SONNE DER WAHRHEIT | ||
Organ der Bahá’í in Deutschland und Öesterreich |
Heft 5 | 16. Jahrgang | Juli 1936 |
Die Bahá’í-Lehre,[Bearbeiten]
die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.
Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.
Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.
Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.
Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“
Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.
Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.
Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.
SONNE DER WAHRHEIT Organ der Bahá’í in Deutschland und Österreich Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198 Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo Verwaltung: Paul Gollmer • Begründet von Alice Schwarz-Solivo Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark |
Heft 5 | Stuttgart, im Juli 1936 Kalimát - Worte |
16. Jahrgang |
Inhalt: Erfüllte Prophezeiungen. — Nabíl’s Erzählung: Aus Kapitel XII: Die Reise des Báb von Káshán nach Tabríz. — Lichtblicke des Glaubens. — Die Einheit der Propheten.
Das Wesen von allem, was Wir für dich offenbarten, ist die Gerechtigkeit. Es ist ferner die Befreiung des Menschen von eitler Einbildung und Nachahmung. Seine herrliche Schöpfung mit dem Auge der Einheit anzusehen und auf alle Dinge mit einem forschenden Auge zu blicken.
Worte der Weisheit von Bahá’u’lláh
Erfüllte Prophezeiungen[Bearbeiten]
Ins Deutsche übertragen aus „L’Epître au Fils du Loup“, édition Champion, Paris 1913, S. 142—181
(Fortsetzung)
Ebenso ward im Tablet Fu’ád Páshá’s und dem von Paris, wie auch in anderen das
geoffenbart, was jedes rechtliche Wesen verpflichtet, Zeugnis zu geben von der Macht,
der Größe und dem Wissen Gottes — gerühmt sei Seine Herrlichkeit! —. Denkt
man richtig darüber nach, so wird man das Geheimnis jener heiligen Verse begreifen:
„Alles, was feucht oder trocken ist, ist in dem offenbaren Buch enthalten.“ Aber
heutzutage werden die Menschen durch ihre Einwände vom Verständis dessen abgehalten,
was in Wahrheit von seiten des ewigen Offenbarers enthüllt ward. Großer Gott!
Deutliche Zeichen sind allseits erschienen, und dabei sind die meisten Menschen
außerstande, sie zu sehen und zu erkennen! Wir bitten Gott, Er möge Seine Hilfe gewähren,
auf daß jedermann dahin gelange, die in den Muscheln des allerhöchsten Meeres
verborgenen Perlen zu erkennen und die Worte zu sprechen: „Dank sei Dir dargebracht,
o Gott des Weltalls!*
O Gemeinschaft rechtlicher Menschen! Betrachtet die Wellen der See der göttlichen Erklärung und Wissenschaft, alsdann gebt euch dem Nachdenken hin, bis daß ihr mit lauter Stimme und innerlich bezeugt, daß „wahrlich bei Ihm die Kenntnis aller im Buche enthaltenen Dinge ist. Nichts entgeht Seinem Wissen. In Wahrheit, Er hat, was verborgen war, geoffenbart, als Er Sich bei Seiner Wiederkehr auf dem Throne des Bayán niederließ“.
Alles, was geoffenbart ward, hat sich verwirklicht oder wird sich noch verwirklichen
auf der Erde, Wort für Wort. Für niemanden gibt es irgend eine Möglichkeit, Einspruch
oder Widerspruch zu erheben; wird aber die Rechtlichkeit verlassen oder verhüllt,
dann reden die meisten Menschen nach ihren eigenen abergläubischen Meinungen.
Mein Gott, mein Gott! Halte Deine eigenen Diener nicht davon ab, sich dem Lichte der
Gewißheit zuzuwenden, das am Horizonte des Himmels Deines Willens erschienen ist,
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und mach, o mein Gott, nicht Wesen aus ihnen, die der Meere Deiner Zeichen beraubt
sind. O Herr, sie sind Deine Sklaven in Deinen Landen und Deine Diener in Deinen
Bereichen. Bist Du ihnen nicht gnädig, wer wird es dann sein? Fasse, o mein Gott, die
Hände derer, die im Meere des Aberglaubens untergegangen sind, und befreie sie durch
Deine Kraft und Deine Macht; alsdann errette sie mit dem Arm Deiner Stärke. Wahrlich,
Du bist Der, Der vermag, was Er will; und in Deiner Rechten ruhen die Zügel für
das, was in den Himmeln und auf den Erden ist.
Ebenso sagt der Erste Punkt: „Betrachtet Ihn mit Seinen Augen; denn wenn ihr Ihn mit anderen Augen betrachtet, werdet ihr nie dahin gelangen, Ihn zu erkennen, noch Ihn zu begreifen.“ Und das bezieht sich im besonderen auf diese allerhöchste Offenbarung. Selig sind die Rechtlichen! Ebenso sagt Er: „Der Same aus einem Jahre Seiner Offenbarung vermag mehr als der ganze Bayán.“ Der Bayán und die in zahlreichen Büchern enthaltenen, unter verschiedenem Namen laufenden früheren Schriften haben diese Frohe Botschaft erteilt. Vielleicht werden die Menschen rechtlich beurteilen, was erschienen ist und am Horizonte des Willens Gottes, des Herrn des erhabenen Thrones, strahlt!
O Shaykh! Sag dem Volke des Bayán: „Denket nach über jene heiligen Worte, da Er sagt, der ganze Bayán sei ein Blatt aus der Zahl der Blätter Seines Paradieses. Seid gerecht, o Völker, und zählt nicht zu denen, die verloren sind nah dem Buche Gottes, des Herrn der Welt!“ Heute ist der heilige Baum mit seinen neuen und wunderbaren paradiesischen Früchten vor aller Augen gegenwärtig: wendet euch Ihm zu, indem ihr euch von dem loslöst, was nicht Er ist. Also spricht die Zunge der Kraft und der Macht von dieser Stelle aus, die Gott durch das Erscheinen Seines Größten Namens und Seiner allerhöchsten Verkündigung geschmückt hat.
Und ebenso sagt Er: „In der Zeit vom Beginn dieser Sache bis zum Ausklang von
neun Jahren wird die Wirklichkeit der Dinge nicht ans Licht kommen; alles, was
ich bisher geschaut habe, war nur Same vor seiner Fleischumkleidung. Geduldet euch
also, bis daß ihr eine andere Schöpfung wahrnehmt. Sprich: ‚Gepriesen sei der beste
der Schöpfer!“ Gleicherweise hat Er die Macht der Offenbarung erwähnt und gesagt:
„Dem, Den Gott offenbaren wird, ist es vergönnt, auszusprechen, daß auf der Erde
niemand höher ist als Er; denn die Schöpfung ruht in Seiner Hand, und alle Wesen
beten Ihn an. Wahrlich, es gibt etwas für euch, das ihr später1) verstehen werdet.“
Und Er sagt: „Wisse aus der entscheidendsten Gewißheit heraus und auf Grund des
nachdrücklichen Befehles von größter Klarheit, daß Er — verherrlicht sei Seine
Herrlichkeit, Ehre erzeigt Seiner Ehre, heilig gehalten Seine Heiligkeit, gerühmt
Seine Größe, gepriesen Seine Macht! — Sich allen Dingen durch Sich Selbst zu erkennen
gibt. Wer also kann Ihn durch etwas außerhalb von Ihm erkennen?“ Er — gepriesen sei Er und
verehrt! — sagt ferner: „Hab acht, hab acht in den Tagen Seiner Offenbarung, auf daß du
nicht durch die Einheit des Bayán geblendet werdest, denn diese Einheit des Bayán ist
eine Schöpfung von Ihm. Und hüte dich, hüte dich, durch die im Bayán geoffenbarten
Worte blind gemacht zu werden2)!“ Bis daß Er sagt: „Betrachte Ihn nur mit Seinem
Auge; wahrlich, wer Ihn mit Seinem Auge betrachtet, wird Ihn sehen; andernfalls wird
er daran verhindert sein. Sehnst du dich nach Gott und Seiner Begegnung, dann sehne
dich nach Ihm und blick auf Ihn.“ Gleicherweise äußert Er: „Wenn ihr einen einzigen
von den Versen Jenes, Den Gott offenbaren wird3), lest, dann wird dies
verdienstvoller sein, als den ganzen Bayán von einem Ende zum anderen zu lesen,
weil in jenen Tagen
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dieser einzige Vers euch erretten wird, dann, wenn der ganze Bayán euch nicht retten
würde.“ Sprich: „O Volk des Bayán, sei rechtlich, sei rechtlich, und wiederum, sei
rechtlich und sei rechtlich! Und zähle nicht zu jenen, die Tag und Nacht das Erscheinen
der Sache Gottes erwähnt4) und die dann, als Sie in Güte kam und der Horizont
der Offenbarung sich zeigte, wider Ihn Urteilssprüche gefällt haben, über die die
Bewohner des Königreiches der Himmel weinen, sie, die die Herrschaft des Willens Gottes,
des Wissenden, des Weisen, umwallen!
Denk über jenes erhabene Wort nach, da Er sagt: „Wahrlich, ich glaube an Ihn, an Seine Religion, Sein Buch, Seine Beweise, Seine Gebete und daran, was dies alles von Ihm offenbart. Ich ziehe Ehre aus meinem Verhältnis zu Ihm, ich ernte Ruhm für meinen Glauben an Ihn.“ Und ebenso sagt Er: „O ihr Dinge alle, die ihr im Bayán enthalten seid, erkennet eure Grenzen! Denn wahrlich, gerade der Punkt des Bayán5) steht vor allem treu zu Dem, Den Gott offenbaren wird; und ich bin wahrhaftig dadurch mehr geehrt als alles, was sich im Königreich der Himmel und der Erden befindet.“ Bei Gott, alle Atome des Daseins verbringen ihre Zeit mit Jammern und Seufzen über die Grausamkeit der Gegner des Bayán! Wohin sind die Besitzer von Gesicht und Gehör geraten? Wir bitten Gott — Er sei gepriesen und verherrlicht! —, sie zu rufen und ihnen die Ratschläge zu erteilen, die ihnen nützlich sein und sie von dem abwenden werden, was ihnen schadet. Wahrlich, Er ist der Vermögende, der Sieghafte, der Allmächtige!
