und ihr euere Mündel nicht den Händen der Räuber
ausliefert! Durch sie herrschet ihr, durch sie bestehet ihr, mit ihrer
Hilfe sieget ihr. Und doch, wie verächtlich schauet ihr auf sie herab!
Wie seltsam, wie höchst seltsam!
[Seite 120]
Nun, da ihr den allergrößten Frieden zurückgewiesen habt, haltet euch fest an diesen, den geringeren Frieden, auf daß ihr wenigstens einigermaßen euere eigene Lage und die der von euch abhängigen bessern möget.
O Herrscher der Erde! Versöhnet euch miteinander, so daß ihr nicht mehr Kriegsrüstungen benötigt, als dem Schutze euerer Gebiete und Länder angemessen ist. Hütet euch, den Rat des Allwissenden, des Glaubwürdigen zu mißachten.
Vereinigt euch, o Könige der Erde, denn dadurch wird der Sturm des Haders unter euch gestillt und euere Völker finden Ruhe — wenn ihr doch unter denen wäret, die das verstehen! Sollte einer unter euch gegen einen andern die Waffen ergreifen, so erhebet euch alle gegen ihn, denn dies ist nichts als offenbare Gerechtigkeit.“
An die christlichen Könige richtet Bahá’u’lláh des weiteren besondere Worte des Tadels und erschließt in unmißverständlicher Sprache die wahre Wesensart Seiner Offenbarung:
„O Könige der Christenheit! Hörtet ihr nicht die Worte Jesu, des Geistes Gottes: ‚Ich gehe von hinnen und komme wieder zu euch?‘ Warum also versäumtet ihr Ihm zu nahen, als Er wiederkam zu euch in den Wolken des Himmels, auf daß ihr Sein Antlitz schautet und zu denen gehörtet, die zu Seiner Gegenwart gelangen?“ An einer anderen Stelle sagt Er: „Wenn Er, der Geist der Wahrheit, kommt, wird Er euch in alle Wahrheit leiten.“
Und doch - sehet, wie es geschah: Als Er die Wahrheit brachte, weigertet ihr euch, das Angesicht Ihm zuzuwenden, und verharrtet dabei, euch mit euerem Spiel und Tand zu begnügen. Ihr botet Ihm kein Willkommen noch suchtet ihr Seine Gegenwart, um die Verse Gottes von Seinem eigenen Munde zu hören und teilzuhaben an der vielfältigen Weisheit des Allmächtigen, des Allherrlichen, des Allweisen. Ihr habt durch euere Versäumnis den Atem Gottes nicht über euch wehen lassen und habt euere Seelen der Süße Seiner Düfte beraubt. Ihr treibt auch weiterhin mit Ergötzen im Tale euerer verderbten Lüste herum. Ihr werdet mit allem, was ihr habt, vergehen. Ihr werdet, wahrlich, zu Gott zurückkehren und zur Rechenschaft gerufen werden für euere Taten in der Gegenwart Dessen, der die ganze Schöpfung versammeln wird...“
Der Báb des weiteren hat im Qayyumu’l-Asmá, Seinem gefeierten Kommentar der Surih Josephs, — offenbart im ersten Jahre Seiner Sendung und von Bahá’u’lláh als „das erste, das größte und mächtigste aller Bücher“ der Bábi-Sendung bezeichnet, — den erschütternden Ruf an die Könige und Fürsten der Erde erschallen lassen:
„O Schar der Könige und Königssöhne! Leget allesamt eueren Besitz,
der Gott gehört, beiseite... Eitel fürwahr ist euer Besitz, denn Gott hat
den irdischen Besitz derer, die Ihn verleugnet haben, verworfen...
O Schar der Könige! Übergebt in Treue und in aller Eile die von Uns
herabgesandten Verse den Völkern der Türkei und Indiens und darüber
hinaus mit Macht und in Treue den Ländern des Ostens und des
Westens... Bei Gott! Wenn ihr recht handelt, so handelt ihr recht zu
euerem eigenen Nutzen, und wenn ihr Gott und Seine Zeichen leugnet, so
können Wir, die Wir Gott haben,
[Seite 121]
wahrlich alle Geschöpfe und irdische Herrschaft wohl entbehren“
Und hinwiederum: „Fürchtet Gott, o Schar der Könige, auf daß ihr Ihm nicht fern bleibet, der Seine Erinnerung ist (der Báb), nachdem nun die Wahrheit unter euch gekommen ist mit einem Buch und mit Zeichen von Gott, wie es durch die wunderbare Zunge dessen, der Seine Erinnerung ist, ausgesprochen ward. Suchet Gnade bei Gott; denn Gott hat euch, wenn ihr an Ihn glaubet, einen Garten bestimmt, dessen Weite wie die Weite des Paradieses ist.“
So viel von den epochemachenden Ratschlägen und Warnungen, die der Báb und Bahá’u’lláh an die Herrscher der Erde insgesamt und an die Könige der Christenheit im besonderen gerichtet hatten. Ich würde aber meinem Stoffe nicht gerecht werden, wollte ich die kühnen, schicksalschweren Botschaften an die einzelnen Monarchen, die, als Könige oder Kaiser, mit kalter Gleichgültigkeit auf die Trübsale der beiden Begründer unseres Glaubens geblickt oder mit Verachtung ihre Warnungen verworfen haben, übergehen oder nur kurz behandeln. Ich kann nicht so vollständig, wie ich sollte, aus den zweitausend und mehr Versen zitieren, die aus der Feder von Bahá’u’lláh und, in geringerem Maße aus jener des Báb, geströmt und an die einzelnen Monarchen in Europa und Asien gerichtet sind; noch ist es mein Plan, mich weitläufig über die Umstände auszulassen, welche jene erstaunliche Aussprüche hervorgerufen haben, oder über die daraus entstandenen Folgen. Der Geschichtschreiber der Zukunft, der in weiterem Abstand und in vollerer Perspektive die schicksalschweren Ereignisse des apostolischen und des formbildenden Zeitalters des Glaubens von Bahá’u’lláh betrachten kann, wird zweifellos imstande sein, die Ursachen, Verwicklungen und Wirkungen dieser göttlichen Botschaften genau einzuschätzen und eingehend zu beschreiben. Sie haben in ihrem Endziel und ihrer Wirkungskraft sicherlich nicht ihresgleichen in den religiösen Annalen des Menschengeschlechtes.
An den französischen Kaiser Napoleon III. richtete Bahá’u’lláh folgende
Worte: „O König von Paris! Sage den Priestern, sie sollen nicht länger
die Glocken läuten. Bei Gott, dem Wahren! Die mächtigste Glocke ist
erschienen in der Gestalt Dessen, welcher der allergrößte Name ist, und
die Finger des Willens deines Herrn, des Hocherhabenen, des Höchsten,
schwingen sie weit im Himmel der Unsterblichkeit in Seinem Namen,
dem Allherrlichen. So sind die mächtigen Verse deines Herrn aufs neue
dir herabgesandt worden, auf daß du dich erheben mögest, Gottes zu
gedenken, des Schöpfers von Erde und Himmel, in diesen Tagen, da alle
Geschlechter der Erde trauern und die Grundmauern der Städte erzittern
und der Staub des Unglaubens alle Menschen einhüllt, ausgenommen
solche, die dein Herr, der Allwissende, der Allweise zu verschonen gewillt
war... Lausche, o König der Stimme, die aus dem Feuer rufet, das in diesem
grünenden Baume brennt, auf diesem Sinai, der sich über dem geheiligten,
schneeweißen Orte erhoben hat jenseits der ewigen Stadt: ‚Wahrlich,
es gibt keinen anderen Gott außer Mir, dem Ewigvergebenden,
dem Barmherzigsten!‘ Wir, wahrlich, haben Ihn gesandt, dem
Wir beistanden mit dem Heiligen Geiste (Jesus),
[Seite 122]
daß Er euch dieses Licht ankünde, das erschienen ist vom Horizonte des
Willens eueres Herrn, des Höchsterhabenen, des Allherrlichen, dessen
Zeichen im Westen geoffenbart worden sind, auf daß ihr euer Angesicht
Ihm (Bahá’u’lláh) zuwenden möget an diesem Tag, den Gott erhöhet hat
über alle anderen Tage und an welchem der Allbarmherzige Seinen
strahlenden Glorienglanz ergossen hat auf alle, die im Himmel, und auf
alle, die auf Erden sind. Erhebe dich, Gott zu dienen und Seiner Sache
beizustehen. Er, wahrlich, wird dir zur Seite sein mit den Heerscharen des
Sichtbaren und des Unsichtbaren und wird dich zum König einsetzen über
alles, was die Sonne bescheinet. Dein Herr, wahrlich, ist der Allgewaltige,
der Allmächtige.... Schmücke deinen Tempel mit der Zierat Meines Namens
und deine Zunge mit dem Gedenken an Mich und dein Herz mit
der Liebe zu Mir, dem Allmächtigen, dem Allerhöchsten. Wir haben nichts
für dich gewünscht als das, was besser für dich ist als dein Besitz und
alle Schätze der Erde. Dein Herr, wahrlich, ist wissend, und Er kennt
alles...
- (Fortsetzung folgt)
DIE SENDUNG VON BAHÁ’U’LLÁH[Bearbeiten]
Von Else Maria Grossmann, Neckargemünd
- Wir veröffentlichen nachstehend eine einführende Betrachtung der Schrift Shogi Effendis „The Dispensation of Bahá’u’lláh“, die in Bälde unter obigem Titel in der deutschen Übertragung erscheinen wird.
In seiner Schrift „The Dispensation of Bahá’u’lláh“, „Die Sendung von Bahá’u’lláh“, ein Nachtrag zur Bahá’i-Verwaltungsordnung, New York 1934, gibt Shoghi Effendi, der Hüter des Bahá’i-Glaubens, ein klares und festumrissenes Bild der drei Mittelpunktsgestalten dieser Offenbarung und erläutert die Stellung, die das Hütertum und die Verwaltungsordnung in der einzigartigen Ausgießung von Bahá’u’lláh einnehmen. „Den ganzen Raum dieses berückenden Schauspiels“, heißt es dort zu Anfang, „überragt die unvergleichliche Gestalt von Bahá’u’lláh, der erhaben ist in Seiner Majestät, voll Ruhe, ehrfurchtgebietend und unerreichbar herrlich. Ihm eng verbunden, und wenn auch untergeordnet im Rang, doch beliehen mit der Vollmacht, mit Ihm zusammen über den Geschicken dieser höchsten Sendung zu thronen, leuchtet in diesem geistigen Bilde die jugendliche Herrlichkeit des Báb in Seiner unendlichen Zartheit, unwiderstehlich in Seiner Anmut, unübertroffen in Seinem Heldentum, einzigartig durch die dramatischen Begebnisse Seines kurzen, doch ereignisreichen Lebens. Und endlich erhebt Sich auf Seiner eigenen Stufe und in einer Art, die von jener der Ihm vorangegangenen Zwillingsgestalten ganz verschieden ist, die ergreifende, anziehende Persönlichkeit 'Abdu'l-Bahás, die in einem Grade, den kein Mensch je zu erreichen hoffen kann — wie hoch auch immer seine Stufe sei —, die Herrlichkeit und Macht widerstrahlt, womit Sie, die Manifestationen Gottes, allein geschmückt sind.“
Kurz aufeinander folgen sich in dieser Ausgießung zwei selbständige
[Seite 123]
Manifestationen. Die erste von ihnen ist der Báb. „Er“, schreibt Shoghi
Effendi, „den Bahá’u’lláh im Kitáb-i-Iqán den verheißenen Qá’im benennt,
der nicht weniger als 25 von den 27 Buchstaben, welche all die Propheten
zu offenbaren bestimmt waren, geoffenbart hat, Er, ein so großer
Offenbarer, hat Selbst den Vorrang jener noch höheren Offenbarung bezeugt,
welche in kurzem Seine eigene überholen würde.“ Der Báb sieht, trotz
der erhabenen Größe Seiner eigenen Sendung, in Sich immer nur den
bescheidenen Vorläufer Dessen, den Gott nach Ihm offenbaren wird. „Ein
tausendmaliges Durchlesen des Bayan“, so sagt Er einmal in bezug auf das
bedeutendste Seiner eigenen geoffenbarten Bücher, „kann dem Lesen eines
einzigen Verses nicht gleichkommen, den ‚Er, Den Gott offenbaren wird‘,
enthüllen wird.“ Bei einer anderen Gelegenheit wendet Er sich an einen
Seiner gelehrtesten und einflußreichsten Anhänger und äußert ihm gegenüber
die deutliche Warnung, daß Er ihn „ohne Zögern verleugnen und seinen
Glauben zurückweisen“ würde, sollte er die kommende Manifestation
bei ihrem Erscheinen nicht anerkennen. „Wenn Mir andererseits gesagt
würde“, fährt Er fort, „daß ein Christ, der sich zu Meinem Glauben
nicht bekennt, an Ihn glaubt, so würde Ich diesen als Meinen
Augapfel ansehen.“ So wird das ganze Leben des Báb zum Dienst auf
dem Pfade des Verheißenen, bis Er mit dem Märtyrertod Seine Treue
und Ergebenheit für Ihn besiegelt.
Derart war die Einleitung jener größten aller Offenbarungen, die in Bahá’u’lláh ihre Erfüllung erfahren hat, „eine Sendung, deren Möglichkeiten wir erst wahrzunehmen beginnen und deren volle Tragweite wir niemals abwägen können“, die nicht ihresgleichen in der Vergangenheit hat und nicht in der Zukunft finden wird. Bahá’u’lláh verkörpert die Erfüllung der Verheißungen aller Zeitalter und aller Religionen, und der Tag Seines Erscheinens ist „einzigartig und unterscheidet sich von denen, die ihm vorangingen“. „Ein flüchtiger Augenblick“, so bezeugt Er Selber, „überragt an diesem Tage Jahrhunderte eines vergangenen Zeitalters.... Weder Sonne noch Mond sind Zeugen eines Tages gleich diesem gewesen.“
„Schauet hin“, fährt Er im Hinblick auf Sich Selber fort, „ihr, die ihr auf Erden wohnt und ihr, Bewohner des Himmels, seid dessen Zeuge: Er ist in Wahrheit euer Vielgeliebter. Er ist es, desgleichen die Welt der Schöpfung noch nicht gesehen hat, Er, dessen berauschende Schönheit das Auge Gottes entzückt hat, des Gesetzgebers, des Allmächtigen, des Unvergleichlichen!“
‚Bei der Gerechtigkeit Gottes‘ „erklärt Bahá’u’lláh in dem Wunsche,
die ganze Stärke Seiner unüberwindlichen Macht zu offenbaren“, — so
fährt der Hüter fort, — ‚sollte ein Mensch sich ganz allein im Namen
von Bahá erheben und sich mit Seiner Liebe umgürten, so wird der
Allmächtige ihm zum Siege verhelfen und sollten auch die Gewalten des
Himmels und der Erde gegen ihn zu Felde ziehen.‘ ‚Bei Gott, neben Dem
es keinen andern Gott gibt! — sollte sich jemand für den Triumph unserer
Sache erheben, so wird Gott ihm zum Siege verhelfen und würden sich auch
Zehntausende von Feinden gegen ihn zusammenschließen. Und, wenn seine
Liebe zu Mir noch stärker wächst, wird Gott seine Erhebung über alle
Gewalten des Himmels und der Erde
[Seite 124]
anordnen. So haben Wir den Geist der Macht in alle Regionen geströmt.‘
Und, „sich näher über die Kräfte auslassend, die in Seiner Offenbarung verborgen ruhen, verkündet Bahá’u’lláh das Folgende: ‚Durch die Bewegung Unserer Feder der Herrlichkeit haben Wir auf Befehl des allmächtigen Gebieters neues Leben in jeden menschlichen Körper gehaucht und jedem Wort neue Kraft eingeflößt. Alle erschaffenen Dinge verkünden die Tatsache dieser weltumfassenden Neubelebung.‘ ‚Dieses ist‘, „fügt Er weiter hinzu“, ‚die größte, die freudigste Botschaft, die der Menschheit durch die Feder dieses Mißhandelten zuteil ward.‘ ‚Wie groß‘, „ruft Er an anderer Stelle aus“, ‚ist die Sache! wie erschütternd das Gewicht ihrer Botschaft! Dies ist der Tag, von dem gesagt ist: — O mein Sohn, wahrlich, Gott wird alle Dinge ans Licht bringen, und wenn sie auch nur das Gewicht eines Senfkorns hätten, das in einem Felsen verborgen läge oder im Himmel oder auf Erden; denn Gott durchdringt alles und alles ist Ihm bekannt. -‘ ‚Bei der Gerechtigkeit des einen Wahrhaftigen Gottes! Wenn der Splitter eines Edelsteins verloren ist und unter einem Berge von Steinen begraben und hinter den sieben Meeren versteckt liegt, so wird die Hand des Allmächtigen ihn doch sicherlich an diesem Tag rein und gesäubert von aller Unreinheit ans Licht bringen.‘ ‚Wer an den Wassern Meiner Offenbarung teil hat, wird alle unvergänglichen Wonnen kosten, die von Gott vom Anfang her, der keinen Anfang hat, bis zum Ende hin, das kein Ende hat, bestimmt sind.‘ ‚Jeder einzelne Buchstabe, der von Unserem Munde ausgeht, ist ausgestattet mit solch verjüngender Macht, daß er befähigt ist, eine neue Schöpfung ins Leben zu rufen — eine Schöpfung, deren Größe unerforschlich ist für alle außer Gott. Er, wahrlich, hat Kenntnis von allen Dingen.‘ ‚Es liegt in Unserer Macht, sofern Wir es wollen, ein bißchen fliegenden Staub in einem Augenblick, kürzer als dem Zwinkern eines Auges, Sonnen von unendlicher, von unausdenkbarer Herrlichkeit erzeugen zu lassen, einen Tautropfen zu weiten, zahllosen Weltmeeren anschwellen zu lassen, in jeden Buchstaben eine solche Kraft zu gießen, daß er alle Erkenntnis der Vergangenheit und zukünftiger Zeitalter zu enthüllen vermag.‘ ‚Wir sind im Besitz einer solchen Macht, die, wenn sie zu Tage gebracht wird, das tödlichste Gift in ein Allheilmittel von unfehlbarer Wirkung verwandelt.‘
Ferner verkündet Bahá’u’lláh in bezug auf die Stufe des wahren Gläubigen
im Lichte dieser Offenbarung: „Bei den Sorgen, welche die Schönheit des
Allruhmreichen heimsuchen! Solcherart ist die für den wahrhaft Gläubigen
vorgesehene Stufe, daß, wenn in einer Ausdehnung, die geringer ist, als
ein Nadelöhr, der Menschheit der Glanz dieser Stufe enthüllt
würde, jeder Beschauer vergehen würde vor Sehnsucht, sie zu erreichen.
