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SONNE DER WAHRHEIT | ||
Organ der Bahá’í in Deutschland und Öesterreich |
Heft 6 | 16. Jahrgang | August 1936 |
Die Bahá’í-Lehre,[Bearbeiten]
die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.
Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.
Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.
Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.
Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“
Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.
Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.
Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.
SONNE DER WAHRHEIT Organ der Bahá’í in Deutschland und Österreich Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198 Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo Verwaltung: Paul Gollmer • Begründet von Alice Schwarz-Solivo Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark |
Heft 6 | Stuttgart, im August 1936 Asmá — Namen |
16. Jahrgang |
Inhalt: Erfüllte Prophezeiungen. — Nabíl’s Erzählung: Aus Kapitel XII: Die Reise des Báb von Káshán nach Tabríz. — Erinnerungen an ‘Abdu’l-Bahá. — Kulturperioden. — Vom Schicksal und freien Willen.
Einheit ist Liebe. Ohne Liebe kann keine Einheit erreicht werden. Darum strebet mit allen Kräften danach, euch mit Liebe zu erfüllen. Liebe ist unaufhörliches Leben, ist höchste Vitalität.
‘Abdu’l-Bahá*)
*) Aus „Göttliche Lebenskunst“, 5. Kapitel, in dieser Zeitschrift, XIII, S. 98.
Erfüllte Prophezeiungen[Bearbeiten]
Ins Deutsche übertragen aus „L’Epître au Fils du Loup“, édition Champion, Paris 1913, S. 142—181
(Fortsetzung)
Johannes, des Zacharias Sohn, hat gesagt, was der Ankündiger1) gesagt hat:
„Tut Buße, da das Königreich der Himmel nahe: wahrlich, ich taufe euch mit dem Wasser der
Reue. Jener aber, Der nach mir kommen wird, ist mächtiger als ich, und ich bin nicht würdig,
Seine Schuhe zu tragen.“ Ebenso hat der Ankündiger in Demut und Unterwürfigkeit geäußert,
daß der ganze Bayán eines von den Blättern Seines Paradieses darstelle.
Gleicherweise hat Er gesagt: „Ich bin der erste von den Anbetern und rühme mich meiner Beziehung zu Ihm.“ O Völker, trotzdem hat das Volk des Bayán das getan, wovor liebende und mitfühlende Herzen stets bei Gott Zuflucht gesucht haben. Tag und Nacht habe ih mich mit Wissen und vor Augen aller Anhänger der erneuerten Religion2) stets darum gemüht, den göttlichen Befehl hochzuhalten, wogegen dieses Volk an dem hängen blieb, was die Ursache der Schande und der Qualen ist.
Er sagte auch: „Man erkennt Ihn an Seinen eigenen Zeichen, — und zögert nicht, Ihn
anzuerkennen, da ihr im selben Maße, als ihr zaudert, im Feuer der Hölle sein werdet.“
O ihr Widersacher des Bayán! Denkt an diese erhabenen Worte, die dem Aufgang der
Erklärung vom Punkte der Erkenntnis entquollen, und jetzt schenkt Folgendem Gehör:
Er sagt: „An jenem Tage wird die Sonne der Wahrheit das Volk des Bayán verwarnen
und jene Sure des Furqán vorlesen: „Sprich: O ihr Ungläubigen! Ich bete nicht an, was
ihr anbetet, und ihr betet nicht an, was Ich anbete; auch bin Ich nicht mehr Anbeter von
dem, was ihr angebetet habt, und ihr seid nicht Anbeter dessen, was Ich anbete; ihr
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habt eure Religion, und Ich die Meinige.“3) Großer Gott! Trotz diesen deutlichen
Erklärungen, diesen prachtvollen Andeutungen, die zum Vorschein kamen, bleibt jeder bei