Und gleicherweise sagt Er: „Geht Gottes nicht verlustig nach Seiner Offenbarung; denn alles, was der Bayán verherrlicht hat, ist gleich einem Siegelring an meiner Hand, und ich gleiche einem solchen an der Hand Dessen, Den Gott offenbaren wird — verherrlicht sei Seine Erwähnung! —. Er ändert, was Er will, wozu Er es will und wodurch Er es will. Wahrlich, Er ist der Schirmherr, der Gepriesene!“ Und ebenso sagt Er: „Wahrlich, wenn Er die ganze Welt zu Propheten macht, dann werden sie Propheten sein im Auftrage Gottes.“ Er sagt auch: „Und zu selbiger Zeit, am Tage der Offenbarung Man-Yuẓhiruhu’lláh’s6), werden bei Ihm alle auf Erden gleich sein; macht Er aber einen zum Propheten, dann wird er dies vom Anfang an, der keinen Anfang hatte, gewesen sein und wird es sein bis zum Ende, das kein Ende haben wird; denn Gott ist es, Der Ihn gebildet, und wen Er zu Seinem Valí7) macht, der war Valí in allen Welten. Und Gott ist es, Der Ihn gebildet hat, denn der Wille Gottes offenbart sich nur durch den Willen Man-Yuẓhiruhu’lláhs, und der Wunsch Gottes enthüllt sich nur im Wunsche Man-Yuẓhiruhu’lláh’s. Wahrlich, Er ist der Mächtige, der Starke, der Unnahbare!“
Kurz gesagt, überall hat Er erwähnt, was dazu dienen wird, die Schöpfung zu fördern, zu heben, zu veredeln und zu retten. Aber eine kleine Zahl von Menschen ohne Rechtlichkeit ist umnebelt geblieben und zu einem unüberwindlichen Hindernis geworden, das die Menschen davon abhält, sich der Lichtfülle des (hohen) Antlitzes zu nähern. Wir bitten Gott, sie durch Seine Macht zu bannen und in Seine Umklammerung zu nehmen. Wahrlich, Er ist der Mächtige, der Starke, der Weise!
Und ebenso sagt Er: „Und Er — gepriesen sei Seine Erwähnung! — gleicht einer Sonne:
setzt ihr der Sonne, bis ins Unendliche gehend, Spiegel aus, dann werden alle je nach
ihrer Fähigkeit deren Glanz widerstrahlen; setzt ihr keine aus, dann wird die Sonne
trotzdem auf- und untergehen, und der Verlust wird die Spiegel treffen. Und wahrlich,
ich habe nicht unterlassen, dieser Schöpfung Ratschläge zu erteilen, auf daß sie sich dazu
entschließe, Gott, ihrem Herrn, entgegenzueilen und an Gott, ihren Schöpfer, zu glauben.
Und wenn all das, was auf Erden ist, am Tage Seiner Offenbarung an Ihn glaubt,
dann werde ich glücklich sein, denn dann wird jedes Ding den Gipfel seines Daseins
erreicht, die Schönheit seines Vielgeliebten erlangt, das empfangen haben, was man von
der Offenbarung seines Ersehnten in der Welt des Zufalls empfangen kann. Andernfalls
wird mein Herz untröstlich sein. Wahrlich, ich habe alle Dinge darauf vorbereitet.
Wie kann man umschleiert bleiben? Dafür
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habe ich gebetet und werde ich beten. Gott, wahrlich, Er ist uns nah und erhört uns!“
Und ebenso sagt Er: „Er wird nicht einmal als Gläubiger angesehen werden, jener Baum8), Der weder vom Westen noch vom Osten stammt; denn sonst würde man Ihn nicht so übel behandeln.“
O Ohr der Welt! Hast du wahrgenommen, mit welcher Demut diese Erklärungen am Aufgangsort des Willens des Aufganges der Namen9) erschienen sind? Er sagt: „Ich habe die Erziehung aller so gehalten, daß man diese Offenbarung anzuerkennen vermöchte, aber das Volk des Bayán hat sich nicht einmal dazu hergegeben, jenem heiligen Baume, Der weder aus dem Osten noch aus dem Westen stammt, den Namen eines Gläubigen zu bewilligen.“
Ach, ach! ob dem, was mir begegnet ist! Bei Gott! Von seiten dessen, den ich Tag und Nacht erzogen, ist mir widerfahren, was den Heiligen Geist wehklagen läßt wie auch das Volk der Hoheitszelte Gottes, des Königs dieses wunderbaren Tages!
Und ebenso sagt Er bei Widerlegung einiger Gegner: „Denn keiner außer Gott kennt die Offenbarung: sobald Sie erscheinen wird, muß jeder den Punkt der Wahrheit unterstützen und Gott Loblieder darbringen.“ Indessen haben die Widersacher, wie z. B. die von der Sekte Yaḥyá10) dieselben Einwürfe vorgebracht, die sie Christus gegenüber gemacht hatten: „Die Religion Johannis11) ist nicht zu Ende: warum bist du gekommen?“ Heute haben die Widersacher, obwohl sie nie mit mir zusammen waren und nie etwas von der (großen) Sache wußten, weder woher sie kommt, noch worin sie besteht, Dinge behauptet, die das ganze Dasein aufseufzen und wehklagen lassen. Bei meinem Leben! Wie vermöchte auch ein Stummer dem Königreich der Erklärung zu widerstehen?! Fürchtet Gott, o Völker, alsdann lest nach, was in Wahrheit im achten Tor der sechzehnten Einheit des Bayán12) geoffenbart ward, und zählt nicht zu den Gegnern! Er hat auch befohlen, daß man alle neunzehn Tage einmal dieses Tor lese, um nicht möglicherweise gegenüber Dem, Den Gott offenbaren werde, mit Schleiern behaftet zu werden durch Erwägungen, welche nichts gemein haben mit den Versen, die den stärksten der Beweise und Belege darstellen.
(Fortsetzung folgt)
1) Urtextlich: Ba’ada haïn, d. h. „nach jetzt“, „nach haïn“; „haïn“ besitzt
laut der Zahlwertung seiner Buchstaben im Arabischen den Zahlenwert 68: also „nach 68°, das
wäre im Jahre 1269 der Hedschra, in dem Bahá’u’lláh sich zum erstenmal erklärte.
2) Die Einheit, der oberste Grundsatz der Lehre Bahá’u’lláh’s, ist schon vom Báb in Seinem Buche, dem Bayán, vielfach betont worden. In den hier angeführten Schriftstellen widerlegt der Báb die Einwände derer, die die Anerkennung Bahá’u’lláh’s als Größte Offenbarung ablehnen und sich dabei auf die Worte des Bayán und seine „Einheit“ zu stützen versuchen.
3) Man-Yuẓhiruhu’lláh.
4) D. h. vom Verheißenen gesprochen haben.
5) Eine der Bezeichnungen für den Báb.
6) „Dessen, den Gott offenbaren wird.“
7) Stellvertreter.
8) Man-Yuẓhiruhu’lláh.
9) Womit Seine Heiligkeit, der Báb, gemeint ist. „Aufgang“ im Sinne der astronomischen Bezeichnung, z. B. Sonnenaufgang. Der „Aufgang der Namen“ ist Man-Yuẓhiruhu’lláh („Der, Den Gott offenbaren wird“), und der Báb bzw. der Bayán stellt den „Aufgangsort des Willens“ dieses „Aufganges der Namen“ dar.
10) Mírzá Yaḥyá, Subḥí Azal, Halbbruder Bahá’u’lláh’s.
11) Des Täufers.
12) Der Bayán zerfällt in 19 „Einheiten“ zu je 19 „Toren“.
Nabíl’s Erzählung[Bearbeiten]
Übersetzung aus „The Dawn-Breakers“, Nabíl’s Narrative of the early days of the Bahá’í Revelation, New York 1932
Aus Kapitel XII: Die Reise des Báb von Káshán nach Tabríz
Von Seiner Eskorte geleitet, wandte Sich der Báb nach Qum1). Sein verlockender
Zauber, der sich mit bezwingender Würde und unerschöpflicher Güte paarte, hatte bereits
Seine Wächter völlig entwaffnet und umgewandelt. Es schien, als ob sie von allen ihren
Rechten und Pflichten zurückgetreten seien und sich völlig unter Seinen Willen und Sein
Gutdünken gestellt hätten. In ihrem Eifer, Ihm zu dienen und zu gefallen, sagten sie
Ihm eines Tages: „Es ist uns streng vom Statthalter untersagt, Euch zu erlauben, die
Stadt Qum zu betreten, und wir haben den Befehl, auf einem wenig begangenen Weg
nach Ṭihrán weiterzureisen. Wir sind im besonderen angewiesen, uns von dem
Ḥaram-i-Ma‘súmih fernzuhalten, dem unverletzlichen Heiligtum, unter dessen Schutz selbst
die schwersten Verbrecher nicht gefangen genommen
[Seite 69]
werden. Wir sind aber bereit um Deinetwillen, alle Befehle, die an uns gegangen
sind, ganz außer acht zu lassen. Sollte es Dein Wunsch sein, so werden wir Dich
sogleich durch die Straßen von Qum geleiten, damit du die heilige Grabstätte besuchen
kannst.“ „Das Herz des getreuen Gläubigen ist der Thron Gottes“, bemerkte der Báb.