Aus diesem Grunde wurde verordnet, daß in diesem irdischen Leben das
volle Maß des Glanzes seiner eigenen Stufe vor dem Auge eines solchen
Gläubigen verschleiert bleibe.“ „Würde der Schleier gelüftet“, versichert Er
in ähnlicher Weise, „und der volle Glanz der Stufe derjenigen, die sich
Gott völlig zuwandten und in ihrer Liebe zu Ihm der Welt entsagten, offenbar
werden, ‚— so würde die ganze Schöpfung wie vom Donner gerührt stehen.“
[Seite 125]
Wie hoch aber auch die Stufe der Manifestation von Bahá’u’lláh und die Größe Seiner Sendung sein mag, Er selber achtet sich gleich nichts am Hofe des Allmächtigen: „In Meinen Tempel“, äußert Er, „ist nichts zu sehen, als der Tempel Gottes, in Meiner Schönheit nur Seine Schönheit, in Meinem Wesen nur Sein Wesen, in Meinem Selbst nur Sein Selbst, in Meiner Bewegung nur Seine Bewegung, in Meiner Gelassenheit nur Seine Gelassenheit und in Meiner Feder nur Seine Feder, des Mächtigen, des Allgepriesenen. In Meiner Seele ist nur die Wahrheit gewesen, und in Mir kann nichts als Gott gesehen werden.“ Und, wie eine starke Warnung, Seine eigene Stufe gegenüber Gott, dem Höchsten, nicht mißzuverstehen, äußert Bahá’u’lláh diese Worte: „Seit undenklichen Zeiten ist Er, das göttliche Wesen, in der unaussprechlichen Heiligkeit Seines erhabenen Selbst verborgen gewesen und wird ewig fortfahren, in das unergründliche Geheimnis Seiner unbekannten Wesenheit gehüllt zu bleiben... Zehntausend Propheten, ein jeder ein Moses, sind auf dem Sinai ihres Suchens wie vom Donner gerührt beim Ertönen von Gottes verbietender Stimme: ‚Du sollst Mich niemals schauen!‘, — während eine Myriade von Sendboten, ein jeder so groß wie Jesus, bestürzt an ihren himmlischen Thronen stehen bei dem Verbote: ‚Meine Wesenheit sollst du niemals erkennen!‘“ „Wie verwirrend für mich, unbedeutend wie ich bin“, beteuert Bahá’u’lláh in Seiner Verbundenheit mit Gott, „ist der Versuch, die heiligen Tiefen Deiner Wesenheit zu ergründen! Wie nichtig sind meine Anstrengungen, mir die Größe der Macht vorzustellen, die in Deinen Werken ruht - die Offenbarung Deiner schöpferischen Kraft!“ „Wenn ich, o mein Gott, die Verwandtschaft betrachte, die mich mit Dir verbindet“, bezeugt Er in einem anderen Gebet, das Er in eigener Handschrift offenbarte, „so sehe ich mich bewegt, allen erschaffenen Dingen zu verkünden ‚wahrlich, Ich bin Gott!‘; und wenn ich mein eigenes Selbst betrachte, siehe, — so finde ich es geringer als Staub!“.
Obgleich der machtvolle Zyklus des Bahá’i-Zeitalters, — wie ‘Abdu’l-Bahá
einmal in einem Sendschreiben an einen hervorragenden Zoroaster und
Anhänger des Bahá’i-Glaubens schrieb, — sich in seiner Gesamtheit über eine
sehr weite Zeitspanne (Er spricht in dem Schreiben von mindestens 500 000
Jahren) erstrecken wird, so weist Bahá’u’lláh mit allem Nachdruck die
mögliche Auffassung zurück, daß diese Seine Offenbarung mit ihrer Erfüllung
zugleich auch die letzte und abschließende aller göttlichen Sendungen
sein werde. In einem Seiner in Adrianopel geoffenbarten Tablets sagt
Er darüber: „Wisse wahrlich, daß der Schleier, der Unser Antlitz verbirgt,
nicht vollkommen gelüftet wurde. Wir haben Unser Selbst in einem Grade
enthüllt, wie es der Aufnahmefähigkeit der Menschheit Unseres Zeitalters
entsprach. Würde die Urewige Schönheit in der Fülle ihrer Herrlichkeit
enthüllt werden, so würden sterbliche Augen erblinden vor dem
blendenden Glanze ihrer Offenbarung.“ Und in einem andern Schreiben
heißt es: „Gott hat Seine Boten entsandt, daß sie Moses und Jesus
nachfolgen sollten, und Er wird fortfahren, so zu tun, bis zum ‚Ende, das
kein Ende hat‘, damit Seine Gnade aus dem Himmel Göttlicher Freigebigkeit
unaufhörlich auf die Menschheit
[Seite 126]
herabkomme!“ „Ich bin nicht Meinetwegen in Sorge“, betont Bahá’u’lláh
noch nachdrücklicher, „Ich fürchte nur für Ihn, der nach Mir zu euch
herabgesandt werden wird — für Ihn, der mit großer Macht und gewaltiger
Herrschaft ausgestattet sein wird.“ Und wieder schreibt Er in der
Suriy-i-Haykal: „Mit diesen von Mir geoffenbarten Worten habe ich nicht
Mich Selbst gemeint, sondern Ihn, Der nach Mir kommen wird. Gott, der
Allwissende, ist dessen Zeuge.“ „Verfahret nicht mit Ihm“, fügt Er
hinzu, „wie ihr mit Mir verfahren seid.“
Wenn wir der am Eingang dieser Schrift geäußerten Worte des Hüters
über den Báb gedenken, so erkennen wir neben der überragenden Größe
der Sendung von Bahá’u’lláh, die einzigartige Stufe, die diesem Vorläufer
und Verkünder des gewaltigsten religiösen Zyklusses aller Zeiten zufällt.
„Ihm (d.h. Bahá’u’lláh) eng verbunden und, wenn auch untergeordnet
im Rang, doch beliehen mit der Vollmacht, mit Ihm zusammen über den
Geschicken dieser höchsten Sendung zu thronen, leuchtet in diesem
geistigen Bilde die jugendliche Herrlichkeit des Báb in Seiner unendlichen
Zartheit, unwiderstehlich in Seiner Anmut, unübertroffen in Seinem
Heldentum, einzigartig durch die dramatischen Begebnisse Seines kurzen, doch
ereignisreichen Lebens.“ „In der Tat“, sagt Shoghi Effendi weiter, „die Größe
des Báb besteht nicht in erster Linie darin, daß Er der von Gott bestimmte
Vorläufer einer so erhabenen Offenbarung ist, sondern vielmehr darin, daß
Er ausgerüstet wurde mit Kräften, wie sie dem Begründer einer eigenen
religiösen Sendung eigen sind und, daß Er bis zu einem Grade, den keiner
der Ihm vorangegangenen Sendboten Gottes erreicht hat, das Zepter unabhängiger
Prophetenschaft führte.“
„Die kurze Dauer Seiner Sendung“, heißt es weiter, „der enge Rahmen, in
dem zu wirken Seine Gesetze und Verordnungen erlassen waren, liefern
keinen Maßstab irgendwelcher Art, um ihren göttlichen Ursprung zu
beurteilen und die Macht ihrer Botschaft zu bewerten.“ „Daß eine so
kurze Zeitspanne“, erklärt Bahá’u’lláh Selbst, „diese mächtige und wunderbare
Offenbarung (das ist die von Bahá’u’lláh) von Meiner eigenen Mir
vorangegangenen Manifestation getrennt hat, ist ein Geheimnis, das kein
Mensch enträtseln, und ein Mysterium, das kein Geist ergründen kann. Seine
Zeitdauer war vorherbestimmt, und kein Mensch wird jemals den Grund
hierfür entdecken, es sei denn, daß er über den Inhalt Meines Verborgenen
Buches unterrichtet werde.“ „Ich bin der Erste Punkt“, so wandte
Sich der Báb von dem Festungsgefängnis von Máh-Kú aus an Muhammad Sháh,
„aus dem alle erschaffenen Dinge gezeugt worden sind... Ich
bin das Angesicht Gottes, dessen Glanz nie verdunkelt werden kann, das Licht
Gottes, dessen Leuchten niemals erblassen kann ... es hat Gott gefallen,
alle Schlüssel des Himmels in Meine Rechte zu legen und alle Schlüssel
der Hölle in Meine Linke... Ich bin eine der tragenden Säulen des Wortes
Gottes. Wer immer Mich anerkannt hat, hat alles erkannt, was wahr und
recht ist und hat alles erreicht, was gut und ziemlich ist. Der Stoff, aus
dem Gott Mich geschaffen hat, ist nicht der Staub, aus dem andere geformt
wurden. Er hat Mir verliehen, was weder der Weltweise jemals begreifen
noch der Getreue enthüllen
[Seite 127]
kann.“ „Sollte eine winzige Ameise“, — so bekräftigt der Báb hinreichend,
in dem Wunsche, die grenzenlosen, verborgenen Möglichkeiten, die in
Seiner Sendung ruhen, zu betonen, „an diesem Tage begehren, mit solcher
Macht begabt zu sein, die schwierigsten und verwirrendsten Stellen des
Qur’án enträtseln zu können, so würde ihr Wunsch ohne Zweifel erfüllt
werden, da ja das Geheimnis der ewigen Macht im innersten Wesen aller
erschaffenen Dinge schwingt.“ „Wenn ein derart hilfloses Geschöpf“, lautet
‘Abdu’l-Bahá’s Erklärung zu einer so aufsehenerregenden Behauptung, „mit
einer so hohen Fähigkeit ausgestattet werden kann, wie viel wirksamer
muß die Kraft sein, die durch die freigebigen Ergießungen der Gnade
von Bahá’u’lláh entfesselt ist!“
„Der Báb, der Erhabene“, bestätigt 'Abdu'l-Bahá noch besonders in einem anderen Tablet, „ist der Morgen der Wahrheit, dessen Strahlenglanz durch alle Regionen scheint. Er ist auch der Vorbote des größten Lichtes, der Leuchte Abhá. Die Gesegnete Schönheit ist der Verheißene der heiligen Bücher der Vergangenheit, die Offenbarung des Lichtquells, der auf den Berg Sinai schien, dessen Feuer inmitten des brennenden Busches glühte. Wir sind, einer und alle, Diener an ihrer Schwelle und stehen, ein jeder als geringer Wächter, an ihrer Tür.“ „Jeder Beweis und jede Prophezeiung“, so lautet Seine noch ernstere Warnung, „jede Art von Beweiszeugnis, das auf Vernunftgründen oder auf dem Text der Schriften und Überlieferungen beruht, ist als in der Persönlichkeit von Bahá’u’lláh und dem Báb verankert anzusehen. In ihnen ist ihre vollkommene Erfüllung zu finden.“
‘Abdu’l-Bahá — der Diener Gottes, wie Er Sich Selber bezeichnet, — nimmt eine einzigartige Stufe in der Gesamtheit dieser göttlichen Offenbarung ein. „Obgleich Er“, sagt Shoghi Effendi, „Sich in Seiner eigenen Sphäre bewegt und eine Stufe einnimmt, die völlig verschieden von derjenigen des Urhebers und der des Vorläufers der Bahá’i-Offenbarung ist, bildet Er, — kraft der Stellung, die Ihm durch das Bündnis von Bahá’u’lláh zuerteilt ist, — mit jenen zusammen das, was als die drei Mittelpunktsgestalten eines Glaubens bezeichnet werden kann, der unerreicht in der geistigen Geschichte der Welt dasteht. Er thront, mit ihnen vereint, über den Geschicken dieses jungen Gottesglaubens von einer Höhe aus, die kein Einzelner und keine Körperschaft, die seinen Belangen nach Ihm dienen werden und während einer Zeitdauer von nicht weniger als einem vollen Jahrtausend, je hoffen können, zu erreichen.“
„Daß ‘Abdu’l-Bahá keine Manifestation Gottes ist“, fährt der Hüter weiter fort, „daß, obgleich Er der Nachfolger Seines Vaters ist, Er dennoch nicht die gleiche Stufe einnimmt, — daß niemand außer dem Báb und Bahá’u’lláh jemals Anspruch auf eine solche Stufe vor Ablauf eines vollen Jahrtausends erheben kann, ist eine Wahrheit, die in den diesbezüglichen Äußerungen beider, des Begründers unseres Glaubens sowohl, als des Auslegers Seiner Lehren, verankert liegt.“
„Seine Heiligkeit der Erhabene (der Báb)“, faßt 'Abdu'l-Bahá in Seinem
Letzten Willen und Testament die Bedeutung der Mittelpunktsgestalten
unseres Glaubens kurz zusammen, „ist die Manifestation der Einheit und
[Seite 128]
Einzigkeit Gottes und der Vorläufer der Urewigen Schönheit. Ihre Heiligkeit
die Abhá-Schönheit (Bahá’u’lláh) (möge mein Leben ein Opfer für
Seine standhaften Freunde sein), ist die erhabenste Manifestation Gottes
und der Tagesanbruch Seiner göttlichen Wesenheit. Alle andern sind
Seine Diener und folgen Seinem Gebot.“
„Nach diesen klaren und unzweideutigen Darlegungen“, sagt Shoghi Effendi, „die unvereinbar sind mit irgendwelchen Behauptungen eines Anspruchs auf Prophetenschaft, sollten wir jedoch keineswegs folgern, daß ‘Abdu’l-Bahá lediglich einer der Diener der gesegneten Schönheit oder bestenfalls einer ist, dessen Amt darin beschränkt liegt, einer der autorisierten Ausleger der Lehren Seines Vaters zu sein.“ Die hohe Stufe vielmehr, die Bahá’u’lláh ‘Abdu’l-Bahá einräumt, geht deutlich aus folgenden Versen aus dem Kitáb-i-Aqdas, dem von Bahá’u’lláh geoffenbarten Buch der Gesetze hervor; sie lauten: „Wenn das Weltmeer Meiner Gegenwart verebbt und das Buch Meiner Offenbarung beendet sein wird, wendet euer Antlitz Ihm zu, Den Gott bestimmt hat, Der dieser Urewigen Wurzel entsprungen ist.“ „Wenn die geheimnisvolle Taube sich aus ihrem Tempel der Lobpreisung aufgeschwungen und ihr fernes Ziel, ihre verborgene Behausung erreicht haben wird, wendet euch in allem, was ihr im Buche nicht versteht, an Ihn, Der diesem mächtigen Stamme entsprossen ist.“
„Zahlreich sind die Niederschriften von Bahá’u’lláh, in denen Er noch eingehender die hohe Stufe 'Abdu'l-Bahá’s erläutert. „O Du, Der Du der Apfel Meines Auges bist!“ schreibt Er einmal, oder: „Die Herrlichkeit Gottes sei auf Dir und auf allen, die Dir dienen und die um Dich sind. Weh, großes Weh begegne dem, der sich Dir widersetzt und Dich beleidigt. Wohl ihm, der Dir Treue schwört. Das Feuer der Hölle aber peinige denjenigen, der Dein Feind ist.“ „Gesegnet, doppelt gesegnet“, heißt es an anderer Stelle, „ist der Boden, den Seine Füße betraten, das Auge, das durch die Schönheit Seines Antlitzes entzückt wurde, das Ohr, dem die Ehre widerfuhr, Seinem Rufe zu lauschen, das Herz, das die Süßigkeit Seiner Liebe gekostet, die Brust, die sich durch Sein Gedenken geweitet hat, die Feder, die Seinem Preise Ausdruck verlieh, das Pergament, das zum Zeugnis Seiner Schriften wurde.“
Wie erhaben aber auch immer die Stellung sei, die 'Abdu'l-Bahá in dieser
Offenbarung einnimmt und wie hoch die Verherrlichung, die Ihm von
Bahá’u’lláh Selbst zuteil wurde, — wir dürfen sie niemals, wie der
Hüter ausdrücklich betont, mit derjenigen Seines Vaters, der göttlichen
Manifestation, vergleichen. Eine Überschätzung
der Stufe 'Abdu’l-Bahá’s würde ebenso verurteilungswürdig sein, wie eine
Unterschätzung derselben. So ist auch in keiner der durch Bahá’u’lláh oder
‘Abdu’l-Bahá geoffenbarten Schriften und Tablets, äußert Shoghi Effendi
mit Nachdruck, irgendwelche Bestätigung einer sogenannten „mystischen
Einheit“ zwischen Bahá’u’lláh und 'Abdu'l-Bahá zu finden oder zwischen
‘Abdu’l-Bahá und Seinem Vater, beziehungsweise irgendeiner der
vorangegangenen göttlichen Manifestationen. Nicht im Zusammenhang mit
‘Abdu’l-Bahá, wohl aber in bezug auf den Báb und Bahá’u’lláh, kann von
dieser Einheit gesprochen werden, die
[Seite 129]
Bahá’u’lláh in der Suriy-i-Haykal folgendermaßen ausdrückt: „Wäre
der Erste Punkt (der Báb) irgendein anderer neben Mir gewesen — wie ihr
geltend macht — und hätte Er Meine Gegenwart erreicht, wahrlich, Er
würde Sich Selber nie erlaubt haben, Sich von Mir zu trennen, Wir würden
vielmehr gemeinsame Freude aneinander in Meinen Tagen genossen
haben.“
‘Abdu’l-Bahá ist, um es noch einmal deutlich mit des Hüters Worten festzustellen, „keine Manifestation Gottes, Er erhält Sein Licht, Seine Erleuchtung und Kraft unmittelbar aus der Quelle der Bahá’i-Offenbarung; ...Seine Worte stehen nicht im gleichen Rang mit den Äußerungen von Bahá’u’lláh, obwohl sie die gleiche Gültigkeit besitzen wie jene. Und so ist es für uns nach all dem Vorhergesagten selbstverständlich, daß das „zweite Kommen Christi“ sich auf Bahá’u’lláh und den Báb bezog, niemals aber auf 'Abdu'l-Bahá, wie Letzterer es Selber in einem Tablet an einige amerikanische Gläubige niederlegte.
„Ich bin“, sagt 'Abdu'l-Bahá, „zufolge den ausdrücklichen Texten des Kitáb-i-Aqdas und des Kitáb-i’Ahd der offenbare Ausleger des Wortes Gottes... Wer auch immer von meiner Auslegung abweicht, ist ein Opfer seiner eigenen Einbildung.“ „Mein Name“, — sagt Er in dem vorhererwähnten Tablet an einige amerikanische Gläubige, — „ist 'Abdu'l-Bahá. Meine Befähigung ist 'Abdu'l-Bahá. Meine Wirklichkeit ist 'Abdu'l-Bahá. Mein Ruhm ist 'Abdu'l-Bahá. Untertänigkeit unter die gesegnete Vollkommenheit ist mein köstliches und strahlendes Diadem und Dienst an der ganzen menschlichen Rasse meine immerwährende Religion... Keinen andern Namen, keinen Titel, keine Erwähnung, keine Empfehlung habe ich, noch will ich jemals haben, außer 'Abdu'l-Bahá. Das ist mein Sehnen. Das ist mein größtes Verlangen. Das ist mein ewiges Leben. Das ist mein ewigwährender Ruhm.“
Mit dem Hinscheiden 'Abdu'l-Bahá’s hat, wie der Hüter es bezeichnet, das heroische und apostolische Zeitalter der Bahá’i-Offenbarung seinen Abschluß gefunden, eine Periode in der Entwicklungsgeschichte unseres Glaubens, deren Herrlichkeit niemals, selbst nicht durch die glänzenden Siege, die der Offenbarung von Bahá’u’lláh in der Zukunft vorbehalten sind, verdunkelt werden kann. Während mit ‘Abdu’l-Bahá’s Heimgang, wie erwähnt, das erste Entwicklungsstadium unseres Glaubens zu Ende ging, hat Er Selber noch das zweite eröffnet, das ist das schöpferische Zeitalter, die Periode des Aufbaues jener Ordnung, die vom Báb (im Persischen Bayán) vorausgeschaut, von Bahá’u’lláh gezeugt, von 'Abdu'l-Bahá geboren wurde, und die an der Hand des ersten Hüters unseres Glaubens die ersten Schritte ins Leben tut.