seinen abergläubischen Ansichten, bekümmert sich nicht um den Ersehnten und geht Seiner
verlustig! O ihr Besserwisser! Erwachet vom Schlafe der Nachlässigkeit und horchet auf
jene Worte des Ankündigers. Er sagt: „Der Baum4) der Bejahung würde, so er sich
der Offenbarung widersetzte, als Verneiner zählen, und der Baum der Verneinung würde, so
er Ihr entgegeneilte, als Bejaher gelten.“ Gleicherweise sagt Er: „Wenn einer eine
Behauptung aufstellt, deren Beweis ihm nicht gelingt, dann macht keine Einwürfe und seid
nicht betrübt.“5)
Kurz gesagt, Tag und Nacht habe ich die Worte „O ihr Ungläubige!“ gesprochen, die vielleiht dazu gedient hätten, die Menschen aufzuwecken und sie mit der Zier der Rechtlichkeit zu schmücken. Jetzt denkt über jene Worte nach, die den Duft des Jasmin ausatmen. In Seinen Leidensgebeten zu Gott, dem Herrn der beiden Welten, sagt Er: „Ruhm sei Dir, o unser Gott! Sei Zeuge dafür, daß ich durch dieses Buch6) das Bündnis des Viláyat7), Dessen, Den Du bei allen Dingen offenbaren wirst, selbst vor dem Bündnis meines eigenen Viláyat eingegangen bin. Es genügt Dir und jenen, die an Deine Zeichen glauben, wenn Du mein Zeuge bist, und Du wahrlich genügst Dir Selbst; ich verlasse mich auf Dich, und wahrlich, Du bist ausreichend für alle Dinge.“ Und anderswo sagt Fr: „O Sonnen der Spiegel8), ihr blickt auf die Sonne der Wahrheit; wahrlich, euer Dasein hängt von Ihr ab, — so ihr zu denen zählt, die zu sehen vermögen. Ihr alle, ihr gleicht den Fischen, die sich im Wasser des Meeres tummeln, ohne es zu sehen, und ihr fragt noch, wovon ihr abhängig seid!“ Und ebenso sagt Er: „Ich beklage mich bei dir, o Spiegel meiner Großmut, über alle Spiegel, die mich durch ihre eigene Farbe betrachten.“
Diese Ermahnungen sind von der Quelle des Befehls des Freigebigen für A. Siyyid Javád, bekannt unter dem Namen Karbalá’í, geoffenbart worden. Gott ist Zeuge, und die Welt weiß, daß dieser Siyyid Partei für mich ergriffen und sogar eine weitläufige Schrift gegen meine Widersacher verfaßt hat. Zwei Tablets mit Beweisen bezüglich der Offenbarung Gottes und mit der entscheidenden Versicherung, daß das, was außerhalb von Ihr ist, Ketzerei darstellt, wurden von uns an Jináb Ḥaydar-‘Alí gesandt; und die Handschrift des Siyyid9) ist bekannt und für alle gut lesbar. Der Zweck von alldem ist, daß vielleicht auf diese Weise die Leugner zum Euphrat der Bejahung gelangen und die Gegner vom Licht der Anerkennung erleuchtet werden. Gott ist Zeuge, daß ich keine andere Absicht hatte, als die, das göttliche Wort zu verbreiten. Wohl den Rechtschaffenen und wehe den Widerstrebenden! Aber diese Gegner taten sich zusammen und gaben sich Machenschaften hin: so nahmen sie das Bild dieses Siyyid und die einiger anderer, hefteten dann ein jedes dieser Bilder auf ein Blatt und brachten darüber dasjenige von Mírzá Yaḥya an. Kurzum, sie betrieben eifrig all das, was zur Verleugnung der Wahrheit führen konnte. Sprich: „Gott ist gekommen, offenbar wie die strahlende Sonne. Leider ist Er in die Stadt der Blinden gekommen!“ Und jener Siyyid ermahnte die Verneiner, indem er sie zum allerhöchsten Horizonte einlud, aber er machte keinerlei Eindruck auf die weichen Steine10). Die Leugner sagten Dinge über ihn aus, die ihn zu Gott — verherrlicht sei Seine Herrlichkeit! — seine Zuflucht nehmen ließen: und gleichwohl liegen die Bittschriften, die er abgesandt hat, am Heiligen Orte vor. Gesegnet ist das Volk der Rechtlichkeit!