„Der, welcher die Arche der Errettung ist und des Allmächtigen unbezwingbare Feste,
zieht nun mit euch durch diese Wüste. Ich will lieber den Weg über Land nehmen, als
diese unheilige Stadt betreten. Die Unbefleckte, deren Überreste in diesem Grabe
ruhen, ihr Bruder und ihre hohen Ahnen, beklagen den Zustand dieser bösen Menschen.
Diese huldigen ihr mit den Lippen, mit ihren Taten aber häufen sie Schmach auf
ihren Namen. Äußerlich bedienen und verehren sie ihr Grab, innerlich aber entehren
sie ihre Würde.“
Solche erhabenen Gefühle hatten den Begleitern des Báb so viel Vertrauen eingeflößt, daß, wenn Er plötzlich umgekehrt wäre und sie verlassen hätte, auch nicht einer der Wächter im geringsten beunruhigt gewesen wäre oder Seine Verfolgung aufgenommen hätte. Im Verlauf einer Straße, die am nördlichen Ende der Stadt Qum entlang führte, hielten sie in dem Dorf Qumánd an, das einem Verwandten von Muḥammad Big gehörte und dessen Einwohner allesamt der Sekte ‘Alíyu’lláhí angehörten. Auf Einladung des Ortsvorstehers verblieb der Báb eine Nacht daselbst und war gerührt von der ursprünglichen Herzlichkeit des Empfangs, den diese einfachen Leute Ihm bereiteten. Ehe Er weiter zog, erbat Er den Segen des Allmächtigen für sie und erquickte ihre Herzen mit der Versicherung Seiner Anerkennung und Liebe.
Nach einer Reise von weiteren zwei Tagen trafen sie am Nachmittag des achten Tages nach Naw-Rúz bei der Festung Kinár-Gird ein, die 6 Farsakh von Ṭihrán entfernt liegt. Sie beabsichtigten, die Residenz am nächsten Tag zu erreichen, und hatten beschlossen, die Nacht in der Nähe dieser Festung zuzubringen, als unerwarteter Weise ein Bote von Ṭihrán eintraf mit einem schriftlichen Befehl von Ḥájí Mirzá Áqásí an Muḥammad Big. Diese Botschaft enthielt den Befehl, sofort mit dem Báb nach dem Dorf Kulayn aufzubrechen, wo der Shaykh-i-Kulayní, Muḥammad-ibn-i-ya'qúb, der Verfasser des Usúl-i-Káfí, der dort geboren war, mit seinem Vater beerdigt lag. Diese Gräber sind sehr geehrt von den Bewohnern der Umgebung. Muḥammad Big sollte in Anbetracht der mangelhaften Behausungen in dem Dorfe ein besonderes Zelt für den Báb aufschlagen und die Begleiter in Dessen Nähe halten, bis neue Befehle eintreffen würden. Am Morgen des neunten Tages nach Naw-Rúz, am 11. Tage des Monats Rabí'u’th-Thání im Jahre 1263 d. H.2), wurde in nächster Nähe des Orts für den Báb ein Zelt errichtet, das Ḥájí Mirzá Áqásí gehörte und seinen eigenen Zwecken diente, so oft er diesen Platz besuchte, auf einem Hügel, hübsch gelegen inmitten von weiten Obstanlagen und lachenden Weiden. Die Friedlichkeit dieses Orts, die Üppigkeit des Pflanzenwuchses und das rastlose Rauschen der Gewässer gefielen dem Báb sehr. Zwei Tage später trafen Siyyid Ḥusayn-i-Yazdí, Siyyid Ḥasan, dessen Bruder, Mullá 'Abdu’l-Karím und Shaykh Ḥasan-i-Zunúzí ein, die alle eingeladen wurden, in nächster Nähe Seines Zeltes zu wohnen. Am 14. Tage des Monats Rabí'u’th-Thání3), dem zwölften Tage nach Naw-Rúz, trafen Mullá Mihdíy-i-Khu'í und Mullá Muḥammad-Mihdíy-i-Kandí aus Ṭihrán ein. Der letztere, der mit Bahá’u’lláh in Ṭihrán eng befreundet war, war von Ihm beauftragt worden, dem Báb einen versiegelten Brief und gewisse Geschenke zu überbringen. Als diese in Dessen Hände gelangten, riefen sie in Seiner Seele Wonnegefühle ohnegleichen wach. Sein Antlitz strahlte vor Freude, als Er den Überbringer mit Beweisen Seiner Dankbarkeit und Gunst überschüttete.
Diese Botschaft, in einer Stunde der Ungewißheit und der Zweifel empfangen, brachte
dem Báb Trost und Kraft. Sie zerstreute die Wolke, die sich auf Sein Herz gesenkt hatte,
und erfüllte Seine Seele mit Siegesgewißheit. Die Traurigkeit, die so lange auf Seinen
Zügen gelegen hatte und welche die Gefahren Seiner Gefangenschaft noch mehr verstärkt
hatte, nahm zusehends ab. Er weinte nicht länger mehr solche Tränen der Qual, wie sie
in solcher Fülle Seinen Augen seit den Tagen
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Seiner Gefangennahme und Abreise aus Shíráz immerfort entströmt waren. Der Ruf
„Geliebter, Mein Herzgeliebter“, den Er in Seinem bitteren Kummer und in Seiner
Verlassenheit auszurufen pflegte, wich nun dem Ausdruck des Dankes und Lobpreises, der
Hoffnung und des Frohlockens. Die Freude, die auf Seinem Angesicht glühte, verließ Ihn
nie mehr bis zu dem Tage, da die Nachricht von dem großen Unglück, das über die Helden
von Shaykh Ṭabarsí kam, den Glanz auf Seinem Antlitz aufs neue verdüsterte
und Seine Herzensfreude trübte.
Ich habe Mullá 'Abdu’l-Karím folgende Geschichte erzählen hören: „Meine Genossen und ich waren fest eingeschlafen in nächster Nähe des Zeltes des Báb, als uns plötzlich Pferdegetrappel erweckte. Wir erfuhren alsbald, daß das Zelt des Báb leer stehe und die, welche Ihn suchten, Ihn nicht gefunden hätten. Wir hörten Muḥammad Big den Wachen den Vorhalt machen: ‚Warum seid ihr in Verwirrung? Stehen Seine Größe und Sein Seelenadel noch nicht genügend euch vor Augen, um Euch davon zu überzeugen, daß Er niemals es zulassen würde, daß um Seiner eigenen Sicherheit willen andere in Verlegenheit kämen? Er hat Sich ohne Zweifel in der Stille der Mondnacht an einen Ort zurückgezogen, wo Er ungestört mit Gott verkehren kann. Ohne Frage wird Er in Sein Zelt zurückkehren. Er wird uns niemals verlassen.‘ In seinem Bestreben, seinen Kameraden Gewißbeit zu verschaffen, machte sich Muḥammad Big zu Fuß auf den Weg, der nach Ṭihrán führt. Auch ich und meine Gefährten folgten ihm. Kurz darauf sah man den Rest der Reiter, jeder zu Pferde, uns nachkommen. Wir waren etwa 1 Maydán4) gegangen, als wir im Zwielicht des Morgengrauens in der Ferne die einsame Gestalt des Báb gewahrten. Er kam uns aus der Richtung von Ṭihrán entgegen. ‚Glaubtet ihr, daß Ich euch entfliehen wollte?‘ waren Seine Worte an Muḥammad Big, wie Er auf ihn zukam. ‚Das sei ferne von mir‘, war dessen sofortige Antwort, indem er sich dem Báb zu Füßen warf, ‚solche Gedanken zu hegen.‘ Muḥammad Big war zu ehrfurchtsvoll vor der ernsten Größe, die Sein strahlendes Antlitz an diesem Morgen zeigte, um sich noch eine weitere Bemerkung zu erlauben. Ein Blick des Vertrauens ging von Seinem Angesicht aus, Seine Worte enthielten eine solch überirdische Macht, daß ein Gefühl tiefer Andacht uns in innerster Seele ergriff. Niemand erkühnte sich, Ihn nach dem Grunde der so auffallenden Veränderung in Seinen Worten und in Seiner Haltung zu fragen. Auch von Sich Selbst aus beliebte Er nicht, unsere Neugier und unser Staunen zu besänftigen.“
(Fortsetzung folgt)
1) Stätte des zweitheiligsten Grabes Persiens und Begräbnisplatz vieler Könige.
2) 29. März 1847 n. Chr.
3) 1. April 1847 n. Chr.
4) Teil eines Farsakh.
Lichtblicke des Glaubens[Bearbeiten]
Von Anna Grossmann, Neckargemünd
- Die nachstehenden Ausführungen sind einer Ansprache entnommen, die anläßlich der 14. Nationaltagung der Bahá’í in Deutschland und Österreich in Stuttgart während einer Morgenfeier am Sonntag, den 26. April 1936, im Haus des Deutschtums gehalten wurde. — Ein Bericht über den Verlauf der diesjährigen Nationaltagung erschien in Nr. 13 (Mai 1936) der „Bahá’í-Nachrichten“.
Wenn wir heute die Welt der Menschheit betrachten, so sehen wir sie überall im Zeichen
der Umgestaltung und des Umbruchs, eines Umbruchs, der sich auf alle Lebensgebiete
erstreckt. Altes scheint den neuen Lebensansprüchen und Erfordernissen nicht
mehr zu genügen. Es wird in Zweifel gezogen, bekämpft und schließlich hinweggeräumt,
während auf vielen Gebieten Neues zum Leben drängt, ja sich bereits entfaltet hat.