Die Bahá’i-Verwaltungsordnung, die 'Abdu'l-Bahá in Seinem Letzten
Willen und Testament fest umriß und niederlegte, ist, wie Shoghi Effendi es
darlegt, „grundlegend verschieden von allem, was irgendein Prophet vor dem
begründet hat, insofern, als Bahá’u’lláh Selbst ihre Grundlagen offenbart,
ihre Einrichtungen begründet, den Ausleger Seines Wortes berufen und
jener Körperschaft, die bestimmt ist, Seine gesetzgeberischen Verordnungen
zu ergänzen und in Anwendung zu bringen, die nötige Autorität verliehen
[Seite 130]
hat. Hierin liegt das Geheimnis ihrer Kraft, ihr grundlegender Unterschied
und die Bürgschaft gegen Zersetzung und Spaltung. Nirgendwo in
den heiligen Schriften irgend eines der religiösen Weltsysteme, selbst nicht
in den Schriften des Begründers der Bábi-Sendung, finden wir irgendwelche
Verfügungen zur Errichtung eines Bündnisses oder Verordnungen für
eine Verwaltungsordnung, die sich an Ausdehnung und Autorität mit jenen
vergleichen lassen, die die eigentliche Grundlage der Bahá’i-Sendung bilden.“
Die beiden Zwillingssäulen, auf denen das ganze Gebäude dieser Verwaltungsordnung ruht, sind das Hütertum und das Universale Haus der Gerechtigkeit. Shoghi Effendi schreibt darüber: „Es muß gleich zu Anfang in klarer und unzweideutiger Sprache festgestellt werden, daß diese Zwillingseinrichtungen der Verwaltungsordnung von Bahá’u’lláh als göttlich in ihrem Ursprung, unbedingt notwendig in ihrer Wirksamkeit und einander ergänzend in ihren Zielen und Absichten betrachtet werden müssen. Ihr gemeinsamer, ihr grundlegender Zweck ist der, die Fortdauer jener göttlich verordneten Autorität zu sichern, die der Quelle unseres Glaubens entströmt, die Einigkeit seiner Anhänger zu schirmen und die Unverfälschtheit und Biegsamkeit seiner Lehren aufrechtzuerhalten. Während sie in Verbindung miteinander arbeiten, verwalten diese beiden unzertrennlichen Einrichtungen seine Angelegenheiten, ordnen seine Tätigkeiten einander zu, fördern seine Belange, vollziehen seine Gesetze und beschützen seine Hilfseinrichtungen. Von einander gesondert, arbeitet jede von ihnen in einem deutlich umgrenzten Rechtsbereich; jede von ihnen ist ausgestattet mit ihren eigenen Begleiteinrichtungen, Instrumenten, die zur wirksamen Entlastung ihrer besonderen Verantwortlichkeiten und Pflichten bestimmt sind. Jede einzelne übt, innerhalb der ihr gesetzten Grenzen, ihre Machtvollkommenheiten, ihre Autorität, ihre Rechte und Vorrechte aus. Diese sind weder einander widersprechend, noch verkleinern sie im geringsten die Stellung, die jede dieser Einrichtungen einnimmt. Weit davon entfernt, miteinander unvereinbar zu sein oder sich gegenseitig zu stören, ergänzen sie eine der anderen Autorität und Wirksamkeit und sind fortdauernd und grundlegend vereint in ihren Zielen.“
In Seinem Letzten Willen und Testament schreibt 'Abdu’l-Bahá diese bedeutungsvollen Worte über die Stellung beider, des Hütertums sowohl, als wie des Universalen Hauses der Gerechtigkeit: „Der heilige und jugendliche Ast, der Hüter der Sache Gottes, sowohl wie das Universale Haus der Gerechtigkeit, das universal erwählt und eingesetzt werden muß, stehen beide unter der Fürsorge und dem Schutze der Schönheit Abhá, unter dem Obdach und der unbeirrbaren Führung Seiner Heiligkeit des Erhabenen — möge mein Leben für sie beide ein Opfer sein —. Was immer sie bestimmen, ist von Gott.“
„Aus diesen Darlegungen“, schreibt Shoghi Effendi, „geht unzweifelhaft
klar und deutlich hervor, daß der Hüter des Glaubens zum Erklärer des
Wortes Gottes gemacht wurde und daß das Universale Haus der Gerechtigkeit
mit gesetzgeberischer Wirksamkeit für solche Angelegenheiten ausgestattet
wurde, die nicht ausdrücklich in den Lehren geoffenbart sind.
[Seite 131]
Die Erklärungen des Hüters, der in seinem eigenen Bereiche wirkt, ist so
autoritativ und bindend, wie die Verordnungen des Internationalen Hauses
der Gerechtigkeit, dessen ausschließliches Recht und Vorrecht es ist,
sich über solche Gesetze und Verordnungen zu äußern und ein endgültiges
Urteil darüber auszusprechen, die Bahá’u’lláh nicht ausdrücklich
geoffenbart hat. Keiner oder keines dieser beiden kann oder wird
jemals übergreifen in das geweihte und vorgeschriebene Gebiet des anderen.
Keiner von ihnen wird versuchen, die besondere und unbestrittene
Autorität zu schmälern, mit denen beide göttlich ausgestattet wurden.
Trotz der Erhabenheit des Hütertums und der außerordentlich hohen Verantwortlichkeit, die ihm in der Verwaltungsordnung von Bahá’u’lláh zugewiesen wurde, darf seine Stellung, wie Shoghi Effendi ausdrücklich betont, in keiner Weise überschätzt werden. Nie und unter keinen Umständen dürfe der Hüter des Glaubens zum Range ‘Abdu’l-Bahá’s, dem Mittelpunkt des Bündnisses, und noch viel weniger zu jener Stufe erhoben werden, die ausschließlich für die Manifestation Gottes vorgesehen ist. Kein Hüter des Glaubens dürfe je für sich in Anspruch nehmen, das vollkommene Beispiel der Lehren von Bahá’u’lláh oder der ungetrübte Spiegel zu sein, der Sein Licht widerstrahlt.“ Und, obwohl der Hüter „beschattet wird durch den unfehlbaren und nie irrenden Schutz von Bahá’u’lláh und dem Báb“ und „mit 'Abdu'l-Bahá das Recht und die Verpflichtung zur Auslegung der Bahá’i-Lehren teilt, so bleibt er dennoch wesentlich menschlich.“ „Im Lichte dieser Wahrheit“, so lauten die Worte Shoghi Effendi’s, „zum Hüter des Glaubens zu beten, ihn als Herr und Meister anzureden, ihn als Seine Heiligkeit zu bezeichnen, seinen Segen zu suchen, seinen Geburtstag zu feiern oder irgendein Ereignis, das mit seinem Leben verknüpft ist, festlich zu begehen, würde gleichbedeutend sein mit einem Abweichen von jenen feststehenden Wahrheiten, die in unserem geliebten Glauben verankert liegen.“
„Lasset niemand“, — so schließen die Ausführungen des Hüters, „während
dieses System sich noch im Zustande der Kindheit befindet, seinen
Charakter mißverstehen, seine Bedeutung verkleinern oder seinen Zweck
verkehrt darstellen. Der Felsen, auf dem diese Verwaltungsordnung
begründet ist, ist Gottes unwandelbare Absicht für die Menschheit an diesem
Tage. Die Quelle, aus der sie ihre Inspiration ableitet, ist keine geringere,
als Bahá’u’lláh Selbst. Ihr Schild und Schirmer sind die Menge der
Heerscharen des Abhá-Königreiches. Ihre Saat ist das Blut von nicht weniger
als zwanzigtausend Märtyrern, die ihr Leben opferten, damit sie geboren
werde und gedeihe. Die Achse, um die ihre Einrichtungen sich bewegen, sind
die authentischen Verfügungen aus dem Willen und Testament von
‘Abdu’l-Bahá. Ihre führenden Grundsätze sind die Wahrheiten, die Er, der
der unfehlbare Ausleger der Lehren unseres Glaubens ist, so deutlich in
Seinen öffentlichen Denkschriften an den Westen verkündet hat. Die
Gesetze, die ihre Tätigkeit leiten und ihren Wirkungsbereich festsetzten,
sind diejenigen, die ausdrücklich im Kitáb-i-Aqdas verordnet wurden. Der
Sitz, um den ihre geistigen, menschendienenden und verwaltungsmäßigen
Tätigkeiten sich sammeln werden,
[Seite 132]
sind der Mashriqu’l-Adhkár und seine zusätzlichen Einrichtungen. Die
Säulen, die ihre Autorität tragen und ihr Gefüge stützen, sind die
Zwillingseinrichtungen des Hütertums und des Universalen Hauses der
Gerechtigkeit. Die zentrale, ihr zugrundeliegende Absicht, die sie
zugleich beseelt, ist die Errichtung der Neuen Weltordnung, die von
Bahá’u’lláh entworfen wurde. Die Methoden, die sie anwendet, die
Richtschnur, die sie gibt, neigen weder zum Osten noch zum Westen,
weder zum Juden noch zum Heiden, weder zum Reichen noch zum Armen,
weder zum Weißen noch zum Farbigen. Ihre Losung ist die Vereinigung
der menschlichen Rasse, ihre Richtschnur der „Höchste Frieden“,
ihre Vollendung der Anbruch des goldenen Jahrtausends — des Tages,
an dem die Reiche dieser Welt zum Reiche von Gott Selbst geworden
sein werden, dem Reiche von Bahá’u’lláh.
DER HERR DES NEUEN ZEITALTERS[Bearbeiten]
Vortrag vom 16. November 1947 anläßlich der Feier von Bahá’u’lláh’s Geburtstag (12. November 1817) in Stuttgart
Von Dr. Adelbert Mühlschlegel
Größer als alle Erlebnisse der Kunst, Wissenschaft, Philosophie, Politik oder
Ehe ist jenes uns von Grund auf wandelnde Geschehnis, das uns durch
höchst begnadete Geistmenschen, die man Gottgesandte nennt, zukommen
kann, wenn wir ihnen Herz und Seele und Denken öffnen. Sie können uns
Gedanken und Kräfte übermitteln, die uns den Weg zur Höhe
weisen, uns zur Wahrheit führen und uns ein neues
Leben zuströmen, das uns zu Wiedergeborenen macht,
aus dem Wasser der Lehren und aus dem Geiste ihrer Übermittler.
Sie vermögen, dank ihrer besonderen Natur und Artung, geistige
Schöpferkräfte zu erfassen und im Körperhaften, Wahrnehmbaren
auszustrahlen — in Geist, Gedanken, Worten, Taten und Gesetz — allen
Menschen, die nicht blind oder verstockt sind, erfaßbar. Das Wort,
der Logos, der das Werden gestaltende Geist, ward dann allemal Fleisch „und
wohnte unter uns“. —
Alle Menschen haben ihre besonderen Vorstellungsbezirke.
Wir Abendländer leben, auch in unsrem religionsgeschichtlichen Weltbild,
noch in den engen, einseitigen Vorstellungen unsrer Vorfahren, in dem
jüdisch-christlichen Weltbild. Andere Kulturbereiche haben die ihrigen
Weltbilder. Ferne aus der Vergangenheit ragen ein Abraham und ein Moses
und vielerlei andere Stifter und Gottgesandte, vom Dämmer der Sage
umwoben, mit dem Rankenwerk der Legende geschmückt, im Dunkel uralter
Zeiten. Und näher im heller dämmernden Lichte der Weltgeschichte
zeigt sich ein bedeutsamer Wandel im menschlichen religiösen Erleben: hatte
früher die Religion daraus bestanden, die furchtbaren Götter durch Magie
und Kult zu beschwören, durch Opfer und Riten sie wohlgesinnt zu stimmen,
durch Befolgen eines strengen Gesetzes ihren Segen zu erhalten, so
wuchs nunmehr der einzelne
[Seite 133]
Mensch, mit seiner eigenen Verantwortung aus freiem Willen, in den
Wesenskern der Religion. Buddha zeigte den achtfachen
Pfad zur Wahnversiegung und Leidensvernichtung, durch die Erkenntnis
des Leides und seiner Wurzel, seiner Wirkungen und seiner Heilung.
Und die ihm folgten, suchten und fanden den Pfad, ein jeder nach
seiner Weise. Von einer alleinigen, allmächtigen Gottheit war
keine Rede, und das bunte Gewimmel der indischen Gottheiten war
bedeutungslos im Hintergrund verblaßt.
Christus lehrte die Liebe zum liebevollen Vater des Weltalls als den Kern seiner Lehre, eine Liebe mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzem Denken, mit allem, was der Mensch hat. Nur das Innerste, Heiligste im Menschen kann dieser höchsten Macht der Liebe fähig sein. Und im Nächsten an unsrer Seite, da ist auch solch ein Heiliges, solch ein göttlicher Kern, wie in uns selbst. Darum sollen wir unsre Nächsten lieben wie uns selbst. So ist in dieser Dreiheit der Liebe zu Gott, zum Nächsten und zu uns selbst der geistige Fortschritt, das Glück und die Ordnung des einzelnen, wie auch der ganzen menschlichen Gemeinschaft verankert, „darin hanget das Gesetz und die Propheten“.
Und durch den freiwilligen Tod eines höchsten Geistträgers im Mysterium von Golgatha, hat die Aura der Erde ein geistiger Strom in einem Maße gereinigt, daß die Wege geebnet wurden für alle wahrhaft Suchenden und lebendig Glaubenden.
Muhammad hat die Menschen seines Kulturbereiches zum strengen Eingottglauben erzogen und zu einer eng verbundenen Gemeinschaft der Gläubigen, die überall sich im religiös durchtränkten Alltag als ein Körper mit vielen Einzelzellen erlebten, im Glaubensbekenntnis, im fünfmaligen täglichen Gebet, im Fasten, im Almosengeben und besonders in der Pilgerfahrt nach den heiligen Städten. Welche Kraft entwuchs aus dieser Einigung vorher feindlicher Völker in einem Glauben, welche Blütezeit schon nach zwei, drei Jahrhunderten!
Wie verschiedenartig erscheinen diese ganz Großen in Vorbild, Lehren und Gesetzen! — Und doch strahlen sie aus der gleichen Sonne der Wahrheit, und die Wahrheit kann nur eine sein. Es ist der Wesenskern aller göttlichen Lehren der gleiche. Verschieden sind nur die Worte und die Gesetze. Der Geist der Wahrheit, der sich immer wieder verkörpert, gleicht einem Arzte, der zu verschiedenen Kranken gerufen wird und aus der Fülle seines Wissens eben nur das Wenige reichen kann, was zur Beseitigung der Nöte des Kranken dient. So gerne würde er mehr lehren, aber es frommt den Kleinen nicht. So sagte Christus einst: „Kindlein, ich hätte euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es heute noch nicht tragen.“ Und Bahá’u’lláh sprach: „O Menschenkinder! Die Worte werden geoffenbart nach eurer Fassungskraft, damit die Anfänger Fortschritte machen können. Die Milch muß im richtigen Verhältnis gegeben werden, damit der Säugling der Welt in das Reich der Größe und in den Hof der Einheit gelange.“
So lebte die Menschheit im bunten Wechsel von Aufstieg und Verfall,
von Kriegen, Revolutionen und Reformationen, von Kunstepochen und
Lehrsystemen seit Muhammad noch 1200 Jahre weiter, bis sie nun — die
[Seite 134]
ganze Menschheit und nicht wie seither einzelne Bereiche
nur — zur größten Krise ihres Lebens herangereift ist, zur Entwicklung
zur Einheit.
Die Erde ist klein geworden. Verkehr und Nachrichtendienst, Entdeckungen, Erfindungen und Technik, und nicht zuletzt das Wachsen der Völker, dies alles zusammen hat die Entfernungen verkürzt, die Menschen einander näher gebracht, sie mit vielen wirtschaftlichen, politischen, kulturellen Banden verflochten und, anfangs verdeckt und verstohlen, dann unverkennbar und schließlich schmerzhaft und mit donnernden Katastrophen diesen Prozeß der Wandlung zur Einheit immer mehr akut werden lassen. Aber, „wo die Not am größten, da ist Gott am nächsten“. Und Er ist schon da, ehe es den Menschen bewußt wird. Als das Jahr 1844 anbrach, da war die Zeit gekommen, die in ehrwürdigen heiligen Büchern der Vergangenheit, auch in der Bibel, zum Beispiel im Buche Daniel und in der Offenbarung Johannis, prophezeit war: Das neue Zeitalter, das die alten Religionen, die Sendungen der vorangegangenen Gottgesandten erfüllt, der Menschheit eine neue Ordnung der Einheit und des Friedens gibt, das goldene Zeitalter, das Reich Gottes auf Erden herbeiführt und ungeahnte Fähigkeiten des Menschen zur Entfaltung bringt.
Das Tor zu diesem neuen Zeitalter öffnete der Vorläufer und Herold Bahá’u’lláh’s, der sich „El Báb“, das heißt „das Tor“, nannte. Er war selbst ein Gottesoffenbarer, der 1844 in Schiras in Südpersien Seine Sendung erklärte. Er schuf durch Seine Lehren und Schriften die Brücke von der letzten vorangegangenen Religion, dem Islam, zu dem alle Religionen erfüllenden neuen Zeitalter. Heldenhaft, liebenswert, ergreifend ist Seine junge Gestalt und Seine kurze, meteorengleiche Laufbahn, voll von Leiden, Verfolgungen und unerhörten Wundertaten bis zu Seinem frühen Märtyrertod 1850 in Täbriz.
Doch Seine Sendung war erfüllt, und Er hatte um das Geheimnis gewußt,
das auf dem jungen, am 12. November 1817 in Teheran als Sohn
eines Vesirs geborenen Husayn ‘Ali Nuri lag, die größte Berufung aller
Zeiten. Als Knabe schon war dieser eine außergewöhnliche Erscheinung
gewesen, als Mann war Er einer der ersten Anhänger des Báb und wurde
nun bei der blutigen Verfolgung der Bábi Seines Besitzes beraubt und in
den schrecklichsten Kerker Teherans geworfen. Dort, im Finstern mit
Verbrechern zusammengepfercht und in Ketten geschmiedet, erlebte Er im
äußersten Elend jenes ganz seltene, höchste Mysterium letzter Wandlung,
durch welches das irdische Gefäß des Körpers zum vollendeten Spiegel
göttlicher Strahlung veredelt wird. Das hatte einst Moses erlebt im Angesicht
des brennenden Busches und Zarathustra in der fünffachen Begegnung
mit dem heiligen Feuer und Buddha unter dem heiligen Baume bei
Pataliputra und Christus bei der Taufe im Jordan und Muhammad in der
Höhle am Berge Hira unweit Mekka. Und weiter litt Er, der sich nun
„Bahá’u’lláh“, das heißt „Die Herrlichkeit Gottes“, nannte, noch viele Jahre
lang Erniedrigung, Verbannung, Gefangenschaft und Unterdrückung. Erst
1863, zehn Jahre nach jenem Erlebnis im Kerker, erklärte Er sich in Bagdad
vor einer kleinen Schar von Gläubigen öffentlich als der Verheißene
[Seite 135]
der alten Prophezeiungen aus allen Religionen. Und, weiter verschickt in
die europäische Türkei nach Adrianopel, hat Er in den Jahren 1867 an
die mächtigsten Herrscher Seiner Zeit Seinen Ruf erschallen lassen und
sie — damals, vor 80 Jahren — ermahnt, die Reformen und Ideale zu
verwirklichen, die heute als Lichtschimmer am düsteren Horizont der Menschheit
aufdämmern. Aber die Welt von damals und ihre Monarchen dünkten
sich noch sicher auf ihren vererbten Grundlagen. Sie achteten nicht auf
den Weckruf eines einsamen Großen. Sie vergaßen auch, daß viele Seiner
Prophezeiungen sich furchtbar erfüllten so zum Beispiel, daß gegen
Deutschland „die Schwerter der Vergeltung gezückt werden“, und „die
Ufer des Rheins zweimal sich vom Blute röten“ und daß „das Wehklagen
Berlins: erschalle“. Heute erfüllt sich auch, was Bahá’u’lláh schon vor
70 Jahren geschrieben und ähnlich öfters noch wiederholt hatte: „Die
Welt steht im Zeichen des Aufruhrs und ihre Unruhe nimmt Tag um Tag
zu. Ihr Antlitz ist der Abirrung und der Religionslosigkeit zugekehrt.