Jetzt beachtet, wie der Erste Punkt Sich über die Spiegel beschwerte: vielleicht wird
dies dazu verhelfen, die Menschen zu erwecken und sie zu veranlassen, sich von der
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Linken der Einbildungen und des Aberglaubens zur Rechten des Glaubens und der
Gewißheit zu wenden. Auf diese Weise werden sie vielleicht Den erkennen, Dem gegenüber
sie mit Schleiern behaftet sind, trotzdem Er eigens zu diesem allerhöchsten Werk aus dem
Nichtdasein ins Dasein gekommen ist. Und gleicherweise sagt Er: „O mein Gott, gib, daß
dieser Baum11) ganz für Ihn12) sei, auf daß an diesem Baume die Früchte
zum Vorschein kommen, die Gott für Den geschaffen, Den Gott zu einer Offenbarung Seines
Willens hat machen wollen. Wahrlich, ich schwöre bei Deiner Herrlichkeit, daß ich nicht will,
daß es an diesem Baume Äste, Blätter, Früchte gibt, die Ihn am Tage Seiner Offenbarung
nicht anbeten und die Ihn nicht, wie es sich ziemt, durch Ihn verherrlichen: denn Seine
Offenbarung ist hoch erhaben, und Seine Überstrahlung13) steht auf dem höchsten
Grad, dem höchsten Grad! Und wenn Du, o mein Gott, an diesem Baume ein Blatt, eine Blüte
oder eine Frucht siehst, die Ihn am Tage Seiner Offenbarung nicht anbeten, dann brich
sie von diesem Baum, o Gott, denn sie wollen mich nicht haben und bekehren sich nicht zu
mir!“
O Volk des Bayán! Bei Gott! Ich habe nie anderes im Sinn gehabt, als das zu offenbaren, womit ich beauftragt war: lauschet ihr mit dem Ohre der Weisheit, so werdet ihr aus allen meinen Gliedern, aus meinem ganzen Körper, aus meinen Adern, sogar aus meinen Haaren vernehmen, was die Ursache ist für die Gottesfurcht und die Anziehung der (großen) Gemeinschaft und der erschaffenen Menschenwelt.
O Hádí, die Anstrengungen der Unwissenden von ehemals haben die armen Menschen vom geraden Weg abgebracht. Denk an die schiitische Sekte: zwölfhundert Jahre lang haben sie gesagt: „O Qá'im!“14); und zu guter Letzt haben alle gegen Ihn15) ein Todesurteil gefällt; sie haben Ihn gemartert, während sie gleichzeitig Gott — gerühmt sei Seine Herrlichkeit! —, das Siegel der Propheten16) und dessen Vollstrecker17) erwähnten, bekräftigten und bekannten. Heute muß man ein wenig nachdenken, um erkennen zu können, welches die Sache ist, die vermittelnd zwischen Gott und das Geschöpf trat, und welche Handlung den Grund für den Widerspruch und die Verleugnung abgab.
O Hádí, wir haben die Klage der Mambare18) vernommen, als die ‘Ulamá19) zur Zeit der Offenbarung von ihrem Hochstand herab gemäß dem predigten, was die Menge sagte, indem sie die Wahrheit verwünschten und über diesen Juwel des Daseins und Seine Gefährten das brachten, was das Auge der Welt nie gesehen, was das Ohr der Welt nie gehört hatte. Nunmehr hast du als Nachfolger und Spiegel20) die Menschen ermahnt und ermahnst sie immer noch21), obwohl du von der Sache nichts gewußt hast, noch etwas von ihr weißt; denn du warst nie mit mir zusammen.
Keinem der Gläubigen ist unbekannt, daß Siyyid Muḥammad22) einer meiner Diener war in den Tagen, da wir uns gemäß dem Wunsch der kaiserlich ottomanischen Regierung jenem Lande zuwandten. Er war unser Reisegefährte; dann benahm er sich in einer solchen Weise, daß, bei Gott, die allerhöchste Feder geweint und das Tablet gewehklagt hat. Auch haben Wir ihn fortgejagt. Er begab sich zu Mírzá Yaḥyá und tat alsdann, was nie ein Tyrann getan hat. „Wir haben ihn entlassen mit den Worten: ‚Geh fort, o Achtloser!‘ “ Nachdem dieses Wort geoffenbart war, begab er sich in das Kloster der Derwische, wo er blieb, bis der Befehl zur Abreise kam.