Auch das Gebiet des Glaubens ist heftig erfaßt von dieser Umbildungswelle, die alle
Daseinsbezirke durchläuft, wenn es auch von vielen noch nicht erkannt oder anerkannt
wird. Dabei handelt es sich nicht um eine Entwicklung von heute oder gestern. Schon
die letzten Jahrhunderte haben sie vorbereitet
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und durch die Erkenntnisse auf den Gebieten selbständiger Wissenschaft und
technischer Entwicklungen, die so sehr das Antlitz der Welt verändert haben, bis zu
dem heutigen Entwicklungsgrad fortgeführt. Es ist, als wenn die Menschheit es
unternommen hätte, einen Turm der Entfremdung von ihrem religiösen Gut zu bauen und heute
bedarf es nur noch eines hellen Scheinwerferlichtes, um sie erkennen zu lassen, daß
nur die letzten Steine höchster Glaubensnot fehlen.
Es ist nicht nur, wie viele glauben, daß dabei von den Menschen mit dem Gut der Religion ein frevles, unnötiges Spiel getrieben wurde, wenn wir auch bei vielen, die sich diesem Umbruch verschrieben haben, Blindheit und halbes Erkennen feststellen können. Sicher ist, daß das Aussehen der Welt sich völlig verändert hat und daß die Menschen nun nicht wissen, wie sie die erhabenen und ewigen Grundsätze der Religion im einzelnen auf neue und bisher noch nicht dagewesene Lebensbedingungen anwenden sollen.
Die Menschen haben es von sich aus nicht an Versuchen fehlen lassen, zur Lösung dieses Problems zu kommen. Sie haben versucht, ihre überkommene Religion in ganz bestimmter Weise aus- und festzulegen, um sie so besonderen Fragen und Nöten anzupassen. Die Sektenbildung ist ein Ausdruck dafür. Sie haben Schönes und Gutes aus verschiedenen Religionen gemischt und es der Menschheit angeboten. Immer konnte es für eine Zeit Menschen fesseln und sie eine Strecke des Entwicklungsweges begleiten, Letztgültiges war es nie. Man hat zurückgegriffen auf altes und ältestes religiöses Gut in der sicheren Erkenntnis, daß auch hier Hohes und Reines eingeschlossen lag. Aber wie könnte dies, um noch so vieles weiter entfernt vom Stand der heutigen Probleme, Lösung für ihre einzelnen Fragen sein? Man zieht Gedankengänge vergangener Großer heran und glaubt mit ihnen, daß es nur darauf ankomme, daß jeder Einzelne der in ihn gelegten göttlichen Führung folge, das in ihm ruhende Teilchen von Gott von Äußerem befreie, um auch im allgemeinen zur seelischen Befriedung und zur Lösung von Glaubensnöten zu kommen. Aber wir kennen doch die Verschiedenheit menschlicher Entwicklungsstufen, ihre abweichenden Erkenntnisse, selbst bei höchst und gleich hoch entwickelten Menschen. Müßten solche Gedankengänge und ihre Durchführung daher nicht letzten Endes zu geistiger Anarchie, zur Zerstörung auch der letzten Ordnung führen?
So sehen wir die Welt in einem Wirbel von Fragen, Versuchen und Problemen, in Unruhe und Kampf. Denn es geht hier um das, was, wie es auch immer anders scheinen mag, des Menschen Höchstes ist — sein Glaube. Darum wird hier mit noch größerer Leidenschaft, mit Erbitterung und fanatischem Eifer gekämpft und verteidigt, als auf irgend einem anderen Lebensgebiet.
Nun, nachdem wir vergebliche Versuche, zu einer Lösung der Konflikte zu gelangen, gesehen haben, fragen wir uns: woher soll uns Entwirrung, Harmonie und neue Glaubenskraft kommen?
Werfen wir, nach Antwort suchend, einen Blick zurück in die Geschichte. Denn wir wissen,
es hat auch in früheren Zeiten große kulturelle Umbildungen gegeben, Zeiten, in
denen wie heute Chaos auf dem Gebiet des Glaubens drohte und wo dann doch gleich
einem Phönix neues und köstliches Glaubensgut, oder besser, wie ‘Abdu’l-Bahá sagt,
das altewige Gut, jedoch gereinigt von menschlichen Zutaten und Einengungen, der
Asche des Vergangenen entstieg. Wir wissen, daß im Niedergang der römischen Kultur
Rom fieberhaft nach einem neuen Glauben suchte und es mit vielen Glaubenslehren und
Religionsphilosophien der damaligen Welt versuchte. Und dann brachte die Lehre eines
in Rom völlig Unbekannten den Zerfall zum Stillstand, der Glaube, der durch Jesus
Christus in die Welt gekommen war, schenkte ihr neues Aufblühen, bis dahin nie gekannte
auf immer bereichernde Frlebnisse und Erfahrungen. Ein Mensch war es also doch, der
Hilfe brachte, und immer, wenn wir den Erscheinungen ganz großer menschlicher Hochzeiten
nachspüren, finden wir an ihrem Anfang einen Menschen, der seine Umwelt kraft
dessen, was von ihm und seiner Lehre ausging, aus Nacht und manchmal Verkommenheit
zu Gipfelpunkten höchster menschlicher Leistung in Wissenschaft, Kunst, sozialer
Erneuerung und zu lebendiger Gottverbundenheit emporriß. Wir sehen es bei Buddha und
Muḥammad wie bei Christus.
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Wie konnte ein solches Werk vollbracht werden, wie wurde ihnen solche Kraft? Kann dies, was doch sichtlich mit einer menschlicher Macht sonst fremden, schöpferischen Lebenskraft ausgestattet war, von einem anderen Ursprung als vom Schöpfer selbst stammen? Und müssen wir daraus nicht zwingend erkennen, daß in solcher Verwirrung und Not Gott allein Lösung und Hilfe schicken kann? Müssen wir nicht auch für uns und unsere Zeit nach dieser von Gott kommenden Hilfe Ausschau halten? ‘Abdu’l-Bahá, der langjährige Mittelpunkt des Bahá’í-Glaubens sagt:
- „Diese unendliche Güte und große Gelegenheit wird enden und dieser strahlende Morgen wird sich in dunkle Nacht wandeln. Wenn du die Welt in diesem Zustand findest, wisse und sei sicher, daß der Morgen der Gewißheit sich genähert hat und das Emporsteigen der Manifestation des Barmherzigen am Horizont der Welt der Möglichkeit und das Kommen des Herrn in der Verborgenheit der Wolken nahe ist1).“
Denker und Schriftsteller unserer Zeit erkennen diese Tatsache. Immer häufiger begegnen wir Äußerungen, aus denen wir entnehmen, daß sie die Bereitheit unserer Zeit für das Kommen einer Manifestation Gottes erfühlen. Karl Ewald sagt in seinem Buch „Die Philosophie des Alltags“:
„So selten sich der religiöse Genius auf der Erde zeigt, so ist doch die Sehnsucht nach ihm um so häufiger anzutreffen. Gerade in unserer Zeit verlangen die besten Geister oft heiß nach einer neuen religiösen Offenbarung. Wer etwa die deutsche Jugendbewegung miterlebt hat, die mit dem Wandervogelzug in die deutschen Wälder am Anfang dieses Jahrhunderts begann, bis sie an dem ungeheuren Walle des Weltkriegs sich zersplittern mußte, der weiß, daß diese Sache im letzten Grunde aus der Sehnsucht nach einer neuen Religion geboren wurde. Überall ersehnt man die neue Religion, überall strebt man nach dem neuen Menschen, überall ruft man nach dem neuen Gott. Doch Religion kann immer nur der religiöse Genius bringen. Wo er nicht erscheint, muß man sich begnügen, aus dem Alten zu machen, was noch zu machen ist... Doch der Genius läßt sich nie erzwingen, er kommt nur, wenn „seine Zeit erfüllet ist“. Aber dennoch kann an der Religion nur verzweifeln, wer ihr Wesen nicht erfaßt hat. Als Verlangen nach Gott, als Sehnsucht nach Vollkommenheit steht sie über allem Gedeih und Blühen von Kirchen und anderen religiösen Einrichtungen. Dies Verlangen und diese Sehnsucht ist aber in unseren Tagen so groß wie selten zuvor. Gewiß ist Religion immer nur bei ganz wenigen gewesen, aber das Suchen nach ihr ist vielleicht eins der merkwürdigsten Kennzeichen unserer Zeit. Und wer nur hören will, kann die Sehnsucht überall aufstöhnen hören. In den christlichen Konfessionen drängen die lebendigen Kräfte in immer neuen Wellen nach oben. Noch lauter vernimmt man den Sehnsuchtsschrei außerhalb der Kirchen ... Der Ruf nach dem erlösenden Propheten quillt aus der Tiefe des Herzens. Freilich werden auch die neuen Propheten kein anderes Heil und kein klareres Evangelium verkünden können als das Christi: Liebe! Liebe! Nur eine für unsere Zeit greifbarere und leichter verständliche, zündende Form könnten sie ihm geben. Darum ist der neue Prophet die große Forderung unserer Zeit.“
Der Inder Swami Vivekananda sagt in einem seiner Werke:
„Sollte es aber jemals eine universale Religion geben, so muß es eine sein, die weder
an Ort noch an Zeit gebunden ist, die unendlich wie der Gott ist, den sie verkündet;
deren Sonne scheinen wird über die Nachfolger Krishnas und Christi, über Heilige und
Sünder; die nicht brahmanisch, christlich oder mohammedanisch ist, sondern die
Zusammenfassung alles diesen, und die trotzdem noch unendlichen Raum für eine Entwicklung
hat; die in ihrer Universalität mit allumfassenden Armen alle Menschen umschließen und
Raum für sie haben wird, vom erbärmlichsten niederen Wilden, der vom Tier nicht
weit entfernt ist, bis zum höchststehenden Menschen, der kraft der Vorzüge seines
Geistes und Herzens schon fast über der Menschheit thront, so daß die Menschen in
ehrfürchtiger Scheu zu ihm aufblicken und an seiner menschlichen Natur zweifeln. Es
wird eine Religion sein, die in ihrem Gemeinwesen
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nicht Raum für Verfolgung oder Unduldsamkeit hat, die in jedem Mann und jeder Frau
das Göttliche sieht, und deren ganze Kraft sich darauf richtet, der Menschheit zur
Verwirklichung ihrer wahren, göttlichen Natur zu verhelfen. Erwüchse solch eine Religion,
so würden ihr alle Nationen angehören.... Er, der das Brahman der Hindus, der
Ahur-Mazdah der Parsen, der Buddha der Buddhisten, der Jehova der Juden und der
Himmlische Vater der Christen ist, Er gebe Kraft der Verwirklichung. Der Stern ging im
Osten auf und wanderte, manchmal trübe und manchmal hell leuchtend, dem Westen
zu, bis er die Erde umkreist hatte. Nun steht er wieder am östlichen Horizont, heller
strahlend, als je zuvor2).“
Was diese Denker vorauszusehen glaubten und ersehnten, hatte sich zu ihrer Zeit bereits erfüllt. Der Ruf einer neuen Manifestation Gottes war in der Welt erschallt, Bahá’u’lláh — Herrlichkeit Gottes — hatte der Welt eine neue Botschaft von Gott geschenkt und den Anspruch erhoben und begründet, die Manifestation Gottes für unsere Zeit zu sein.