Ihr Zustand wird so traurig werden, daß dies heute zu enthüllen nicht
angemessen und angängig wäre. Gar manche Tage werden darüber hingehen,
bis sie erlöst ist von ihrer schlimmen Last. Und im Zeitenlauf wird alles
plötzlich zutage treten, was in das tiefste Herz der Menschheit Entsetzen
schleudern wird. Dann und erst dann wird die göttliche Fahne entfaltet
werden und die Nachtigall der Heiligkeit auf dem Baume des Lebens
jubilieren ...“
Die letzten 25 Jahre Seines Lebens verbrachte Bahá’u’lláh als Gefangener in Akka in Nordpalästina. Dort ist Er 1892 aus der leiblichen Hülle gegangen.
Sein ältester Sohn, ‘Abdu’l-Bahá, war von Ihm zum Mittelpunkt des Bündnisses und zum berufenen Ausleger Seiner Worte ernannt. Er war durch Sein vollendetes Menschentum das lebende Vorbild der Lehre Seines Vaters, das Urbild des neuen Geistmenschen. Er hat den neuen Glauben in den kurzen Jahren nach der Entlassung aus der Gefangenschaft auf Reisen in Afrika, Amerika und Europa weithin bekanntgemacht. 1921 ist Er von uns gegangen.
'Abdu'l-Bahá hinterließ, im Geiste der Grundsätze und Gebote von Bahá’u’lláh Selbst, in Seinem Testament eine neue Ordnung für die Gemeinschaft der Bahá’i in der weiten Welt, keine Kirche mit einem neuen Priesterstand, mit Dogmen, Kult und Riten. So etwas braucht der Mensch der Zukunft, der freier und selbständiger wird, nicht mehr.
Diese Ordnung ist etwas Neuartiges in der Religionsgeschichte. In ihr sind der Geist des Vertrauens aus der Gesamtheit der Gläubigen und der Geist der Inspiration aus einzelnen Berufenen, jener durch die Geistigen Räte, dieser durch das Hütertum, verkörpert und in vollendeter Harmonie vereint. So umfaßt, ordnet und entwickelt dieses Gebilde alle Kräfte dienender Liebe und ist zugleich Keim und Urbild der einstigen besseren Weltordnung.
Seit 'Abdu'l-Bahá’s Hinscheiden 1921 hat sich diese neue Religion vollends über die ganze Erde verbreitet und in allen Ländern Wurzeln geschlagen.
Was ist es aber, daß die Bahá’i überall so begeistert und sie, die aus
allen Religionen, Nationen, Klassen, Rassen, Berufen und Lebensaltern
[Seite 136]
zusammenströmen, zu einer wahren Gemeinschaft erstehen läßt? Ist es nicht
nur ein Häuflein Idealisten, wie es derer so vielerlei gibt?
Daß wir an einem Entscheidungspunkt der Menschheitsgeschichte angelangt sind, das leuchtet nachgerade vielen ein. Daß es aber ein einzelner Mann sein soll, der, noch fast unerkannt, schon vor einem Jahrhundert im fernen Iran gelebt hat und im Brennpunkt dieser Wendezeit steht, das erscheint phantastisch und fast absurd. Wo besteht hier eine Verbindung oder gar Verpflichtung? Was ist hier das Neue, das Schicksalsnotwendige?
Neu ist, kurz gesagt, dreierlei: Der Geist, die Lehre, die Ordnung.
Der Heilige Geist ist etwas Ewiges. Aber immer einmalig und immer wieder neu ist es, wenn, einem Frühling gleich, Er in einer neuen Welle sich über die Erde ergießt, durch einen Geistmenschen vermittelt, der von sich sagen darf, wie die andern Größten ehedem: „Siehe, Ich mache alles neu“. —
Wenn wir zugeben, daß jeder Mensch von denjenigen geistig angeregt und befruchtet wird, die fortgeschrittener und größer im Geistigen sind als Er, dann kommen wir logischerweise zu dem Schluß, daß letzten Endes die allergrößten Geister alle übrigen, unmittelbar oder mittelbar, anregen und befruchten, erziehen und wandeln. Und ist auch die Sonne der Wahrheit immer eine, so sind doch ihre Spiegel hier auf Erden, die Offenbarer und die Stifter von Religionen, nacheinander verschiedene. Ein jeder hat Seinen Zyklus und Seine Zeit. Wenn nun ein neuer Mittler und Erwecker auf dieser Erde sich verkörpert hat, so gehen von Ihm, dem Herrn des neuen Zeitalters, wandelnde Kräfte aus, die alles neu beleben, ein jedes auf seine Weise. Bahá’u’lláh sagt einmal: „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschheit im Reich der Gedanken abhängt. Es ist der Geist der Wirklichkeit und das Wasser des Lebens. Ihm verdanken alle Dinge ihr Dasein. Es offenbart sich immer nach der Fähigkeit und Farbe des Spiegels, durch den es widergespiegelt wird. Fällt zum Beispiel sein Licht auf den Spiegel des Weisen, dann bringt es Weisheit zum Ausdruck; wird es von dem Geiste des Künstlers widergespiegelt, so schafft es neue und schöne Künste; leuchtet es durch den Geist des Gelehrten, dann offenbart es Wissen und enthüllt Geheimnisse. —
Alle Dinge der Welt erheben sich durch den Menschen und kommen durch ihn zum Vorschein. Durch ihn finden sie Leben und Entwicklung, und der Mensch ist in seinem geistigen Wesen von der Sonne des Wortes Gottes abhängig. Alle guten Namen und edlen Eigenschaften sind die Früchte des Wortes Gottes. Das Wort ist das Feuer, das in den Herzen der Menschen glüht und alles verbrennt, was nicht von Gott ist.“
Wohl sind die Menschen alle dieser Kraft des Wortes Gottes teilhaftig, ob
sie den Namen des neuen Mittlers und Erziehers kennen oder nicht, ob sie
an einen solchen überhaupt glauben oder nicht, so wie der Mensch der
Gaben der physischen Sonne und ihrer umgewandelten Energien teilhaftig
ist, ob er auch blind sei oder als Säugling nichts von ihr wisse oder
vielleicht in einem Kellerloch wohne. Aber der Mensch ist etwas Geistiges.
Er hat nicht nur den Körper, sondern
[Seite 137]
Verstand, Vernunft und noch mehr, gewisse edle, geistige Organe, die ihn
befähigen, den Schimmer, den Duft von Göttlichem wahrzunehmen und
Falsches von Echtem zu unterscheiden, Weltklugheit von geistiger Erleuchtung,
Blendwerk von schöpferischem Wort, falsches von echtem Prophetentum. Der
Mensch hat auch einen freien Willen, das zu wählen
und zu tun, was er auf seinem Weg zur Vervollkommnung für gut und
förderlich findet. Das ist seine Freiheit und seine Verpflichtung. Wenn
er Gott wahrhaft liebt, dann sucht und prüft er alles, was verspricht, ihn
dem Einen, dem geliebten Vater, näher zu bringen, und wo er Seinen
Ruf hört, da folgt er ihm beglückt.
„Prüfet alles und behaltet das Beste.“ Als einstens Bahá’u’lláh, damals noch ein junger Edelmann, durch einen seltsam geführten Boten auf seinem Schlosse unweit Teheran ein Schreiben des Báb empfing, da soll Er nach dem Durchlesen gesagt haben: „Wer den Koran kennt und weiß, aus welchem Geist er offenbart ist, der erkennt, daß diese Feder aus demselben Geiste entströmt ist.“ Und damit hatte Er sich zum Báb bekannt.
Diese Betrachtungen führen uns zu dem Zweiten, das mit der Sendung
Bahá’u’lláh’s als etwas Neues in die Welt hinausstrahlt,
zu Seiner Lehre. Zwar ist die Wahrheit immer die
gleiche, aber die Menschheit nicht. Sie wandelt sich, sie reift.
So wie man mit dem Knaben anders redet als mit dem Jüngling, und
mit diesem anders als mit dem Manne, so formen die
Menschheitserzieher ihre Lehren nach der Reife, den Nöten, Fragen
und Möglichkeiten des jeweiligen Zeitalters. Der heutige Mensch ist
bewußter, selbständiger, komplizierter geworden. Die heutige Menschheit
ist auf ihrem Wege zur Einheit mit einem so bunten Vielerlei alter
Überlieferungen und Vorurteile beladen und drängt und stößt und quält
sich damit auf immer enger gewordenem Raum. Darum redet Bahá’u’lláh zu
ihr vielseitig, ausführlich und alles Trennende beseitigend. Seine
Schriften, die des Báb und 'Abdu'l-Bahá’s dazugerechnet, übertreffen
an Umfang die aller übrigen Religionsstifter zusammen. Diese Texte
zeigen dem Menschen von heute und morgen den Weg in allen Arten und
Stilen, von der heiligsten Begeisterung bis zur klaren Verstandeslogik,
von nüchterner Prosa bis zur beschwingten Hymne, von den schlichten
Grundwahrheiten bis zu verwickelten Einzelfragen. Aus diesen Lehren
ragen aber einige Grundsätze heraus, die immer wiederkehren wie das
Thema einer Symphonie in vielerlei Variationen. Wir können sie am
besten dann verstehen, wenn wir uns auf die Stufe des Menschentums
zu versetzen suchen, zu dem uns schon Christus hatte erziehen wollen,
wo Nächstenliebe aus Gottesliebe ein selbstverständlicher Wesenszug
geworden ist. Bahá’u’lláh entwickelt dies weiter bis zu einer
Umgestaltung und Neuordnung der ganzen Menschheit zu einem alle
umfassenden Organismus. Sein Wort: „Ihr seid alle die Blätter eines
Zweiges und die Früchte eines Baumes“, ist dem Menschen des neuen
Zeitalters Sehnsucht, Ziel, Grundsatz und zuletzt Wirklichkeit. Aber diese
Einheit soll keine Uniformierung bedeuten, sondern eine Fülle von
Mannigfaltigkeit umschließen in einer Harmonie, wie sie uns in einem
wundervoll gepflegten Garten oder in einem herrlichen Lied oder in einem
[Seite 138]
schönen, gesunden Körper entgegenstrahlt, wo überall die Verschiedenartigkeit
der Pflanzen oder Töne oder Zellen und Organe nicht Gegensatz,
Streit und Vernichtung bedeutet, sondern Ergänzung, Dienen und Helfen,
und damit Wohlfahrt und Entwicklung und höchste Selbsterfüllung
zugleich. Und überall, wo sich die einzelnen nicht in diesem
Zusammenklang einreihen können, da sind sie eben noch Unwissende,
die erst belehrt werden müssen, oder Unentwickelte, die erst
erzogen werden müssen, oder Kranke, die geheilt werden müssen,
nie aber Menschen, die wir nicht lieben müssen, nein, lieben
dürfen. Denn nur so kann man ihnen ja wahrhaft helfen.
Die Menschen aber machen Vorbehalte und Unterschiede, auch die Frommen unter ihnen. Diese oft gerade am meisten: sie scheiden zwischen Rechtgläubigen und Ungläubigen oder Heiden. Was aber hat diese Schranken aufgebaut? Die Wahrheit kann nur eine sein, und ihre berufenen Offenbarer reden aus dem gleichen Geiste. Die Menschen aber und ihre Priester haben durch Dogmen, Kulte und Gesetze Eigenes, Allzumenschliches hinzugefügt, und sich in vielerlei Bekenntnisse verzweigt. Und nun halten sie dieses Hinzugemachte für das Wesentliche und haben damit die lebendige, allumfassende Einheit verloren. Wer aber Gott von Herzen liebt, der freut sich, von Ihm zu hören, aus welchem Munde auch Lobpreis und Lehre kommen mögen; er liebt das Licht, aus welcher Lampe es auch scheint; denn er schaut nicht auf die Lampe, sondern auf das Licht. Die Menschheit von heute und morgen tritt durch Sturm und Drang in das Mannesalter und lernt rückblickend aus den Jünglingsabenteuern vergangener Jahrtausende ihre krumm gezackten Wege zur Reife und Einheit erkennen. Sie wird immer fähiger, selbständig nach Wahrheit zu forschen und Licht und Lampe zu unterscheiden. Darum konnte Bahá’u’lláh jetzt mit der ganzen Autorität Seiner erhabenen Stufe die gemeinsame Grundlage aller Religionen und die gleiche geistige Stufe ihrer einstigen Begründer bestätigen und deren Lehren erfüllen und weiterentwickeln, so wie die Blüte die Knospe ja nicht vernichtet, sondern sie, aus der gleichen Lebenskraft gespeist, weiterentwickelt und ihre verborgenen Schönheiten offenbart. So gibt es auch keinen echten Bahá’i, der nicht durch seinen Glauben auch Christus und allen anderen Gottgesandten nähergekommen wäre, wie es auch andrerseits keinen echten Christen gibt, der nicht in der Bahá’i-Religion beglückt die Weiterentwicklung und Erfüllung des Christentums erkennt.
Als freie und bewußte Menschen sollen wir den Höhenweg wandeln.
Das selbständige Forschen nach Wahrheit ist unser
Vorrecht und unsre Pflicht zugleich. Heute ist bei den meisten Menschen
ihre Weltanschauung noch aus blinder Nachahmung erwachsen. Die Menschheit
ist noch versunken im Aberglauben oder im Atheismus, den beiden
Zerrbildern von Religion und Wissenschaft, denn in den Millionen
einzelner sind Glaube und Wissen noch nicht zur Harmonie entwickelt.
Dieser Zwist hat am Mark der abendländischen Kultur seit Jahrhunderten
genagt: Lange waren Forscher und Gelehrte von einer engstirnigen
fanatischen Kirche verfolgt worden, und auch schon wieder zwei Jahrhunderte
[Seite 139]
lang werden nicht nur die Auswüchse dieser Kirche, sondern auch ihre
heiligen Grundwahrheiten abgelehnt und verspottet. Aber, um diese Harmonie
von Glauben und Wissen zu erreichen, muß vor allem die geistige,
verstandliche und praktische Erziehung überall auf der Welt die
bestmögliche sein. Und in allen Ländern sollen die Mädchen, die
einstigen Mütter und ersten Erzieher des nächsten Geschlechtes,
darin gleiches Recht genießen wie die Knaben. Überhaupt soll
die Frau dem Manne gleichberechtigt zur Seite gestellt werden.
Dann werden Eigenschaften, worin sie dem Manne überlegen ist,
wie Intuition, Einfühlungsgabe, Liebe, Geduld und anderes,
sich so frei entwickeln, um in der neuen Zivilisation
natürlich zur Geltung zu kommen.
Dann wird auch die soziale Frage gelöst sein, nicht durch Betonung der Klassenunterschiede und durch organisierten Klassenkampf, sondern durch freiwilliges Geben aus Nächstenliebe, durch Hochschätzung der Arbeit, die nicht mehr als Fluch auf Millionen lasten soll, sondern, mit dienender Hingabe vollbracht, dem Gebete gleich geachtet wird, ferner durch Beteiligung aller am Gewinn, durch weise ausgleichende Erbschaftssteuern und andere Wirtschaftsreformen, vor allem aber durch das Schwinden aller Klassengegensätze aus einem neuen Menschentum heraus.
Dann wird auch eine gemeinsame Welthilfssprache in allen Schulen der Erde neben der Muttersprache gelehrt werden, nicht nur aus Vernunft, sondern aus einem weltumarmenden Herzensbedürfnis aller Menschen, ihre Gedanken und Gefühle auszutauschen. Dann wird auch der Weltfriede Wirklichkeit werden, nicht ein dürftiger, brüchiger Friede, mißtrauisch auf Vernunft und Verträge gestützt, wie er nach noch weiteren Jahren des Leides der Menschheit in nicht allzuferner Zeit beschieden sein wird, sondern ein fester, dauernder Friede auf den beiden Grundpfeilern der Einheit der Religion und der Einheit der Menschheit. Er ist die Krönung der neuen Ordnung, die wie ein festes, neues Eiland aus der trüben Sintflut emporsteigt. —
Das ist das große Werden dieser Wendezeit. Riesengroß leuchtet die
Gestalt Bahá’u’lláh’s und Seine Sendung in die Jahrtausende hinein. Er
löst zwar, äußerlich gesehen, die vorangegangenen Zyklen der alten,
zurzeit noch bestehenden Religionen bedingungslos auf. Aber er hält
die ewigen Wahrheiten, die knospenhaft in ihnen schlummern, hoch und
entfaltet sie zur Blüte. Er anerkennt ohne Einschränkung die göttliche
Autorität der alten Religionsstifter und läßt an die Heiligkeit ihrer Worte
nicht rühren. Im Gegenteil: Er versöhnt und vereint ihre scheinbar
verschiedenartigen Lehren und Ziele und betont überall ihre gemeinsamen und
ewig gültigen Grundsätze. Er würdigt freudig und dankbar ihre nacheinander
folgenden Großtaten zur Erziehung der Menschheit und legt offen dar, daß Er
selbst auch nur ein Glied in der Kette dieser fortschreitenden Offenbarungen
ist. Und, indem Er die alten Lehren erweitert, veredelt und die ganze
Menschheit ihnen zuführt, krönt Er sie durch eine Ordnung, wie sie den
Nöten, der Aufnahmefähigkeit und den Entwicklungsmöglichkeiten der Menschheit
am segensreichsten entspricht. So vollbringt Er, was keine alte Religion,
[Seite 140]
keine neue Partei oder Bewegung und kein Weltkongreß oder Völkerbund
allein vermöchten, die Ideale aller zu erfüllen und das Gute von gestern
mit dem Notwendigen von heute und dem Höchstmöglichen von morgen zu
verschmelzen, so daß alle Menschen Brüder werden in einer neuen,
gottgeoffenbarten, weltvereinenden, welterlösenden Ordnung.
Herrlich ist dieser Tag, gewaltig der Ruf an uns alle.
An unser Denken und Herz greifet des Schicksals Gesetz.
Wir sind zu Taten gerufen, ein jeder bei seinem Namen.
Jeder ein Wort und ein Klang in der Sphären Gesang.
Denn etwas Ganzes zu werden, das ist des Menschen Bestimmung,
ganz im Ja oder Nein, klar und strahlend und stark.