O Hádí, sei nicht die Ursache neuen Aberglaubens; begnüge dich nicht zum zweiten
Male mit einem sektiererischen Bau wie dem der Schiiten. Denk an die Menge des vergossenen
Blutes, vor allem du, der du den Anspruch erhebst, ein Gelehrter zu sein!
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Auch ihr, die schiitischen 'Ulamá im allgemeinen, habt in den ersten und den letzten Jahren Gott verflucht und habt das Urteil zum Vergießen Seines reinsten Blutes ausgesprochen.
Fürchte Gott, o Hádí! Überlaß die Menschen nicht aufs neue der Verhaftung mit dem früheren Aberglauben. Fürchte Gott und zähle nicht zu den ungerechten Wesen. Dieser Tage habe ich sagen hören, du bemühtest dich, den Bayán umzuarbeiten und ihn dadurch zu verderben: ich bitte dich bei der Liebe Gottes, diesen Gedanken fallen zu lassen. Dein Verstand und deine Urteilskraft sind nicht besser und nicht größer als die des Fürsten der Welt23). Gott ist Zeuge und weiß, daß ich den Bayán nicht gelesen und seine Lehrsätze nicht durchgesehen habe. Alles, was bekannt, klar und offenbar ist, ist das, daß der Báb den Bayán zu Seinem Hauptbuch gemacht hat. Fürchte Gott und mische dich nicht in Angelegenheiten, die dir nicht zustehen!
(Fortsetzung folgt)
1) Der Báb.
2) Womit die Bábi gemeint sind.
3) Qur’án 59.
4) Bezeichnung für Mensch.
5) Vermutlich Anspielung auf die Behauptungen Subḥí Azal’s.
6) Den Bayán.
7) Stellvertreteramt (Gottes).
8) Von den achtzehn „Buchstaben des Lebens“, den Jüngern des Báb, hatte jeder seinen „Spiegel“, der ihn vertrat und dazu berufen war, ihn nach seinem Hinscheiden zu ersetzen. Für diese „Spiegel“ stellten jene die „Sonnen“ dar, deren Strahlen sie reflektierten.
9) Dem die Tablets von Bahá’u’lláh diktiert worden waren.
10) Wohl so aufzufassen, weil sie zum Gravieren zu weich sind.
11) Seine, des Báb Sache.
12) Man-Yuẓhiruhu’llah.
13) Occultation.
14) Sie warteten auf die Wiederkunft des Propheten, den „Qá'im“ aus dem Geschlechte Muḥammads.
15) Seine Heiligkeit, den Báb.
16) Muḥammad.
17) Die Imáme des Islám.
18) Exoterische Bedeutung: Kanzeln in den Moscheen.
19) Islamische Rechts- und Religionsgelehrte.
20) Ḥájjí Mírzá Hádi Dawlat-Ábádí, Spiegel des Báb, hatte sich den Nachfolgertitel selbst beigelegt.
21) Nämlich zum Widerstand.
22) Ḥáji Siyyid Muḥammad Iṣfáhání war es, der in Adrianopel Mírzá Yaḥyá Subhi Azal gegen Bahá’u’lláh aufstachelte.
23) Báb.
Nabíl’s Erzählung[Bearbeiten]
Übersetzung aus „The Dawn-Breakers“, Nabíl’s Narrative of the early days of the Bahá’í Revelation, New York 1932
Aus Kapitel XII: Die Reise des Báb von Káshán nach Tabríz
Vierzehn Tage1) hielt Sich der Báb an jenem Orte auf. Die Stille, deren Er
Sich in jener lieblichen Gegend erfreute, wurde jäh gestört durch einen Brief, den Muḥammad
Sháh selbst an den Báb schrieb und der in folgenden Worten zusammengefaßt war: „So
sehr wir wünschten, dir zu begegnen, ist es uns nicht vergönnt, angesichts der sofortigen
Abreise aus unserer Residenz, dich in Ṭihrán gebührend zu empfangen. Wir haben daher
unseren Wunsch dahin bestimmt, daß du nach Máh-Kú geleitet wirst, und haben 'Alí-Khán,
dem Burgwart, die nötigen Anweisungen gegeben, dich mit Hochachtung und Rücksicht
zu behandeln. Es ist unsere Hoffnung und Absicht, dich nach unserer Rückkehr zum Sitze der
Regierung hierher zu rufen, zu welcher Zeit wir dann endgültig unser Urteil aussprechen
werden. Wir hoffen, daß wir dir keine Enttäuschung bereitet haben und daß du niemals
zögern wirst, falls irgend welche Mißstände für dich eintreten sollten, diese zu melden.