Die Macht und Größe dieser Offenbarung geht schon aus der Tatsache hervor, daß sie auf drei geheiligten Persönlichkeiten ruht. Der Vorläufer Bahá’u’lláh’s, der Báb, war eine selbständige Manifestation Gottes. Er führte in dem damals tief gesunkenen Persien Tausende in den Kampf für die Sache Gottes, die für Ihn immer die Sache dessen war, den Gott nach Ihm offenbaren werde. Jugendlich zart, schön und unendlich rührend steht Seine Persönlichkeit vor unseren Augen. Seine Lehre, so neu und revolutionierend und in sich abgeschlossen selbständig, war dennoch nach höchster Bestimmung und innerstem Wollen dieser Gottesmanifestation nur Schemel für die Füße dessen, der nach Ihm kommen sollte. In leidenschaftlicher Sehnsucht ruft Ihm der Báb zu:
- „O Du, letzte Offenbarung Gottes, ich opfere mich völlig für Dich und nehme auf mich die Leiden auf Deinem Wege. Mein einziger Wunsch ist, um Deiner Liebe willen getötet zu werden. Gott, der Allmächtige, der Ewige Beschützer, ist mein Ein und Alles!3)“
Gott hat Ihm, der den Märtyrertod in Tabríz erlitt, diesen Wunsch gewährt. Mit Ihm haben sich in den darauf folgenden Jahren Tausende in völliger Selbstaufopferung hingegeben und den Boden bereitet, auf dem sich die Sache Bahá’u’lláh’s erhob. Möchte diese Tatsache den Nachfolgern Bahá’u’lláh’s stets Grund zu dankbarem Stolz und tiefer Gewißheit für die Zukunft Seiner Sache sein. Sie ruht auf einem Grund, aus dem Edelsten und Besten geschaffen, was Menschen geben können, aus der Selbstaufopferung um der Liebe Gottes willen.
Im Irak erklärte sich Bahá’u’lláh zuerst als Manifestation Gottes. Unendliche Majestät, Macht und Würde umgaben Ihn, der doch zeitlebens ein Gefangener war. Und diese Macht ist es, die uns heute, nachdem Er diese Welt verlassen hat, aus Seinen Worten und Schriften entgegenkommt, eine Macht, die uns zur Entscheidung ruft und zur Auseinandersetzung mit Seiner Botschaft zwingen wird. In unzähligen Briefen und Sendschreiben und in einigen Büchern hat Er Seine Lehre niedergelegt, die wir, wenn wir sie kurz charakterisieren wollen, mit dem Wort „Einheit“ belegen können. „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ ist Seine große Botschaft. Seine Bücher und Schriften zeigen den Menschen den Weg, wie sie zur Einheit auf jedem Gebiet des äußeren und inneren Lebens gelangen können. Es gibt kein Lebensgebiet, auf dem Er uns nicht liebevoller Führer und Seine Lehren der Welt Rechtleitung wären. In Seinem Werk „Die sieben Täler“ nimmt Er uns gleichsam als liebevoller Freund bei der Hand und geht mit uns den uns von Gott bestimmten geistigen Entwicklungsweg. Er schenkte uns Gebete, löste schwierige philosophische Probleme und setzte sich mit theologischen Fragen klärend und lösend auseinander. Er hinterließ Anweisungen, durch die die Menschheit die soziale Not zwingen wird. Jeder Staatsmann kann aus Seiner Weisheit zum Wohl seiner Nation schöpfen und durch Ihn mögen die Völker Wege finden, um zu einer dauernden, jede Bedrückung meidenden Befriedung der Welt zu kommen.
Wäre, das Licht zu hell, die Kraft von
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Bahá’u’lláh zu stark, die Wahrheit zu absolut für eine suchende Menschheit gewesen?
Vielleicht mag dies einer der Gründe sein, weshalb wir noch eine dritte geheiligte
Persönlichkeit, ‘Abdu’l-Bahá, als Erklärer und lebendig gewordenes Wort Seines großen
Vaters, finden. Er, der nicht Manifestation wie Bahá’u’lláh und der Báb ist, nimmt
dennoch eine Stufe ein, die für uns Menschen unfaßbar und ewig unerreichbar ist. Sie wird
„das Geheimnis Gottes“ genannt. Trotzdem ist ‘Abdu’l-Bahá, Sein Wirken und Leben,
das große Vorbild für alle Nachfolger Bahá’u’lláh’s. Er Selbst sagte über Sich und Sein
Wesen:
- „Mein Name ist ‘Abdu’l-Bahá (Diener Gottes). Meine Befähigung ist ‘Abdu’l-Bahá. Meine Wirklichkeit ist ‘Abdu’l-Bahá. Meine Ehre ist ‘Abdu’l-Bahá. Untertänigkeit unter die Gesegnete Vollkommenheit ist mein köstliches und strahlendes Diadem und Dienst an der ganzen menschlichen Rasse meine immerwährende Religion.... Keinen andern Namen, keinen Titel, keine Erwähnung, keine Empfehlung habe ich, noch will ich jemals haben, außer ‘Abdu’l-Bahá. Das ist meine Sehnsucht. Das ist mein größtes Verlangen. Das ist mein ewiges Leben. Das ist mein ewigwährender Ruhm4).“
Von Ihm kann gesagt werden, daß Er nach Bahá’u’lláh’s Wort alle Farben abgelegt hat, wie es heißt:
- „Bei Meiner Schönheit! Ich werde alle unter dem einfarbigen Zelt des Staubes versammeln und von allen diese verschiedenen Farben verwischen, nur nicht von denen, die Meine eigene erwählten, und diese besteht im Ablegen aller Farben5).“
Als Er 1921 von Seinen Freunden ging, hinterließ Er ihnen die Einrichtung des Hütertums und in Seinem Enkel Shoghi Effendi den ersten Hüter, der über die Reinhaltung des jungen Glaubens wacht. Für die Verwaltung seiner äußeren Angelegenheiten haben Bahá’u’lláh und ‘Abdu’l-Bahá eine Ordnung vorgezeichnet, die in höchster Weisheit Führung und Lebendighaltung aller Kräfte vorsieht. Wenn die großen Staatsmänner und Führer diese Ordnung studieren und im Leben verwirklichen, so wird dies nach ‘Abdu’l-Bahá’s Worten von höchstem Nutzen für ihr Land sein. Das Verhältnis der neuen Gotteslehre zum Staat ist in folgenden Worten Bahá’u’lláh’s dargetan:
- „Jede Nation soll dem Rang ihres Herrschers Ehrerbietung entgegenbringen, ihm gegenüber ergeben sein, seiner Weisung gemäß handeln und sich an seinen Befehl halten. Die Herrscher waren und sind die Offenbarungen göttlicher Macht, Würde und Größe... Keinem ist das Recht gegeben, in irgend einer Weise zu handeln, die den erwogenen Absichten derer entgegenstehen könnte, welche die Vollmacht besitzen. Das, was Er sich Selbst vorbehalten hat, sind die Stätten der Menschenherzen6).“
Laut geht nun Bahá’u’lláh’s Ruf über die Welt hin. An uns wendet Er sich und sagt:
- „Ihr Anhänger des Evangeliums, schauet hin, die Tore des Himmels sind weit geöffnet. Er, der zum Himmel aufgefahren, ist nun gekommen. Höret auf Seine Stimme, die laut über Länder und Meere hinschallt und alle Menschen mit dem Anbruch dieser Offenbarung bekannt macht, einer Offenbarung, durch deren Wirken die Zunge der Erhabenheit verkündet: ‚Seht, die heilige Verheißung hat sich erfüllt, denn Er, der Verheißene ist gekommen‘7)."
Wäre es nicht Zeit, alles diesem großen und mächtigen Ruf unterzuordnen, sich in diesem Augenblick der Entscheidung dem Kampf um die Wahrheit zu stellen? Shoghi Effendi sagt:
- „Er verlangt nicht von uns, daß wir Ihm blindlings folgen. Wie Er in einem Seiner Sendschreiben sagt, hat Gott den Menschen den Verstand geschenkt, daß er ihn als Fackellicht gebrauche und daß dieser ihn zur Wahrheit führe. Leset Seine Worte, denkt über Seine Lehren nach und ermeßt ihren Wert im Lichte der zeitgemäßen Probleme — und die Wahrheit wird Euch sicher geoffenbart werden8)."