So wird des Lebens Gewalten er scheiden, wandeln und ordnen,
ein Berufener und ein Erlöster zugleich.
DER BAHÁ’I-MENSCHHEITSGLAUBE und die DEUTSCHEN[Bearbeiten]
Von Karl Schück (Hollywood, USA.)*)
- „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
- Die eine will sich von der andren trennen.“
- Goethe, Faust, I. Teil
Mit der gleichen göttlich inspirierten Weisheit und Gläubigkeit, mit der
‘Abdu’l-Bahá, der Sohn des Stifters des Bahá’i-Glaubens Bahá’u’lláh, und
Shoghi Effendi, dessen jetzt die über die Welt gespannten Fäden dieses
universellen Menschheitsglaubens zusammenhaltender Nachfahre, die Weisungen
des Propheten und die Botschaft Gottes in weltliche und praktische Begriffe
umwandelten und sie realistisch zu verwirklichen begannen, setzten
sie zugleich die höchsten Hoffnungen auf die Zukunftssendungen des
amerikanischen wie des deutschen Volkes. Mit all den auf seinem Boden sich
bindenden Menschen, Rassen, Traditionen und Glaubensrichtungen der
ganzen Erde erbrachte Amerika den Beweis, daß eine menschlich-menschheitliche
Verfassung alle alten, zur Trennung und zu Hader führenden
Vorurteile zwischen diesen verschiedenartigen Menschen aufzulösen,
eine Einheit herzustellen vermag, und sich hier die Voraussetzungen
allmählich erfüllen lassen, die zu der Einheit der Menschheit, der
ganzen Menschheit — diesem Credo des Bahá’i-Glaubens führen.
Den Deutschen wohnt ein uralter, tiefer Traum inne, daß sie eines
Tages dazu berufen sein möchten, der Sache der Menschheit wie ihrer
eigenen zu dienen und die Stoßkraft zur geistigen
Eroberung der Welt darzustellen.
[Seite 141]
Wer die deutsche Geistesgeschichte studiert und sich mit dem innersten Wesen des Deutschen vertraut gemacht hat, vermag die Existenz eines solchen Welttraums nicht zu überblicken, eines Traums und einer unauslöschlichen Sehnsucht nach einer sittlichen und geistigen Realität, die größer, umfassender und beglückender wäre als die Wirklichkeiten, die sie im Verlauf ihrer an Wechselfällen, despotischen Unterdrückungen und Irreführungen so reichen Geschichte zu bestehen hatten.
Eine solche Behauptung mag angesichts des Grauens und der vom Krieg zurückgelassenen Ruinen, die eben dies deutsche Volk über die Welt getragen hat, paradox erscheinen. Aber war es wirklich nichts anderes als ein unstillbares Verlangen nach Zerstörung, das die Deutschen dazu anhielt, Krieg auf Krieg zu unternehmen — war es nichts anderes als ein wahnsinnig-dämonischer Trieb, die Welt zu germanisieren und zu beherrschen? Wie wäre es möglich, daß die gleiche Nation, die die großen Genies des Friedens und sittlicher Ordnung, erfinderische Meister, geduldig-genügsame Künstler hervorgebracht, solch hohe sittliche Zukunftsträume und Ideale neben rücksichtsloser Zerstörungssucht dulden konnte?
Ohne Zweifel besitzen eben diese Deutschen Kräfte und Voraussetzungen, die den Glaubensgrundsätzen Bahá’u’lláh’s, den Deutungen ‘Abdu’l-Bahá’s und den weisen Appellen Shoghi Effendi’s an eben diese Deutschen entsprechen. Und worauf beriefen sich nun diese Appelle, ungeachtet des Grauens und tiefen Mißtrauens der Welt vor dem deutschen Volke? Nichts anderes riefen sie wach als die deutsche Glaubensfähigkeit, die Führer, Prinzen und Statthalter immer wieder für ihre eigenen Zwecke nutzbar zu machen gesucht — auf nichts anderes beriefen sie sich als die im dunklen Innern schlummernde Glaubenskraft, die nur darauf wartete, endlich erweckt und zur Verwirklichung des uralten deutschen Traums geführt zu werden.
Wir wissen, welchen Schaden unterdrückte Träume in der menschlichen Seele anzurichten vermögen. Seine friedlich-ruhige Art verwandelt sich oft von einem Augenblick zum anderen in grausame Zerstörungslust, und seine früheren Ideale von Schönheit entarten zu Grimassen erschreckender Entstellung. In ähnlicher Weise ist die deutsche Geschichte eine Wetterkurve sich mehrender Traum-Unterdrückungen, abreißender Spannungen, neuer Sehnsüchte und neuer Vergewaltigungen.
Mit den allgemeinen aus Deutschland in die Welt dringenden Berichten kommen Nachrichten über die neuen künstlerischen und geistigen Bestrebungen und Tätigkeiten, die uns an ähnliche Erscheinungen nach dem ersten Weltkriege erinnern. Damals gab es kaum eine Kunstausstellung, Theateraufführung, Buch, Vortrag oder andere intellektuelle Äußerungen, die nicht nachdrücklichst und überzeugt die Sehnsucht nach dem Ideal einer geeinten Menschheit zum Ausdruck brachten. Und jeder Mensch verstand solche Worte wie „Geistige Einheit“, „Weltbrüderschaft“, „Neue Ordnung und Gerechtigkeit“ und nahm sie hin als strahlende Verheissung einer größeren Zeit.
Menschheit! Dies war in der Tat der alte deutsche Traum. Menschheit,
diese höchste Menschenvereinigung, die eines Tages auch das deutsche
[Seite 142]
Volk von seiner so schöpferischen und ach! so zerstörerischen
Zwiespältigkeit erlösen würde.
Eine Rückschau in die Geschichte zeigt diese tiefe Sehnsüchtigkeit, diesen Glauben ohne fest umrissenes Ziel, wie es in den Bewohnern der von Mauern und Hörigkeitsgesetzen umschlossenen Burgbezirke lebendig war, all dieser „Niedrig-Geborenen“, die ihren Rittern zu ständigem Dienst verpflichtet waren und aus den engen Werkelkammern heraustraten, über die Mauern ins ferne Land hinauszuspähen und sich aus der Beengtheit zu jenen dunstig-blauen Bergeshöhen und sternfunkelnden Horizonten über geheimnisvollen Fernen hinauszuträumen. Sie lauschten gespannt den Berichten und Liedern der fahrenden Sänger, die von anderen Burgen, anderen Menschen zu erzählen wußten, die der eingeengten, gefesselten Phantasie dann als fabelhafte, mystische Wunderwesen von göttlicher Erhabenheit erschienen.
Da sie weder lesen noch schreiben konnten, verblieb ihnen ja keine andere Wahl, als den Geschichtenerzählern und ihren Seelenmeistern, den Mönchen, Glauben zu schenken. Und wenn dann diese vom Heiligen Grale sprachen und mit feurigen Worten die heidnische Schändung des Heiligen Grabes in fernen Landen schilderten, flammten die Herzen dieser einfachen „Hörigen“ auf, und jeder wollte der Erste sein, der hinter dem Ritter her zum gottbefohlenen Befreiungs-Kreuzzug ins Feld ziehen konnte. Alles, was dazu diente, in die Mauern der dunklen Umfriedung eine Bresche zu schlagen und das Burgtor zu öffnen, um den Weg zu den lockenden Horizonten freizugeben, war herzlichst willkommen und fand begeisterte Gefolgschaft. Irgendwo, so hörte man, wuchs eine blaue Blume. Niemand fragte viel danach, wo und ob sie überhaupt zu finden wäre, denn Besitztum ist schon Wissen, und wer weiß, der träumt nicht mehr. Träume waren besser und schöner.
Die Taten, für deren Verwirklichung die Bürger dann zu kämpfen und zu leiden hatten, waren durchaus nicht immer von unselbstischem oder heiligem Charakter. Die Ritter und Fürsten waren schlau genug, die unstillbare, drängende Welt- und Menschensehnsucht ihrer Untertanen für ihre ehrgeizigen, machthungerigen Pläne nutzbar zu machen. Sie bemäntelten die kriegerischen Pläne mit verheißungsvollen, erhabenen, ja religiösen Phrasen und Worten, nannten die Bewohner anderer Burgschaften oder Gemeinden unwürdige Heiden, Teufelssöhne, „Untermenschen“, erhoben damit den eigenen Feld- und Beutezug zu einer „heiligen Sache“, verwirrten die unerzogenen Geister, die glaubenssüchtigen Seelen und beriefen sich auf eine Notwendigkeit Gottes, als dessen Stellvertreter auf Erden sie sich ansahen. Wenn nun die Glut der Untertanen zur Lohe aufgeschlagen war, war es ein leichtes, die dunklen, die zerstörerischen Instinkte aufzuwühlen und die Untergebenen anzufeuern, „die Feinde“ anzugreifen, als wären sie die Zerstörer und Bedroher einer göttlichen Ordnung.
So schleppten sie dann die Siegesbeute ihrer Herren in die heimische
Burg zurück, werkelten weiter, und die fortglühende, ungestillte Sehnsucht
wurde von den geduldigen Händen in geschmiedete und geschnitzelte
Formen hineingepreßt. Eine Spaltung grub sich jedoch in ihr Inneres ein.
Hier liebte man die eigene kleine,
[Seite 143]
dumpfige Kate und das Stückchen Land, und dort wuchs das Sehnen
nach jenen Welten weiter, von denen man eben einen aufreizenden
Vorgeschmack gewonnen hatte. Die sich so bildende Spannung ließ sich
nicht überwinden und bewirkte ätzende, drängende Qual. Man mußte sich von
ihr zu befreien suchen, und schon flammten die Instinkte „hilfsbereit“
empor und verhießen Selbsterlösung durch Zerstörung.
Der Dualismus weitete sich trotz fortschreitender Aufklärung und Bildung und der Erweiterung der Burg- und Landbereiche. Das ständige Sehnen nach der Blauen Blume in den großen Fernen brachte einen tiefen Hang zur Mystik zur Entwicklung, die die Deutschen zu eifrigen Scholaren und Anhängern eines St. Franziskus, Tauler, Suso, Ekkehard und anderer machten, während auf der anderen Seite ihre liebevolle Verbundenheit mit Heimat und Scholle den Beobachtungssinn und die Liebe für die einzelnen Dinge schärfte und die Gründlichkeit zur Entwicklung brachte, die so unerläßlich ist, wenn aus Wenigem viel zu machen und Notstand in Segensstand zu verwandeln sind. So steigerte sich die Beobachtungsfähigkeit und der kritische Verstand in dem Maße, wie sich die Glaubenssüchtigkeit vertiefte. Die beiden Eigenschaften erwiesen sich als unvereinbar und schufen ständig neue Spannungen, die nach Befreiung drängten.
Allenthalben brach dieser Dualismus durch. War man eben ein überzeugter Christ, so begann man im nächsten Augenblick an dem Nazarener als einem nichtgermanischen Wesen und am Christentum selbst zu zweifeln, das ihnen wie ein Fremdkörper auf das wesenseigene Heidentum aufokuliert worden war. Hier verehrte man das Sinnbild und Zeichen des Gekreuzigten, und dort huldigte man bei aller Armut und Niedrigkeit Helden siegfriedhaften Gepräges, die erkoren waren, den Drachen des Weltwehs und der Not mit der Macht eines mystisch-sagenhaften Schwertes zu erschlagen. Und wie das deutsche Christentum doppelhaften Wesens war, litt auch sein „ureigentliches Heidentum“ an einem ähnlichen Schisma: Die Natur, so meinte er, war ein geheimnisvolles Wesen, das von Gottheiten bevölkert und beseelt war. Mit den elementaren Geistern von Bäumen und Feuer, von Wasser und Winden fühlte man sich verbunden. Kaum hatte man dies Gefühl verspürt, als sich schon der Verstand, das rationalistische Selbst, in den Vordergrund schob und das kritisch zu zerpflücken und zu analysieren begann, was man eben so bedingungslos angebetet hatte. Mit kühler Unbeteiligtheit und unerschrockenem, von keinem Fabelwesen beeinflußbaren Verstande stieß man in die Geheimnisse der Natur, um ihre Gesetze zu entdecken und ihre Kräfte für Erfindungen und technische Dinge nutzbar zu machen.
Unter ähnlicher Voraussetzung glaubte er jetzt an eine weltumspannende,
weltvereinende Religion, an eine mystisch-heilige Einheit der ganzen
Menschheit, und im nächsten Augenblicke ließ er sich in die mittelalterlich-engen,
von Machtpolitik bestimmten Anschauungen jener Zeit zurückfallen, da die Welt
nur ein Umkreis von ein paar Meilen war. Hier träumte er von einer wahrhaft
überirdischen Verbindung aller Nationen zu einer menschheitlichen
[Seite 144]
Ganzheit, und da wies sein alter Vasallengehorsam einen solchen Gedanken
als gefährliche Monstrosität zurück. Hier ließ er sich von der inneren
Überzeugung leiten, dies Menschheitsideal würde sich durch organisches
Wachstum und aus innerer Notwendigkeit verwirklichen, und da
glaubte er, daß er, aus Siegfriedschem Geschlechte, allein dazu berufen
war, diese Aufgabe auf deutsche, selbst gewaltsame Weise zu lösen.
So widersinnig es erscheinen mag, besitzen die Deutschen eine Eigenschaft, eine Sehnsüchtigkeit, die sie im allgemeinen ihren „geistigen Widersachern“, den Juden, zuschreiben. Sie beide glauben an einen erlösenden Messias, sehnen sich nach großer Einheit und meinen, „auserwählt“ zu sein. Als gäbe es auserwählte Völker! Die wahre Elite ist und bleibt doch stets die des Geistes, des selbstlosen Dienstes, der großen Verantwortlichkeit. Die Deutschen haßten die Juden wegen der Dinge, die sie sich allein vorbehalten wähnten: die Verwirklichung der Weltbürgerschaft, die Überwindung der alten Beengung, und die Befreiung der eingeborenen Glaubenskräfte.
Die alte Fehde zwischen dem Ich und der Welt, die Heldenhaftigkeiten und Monstrositäten in verwirrender Folge aus sich gebar, hielt die deutsche Seele in zermürbender Drangsal und qualvoller Zwiespältigkeit, während die Suche nach der Blauen Blume ungeachtet der sich steigernden Mechanisierung und des bedrohlichen Materialismus in der Welt ihren Fortgang nahm. Die Spannung hielt die Kräfte sprungbereit und unternehmungsentschlossen, während andere Völker in ihren alten, wenn auch harmonischen, und weitaus friedvolleren Geleisen dahinlebten.
Dann vollzog sich das große Erlebnis, als die französischen Revolutionäre im Jahre 1789 zum ersten Male das Wort „humanité“, Menschheit, als die Parole einer aufdämmernden neuen Zeit verkündeten. Mit Sturmgewalt riß dies Wort die Deutschen aus dem Zustand einer unentschlossenen Schwere. Im Augenblicke war ihr Begeisterung entflammt. Was vage und namenlos in ihrer Seele hingedämmert hatte, warf sich dem neuen Horizont entgegen, an dem sie die Symbole der eigenen Schicksalserfüllung und Selbstverwirklichung erblickte. Menschheit! Die titanische Stimme Beethovens ließ den großen Jubel im Schlußchor seiner Neunten Symphonie aufklingen: „Seid umschlungen, Millionen... Brüder... nehmt den Kuß der ganzen Welt.“ Der olympische Goethe deutete die große Wende und sprach von einem Weltbürgertum, und im Faust, zweiten Teil, entwarf er das gigantische Bild einer tätigen, friedlich untereinander verbundenen Menschheit. Selbst der nüchtern-erhabene Genius der Vernunft Immanuel Kant fügte seine Bestätigung der Menschheitsmoral („Der Ewige Frieden“) zu dem allgemeinen Willkommensgruße, das die Deutschen dem alten und neugeborenen Ideal entgegenjauchzten.
Hier fand sich also das Fundament des Deutschen selbst. Hier war sein
Schicksal. Die Blaue Blume gab ihren wahren Namen preis. Hier fand
sich Nahrung für den Verstand, Feuer für die Phantasie und die suchende
Seele, sinnvolles Recht, sich nun entschlossen der Welt zuzuwenden,
sittliche Berechtigung für einen neuen Heroismus und die große Chance, die
[Seite 145]
alten Schranken zwischen den Völkern niederzureißen ...
Was war erhebender und anfeuernder als dies? Ließ sich ein größerer Glaube finden?
Das mächtige Ideal stand am Tore. Man brauchte nur die Hürde
niederzubrechen. Doch womit? Mit der Menschlichkeit? Wie sollte man sie
zur freien Entwicklung bringen? Hier sang man doch „Deutschland,
Deutschland über alles“ als nationale Hymne; Philosophen wie ein Hegel,
deren Autorität man nicht anzuzweifeln wagte, lehrten doch, den Staat
zu vergöttlichen, und in ihm und seinen Machthabern gottvertretene
Institutionen zu erblicken. Der voranschießende Materialismus der neuen
Zeit verlangte allen Kräfteeinsatz. Wie ließ sich ein solches Ideal nun
auch angesichts der durcheinander brodelnden Strömungen des Aufbruchs erfassen
und verwirklichen? Man besaß ja nicht die Fähigkeit, zwischen Verstand und
Sehnsucht, zwischen Rationalismus und Idealismus und anderen einander
bekämpfenden Widersprüchen in der eigenen Natur ein Gleichgewicht zu halten.
Schon erwuchs eine neue Spannung zwischen Konservativismus und Menschheitsglauben.
Und wie die Ritter versunkener Zeiten sich den Bürger zu blindem Gehorsam, zu
fragloser Gefolgschaft verdingten, um ihn jetzt für eine Heilige Sache, dann
für einen persönlichen Krieg zu erwärmen, so zogen dermaßen vergöttlichte Könige
und Kaiser „von Gottes Gnaden“ die Seelen in ihre machtpolitischen,
nationalistischen Netze. Und als der Kaiser stürzte, fiel Trauer und Verzweiflung
über den Deutschen her, der in seiner Überzeugtheit von der göttlichen
Notwendigkeit seiner weltbekehrenden Mission es anderen, nicht
mit solch hoher Aufgabe betreuten Nationen verzeihen konnte, den
deutschen Vormarsch, den „Kreuzzug“ deutscher Färbung behindert, ja
aufgehalten zu haben. Und dann trat Hitler auf den Plan, er, der Inbegriff
und das Sprachrohr der verworrenen deutschen Vorstellungen, Weltbegriffe
und -sehnsüchte, Minderwertigkeitskomplexe und phantastischer Ansprüche,
leidenschaftlicher Seelenbereitschaft und weltumfassender geistiger
Vorbestellungen, er, der geschickt den alten Hang zum Mystizismus und
das neue Menschheitscredo für seine Zwecke nutzbar machte und
zum imaginären Weltthronsitze strebte. Seine phantastische Rechnung hätte
zu Erfolg geführt (wie einhundertdreißig Jahre früher der Weltmachttraum
Napoleons) — wäre in der Gleichung nicht das Ewig-Gültige vergessen
worden: die neue Sittlichkeit als Grundvorbedingung für die neue Welt.
Die neue Sittlichkeit: deren Wesen war ein erweitertes, ein
Menschheitsbewußtsein im schöpferischen Sinne, war Toleranz, Menschlichkeit,
Demütigkeit und Verantwortlichkeit aller für alle. Die neue Wirklichkeit, deren
Name Menschheit war und nicht der einer „bevorzugten“ Nation! Die
mittelalterliche Kleinbürgerlichkeit, wie sie sich in den Burgengen herangebildet
und diese später zersprengt hatte, ließ sich nicht mit Gewalt und Nibelungenmystik
zu einer in Weltbegriffen denkenden und handelnden, einer göttlich
inspirierten und der Menschheit dienstbaren Verantwortlichkeit
aufbauschen, ohne daß der Mensch selbst die große Form auszufüllen
imstande wäre. Der Umstand, daß bei diesem maßlosen Hazardspiel
die geistige Funktion des Menschen als einer
[Seite 146]
Funktion Gottes mißachtet und einem wahnsinnigen militärischen Manöver
angeschirrt und unterjocht wurde, der Umstand ferner, daß diese
dämonische Unternehmung von der willkürlichen Verkennung der
menschlichen Daseinsbestimmung und dem herausforderungsvollen, egoistischen
Drange nach Menschenunterdrückung bestimmt und von Gewaltpolitik
getrieben war, sowie der Umstand, daß die Exzesse einer superlativen
Anbetung der „Moral der Macht“ statt der Macht der Moral
dienten, mußten zum Untergang, zur katastrophalen Entzauberung führen.
Denn nichts rechtfertigt die grandioseste Unternehmung, wo einem
einzigen Menschen auch nur ein Haar gekrümmt wird. Wo die Achtung vor
dem heiligen Menschenleben durch Willkürakte geschändet wird, muß
selbst der prometheischste Wurf mißlingen.
Nun liegt das große zauberreiche Land in Trümmern, und die Schatten der Not und Sorge wehen über die geborstenen Träume. Zum zweitenmal in diesem unruhvollen Jahrhundert mußte der Deutsche zu der Erkenntnis erwachen, die ungeheuren, unerfüllten Möglichkeiten in sich mißbraucht, der nationalistischen Selbstvergottung hingeopfert zu haben, und daß jeder Versuch, einen von Gott bestimmten Gang der Geschichte willkürlich abändern zu wollen, als „kleiner Gott der Welt“ eine Ordnung aufstellen zu wollen, die sich über den die Winterkrusten durchstoßenden Trieb einer Menschheitsbestimmung zu stülpen sucht, notwendigerweise tragisch enden muß. Solange hat der Deutsche doch begriffen, daß die geistige Geschichte im Gegensatz zur bloßen Chronologie der historischen Ereignisse vom Uranfang der menschlichen Werdung einem Ziel zugestrebt und zu ihm die Kräfte entfaltet und bewegt hat: dem mehr und mehr sich aufhellenden und sich erweiternden menschlichen Bewußtsein seiner eigentlichen Bedeutung und Sendung und dem Heranreifen der ihm eingeborenen Saat der menschlichen Erfüllung: Menschheit als eine von Gott geplante und geforderte Wirklichkeit.
Dies zu fühlen und zu denken, war dem Deutschen zu eigen gegeben, und es zu leben, war der innerste Drang seiner ins Uferlose zielenden Sehnsüchtigkeit. Von diesem Ziele träumte er. Was er jedoch nie recht begriff, ist die Tatsache, daß die Erfüllung dieser höchsten irdischen Wirklichkeit, dieser friedensvollen Ordnung weder des Menschen eigenste Entscheidung noch das angemaßte Vorrecht der deutschen Nation ist, als es Gottes Wille und Planung war, ist, und bleiben wird. Die Glaubensfähigkeit, dies hohe Ziel zu erreichen, ist dem Deutschen eingeboren. Was er nun zu lernen und zu akzeptieren hat, ist, den Namen Gottes da zu sagen und da zu schreiben, wo er bisher die Worte „Selbst“ und „Deutschland“ als Götter angebetet hat.
Wie aber soll er die Wandlung bestehen? Die deutsche Seele windet
sich in ätzenden Schmerzen, Verzweiflung bemächtigt sich der Köpfe, und
das Gespenst, die Grimasse eines gestürzten, tönernen Gottes folgt ihm in
die Nacht. Und trotz allen äußeren Widernissen, Leiden, Bedrängnissen
und Zerrissenheiten lebt die alte Menschheits-Vision in ihm fort. Die
Siegfried- und Barbarossa-Vorstellungen sind zersprungen, aber die Glut
des Glaubens ist ihm nicht erloschen. Mit Glauben, mit religiösem Glauben
[Seite 147]
hatte man die Selbstvergöttlichung Hitlers hingenommen. Man hatte in
ihm die eigenen Möglichkeiten, die eigenen Verwirrungen und Sehnsüchte
gespiegelt gefunden, und, indem man ihn anbetete, betete man sich selber
an.
Wer deutsche Geschichte studiert und sich mit den schon recht ungewöhnlichen Fähigkeiten des Deutschen, sich einem Glauben hinzugeben, vertraut gemacht hat, wird ohne Schwierigkeit die Botschaft Bahá’u’lláh’s an die Deutschen verstehen. Zum ersten Male wird ihnen hier mit diesem Glauben ein geistiges Ziel geboten, das ganz und gar ihr eigenes ist. Das einstige romantische Ideal fand tiefere Bestätigung durch göttliche Verheißung und vermag sich auf einem realistischen Boden zu der Verwirklichung verwandeln, von der die großen, zur Menschheit weisenden Deutschen je gesprochen haben. Da es sich hier um eine Weltreligion handelt, braucht der Deutsche nicht länger die Unvereinbarkeit der Überreste seiner heidnischen Neigungen mit einem „aufoktroyierten“ Christentum zu fürchten. Die Gefahr willkürlicher oder mystischer Mißdeutung oder von Führerschaft, die sich diese Botschaft zum Vorwand einer besonderen deutschen Mission machen könnte, besteht nicht mehr. Der heilige Plan von Bahá’u’lláh’s neuer Weltordnung schließt nun ein für allemal die Möglichkeit, erneut durch den Dunst und das Ungefähr der Träume von einer vagen Blauen Blume irren zu müssen, aus. Die Annahme und Bejahung dieser grandiosen, weltumspannenden Einzigkeit und Einheit wird notwendigerweise zur langersehnten Befestigung und Fundierung einer geistigen deutschen Einheit führen. Die deutsche Glaubenskraft wird die Mittel bilden, die notwendig sind, um Deutschland und die anderen Nationen ans hohe Ziel zu mahnen und zu ihm hinzubeflügeln. Da ist Raum für jeden, der an eine heroische Lebensführung glaubt, und jeden, der Glück und Befriedigung in Demut und Gehorsam findet. Die Botschaft ist die Sprache Gottes, die das Ohr und die Seele des Deutschen zu verstehen vermögen. Er wird bei diesem allgemeinen Vorwärtsschreiten zu dem hell erschauten Heiligen Gral der Menschheitsordnung nicht zurückstehen wollen. Im Gegenteil: er fühlt, daß er’s seiner eigenen Natur und Anlage schuldet, den neuen Weg zu zeigen und voranzugehen. Seine Mühen, sein Bestreben werden Erfüllung finden. Das mystische und realistische Lebenselement sind zu einer Einheit verschmolzen, und diese vermag durch eben diesen deutschen Menschheitsdienst den alten Zwiespalt aufzulösen und dem deutschen Wesen damit die tiefersehnte „Erlösung“ zu gewähren. Selbst der alte Antagonismus zwischen seiner Neigung für materialistische Zweckhaftigkeit und für hohe geistige Wesenheiten wird zerfallen. Triumphierend wie Beethovens Chor „Seid umschlungen, Millionen“ wird des Deutschen Hingabe an den Glauben an „Bahá“ als die Wirklichkeit seiner eigenen Menschheitsträume sein, die nun völliger Besitz seines Bewußtseins geworden sind und deshalb keinen Halbgöttern und trügerisch-verführerischen Machtidolen mehr Gefolgschaft leisten werden.
Unter solchen Voraussetzungen wird der Weltglaube Bahá’u’lláh’s
notwendigermaßen seine stärkste und ergebenste europäische Gefolgschaft
in denen finden, die ein heftiges Schicksal
[Seite 148]
zu der Erkenntnis gezwungen hat, daß ihre Wirklichkeit nicht eine mit
Waffengewalt germanisierte Welt, sondern ein Deutschland ist, das sich
friedvoll und gläubig von Gottes Liebe zur Welt erfüllen und von ihr
verwandeln läßt, einer Liebe, die in so herzbewegender Fülle und Wärme
von seinem geliebten Bahá’u’lláh der Welt verkündet wurde.
*) Der Artikel erscheint unter dem Titel „Bahá’u’lláhs Message and
the Germans“ in unserer amerikanischen Schwesterzeitschrift „World Order“,
Januar-Heft 1948. Vom Verfasser ins Deutsche übertragen.
WELTORDNUNG IST DAS ZIEL[Bearbeiten]
Von Horace Holley**)
Unser Vorsitzender verweist auf einen Tag vor hundert und einem Jahr, als einen großen und bedeutenden Tag im Entstehen eines Weltglaubens. 1844 wurden für das Leben der Menschheit neue geistige Bedingungen geschaffen. Ein starker Impuls für die Entwicklung des menschlichen Verstandes und Gefühles löste sich aus und gab eine neue und höhere Richtung den Kräften sozialer Entfaltung.
In der Stunde der Dämmerung mag die Sonne durch den Dunst des frühen Tages verdunkelt sein. Trotzdem scheint sie hinter den Wolken und Nebeln und ihr durchdringendes Licht und ihre Wärme haben ihre Wirkung auf alle lebenden Dinge. Die Menschen geben zu, daß sie in einer stofflichen Welt leben, wo das Licht nicht wahllos ausgegossen und von all den unzähligen Gegenständen auf Erden widergestrahlt wird, wo das Licht nicht das Attribut der Dinge selbst ist, sondern seinen Ursprung in der Sonne hat.
Aber wenn das Licht einer neuen Wahrheit im menschlichen Bewußtsein heraufdämmert, fühlen die Menschen eine Zeitlang Unruhe in sich, und sie werden hin- und hergerissen von einzelnen Idealen oder Möglichkeiten, die ihrem persönlichen Leben oder ihren angeborenen Kräften am nächsten scheinen.
Und doch zeigt die Geschichte schließlich die Tatsache, daß Wahrheit nicht ein von selbst keimender geistiger Einfluß ist. Sie ist keine Sache, die durch menschliche Argumente und Debatten rückwärts und vorwärts bewegt werden könnte. Die Wahrheit wurde erschaffen als eine Macht, die offenbar wird durch eine besondere und einzige Art eines geistigen Wesens. Wenn wir uns der Quelle der Wahrheit zuwenden und ihre unmittelbaren Strahlen und ihre Führung empfangen, dann können wir in unserer Demut und Schwachheit Teil eines großen Körpers der Wahrheit werden, dessen vereinte Wirkung unwiderstehlich ist und als letzte Ursache allen Wandels und Fortschrittes in dieser Welt dient.
Das Jahr 1844 fiel mit gewissen äußeren Wandlungen in den sozialen
Verhältnissen der Menschen zusammen, äußeren und wahrnehmbaren
Verhältnissen, die wir mit dem ruhigen und leidenschaftslosen Auge
der Geschichte prüfen können, bis wir uns vergegenwärtigen, daß eine
[Seite 149]
Verbindung da ist zwischen dem Ausströmen einer geistigen Kraft durch
ein großes prophetisches Wesen und jenem bedeutenden Wandel in den
irdischen Bedingungen im Leben des Menschen, die erforderlich waren, um
die neue geistige Kraft zu ihrer wirklichen Erfüllung in dieser Welt zu
bringen.
Der erste große historische Wandel war, daß die sozialen Bedingungen, die Jahrhunderte lang des Menschen Dasein bestimmten, völlig umgestürzt wurden. Ich meine damit die Verhältnisse territorialer Isolierung, die die Grundlage waren, aus der sich die ganze menschliche Gesellschaft, die Rassen, Nationen und Bekenntnisse in der Vergangenheit entwickelt hatten. Weil die großen oder kleinen Gruppen menschlicher Wesen geographisch voneinander getrennt waren, lange genug für jede Gruppe, um einen gemeinsamen Charakter aufgeprägt zu bekommen, eine bestimmte Art des Denkens und Fühlens zu entwickeln, wurden diese Gruppen zu einer abgeschlossenen Wesenheit. Durch diese Voraussetzungen kam es, daß die Menschen verschiedenfarbige Haut haben, daß die Menschen verschiedene Sprachen sprechen, daß wir verschiedene wirtschaftliche Systeme und verschiedene Philosophien entwickelt haben, um die Wahrheit des sozialen Fortschrittes oder sogar die kosmische Wahrheit des Weltalls auszulegen.
Bis 1844 bestand die Menschheit aus einer unbegrenzten Anzahl von Mannigfaltigkeit. Jede dieser Mannigfaltigkeiten wurde gebildet von menschlichen Wesen, wie du und ich, aber jede Gruppe der menschlichen Wesen war überzeugt, daß ihre Bestimmung eine einzigartige sei, daß sie nach ewiger Lebensdauer streben müsse und nach Erfüllung ihrer Bedürfnisse im verborgenen oder offenen Kampf mit allen anderen ähnlichen Gruppen der Menschheit.
In der Tat entwickelte der Forscher, der zu jener Zeit sich bemühte, der Welt grundlegende Lebensprinzipien zu geben, die Theorie des Existenzkampfes, und die Menschen waren überzeugt, daß nur durch die Annahme dieses Grundsatzes irgend eine Gruppe als Überlebende in dieser Welt bleiben könnte, daß dem Menschen dieses Gesetz als bestimmendes Element menschlichen Daseins gegeben sei, daß der einzige rechtsgültige Vorsatz nur der sein könnte, eine ausreichende Macht zu erlangen, so daß dieses Gesetz für die eigene Gruppe sich auswirkt, selbst auf Kosten der übrigen menschlichen Gesellschaft.
Aber um das Jahr 1844 wurde das Prinzip der territorialen Isolierung umgestoßen und alle diese Verschiedenheiten wurden zu Erdbewohnern in einer Welt, die stofflich vereinigt worden war und in der das Prinzip der Verschiedenheit nicht länger Aussicht hat, sich durchzusetzen. Denn die andere Seite der Verschiedenheit ist Absonderung.
So haben die Völker der Welt, schwarze und weiße, Orientalen und Abendländer, ein Jahrhundert lang weitergelebt, und haben Kampf und Streit fortgesetzt, und doch ist das menschliche Leben auf dem neuen Grundsatz der Einheit und Zusammenarbeit begründet gewesen, einem Grundsatz, den wir erst unklar begriffen, unvollkommen erfaßt und sicherlich noch nicht in allen wichtigen Unternehmungen des Lebens angewandt haben.
In Übereinstimmung mit diesem
[Seite 150]
neuen sozialen Zustand finden wir eine weitere Offenbarung eines neuen
Tages der Weltgeschichte in der Fähigkeit, die plötzlich dem Menschen
gegeben wurde, wissenschaftliche Erkenntnisse für Erfindungen und Industrie
zu verwenden, und damit die grundlegende Tätigkeit des menschlichen
Lebens umzuwandeln, nämlich die Tätigkeit, Nahrung und Obdach
und die Dinge, die wir brauchen, und die Dinge, die wir wünschen,
sicherzustellen. Die Anwendung der Wissenschaft auf die Industrie
beschleunigte die Überwindung geographischer Trennung, denn sie vereinigt
die Völker der Welt durch ein stets enger werdendes Band wirtschaftlicher
Abhängigkeit.
Wenn wir die Maschine betrachten, die der moderne Geist mit der Entwicklung der großen Fabriken schuf, so ergibt sich, daß das, was die Menschen taten, darin besteht, einen Weg zu finden, das Denken in den Dingen des niederen Reiches zu verkörpern und zu einer Vollkommenheit darin zu gelangen, Gedankenkräfte zum Ausdruck zu bringen durch Übertreffen der natürlichen Fähigkeit der Hand, des Armes und des Fußes. Menschen sind Maschinen gewesen — der Mensch und das Pferd und der Hund und die anderen Lasttiere — bis zu diesem neuen Tag, wo das Denken seine Verkörperung fand und die menschliche Gesellschaft in eine Ära neuer Möglichkeiten trat, wo wir durch die maschinelle Produktion die Mittel besitzen, Armut und Mangel vom Angesicht der Erde zu tilgen.
Wir jedoch haben an diesem neuen Tag gesucht, das Prinzip des Daseinskampfes in noch größerem Rahmen anzuwenden, und wir haben die Macht des Denkens und die Dienstbarkeit der niederen Reiche mißbraucht, die das Denken zu seinem Gestalten des Mechanischen nötig hat. Wir haben diesen Geist nicht dazu angewandt, um Grundproblemen der Menschheit, wie Armut und Unwissenheit, entgegenzutreten und um das Gefühl des Fremdseins, das als dunkle Wolke zwischen uns und unseren Mitmenschen schwebt, aus dem Wege zu räumen, sondern wir vermehrten unsere Fähigkeit zu zerstören, und weil wir diese vernichtende Kraft in unseren Händen hielten, versetzten wir die anderen Völker in Furcht und Schrecken, und als sie den gleichen Stand wissenschaftlicher und militärischer Aufrüstung erreichten, erregten sie das Gefühl der Furcht in uns.
So haben wir von 1844 bis 1914 die Entwicklung einer Krisis, in der die Menschheit ihre Schwerter schärfte, die sich unvermeidlich gegen sie selbst wenden sollten. Als der erste Weltkrieg zu Ende ging, sagte ‘Abdu’l-Bahá in einem feierlichen Gebet, das Er vom Berg Karmel in Palästina emporsandte: „Vergib ihnen, Gott, sie haben das Feld des Krieges zu tief durchpflügt.“
Jetzt ergab sich als neuer geistiger Zustand, der für uns nicht so
wahrnehmbar gewesen ist wie jene äußeren sozialen Wandlungen, die Fähigkeit,
die Wahrheit der Einheit der Menschheit zu erfassen, und diese
Wahrheit kam nicht durch die geistige Tätigkeit der Wissenschaftler
oder Philosophen in die Welt. Sie kam — wie die göttliche Wahrheit in
der Welt der Menschheit immer geboren wurde - als der Lebensausdruck
eines göttlichen Willens, und wirkt durch ein geheiligtes und geweihtes
Wesen, das eine Wahrheit verkörpern konnte, weil es jene selbstsüchtigen
[Seite 151]
Elemente überwunden hatte, die dem Menschen eigen sind und die jede
Wahrheit in uns auf das Schlachtfeld des Existenzkampfes herabdrücken.
Deshalb, wenn wir in Kenntnis aller heute ausgelösten Kräfte wirkliche Geschichtsforscher sein wollen, können wir es nicht wagen, jenen Heroismus zu übersehen, jenen Opfergeist, der das besondere Merkmal all derer war, die in diese Welt mit einer geistigen Sendung kamen und der durch sie den Menschen zugeführt wird, die mit einem klaren und erleuchteten Auge den Sinn des Waltens eines göttlichen Willens erschauen.
Deshalb wurde in dem verdüsterten Land Persien — von einem nur verstandesmäßigen Gesichtspunkt aus vielleicht der ungeeignetste Platz auf Erden für die Offenbarung einer neuen und höheren Wahrheit — dieser Grundsatz von der Einheit der Menschheit durch das Märtyrertum und Opfer des großen Wesens, mit dem die Gründung des Bahá’i-Glaubens verbunden ist, dem Schicksal der Menschheit eingeprägt.