- „Lasset uns auf das Licht sehen, es mag leuchten, wo es will, lasset uns nach der Fähigkeit streben, das Licht der Wahrheit wiederzuerkennen, es mag aufgehen, wo es will9)“, mahnt ‘Abdu’l-Bahá.
Wohl sind viele noch mit der Errichtung der äußeren Welt beschäftigt. Noch sind sie von dieser Aufgabe völlig in Anspruch genommen. Aber die Stunde wird kommen und jeder Tag bringt uns ihr näher, wo die Allgemeinheit reif für die Entscheidung ist, ihre Ohren Bahá’u’lláhs Ruf vernehmen. Wer immer aber ihn heute hört, darf ihn nicht achtlos verhallen lassen. Denn Bahá’u’lláh sagt:
- „Das ist der Tag, an dem das Meer der Gnade Gottes den Menschen geoffenbart worden ist, der Tag, an dem die Sonne der göttlichen Gnade ihre Strahlen über sie ausgebreitet hat, der Tag, an dem die Wolken Seiner Freigebigkeit und Gunst die ganze Menschheit überschatten... O Menschen! Dies ist ein unvergleichlicher Tag, unvergleichlich muß gleichfalls die Zunge sein, welche die Lobpreisung des Ersehnten aller Völker ausspricht, und unvergleichlich muß die Tat sein, die darnach strebt, in Seinen Augen annehmbar zu sein. Die ganze menschliche Rasse hat sich nach
diesem Tag gesehnt, daß dieser vielleicht erfülle, was sich wohl für ihre Stufe ziemt und ihrer Bestimmung würdig ist. Gesegnet ist der Mensch, den die irdischen Angelegenheiten nicht abzuhalten vermochten, Ihn zu erkennen, der der Herr ist über alle Dinge10).“
1) Aus „Mysticism and the Bahá’í Revelation“ S. 13.
2) Vgl. auch Fritz Giese, „Nietzsche — Die Erfüllung — “, Tübingen 1934, S. 180 ff.
3) Iqán, in dieser Zeitschrift, XI, 6, S. 63.
4) Tablet an den Geistigen Rat der Bahá’í von New York.
5) Verb. Worte, Pers. Nr. 74.
6) In dieser Zeitschrift, XV, 1, S. 1 und 9, S. 67.
7) Ebenda, XIV, 10, S. 82.
8) Ebenda, XIV, 10, S. 84.
9) Aus „Ansprachen von ‘Abdu’l-Bahá Abbas in Paris“, Stutgart 1921, S. 145.
10) In dieser Zeitschrift, XV, 10, S. 73/74.
Ein Weltglaube[Bearbeiten]
Studien in den Lehren Bahá’u’lláh’s
III. Die Einheit der Propheten
Von Ruhi Afnán1)
Bahá’u’lláh stellt das Vorhandensein dreier Welten fest: 1. die Welt Gottes oder die
Göttliche Wesenheit; 2. die Welt der Propheten, sonst auch bekannt als die Welt des
Göttlichen Willens oder die Welt des Wortes; 3. die Welt der Schöpfung. Die Welt der
Propheten ist die Brücke über die Kluft, die zwischen den beiden andern Welten besteht,
und bildet die Grundlage unseres sittlichen und geistigen Lebens.
Das besondere Charakteristikum, das die Lehren der Propheten von philosophischen Richtungen schon seit den Tagen der Griechen unterschied, ist das: während die letzteren die dualistische Auffassung des Seins vertraten und sie zusammen mit den unlöslichen Problemen, die sich aus deren logischen Folgerungen ergaben, den ihnen seither gefolgten Denkern zum Vermächtnis machten, haben die Propheten Gottes beharrlich an dem Vorhandensein dreier völlig unterschiedlicher Welten der Wirklichkeit festgehalten.
‘Abdu’l-Bahá schrieb in einem Seiner Tablets folgendes: „Kurz, sie (die Gnostiker) begrenzen das Sein auf Gott und die Geschöpfe; ihre innere Schau ist Gott und ihre äußere Form ist das Geschöpf. Die Wirklichkeit ist die See und die Form sind ihre Wogen. Anders ist es bei den Propheten, die das Vorhandensein dreier Welten bewiesen haben: die Welt Gottes, die Welt des Befehles und die Welt der Schöpfung. Gott ist eine unvorstellbare Wesenheit, die in keiner Weise erklärt werden kann. Sie ist geheiligt und erhaben über alle Attribute und Eigenschaften. Sie hat weder Namen noch Zeichen. ‚Die Pfade zu Ihm sind verschlossen und die Bitte, Ihn zu erreichen, wird verweigert. Sein Beweis sind Seine Zeichen und Seine Bestätigung bezeugt Sein Dasein.‘
„Die Welt des Befehls ist die Stufe des Urwillens, eine allumfassende Wirklichkeit,
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ausgegossen in zahllose Formen. Das Meer des Willens ist die Welt des Befehls.
Solche Wesen sind, was ihr Dasein anbelangt, durch Gott wirklich geworden, das heißt durch Seine schöpferische Macht. ‚Wünscht Er ein Ding zu erschaffen und sagt sei! so wird es sein.‘
Geistige Schöpfung ist Wiedergeburt, sie ist höchste Führung, ewiges Leben, Erlangung allumfassender Eigenschaften, die Erwerbung der alles einschließenden göttlichen Vollkommenheiten und Fortschritt auf allen Stufen menschlicher Fähigkeiten.
Diese geistige Schöpfung ist in Erscheinung getreten als ein Ergebnis des Kommens der Manifestationen Gottes in der Welt der Möglichkeit. ‚Sind wir mit der ersten Schöpfung dahingegangen? Doch zweifeln sie hinsichtlich einer neuen Schöpfung2).‘ ‚Ist denn jemand, der tot war und wir ihn lebendig gemacht und ihm ein Licht gegeben, um damit unter den Menschen zu wandeln, gleich dem, der im Finstern ist und nicht heraus kann3)?” Ähnlich ist in der heiligen Bibel geschrieben: ‚Was vom Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was vom Geist geboren ist, ist Geist4).‘ Aus dieser Erklärung suche die wahre Lösung deiner Frage.
So treten die Dinge durch die schöpferische Macht Gottes in Erscheinung. Sie sind nicht Seine Offenbarungen noch die Fleischwerdung Seiner Wirklichkeit. Auch wird die Göttlichkeit nicht erworben. Der Zweck der Welt der Möglichkeit ist deshalb, zur Stufe des Daseins zu gelangen, und dieses Dasein ist verursacht durch Gottes unendliche göttliche Güte. Neuschöpfung und Wiedergeburt sind Fortschritt in den Stufen göttlicher Vollkommenheiten, die Übung menschlicher Fähigkeiten und der Aufgang des Lichtes Gottes5).“
Auf die Geschichte des Logosbegriffs einzugehen, wie er in den verschiedenen philosophischen Systemen seit der Zeit Heraklits gebraucht wurde, ist eine ermüdende Aufgabe, die unserer Absicht wenig dienlich wäre. Es genügt zu sagen, daß die Lehre von drei verschiedenen Seiten aus betont wurde: der metaphysischen, der sittlichen und der geistigen.
Denen, welche die Lehre metaphysisch betrachten, erblicken im Logos das tätige Lebenselement der schöpferischen Kraft Gottes. Ein Gott, so folgern sie, der übersinnlich und unveränderlich ist, kann nicht die uranfängliche Ursache werden, denn Verursachung bedarf notwendig der Tätigkeit, und Tätigkeit kann sich nicht gut auf eine ewige, unveränderliche Wirklichkeit beziehen. So ist der Logos in gewissem Sinn nicht unterscheidbar von Gott, er ist Sein unerläßliches tätiges und schöpferisches Element.
Diese Lehre vom Logos würde unsere sittlichen und geistigen Vorstellungen auf eine feste und sichere Grundlage gebracht haben, wenn sie so unversehrt erhalten geblieben wäre, wie sie im Evangelium ausgedrückt ist; aber falsche Auffassungen, die zum Teil von einem Mangel an geistigem Verstehen herrührten, schlichen sich allmählich ein und verdunkelten ihre grundlegende Wahrheit bis zum heutigen Tage, wo sie allgemein als eine bloße metaphysische Abstraktion zur Überwindung gewisser theoretischer Schwierigkeiten angesehen wird.
Die wahre Bedeutung dieser Auffassung wäre erhalten geblieben, wenn zwei der in ihrer urchristlichen Form inbegriffenen Gedanken ferngehalten worden wären, nämlich: 1. wenn der Logosbegriff erhalten geblieben wäre als eine von der über alle Vorstellungen erhabenen göttlichen Wesenheit verschiedene Wirklichkeit, und so dazu erschaffen, das Bindeglied zwischen Gott und der Welt der Schöpfung zu bilden; 2. wenn der Logosbegriff nicht beschränkt und in eins gesetzt worden wäre auf und mit der Person Jesu, sondern mit der Wirklichkeit des Christus oder des Messias, die in allen Propheten in Erscheinung tritt.
Solche Anschauungen waren dem frühen Christentum nicht fremd. Wenn wir auch an der Genauigkeit in dem Bericht des Johannes über die wirklichen Worte Christi Zweifel hegen mögen, so können wir doch über eines sicher sein, nämlich, daß Johannes ein Christ war und daß er die Ansicht seiner Zeitgenossen zum Ausdruck brachte, als er sagte: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.“
Obgleich es in den Evangelien keine Stelle
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gibt, die in genauen und unmißverständlichen Ausdrücken festlegt, daß der Geist
Christi unterscheidbar ist von der Wesenheit Gottes, so sehen wir doch Jesus ständig
darauf hinweisen als den Vertreter Gottes auf Erden, der immer im Namen des Vaters
spricht.
Es ist Bahá’u’lláh und ‘Abdu’l-Bahá vorbehalten geblieben, diese ganze Frage vollkommen zu erklären und diese grundlegenden Wahrheiten festzulegen, welche die bruchstückweisen Lehren Jesu Christi nur andeuten.