Wie weit haben wir, du und ich, diesen Grundsatz von der Einheit der Menschheit bereits begriffen? Er ist unserer althergebrachten Kultur völlig fremd; er ist weder von politischer, wirtschaftlicher, philosophischer noch religiöser Art. Er ist neu und noch nie dagewesen. Das Wort Einheit ist einfach. Wir kennen die Buchstaben, aus denen das Wort zusammengesetzt ist. Aber die Wahrheit, für die es steht, ist von einer Einfachheit, auf die du und ich bei der geringen Fassungskraft unseres ruhelosen Verstandes nicht vorbereitet sind. Aber wir nähern uns der Überzeugung, daß es für die ganze Menschheit nur ein Schicksal gibt, wenn wir überlegen, daß es in diesem neuen Jahrhundert keinen dauernden Sieg für irgend eine Rasse der Menschen gibt oder irgend eine Nation oder einen Staat, noch für eine bestimmte Klasse oder ein Bekenntnis.
Dieses Nähergelangen wurde dadurch angezeigt, daß das prophetische Wesen zu einer Zeit in dieses Jahrhundert kam, in dem der Mensch reifer war, als zu den Zeiten der früheren Propheten. Er konnte das Geschehen offenbaren, durch das geistige Wahrheit und Kraft in das sich entfaltende Leben der menschlichen Rasse eintritt.
Der Gründer des Bahá’i-Glaubens erklärte, daß Er nicht als ein neuer, sich von den anderen unterscheidender Prophet komme. Das innere Sein und Wesen aller Propheten ist das gleiche. Wenn du wahre Ehrfurcht vor dem Künder irgend einer vorhergehenden Offenbarung hast, mag es Mose oder Jesus oder Buddha oder Zoroaster oder Mohammed sein, so mußt du die gleiche Ehrfurcht vor allen anderen Propheten haben; denn wenn du einen verleugnest, so verleugnest du die Wirklichkeit aller. Du kannst nicht einen göttlichen Gesetzgeber anerkennen, ohne alle als Boten des gleichen Gottes zu betrachten.
Aber wir sehen, daß es in der Welt eine Verschiedenheit der Religionen gibt. Es ist ein Unterschied zwischen den Propheten, der sich in dem sozialen Ausdruck der verschiedenen Religionen offenbart.
Die Antwort auf diese Frage ist, daß der Prophet die Wahrheit enthüllt,
für die die Menschen bereit sind, und daß Er im Laufe der Entwicklung
der Menschheit eine größere Möglichkeit entfaltet. Er ist wie ein
[Seite 152]
Lehrer, der zunächst der Kinderklasse die grundlegende Lehre vom Alphabet
und Einmaleins einprägt. Dann kann der Lehrer, wenn das Kind reifer
wird, darauf zurückkommen und größeres Wissen verbreiten und höhere
Geheimnisse enthüllen. Es ist der gleiche Lehrer, aber die Zeiten
ändern sich, und so, wie jeder Prophet in der Welt erscheint, sind
die vorhergehenden Sendungen überholt, und wenn die Menschen sich der
Quelle der schöpferischen Kraft ihrer Zeit zuwenden, werden sie fähig,
die Fragen ihres Zeitalters zu lösen.
Uns wurde das höchste Problem, das des universalen Friedens, als der bedeutendste Aufruf, der je an die Menschheit gerichtet wurde, gestellt, um der Grundkraft dieses Zeitalters Ausdruck zu geben. Wir können die Frage des universalen Friedens nicht mit politischen Statuten lösen, weil politische Statuten in Kraft gesetzt werden können und eine materielle Macht verleihen, aber Statuten ändern das Bewußtsein der menschlichen Wesen nicht. Der Weltfriede kommt nicht durch irgend eine Handhabung wirtschaftlicher Interessen der verschiedenen heute maßgebenden Parteien zustande. Der Weltfriede ist nicht irgend etwas, das wir kaufen können, noch etwas, das wir lenken können. Es ist die organische Zusammengehörigkeit der Einzelmenschen in einer solchen Einheit, daß sie als ein Organismus handeln.
Friede ist die in einer vorbildlichen Welt errichtete Einheit der menschlichen Wesen, und deshalb ist einfach jeder Friede, der sich bemüht, die Einbildung verschiedener unabhängiger Regierungen aufrechtzuerhalten, kein Friede. Er mag das Wort benutzen, aber er entspricht nicht der Tatsache.
Jetzt, da eine neue Zeit in das menschliche Bewußtsein getreten ist (und unsere Geschichte macht es vollkommen klar, daß das menschliche Leben von Zyklus zu Zyklus, von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt geschritten ist) wissen wir, daß der Augenblick, da ein Zeitalter zu verfallen beginnt und ein neues Zeitalter geboren wird, eine bittere Zeit der Dunkelheit ist, in der die Menschen unsicher und in sich zerrissen sind und die Welt dem Chaos ausgeliefert erscheint. Es scheint keine Möglichkeit zu geben, diese Heftigkeit der Kämpfe, die den Zusammenbruch einer großen Zivilisation kennzeichnen, zum Guten zu wenden.
Wie viele Generationen litten, als das römische Reich dem Verfall zutrieb? Wie schrecklich war die Unmoral und die Grausamkeit, die die Menschen jenes zusammenbrechenden Reiches kennzeichnete, ehe der neue Geist, ausgesandt von Christus in Palästina, sich auszubreiten begann und die verdunkelten Seelen der Menschen neu belebte?
Bahá’u’lláh sagte von diesen ersten Jahren der neuen Zeit: „Der Lebensnerv des Glaubens der Menschen an Gott ist im Absterben in jedem Land.“ Nichts Geringeres als Seine heilsame Medizin kann ihn je wiederherstellen. Die Lauge der Gottlosigkeit frißt sich in die Eingeweide der menschlichen Gesellschaft ein. „Was anderes, als das Lebenswasser Seiner mächtigen Offenbarung kann sie reinigen und wiederbeleben?“
Bahá’u’lláh sagte, und Er erklärte es in Seinen Briefen, die Er vor 70 Jahren
an die Könige, Herrscher und Häupter der Religionen in der Welt
richtete, und warnte, daß die Gesellschaft zum: Chaos werde, wenn sie
[Seite 153]
nicht ein neues Gesetz Gottes finden könnte. „Bald wird die gegenwärtige
Ordnung aufgerollt und eine neue an ihrer Stelle entfaltet werden.“ „Die
Zeichen der bevorstehenden Krämpfe und des Chaos können jetzt bemerkt
werden; denn die bestehende Ordnung erscheint beklagenswert mangelhaft.“
Und Er sagte, um ein für alle Male in diesem reifen Zeitalter die allerletzte
geistige Grundlage der ganzen menschlichen Gesellschaft zu erklären: „Die
Religion Gottes und Seine heilige Sache ist die größte Sache und das
mächtigste Mittel für die Entwicklung der Welt, für die Erziehung der
Nationen; die Ruhe der Diener und die Sicherheit der Menschen aller
Länder hängen ab von den göttlichen Vorschriften und Verordnungen.
Religion ist die bedeutendste Ursache für die Erscheinung dieser großen
Gabe. Sie schenkt den Trank des Lebens, verleiht unsterbliches Leben
und ewige Gaben.“
Bahá’u’lláh gebrauchte das Wort „Religion“ in der Bedeutung des Ausdrucks der himmlischen Kraft durch den gesegneten Geist der Propheten. Er meinte damit nicht, daß du und ich Glaubensbekenntnisse schreiben, Zeremonien schaffen und neue Arten der Anbetung erfinden können. Das wäre ein Vorgang der menschlichen Einbildungskraft. Es wäre kein Gesetz und keine Macht, die in die menschliche Welt neues Leben bringt.
Wenn wir deshalb heute eine Grundlage suchen, auf der universaler Friede und Weltordnung errichtet werden können, müssen wir sie in der einen Kraft, die das Gewissen der Menschen vereinigen wird und sie als Teile eines großen Körpers sich fühlen läßt, suchen.
Es gibt keine wirkliche Berührung und Verbindung zwischen den Menschen jenseits des kleinen persönlichen Bereiches unserer privaten Gefühle, außer wir versammeln uns in dem allesumfassenden Grundsatz geistiger Wahrheit. Bahá’u’lláh gab uns das Symbol jenes göttlichen Gesetzes für die Gegenwart, dem sich alle Völker der Erde zuwenden können, und indem sie sich ihm zuwenden, ihm näher kommen, und indem sie sich dem Grundsatz von Einigkeit und Frieden nähern, sich gegenseitig näher kommen, denn der Sinn dieser Zeit ist, daß der Existenzkampf unterbunden werden und das Gesetz der Zusammenarbeit die Grundlage für das Leben der Menschen bilden soll.
Deshalb sagen wir, daß diese neue Ära die gesegnetste Zeit ist, die der Menschheit je beschieden war. Unsere schlimmsten Leiden und unsere Ängste können zum Segen für uns werden, wenn wir durch sie, unsere inneren Ängste und unseren Aberglauben überwinden, wenn unsere Ansichten sich klären, wenn wir erkennen, daß Gott der Gott der ganzen Menschheit ist, daß Er nicht der Gott unserer Nation oder Rasse oder Klasse oder unseres Bekenntnisses ist. Wenn wir erkennen können, daß Gott die Quelle allen Lebens ist, werden wir dessen gewiß werden, daß Er die Mittel hat, jene Kraft darzutun, so daß sie die gleiche Gültigkeit für die Menschen des Ostens und des Westens haben wird.
Bahá’u’lláh sagte: „Meine Absicht ist keine andere als die Besserung der
Welt und die Ruhe ihrer Völker. Die Wohlfahrt der Menschheit, ihr Friede
und ihre Sicherheit sind unerreichbar, wenn nicht und ehe nicht ihre
Einigkeit fest errichtet ist.
[Seite 154]
Durch die Macht des Wortes hat Er kundgetan, daß die gesamte menschliche Rasse mit dem Licht der Einigkeit erleuchtet werden kann und das Gedenken Seines Namens kann die Herzen aller Menschen entflammen und die Schleier verbrennen, die zwischen ihnen und Seiner Herrlichkeit stehen.“
Nun haben sich wirklich bedeutende mittelbare und unbewußte Auswirkungen dieser geistigen Kraft ergeben. Was wir „die Friedensbewegung“ nennen, erhob sich mit großem Einfluß in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts. Tausende, vielleicht Millionen von Menschen, wurden schon vor 75 oder 80 Jahren von einer Schau der Möglichkeit des Friedens in dieser Zeit bewegt. Sie arbeiteten mit den verfügbaren Mitteln. Sie drückten ihren Eifer und ihre Überzeugung in der Terminologie (Sprachform) aus, an die sie gewöhnt waren. Sie gingen von Enttäuschung zu Enttäuschung, aber die Saat jener Hoffnung konnte nie ausgerottet werden, noch konnten die Menschen in die Form des vergangenen Zeitabschnitts zurückgewiesen werden.
So kamen wir zum Jahr 1918/19, wo sich zunächst einmal große, verantwortliche Nationen versammelten, um zu versuchen, das Abkommen über den Völkerbund niederzuschreiben. Jetzt gebraucht der Geist alle vorhandenen Werkzeuge und dies war unzweifelhaft ein bedeutender erzieherischer Faktor im Leben der Menschen von heute. Es mußte politisch ein Fehlschlag sein, weil wir nicht den Weg geistiger Entwicklung beschritten haben, auf dem Frieden beruhen muß. Aber der Grundsatz vom Frieden war aus dem abstrakten Bereich der Wahrheit in die Welt menschlichen Handelns gebracht worden und der Name Woodrow Wilson wird über Generationen hinaus verehrt werden, weil er als erster den Mut - vielleicht sollte ich sagen, den Eigensinn — besaß, darauf zu beharren, daß diese neue Vision des Friedens wenigstens von den Nationen versucht werden sollte.
Aber die Nationen behielten ihre unabhängigen Landeshoheiten bei und während es dem Völkerbund gelang, manche nützliche internationale Angelegenheiten durchzuführen und viele internationale Körperschaften von großer Nützlichkeit ins Leben zu rufen, die wunderbare Arbeiter für humanitäre Zwecke heranbildeten, so war trotzdem der Völkerbund gleichsam eine zweite Hypothek auf einem Besitztum. Die Nationen pflegten zuerst an sich selbst zu denken und ihre wirtschaftliche und industrielle Wohlfahrt im Vergleich mit anderen Nationen sicherzustellen, um nur mit irgendwelchen übrigen Kräften und Hilfsmitteln bereit zu sein, den Völkerbund zu unterstützen. Die Nationen konnten leider ihre einheimischen Schulden nicht bezahlen und bald wurde die zweite Hypothek für verfallen erklärt.
Nun, meine Freunde, hat sich in diesem Jahr 1945 eine größere Anzahl
von Nationen und, Gott sei Dank, einschließlich der Nationen von Nordamerika,
wieder zusammengefunden, in einer Charta, die mittelbar in der
Welt die Bewegung des Geistes ausdrückt, den wir unmittelbar in den
Lehren Bahá’u’lláh’s ausgedrückt sehen. Denn in dieser Welt entwickeln
sich die Dinge langsam. Nichts Vollkommenes wird auf einmal erschaffen.
Ihr habt den Samen, ihr säet die Saat und nach einer gewissen Zeit
[Seite 155]
habt ihr den Früchte tragenden Baum. Ihr habt eine Wahrheit und
ihr habt sie in das Gemüt der Menschen eingesenkt und nach einer
gewissen Zeit kommt die Wahrheit zur Erfüllung. Deshalb haben wir heute
vom Bahá’i-Standpunkt aus einen Zustand, in dem ein großes technisches
Werk im Namen des Friedens vollbracht wurde, aber leider sind die
Herzen und Seelen der Menschen nicht in gegenseitigem Vertrauen geeinigt.
Wir denken immer noch an uns selbst als Teile verschiedener Systeme,
verschiedener Rassen, verfolgen verschiedene Interessen und hoffen,
diese Verschiedenheiten erhalten zu können und trotzdem
Frieden zu haben.
Aber es ist das Gesetz Gottes, daß der Menschheit eine gewisse Zeit zur Anpassung an den neuen Grundsatz gegeben ist und der Ausbruch des zweiten Weltkrieges bedeutete, daß wir die uns zugeteilte Zeit überschritten hatten und uns deshalb höchstes Leiden gesandt wurde, um uns an die Notwendigkeit zu erinnern, uns einer Allmächtigen Hand zur Führung zuzuwenden.
Zum ersten Male in der Religionsgeschichte hat uns Bahá’u’lláh nicht nur Gesetze, Grundsätze, Lehren, Gebete und Formen der Anbetung gegeben, sondern er gab uns ein soziales Muster, von dem die Bahá’i überzeugt sind, daß es die Führer der Welt annehmen werden, weil in diesem Muster die letzte Oberhoheit der ganzen Menschheit verliehen ist und darin der Gehorsam gegenüber dem Göttlichen Willen widergespiegelt wird, so daß es nicht mehr irgendwelche Trennung von Nationen, noch Trennung von wirtschaftlichen Klassen gibt, sondern zur Bildung einer organischen, menschlichen Gesellschaft kommt, von der bereits die ersten Spuren der Welt als ein Beweis in der Gemeinde der Anhänger Bahá’u’lláh’s gegeben sind. Wenn ihr deren Leben beobachtet, so werdet ihr sehen, daß bei ihrem Zusammenkommen in kleinen Gruppen Leute verschiedener Klassen, Rassen und Bekenntnisse, Leute, die sich alle gleich aufrichtig und ergeben dem Studium der neuen Offenbarung widmeten, Freundschaft haben mit ähnlichen Gruppen von Gläubigen in anderen Ländern und diese große neue Schöpfung des Lichtes Tag für Tag an Kraft zunimmt. Das Beispiel ihres Lebens in der Welt ist, daß die Menschheit nicht länger unter den Voraussetzungen der Vergangenheit fortfahren kann. Wir müssen Frieden haben, wenn wir die Unversehrtheit unseres Daseins als menschliche Wesen erhalten wollen.
Zum Schluß will ich aus einer Beschreibung des zukünftigen Gemeinwesens vorlesen, das die Bahá’i als vollkommene Vorbild dieses Grundsatzes der Einheit hochhalten.
„Eine gewisse Form eines Weltüberstaates muß notwendigerweise
entwickelt werden, zu dessen Gunsten alle Nationen der Welt freiwillig
auf jeden Anspruch, Krieg zu führen, auf gewisse Rechte der Steuererhebung
und alle Rechte zur Aufrechterhaltung einer Rüstung verzichten werden,
ausgenommen zum Zwecke der Erhaltung der inneren Ordnung innerhalb des
Gebietes, für das sie zuständig sind. Solch ein Staat wird in seinem
Bereich eine internationale Exekutive haben, die geeignet ist,
höchste und unwiderrufliche Autorität gegenüber jedem widerspenstigen
Mitglied des Gemeinwesens zu entfalten; ferner ein Weltparlament,
[Seite 156]156
dessen Mitglieder von den Bewohnern in ihrem betreffenden Lande gewählt
und deren Wahl von ihren zuständigen Regierungen bestätigt werden;
und ein oberster Gerichtshof, dessen Urteil bindende Kraft haben wird,
auch in solchen Fällen, wo die betreffenden Parteien nicht freiwillig
bereit waren, ihm ihren Fall zur Prüfung zu unterbreiten.“
**) Vortrag anläßlich einer Bahá’i-Versammlung in Toronto (USA.)
am 29. Oktober 1945, entnommen und ins Deutsche übertragen aus „World Order“,
Jg. XI, Nr. 11, S. 321 ff.
GEDANKEN BEIM LESEN DES KORAN[Bearbeiten]
- Von Johann Karl Teufel
Neben der Kenntnis der Schriften von Bahá’u’lláh, 'Abdu'l-Bahá und
Shoghi Effendi ist es wichtig, den Koran mehrmals gelesen zu haben. Man
wird dann nicht nur den Islam besser verstehen, sondern auch viele
Stellen in den Bahá’i-Schriften erst recht begreifen.
Der schriftliche Niederschlag der christlichen Gottesoffenbarung, die Evangelien, sind erst lange nach dem Wirken Jesu Christi entstanden. Jesus hat aramäisch geredet, aber die Evangelien sind auch in den ältesten Handschriften nur griechisch abgefaßt. Die Christenheit hat also seit ihren frühesten Zeiten nur Übersetzungen der Worte Christi, nie jedoch das Original, gehört.
Der Koran dagegen gibt genau die Worte Muhammad’s wieder. Durch den Koran wurde der koreischitische Dialekt von Mekka fast über Nacht zur klassischen Schriftsprache einer Nation und zur heiligen Sprache einer Weltreligion emporgehoben.
Leider hat man im Abendland den Koran immer nur wenig gelesen. Die älteste europäische Übersetzung des Koran ins Lateinische, entstand erst in den Kreuzzügen und wurde 1543 in Basel gedruckt. Im 17. und 18. Jahrhundert folgten dann Ausgaben in den lebenden europäischen Sprachen.