In den Schriften und Aussagen der Propheten, besonders der späteren, deren Schriften uns mehr oder weniger unversehrt erhalten blieben, können wir den Gedanken entdecken, daß es zwei Schöpfungen gibt, denen der Mensch in dieser Welt unterworfen ist. Durch die erste Schöpfung erlangt der Mensch ein leibliches Sein und durch die zweite erwirbt er ein geistiges und sittliches Bewußtsein. Diese zweite Schöpfung wird auch Wiedergeburt genannt, die Auferstehung vom Tod und die Erlangung geistigen Lebens. Es ist ein neues Bewußtsein, das über des Menschen leiblichem Sein gelegt ist, denn er kann wohl leiblich leben und geistig tot sein. Der geistig erweckte Mensch ist der, welcher vom Fleisch geboren und hernach wiedergeboren ist vom Leben des Geistes.
Stellt zum Beispiel folgender Ausspruch Jesu nicht das Vorhandensein und die Wirklichkeit dieser beiden Schöpfungen fest: „Ich bin die Auferstehung und das Leben, wer an mich glaubt, der soll auch nach dem Tode leben. Und wer in seinem Leben an mich glaubt, soll niemals sterben6).“ Ähnlich sagt Muḥammad im Qu’rán: „Reiset im Lande umher und schauet, wie Er die Schöpfung hervorgebracht, hernach wird Er ihr eine andere Geburt geben7).“
In einem Seiner Tablets sagt ‘Abdu’l-Bahá: „Gott in Seiner erhabenen Heiligkeit übersteigt alle irdischen Zustände, Unterscheidungen, Kennzeichnungen und selbst das Verstehen erschaffener Wesen. Es ist vielmehr der Urwille, vergleichbar den Segnungen und den Strahlen der Sonne, der die Ursache des Erscheinens und Sichtbarwerdens der erschaffenen Dinge ist8).“
Das Licht, das von den Propheten ausstrahlt, spricht Bahá’u’lláh, scheint auf alle Dinge, aber ein Gegenstand kann die Kraft und Schönheit dieses Lichtes nur zurückstrahlen und Bedeutung erlangen entsprechend dem Ausmaß seiner angeborenen oder erworbenen Fähigkeiten. Da der Mensch das Edelste von Gottes Schöpfung ist, da er als ein vollkommener Spiegel wirken kann, deshalb kann er das Licht und die Eigenschaften, wie sie durch die Propheten geoffenbart werden, in solcher Art, widerspiegeln, wie es kein anderes Geschöpf vermag.
Eine solche Auffassung von der Wirklichkeit der Propheten stellt eine grundlegende
Wesensähnlichkeit zwischen ihnen und Gott fest. Genau so wie die vom Spiegel
zurückgestrahlte Sonne mit vollem Recht als die gleiche Sonne bezeichnet werden kann, so
kann der Prophet von sich sagen, daß Er Gott ist. Von solchem Teilhaben an den göttlichen
Eigenschaften rührt es her, daß Jesus Christus sagte: „Ich und der Vater sind
eins9)“ und Muḥammad ausrief: „Er ist ich und ich bin Er.“ In Seinem Tablet an
Muḥammad Sháh schrieb der Báb: „Ich bin der Erste Punkt, aus dem alle erschaffenen
Dinge hervorgegangen sind... Ich bin das Antlitz Gottes, Dessen Glanz niemals verdunkelt
werden kann, das Licht Gottes, Dessen Strahlen nie verschwinden ...“ In noch bewegterer
Sprache schreibt Bahá’u’lláh im Suriy-i-Haykal: „Nichts ist in Meiner Schönheit zu sehen
als Seine Schönheit und in Meinem Wesen nur Sein Wesen, und in Meinem Selbst nur
Sein Selbst, und in Meiner Bewegung nur Seine Bewegung, und in Meiner Ergebung
nur Seine Ergebung und in Meiner Feder nur Seine Feder, der Mächtige, der
Allgepriesene. Es ist in Meiner Seele nichts anderes zu finden als die Wahrheit und in
Meinem Selbst kann nichts erblickt werden als Gott.“ In einem andern Tablet, in dem
Er zwischen Seiner menschlichen und göttlichen Natur unterscheidet, sagt Bahá’u’lláh:
„Wenn ich, o Mein Gott, die Beziehungen überdenke, die Mich an Dich binden, muß ich
allen erschaffenen Dingen zurufen: ‚wahrlich, Ich bin
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Gott!‘ und wenn ich Mein eigenes Selbst betrachte, siehe, so finde ich es niedriger als
Staub.“
„O Salmán! Das Tor der Erkenntnis des Urewigen Wesens war von jeher verschlossen und wird für immer vor dem Angesicht der Menschen verschlossen sein. Keines Menschen Begreifen wird jemals zu Seinem heiligen Hofe Zutritt gewinnen. Als ein Zeichen Seiner Barmherzigkeit jedoch und als ein Beweis Seiner göttlichen Gnade hat Er den Menschen die Tagesgestirne Seiner göttlichen Führung, die Sinnbilder Seiner göttlichen Einheit geoffenbart und hat die Erkenntnis dieser geheiligten Wesen als gleichbedeutend mit der Erkenntnis Seines eigenen Selbst bestimmt. Wer auch immer sie erkannt hat, der hat Gott erkannt. Wer immer auf Ihren Ruf horcht, hat auf die Stimme Gottes gehorcht, und wer immer für die Wahrheit Ihrer Offenbarung Zeugnis ablegt, hat für die Wahrheit von Gott Selbst Zeugnis abgelegt. Wer immer sich von Ihnen abwendet, hat sich von Gott abgewandt, und wer auch an sie nicht glaubt, hat an Gott nicht geglaubt. Jeder von Ihnen ist der Weg Gottes, der diese Welt mit den himmlischen Reichen verbindet, und ist die Fahne Seiner Wahrheit für jeden in den Reichen auf Erden und in den Himmeln10).“
Weil diese Propheten nun einerseits Offenbarungen der göttlichen Eigenschaften sind und andererseits der Welt des Menschen angehören, bilden sie das erwünschte Bindeglied zwischen dem unbegreifbaren Gott und der Menschheit. So werden sie der Kanal, durch welchen wir Gott und Seinen Willen erkennen können. Wir können zu Ihnen aufblicken als den wahren Ebenbildern Gottes, als der Quelle der Güte, als wahre Vorbilder, als das Ziel unserer religiösen Verehrung und als die liebevollen Lehrer unseres geistigen und sittlichen Lebens.
Bahá’u’lláh sagt: „Die Absicht, die der Offenbarung jedes himmlischen Buches, ja jedes göttlich geoffenbarten Verses zu Grunde liegt, ist, alle Menschen mit Rechtschaffenheit und Verständnis auszustatten, so daß Frieden und Ruhe fest unter ihnen hergestellt sein möge. Was auch immer die Herzen der Menschen festigt, was ihre Stufe erhöht oder ihre Zufriedenheit fördert, ist in den Augen Gottes annehmbar. Wie erhaben ist die Stufe, die der Mensch erreichen kann, wenn er nur erwählt, seine hohe Bestimmung zu erfüllen.“
Der Mensch ist in diese Welt geboren, begabt mit schlummernden und unendlichen Möglichkeiten mit der Aufgabe, diese zur Fülle zu entwickeln. Bei diesem Erziehungsvorgang bedarf er des Rats und der Führung eines liebenden Lehrers, der über den herrschenden sozialen Auffassungen steht, der nicht durch soziale Zeitströmungen fortgerissen wird, der imstande ist, sowohl seine unmittelbare Umgebung als auch die Zustände der ganzen Welt neu zu gestalten und der gleichzeitig selbst geleitet wird durch ein inneres und unbeirrbares göttliches Licht.
Gott, Der uns schuf, liebt uns, und weil Er uns liebt, wünscht Er unseren Fortschritt. Deshalb sandte Er uns Seine Propheten und verlieh ihnen die nötige Kraft, uns über unseren Zustand zu erheben, die Mächte des Bösen zu überwinden und uns den wahren Pfad der Erlösung und der geistigen Erhöhung zu bereiten. Die Propheten wirken jedoch als geistige Erzieher nicht nur in dieser Welt, in allen Welten vielmehr, die der menschliche Geist auf seinem Weg zum Fortschritt durchmißt, erscheinen Propheten und helfen der Entwicklung des Menschen.
Eine neue Religion wird deshalb immer dann ins Dasein gerufen, wenn die vorausgegangene zu alt geworden ist, um noch irgend einen bemerkenswerten und heilsamen Einfluß auf die Gesellschaft auszuüben, wenn immer sie, mit Worten Jesu ausgedrückt, gleich dem Salz geworden ist, das seinen Geschmack verloren hat. In einem Seiner Tablets sagt ‘Abdu’l-Bahá: „Diese Güte und große Gelegenheit wird enden und dieser strahlende Morgen wird versinken zur dunklen Nacht. Wenn ihr die Welt in diesem Zustand vorfindet, so wisset und seid versichert, daß der Tag der Gewißheit nahe ist, daß das Licht des gnädigen Gottes bald den Horizont erhellen und der Herr über den dunklen Wolken erscheinen wird.“
Wie töricht ist deshalb die von den meisten Anhängern der verschiedenen Religionen
vertretene Ansicht, daß mit der Ankunft ihres Propheten die Offenbarung aufgehört
habe, daß ihre Religion „die absolute Religion“ sei, das von Gott an den Menschen
gerichtete Schlußwort. Nach Bahá’u’lláh ist es
[Seite 79]Ein Weltglaube
Gotteslästerung, „zu glauben, daß jede Offenbarung zu Ende sei, daß die Tore der
göttlichen Gnade verschlossen seien, daß vom Tagesanbruch der ewigen Heiligkeit keine
Sonne wieder aufgehen soll, daß das Meer der immerwährenden Güte für immer ruhig
geworden sei und daß aus dem Heiligtum der altehrwürdigen Herrlichkeit die Gesandten
Gottes aufgehört hätten, geoffenbart zu werden.“
Wenn wir unter der Religion jenen geistigen Bereich verstehen, der sowohl sittliche und soziale Gesetze als auch Glauben und Gefühlsregungen umfaßt, die Gott zur geistigen Entwicklung des Menschen schuf, dann ist alles, was die Propheten vollbringen, dazu bestimmt, jenen Bereich zu erneuern und ihn gesünder und kraftvoller zu machen. Die Propheten kommen nicht in die Welt, um miteinander wetteifernde Einrichtungen zu schaffen und einander ihre Anhänger abspenstig zu machen. Sie sind alle die Diener derselben Sache, Offenbarer derselben urewigen Religion Gottes, die unter den Händen der Menschen dauernd verfälscht und verdunkelt wird. Darum sagte Jesus: „Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ Er kam nicht, die Religion Moses’ abzuschaffen, sondern ihr neues Leben und neuen Geist einzuflößen, sie in der Änderung und Emporhebung des menschlichen Herzens wirksamer zu machen.
Obgleich nun die Propheten nicht dasselbe Maß ewiger Wahrheiten offenbaren, noch dieselben sozialen Gesetze und Grundsätze aufrichten, ist doch ihre Wirklichkeit dieselbe. Sie alle offenbaren das gleiche Wort Gottes; sie nehmen alle die gleiche Mittlerstufe zwischen dem unbegreifbaren Gott und dem Menschen ein; sie sind alle die Schöpfer unseres geistigen und sittlichen Lebens. Im Iqán schreibt Bahá’u’lláh folgendes: „Es ist dir klar und offenbar, daß alle Propheten die Tempel der Sache Gottes sind, die bei ihrem Erscheinen in verschiedene Gewandung gekleidet sind. Wenn du mit scharfsinnigen Augen beobachtest, wirst du sie alle in demselben Heiligtum wohnend finden, sich erhebend zum gleichen Himmel, sitzend auf dem gleichen Thron, die gleiche Sprache sprechend und den gleichen Glauben verkündend. Solches ist die Einheit jener Wesenheiten des Seins, jener Lichtträger unendlichen und unermeßlichen Glanzes. Sollte darum eine der Manifestationen der Heiligkeit verkünden und sagen: ‚Ich bin die Wiederkehr aller Propheten‘, wahrlich, Er spräche die Wahrheit.“
Auf diese unter den Propheten bestehende Einheit ist es zurückzuführen, daß jeder von ihnen die Wahrheit der Sendung derer, die ihm vorausgingen, annimmt und das Kommen zukünftiger Propheten voraussagt. Um diese Wahrheit festzugründen, sagte Jesus: „Euer Vater Abraham frohlockte, meinen Tag zu sehen; er hat ihn auch gesehen und war erfreut11).“ Beachtet, wie ehrfürchtig Er von Mose und Seinen Gesetzen sprach, wie Er einschärfte, daß der Zweck Seiner eigenen Mission war, die mosaische Sendung nicht aufzuheben, sondern zu erfüllen. Sagte Er nicht überdies: „Und Ich will den Vater bitten, und Er wird euch einen andern Helfer geben, damit Er ewig bei euch bleibe12).“ „Der Helfer aber, der Heilige Geist, den der Vater senden wird in Meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch erinnern an alles, was Ich euch gesagt13).“ Mit gleicher Verehrung erwähnt Muḥammad im Qur’án sowohl Mose und Jesus als auch die vielen Propheten, die vor Ihnen erschienen waren. „O Volk! Ich schwöre bei dem einen wahren Gott! Dies ist das Meer, aus dem alle Seen hervorgingen, mit dem jede derselben zuletzt vereint sein wird. Aus Ihm sind alle Sonnen hervorgegangen und zu Ihm werden sie alle zurückkehren. Durch Seine Macht trugen die Bäume der Göttlichen Offenbarung ihre Früchte; jeder derselben wurde herniedergesandt in der Gestalt eines Propheten, eine Botschaft bringend für Gottes Geschöpfe in jeder der Welten, deren Zahl Gott allein in Seinem allumfassenden Wissen ermessen kann. Dies vollbrachte Er durch die Wirkung nur eines Buchstabens Seines Wortes, das durch Seine Feder geoffenbart wurde — eine Feder, die Sein bewegender Finger geführt hat und die unterstützt wird durch die Macht der Wahrheit Gottes14).“
Wir haben nun gesehen, daß alle Propheten die Offenbarungen von Gottes Wort sind,
daß sie alle mit der gleichen Absicht in die
[Seite 80]
Welt kommen, nämlich der geistigen Entwicklung des Menschen zu helfen. Ihre
Aufgabe ist, die urewige Religion Gottes zu erneuern, und darum anerkennen sie alle
Propheten, die vor ihnen erschienen und verkünden das Kommen solcher in der Zukunft.
Deshalb sollten wir eingestehen, daß sie Angehörige des gleichen Geschlechts geistiger
und sittlicher Erzieher sind, durch die Hand der Vorsehung dazu bestimmt, der
Höherentwicklung des Menschen in dieser und den Myriaden kommender Welten Hilfe zu leisten.
Zu behaupten. daß irgend einer der Propheten einzig und allein die Offenbarung des Wortes Gottes sei, würde bedeuten, diese unendliche Wirklichkeit zu begrenzen und gerade entgegengesetzt zu ihren ausdrücklichen Lehren zu handeln. Was anders konnte Jesus meinen, wenn Fr sagte: „Wahrlich, wahrlich, Ich sage euch, ehe Abraham war, bin Icht15)“ Gleicherweise: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort16).“ Tun diese Verse nicht kund, daß die Wirklichkeit Jesu ewig war, daß Sein Erscheinen in dieser Welt vor zweitausend Jahren nur eine Seiner vielen Erscheinungen ist? Daß die Wirklichkeit in Ihm, der Christus in Ihm, eine allumfassende und ewige Wirklichkeit ist?
Das Wort ist eine allumfassende Wirklichkeit. Es ist zeitlos und ewig, denn es war immer und wird immer sein. Es kann nicht Gott gleich gesetzt werden, denn es hat seinen Ursprung in Ihm. Es ist eine reine Erscheinung jener göttlichen Wesenheit und sein wahres Dasein gründet sich auf Ihn. Andererseits ist es Gott in dem Sinne, den Jesus von Gott meinte, als Er sagte: „So er die Götter nennt, zu welchen das Wort Gottes geschah17).“ Mit anderen Worten, das Wort ist Gott in dem Sinne, daß wir in ihm die Vollkommenheit aller göttlichen Eigenschaften finden, Seine ganze Macht und Erhabenheit.
Wir können die Propheten erkennen: wir sollten die Propheten erkennen und sie wiedererkennen, wenn immer sie in der Welt erscheinen. Aber ebenso wie kein Angehöriges einer niederen Stufe des Daseins die Wirklichkeit eines Wesens in einer höheren Stufe voll erfassen kann, können auch wir nie die volle Wirklichkeit des Wortes Gottes begreifen. Wir können die Propheten nur in dem Ausmaße erkennen, wie sie sich uns offenbaren.
Das einzige Band, die einzige Vermittlung, die zwischen diesem absolut unbegreiflichen Gott und dem Menschen bestehen, ist das Wort, diese allumfassende Wirklichkeit, die ungefähr alle tausend Jahre, zu Zeiten großer Weltkrisen, wenn das geistige Leben des Menschen auf seinem größten Tiefstand angelangt ist und soziale Probleme den Scharfsinn des Menschen herausfordern, in der Person eines Propheten erscheint und die Auferstehung vom geistigen Tod und die Wiedergesundung der Gesellschaftsordnung bewirkt. Nicht einer allein von ihnen, sondern alle Propheten bilden dieses Band; sie alle sind der wahre, geheimnisvolle Pfad, der den Menschen zu Gott führt, und sind das Leben, durch das wir wiedergeboren werden. Sie sind alle die Kanäle der Ausgießung der göttlichen Gnade, durch die wir errettet werden.
„Die Träger der Vertrauenswürdigkeit Gottes sind den Völkern der Erde offenbar gemacht als die Erklärer einer neuen Sache und die Offenbarer einer neuen Botschaft. Insofern als diese Vögel des himmlischen Thrones alle herniedergesandt sind von dem Himmel des Willens Gottes, und als sich alle erhoben, Seinen unwiderstehlichen Glauben zu verkünden, werden sie angesehen wie eine Seele und die gleiche Person. Denn sie trinken alle aus dem einen Becher der Liebe Gottes und haben alle teil an der Frucht des gleichen Baumes der Einheit18).“
1) Entnommen und ins Deutsche übertragen aus „World Order“,
November 1935, Bd. 1, Nr. 8, S. 291 ff.
2) Qu’rán, Kaf 15.
3) Qu’rán, Hausvieh 122.
4) Joh. 3, 6.
5) Tablets of ‘Abdu’l-Bahá, veröffentlicht in Ägypten, Band II, Seite 139.
6) Joh. 11, 25 und 26.
7) Qu’rán 29, 19.
8) Tablets of ‘Abdu’l-Bahá, veröffentlicht in Ägypten, Bd. III, Seite 334.
9) Joh. 10, 30.
10) Gleanings from the Writings of Bahá’u’lláh.
11) Joh. 8, 56.
12) Joh. 14, 16.
13) Joh. 14, 26.
14) Bahá’u’lláh.
15) Joh. 8, 58.
16) Joh. 1, 1.
17) Joh. 10, 35.
18) Gleanings from the Writings of Bahá’u’lláh.
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