Jeder Gottesoffenbarer ist ein Kind seines Volkes und seiner Zeit. Muhammad stand auf, als die Araber noch wilde, ungebildete Wüstenstämme und in religiöser und kultureller Hinsicht gleich tiefstehend waren. In jenen dunklen Tagen gab es in Arabien nicht viel Bücher, und so verstehen wir es, wenn der Koran nicht systematisch geordnet erscheint, sondern daß die Kapitel, die Suren, etwas willkürlich der Länge nach aneinandergereiht sind, ohne viel Rücksicht auf Zusammenhang.
Den Anfang des Koran macht die Öffnungssure, womit die Muezzine täglich fünfmal die Gläubigen zum Gebet rufen:
- Im Namen Gottes, des Allerbarmers:
- Gelobt sei Gott, der Herr der Welten,
- der Allerbarmer,
- der Herr des Gerichtstages.
- Dir dienen wir, und dich rufen wir um Hilfe an.
- Leite uns auf den rechten Weg,
- den Weg derer, denen du gnädig bist,
- denen du nicht zürnest,
- und die nicht irregehn.
Die große Idee, die wie ein roter Faden den Koran durchzieht und in
immer neuen Abwandlungen sich wiederholt, ist die Einheit Gottes. Die
112., die „Sure der reinen Anbetung“,
[Seite 157]
ist eine der kürzesten und verkündet nur diesen einen Gedanken:
- Im Namen Gottes, des Allerbarmers!
- Sag: Er, Gott, ist einer.
- Er ist der Ewige.
- Er hat nicht gezeugt,
- noch wurde er gezeugt,
- und keiner ist ihm gleich.
Das Bestreben, möglichst viel Worte Muhammad’s zu sammeln, führte dazu, daß viele gleichen oder ähnlichen Verse im Koran angehäuft sind, was manchen Leser ermüdet und vom weiteren Studium abhält. Wer sich aber nicht abschrecken läßt, findet zwischen den Wiederholungen derselben Gedankengänge eingestreute Edelsteine, durch die ein tausendfaches Strahlenbündel der Gotteserkenntnis bricht. Gibt es einen gewaltigeren Lobpreis Gottes als den berühmten Thronvers in der 2, Sure, 256?
- Gott — es gibt keinen Gott außer ihm,
- dem Lebendigen, dem Beständigen.
- Nicht Schlaf noch Schlummer kommt über ihn.
- Sein ist alles, was im Himmel und auf Erden ist.
- Wer ist es, der Fürsprache bei ihm einlege ohne seinen Willen?
- Er weiß, was vor und was nach ihnen ist.
- Sie aber fassen von seinem Wissen nur, was er will,
- Sein Thron reicht über Himmel und Erde,
- und die Erhaltung beider beschwert ihn nicht.
- Und er ist der Starke, der Herrliche.
Einzelne Sprüche aus dem Koran wecken die Erinnerung an Höhepunkte der morgenländischen Geschichte. Es war an einem Maitag des Jahres 1453 in Konstantinopel, als, von Fürsten und Generälen umgeben, der siegreiche Sultan Mehmet II. auf der Schwelle der altehrwürdigen Sophienkirche erschien und, in den Steigbügeln stolz sich erhebend, mit tönender Stimme in das vom Kampf verwüstete Gotteshaus die Worte rief:
- Gott ist das Licht des Himmels und der Erde (24, 35).
Warum ist der Koran nicht die letzte Heilige Schrift? Warum sandte Gott in Bahá’u’lláh einen neuen Gesandten?
Die Antwort ist, daß die Lage heute ganz anders ist als in den Tagen Muhammad’s. Der Koran wandte sich an ein heidnisches, götzendienerisches Volk und leitete es aus dem Dunkel der Unwissenheit in die strahlende Helle einer höheren Gesittung. In den folgenden Jahrhunderten haben sich die Lehren der Gottesoffenbarer Christus und Muhammad über die ganze Erde ausgebreitet. Der Fortschritt der Wissenschaft und Technik hat die Völker einander angeglichen. Heute stellen sich nun suchende Menschen in allen Ländern unserer Erde überall die gleichen Fragen: Wie können Wissenschaft und Religion miteinander verbunden werden? Wie können Hunger und Not beseitigt werden? Wie kann der Friede zwischen den Völkern gesichert werden? Wie kann eine einige Menschheit entstehen?
Auf diese Fragen unserer Zeit antworten nur die Gottesworte unserer Zeit, die heiligen Schriften von Bahá’u’lláh.
AUS DER BAHA’I-WELT[Bearbeiten]
Bahá’i-Religion und Palästina-Frage
Schreiben Shoghi Effendi’s an die Palästina-Sonderkommission bei den Vereinten Nationen
- Der Hüter ließ dem Nationalen Geistigen Rat der Bahá’i in USA. und Kanada Abschrift eines Briefes zugehen, den er an den Vorsitzenden der in Jerusalem tagenden Palästina-Sonderkommission bei den Vereinten Nationen richtete und er eine Antwort darstellt auf deren Ersuchen um Unterrichtung über die religiösen Interessen der Bahá’i in Palästina. Der Text des Hüterbriefes wurde zur Kenntnis der Gläubigen in den „Bahá’i News“ vom September 1947 veröffentlicht.
Herrn Richter Emil Sandstrom,
Präsident,
UN Sonderkommission für Palästina.
Ich erhielt Ihr freundliches Schreiben vom 9. Juli und möchte Ihnen zunächst dafür
danken, daß Sie mir die Gelegenheit bieten, Ihren und Ihren geschätzten Kollegen einen
Bericht über das Verhältnis der Bahá’i zu Palästina und ihre Stellungnahme zu etwaigen
künftigen Änderungen in den Verhältnissen dieses heiligen und vielumstrittenen
Landes zu erstatten.
Zu Ihrer Orientierung füge ich diesem Brief einen kurzen Überblick über Geschichte, Ziele und Bedeutung der Bahá’i-Religion bei, sowie eine kleine Schrift, aus welcher unsere Ansicht über die heutige Weltlage und die Richtung hervorgeht, in der, wie wir hoffen und glauben, die Weiterentwicklung sich vollziehen muß und wird.
Die Lage der Bahá’i in diesem Lande ist einzig in ihrer Art, denn, obwohl z. B. Jerusalem der geistige Mittelpunkt der Christenheit ist, so befindet sich dort doch weder das administrative Zentrum der Römischen Kirche, noch dasjenige einer anderen christlichen Konfession. Andererseits liegen die heiligen Stätten des Islam und seine wichtigsten Wallfahrtsorte in Arabien, nicht in Palästina, trotzdem wird aber Jerusalem als der Ort betrachtet, an dem sich eines der größten Heiligtümer der Moslems befindet. Allein die Juden bieten eine gewisse Parallele zu der Liebe, welche die Bahá’i diesem Land entgegenbringen, da Jerusalem die Trümmer ihres heiligen Tempels enthält und einst der Sitz der religiösen und politischen Einrichtungen war, die mit ihrer geschichtlichen Vergangenheit zusammenhängen. Aber auch ihr Fall weicht insofern von dem der Bahá’i ab, als in der Erde Palästinas die drei Hauptgestalten unserer Religion begraben liegen und Palästina nicht nur das Zentrum der Bahá’i-Pilgerreisen aus der ganzen Welt, sondern auch der ständige Sitz unserer Verwaltungsordnung ist, deren Oberhaupt zu sein ich die Ehre habe.
Die Bahá’i-Religion ist vollkommen unpolitisch. Wir ergreifen weder Partei in dem gegenwärtigen dramatischen Streit um die Zukunft des Heiligen Landes und seiner Völker, noch haben wir irgendwelche Erklärungen oder Vorschläge hinsichtlich der Zukunft dieses Landes zu unterbreiten. Unser Ziel ist die Errichtung des universalen Friedens auf dieser Welt und es ist unser Wunsch, daß auf allen Gebieten des menschlichen Zusammenlebens, einschließlich den Bereichen der Politik, Gerechtigkeit vorherrschen möge. Da viele Anhänger unseres Glaubens der jüdischen und mohammedanischen Religion entstammen, hegen wir keinerlei Vorurteile gegen die eine oder andere dieser Gruppen und sind äußerst bestrebt, sie zu ihrem gegenseitigen Wohl und zum Besten des ganzen Landes miteinander auszusöhnen.
Was uns jedoch bei etwaigen Entschließungen über die Zukunft Palästinas betrifft, ist der Umstand, daß, wer auch die Oberherrschaft über Haifa und Akka ausüben wird, die Tatsache anerkannt sei, daß in diesem Gebiet sich der geistige und administrative Mittelpunkt einer Weltreligion befindet, und daß die Unabhängigkeit dieser Religion, ihr Recht, von dieser Stelle aus ihre internationalen Angelegenheiten wahrzunehmen, ferner das Recht der Bahá’i aller Völker der Erde, dieses Land als Pilger zu besuchen (wobei ihnen in dieser Hinsicht genau die gleichen Vorrechte einzuräumen wären, wie sie die Juden, Mohammedaner und Christen genießen) anerkannt und für dauernd verbürgt werden.
Die Grabstätte des Báb auf dem Berg Karmel, das Grab 'Abdu'l-Bahás an gleicher
Stelle, das Pilgerheim für orientalische Bahá’i in seiner Nachbarschaft, die großen
Gärten und Terrassen, die diese Stätten umgeben (und Besuchern jedes Bekenntnisses
offenstehen), das Pilgerheim für abendländische
[Seite 159]
Bahá’i am Fuße des Berges Karmel, der Wohnsitz des Hauptes der Religionsgemeinschaft,
verschiedene Bauten und Gärten in Akka und Umgebung, welche mit
Bahá’u’lláh’s Gefangenhaltung in dieser Stadt verknüpft sind, Sein heiliges Grabmal in
Bahji bei Akka mit Seinem Haus, die jetzt als eine historische Stätte und als ein Museum
instand gehalten werden (ebenfalls Besuchern jeden Glaubensbekenntnisses offenstehend),
ferner Besitztümer in der Ebene von Akka, stellen den Großteil der Bahá’i-Besitzungen
im Heiligen Lande dar. Es wäre ferner zu berücksichtigen, daß praktisch all dieser
Besitz dank seiner religiösen Natur sowohl von staatlichen als auch von städtischen
Steuern befreit ist. Einige dieser ausgedehnten Besitzungen sind das Eigentum
des palästinensischen Zweiges des Nationalen Geistigen Rates der Vereinigten Staaten
und Kanadas, der, den Gesetzen des Landes entsprechend, als religiöse Körperschaft
eingetragen ist. In Zukunft werden noch verschiedene andere Nationale Geistige Räte
der Bahá’i durch ihre palästinensischen Zweige einen Teil der internationalen
Besitztümer des Glaubens im Heiligen Lande innehaben.
Auf Grund meiner obigen Ausführungen möchte ich Sie und die Mitglieder Ihres Komitees bitten, bei etwaigen Vorschlägen, die Sie hinsichtlich der Zukunft Palästinas den Vereinten Nationen unterbreiten sollten, den Schutz der Bahá’i-Rechte in Betracht zu ziehen.
Bei dieser Gelegenheit gestatte ich mir noch, Sie meiner höchsten Anerkennung zu versichern für den Geist, in welchem Sie und Ihre Kollegen Ihre Untersuchungen über die verworrenen Verhältnisse dieses Heiligen Landes geführt haben. Ich hoffe und bete, daß das Ergebnis Ihrer Beratungen zu einer gerechten und schnellen Lösung der sehr dornigen Probleme führen wird, die sich in Palästina erhoben haben.
Ihr sehr ergebener
(gez.) Shoghi Effendi
Haifa, Palästina, 14. Juli 1947.
Iran:
Die Bahá’i in Iran haben, wie der Hüter in seiner Botschaft an sie ausspricht, die größte Aufgabe unternommen, die in der über hundertjährigen Geschichte unseres Glaubens „von der heißgeliebten, schmerzlich geprüften, göttlich beschützten, unbesiegbaren persischen Bahá’i-Gemeinde“ jemals unternommen wurde.
Schon 1943/44 hatten über hundert Bahá’i-Familien und viele einzelstehende Bahá’i ihren Wohnort verlassen und waren an Plätze umgesiedelt, wo noch keine Bahá’i lebten oder wo Unterstützung nötig war. Einige reisten über Baghdad in Nachbarländer, nämlich nach Belutschistan, nach den Bahrein-Inseln und Arabien. Die Bahá’i im Irak liehen diesen Auswanderern aufopfernde Hilfe. Bald jedoch setzten fast an allen diesen Plätzen innerhalb und außerhalb Irans feindselige Akte der fanatischen Bevölkerung ein, die ihren Höhepunkt im August 1944 erreichten. In Shahrud in Nordpersien wurden drei Bahá’i grausam getötet und ihre Körper verstümmelt. Viele andere, auch Frauen, wurden mißhandelt, und 17 Häuser wurden geplündert und zerstört. Dies erregte allgemeines Aufsehen und Bewegung im ganzen Lande. Der Nationale Geistige Rat, der mit einigem Erfolg bei der Regierung intervenierte, hielt es für zweckmäßig, den Lehrfeldzug zunächst zu stoppen; auch mußte er einen Teil seiner dafür bestimmten Mittel zur Hilfe für die schwer betroffenen Bahá’i-Pioniere verwenden. Zudem waren die politischen Verhältnisse unsicher und kritisch geworden. Dann aber besserte sich die Lage, und Ende 1946 beschloß der Nationale Geistige Rat der Bahá’i in Iran einen „45-Monate-Plan“, der mit dem hundertjährigen Todestag des Báb am 9. Juli 1950 ablaufen wird: Festigung aller bestehenden Gemeinden, Wiederherstellung von 62 aufgelösten Gemeinden, Errichtung von 22 neuen Gruppen und 13 neuen Zentren. Zunächst werden mindestens 50 begeisterte Familien aus Teheran und auch aus anderen Städten an die betreffenden Plätze umsiedeln. Wenigstens fünf bewährte Bahá’i werden immerfort auf Reisen sein, um die Verbindung zwischen diesen Plätzen und dem Auswanderungsausschuß des Nationalen Geistigen Rats zu fördern. Auch für die obengenannten Nachbarländer und Afghanistan sind besondere Lehrtätigkeiten vorgesehen. In großen Versammlungen wurden die Bahái in Teheran mit den Einzelheiten dieses Planes und mit der anfeuernden Botschaft des Hüters bekannt gemacht.
So ist die Pionierarbeit in diesem weiten Land, die einstens bis zu ‘Abdu’l-Bahá’s Zeit auf den Schultern weniger Einzelner lag, jetzt durch den Ausbau der Verwaltungsordnung der planvoll arbeitenden Verantwortung einer großen Gemeinschaft anvertraut.
Die Bahá’i im Iran wandten sich an alle Bahá’i-Freunde in der weiten Welt um
[Seite 160]
geistige Unterstützung durch Gebete. Sie mögen unserer liebevollen Gebete gewiß sein
und unserer innigen, freudigen Verbundenheit bei ihrem historischen, verdienstvollen
Bemühen um die neue Weltordnung Bahá’u’lláh’s.
Indien:
Die Gläubigen aller Länder nehmen mit Besorgnis und tiefem Mitgefühl an den Prüfungen und Heimsuchungen teil, denen seit Monaten die Bahá’i in Indien und Pakistan durch die tragischen religiösen und nationalen Kämpfe ihrer Landsleute ausgesetzt sind. Die Vorgänge in diesen jetzt „freien“ Ländern bereiten auch unserem Hüter die schwersten Sorgen, wie wir einem seiner Briefe an den Nationalen Geistigen Rat der Bahá’i in Indien, Pakistan und Burma entnehmen. Shoghi Effendi erkennt aber in den „Feuerproben und Drangsalen“, denen das indische Volk ausgeliefert ist, zugleich eine nie wiederkehrende Gelegenheit für die Träger der Botschaft Bahá’u’lláhs, sich „wie ein Mann zu erheben und als erneute Bürgschaft für ihre Treue zu ihrem Glauben sich der Sache im vollen Sinne würdig zu erweisen, der sie sich verpflichtet und für die sie die hohe Mission unternommen haben“.
Infolge der Unruhen und Aufstände mußten drei Geistige Räte unserer indischen Freunde aufgelöst werden. In Kariafghanan fiel ein Bahá’i dem Aufruhr zum Opfer. Vier Mitglieder von der Gemeinde in Jammu werden vermißt.
Ägypten:
Wie schon lange Zeit, gehen die Anfeindungen weiter, was aber die Liebe und das Gefühl der Verbundenheit der gläubigen Bahá’i nur steigert. Die Auseinandersetzung mit der mohammedanischen Geistlichkeit bewegt sich hauptsächlich um Rechtsfragen: Zuteilung von Begräbnisplätzen, Ermächtigung der Geistigen Räte zur Ausstellung von Bahá’i-Eheurkunden, Befreiung von der Gerichtsbarkeit der mohammedanischen, geistlichen Gerichte u. a., die Lage ist noch nicht entschieden.
Eine Streitschrift der obersten geistlichen Instanz gegen die Bahá’i-Religion wurde von dem Nationalen Geistigen Rat der Bahá’i mit Billigung des Hüters in einer Gegenschrift erfolgreich widerlegt und öffentlich klargestellt.
Chile:
Im Januar 1948 wurde in Chile die erste Sommerschule abgehalten. Durch Stiftungen wurde ein Grundstück erworben für den ersten Bahá’i-Tempel in Südamerika.
Großbritannien:
Die Sommerschule im August 1947 in Hornsea (Yorkshire) erfuhr über Erwarten zahlreichen Besuch und brachte dem Glauben in England bedeutenden Fortschritt.
Aufgabe der deutschen Bahá'i:
Einem bedeutsamen Brief Shoghi Effendis an den Nationalen Geistigen Rat der Bahá’i in USA. und Kanada vom 25. Oktober 1947 (Bahá’i-News vom November 1947), in dem der Hüter die weltweiten und drängenden „geheiligten Aufgaben“ der organisierten und gewählten Anhänger des Glaubens an Bahá’u’lláh in allen Ländern im Hinblick auf die kommende neue Weltordnung eindringlich darlegt, entnehmen wir folgendes: »... Im Herzen des Europa-Kontinentes haben noch grimmigere politische Nebenbuhlerschaften ebenso wie der Zusammenstoß einander bekämpfender Ideologien die Einigung verhindert, die Wiederbelebung der Nation unbestimmte Zeit verzögert, die Unsicherheiten vervielfacht und den Zustand einer Nation noch verzweifelter werden lassen, die in ihren Grenzen die größte Gemeinde der Anhänger des Glaubens auf diesen Kontinent umschließt — eine Gemeinde, die, wie 'Abdu’l-Bahá prophezeite, dazu bestimmt ist, beim geistigen Erwachen und der schließlichen Hinwendung der europäischen Völker und Rassen zu Seines Vaters Glauben eine größere Rolle zu spielen.“
Herausgegeben unter Lizenz US-W-Nr. 6871 der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung
Auflage 2000 — August 1947
In der „Sonne der Wahrheit“ finden nur solche Manuskripte Veröffentlichung, bezüglich deren Weiterverbreitung keine Vorbehalte gemacht werden. Alle auf den Inhalt der Zeitschrift bezüglichen Anfragen, alle schriftlichen Beiträge oder Bestellungen von Abonnements, Broschüren u. dgl., sowie Zahlungen sind an den Herausgeber der „Sonne der Wahrheit“, Organ der deutschen Bahá’i, Stuttgart 0, Neckarstraße 127, zu richten.
Postscheckkonto: Stuttgart 357 68
Gedruckt von J. Fink Stuttgart N