Wir neigen uns der Hoffnung zu, daß du auch fernerhin für unser Wohlergehn und für das
Gedeihen des Landes beten werdest.“ (Datiert im
Rabí’u’th Thání 1263 d. H.)2).
Ḥájí Mírzá Áqási ist ohne Zweifel dafür verantwortlich zu machen, Muḥammad Sháh
beeinflußt zu haben, eine solche Mitteilung an den Báb zu senden. Er war getrieben
durch ein Gefühl der Angst, dieses beabsichtigte Zusammentreffen könnte ihn seiner in
Staatsangelegenheiten zweifellos überragenden Stellung berauben und ihn zuletzt seiner
Macht entkleiden. Er hegte keine Böswilligkeit oder Abneigung gegen den Báb. So gelang
es ihm schließlich, seinen Herrscher davon zu überzeugen, daß ein so gefürchteter
Gegner in einen entfernten, abgelegenen Winkel seines Reiches zu versetzen sei, und
er konnte dadurch seinen Geist von einem Gedanken, der ihn unablässig beschäftigte,
befreien. Wie unbeschreiblich schwer war sein Fehler, wie traurig sein Irrtum! So wenig
erkannte er in jenen Tagen, daß er durch seine unaufhörlichen Intrigen von seinem
König und seinem Vaterland die unvergleichliche Wohltat einer göttlichen Offenbarung
fernhielt, die allein fähig gewesen wäre, das Land aus dem erschreckenden Zustand
der Erniedrigung, in die es geraten war, zu befreien. Durch diese Handlungsweise
hielt dieser kurzsichtige Minister nicht nur das höchste Instrument, mit dem er hätte
das rasch zerfallende Reich wieder zu Ehren bringen können, von Muḥammad Sháh fern,
sondern er beraubte ihn auch jener geistigen
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Wirkungskraft, die ihn hätte befähigen können, einen unbestrittenen Einfluß auf die
Völker und Nationen der Erde zu gewinnen. Durch seine Torheit, seine übertriebenen und
verräterischen Ratschläge untergrub er das Fundament des Staates, setzte dessen Ruf
herab, erschütterte die Treue seiner Untertanen, ja, brachte sie an den Rand des Elendes.
Da er sich nicht durch das Beispiel seiner Vorgänger warnen ließ, mißachtete er hochmütig
die Bedürfnisse und Interessen des Volkes, verfolgte mit unaufhörlichem Eifer
seine eigenen Ziele nach persönlicher Machtvermehrung und verstrickte sein Land durch
seine Verruchtheit und Überspanntheit in verheerende Kriege mit den Nachbarländern.
.... Er verharrte bei seinen Ansichten, bis er seinen Rang und Reichtum einbüßte und
in Schmerz und Schande versank. Die vielen Besitzungen, die er den ergebenen, dem Gesetz
unterworfenen Untertanen des Sháh mit Gewalt entrissen hatte, die wertvollen Möbel,
mit denen er jene ausgestattet, die vielen Aufwendungen an Arbeit und Geld, die
er zu deren Verschönerung angeordnet hatte, — das alles war für ihn schon zwei Jahre,
nach dem er seinen Erlaß, den Báb zu grausamer Einkerkerung in die unwirtlichen
Berge von Ádhirbáyján zu verbannen, erwirkt hatte, unwiederbringlich verloren. Sein
ganzer Besitz wurde vom Staate eingezogen, er selbst fiel in Ungnade bei seinem Herrscher,
wurde schmählich aus Ṭihrán verbannt und fiel seinem Unglück und seiner Armut
zum Opfer. Aller Hoffnung beraubt und im Elend versunken, siechte er in Karbilá der
Stunde seines Todes entgegen.
Der Báb hatte nun also den Befehl, nach Tabríz zu gehen. Die gleiche berittene Mannschaft unter Muḥammad Big, geleitete Ihn in die nordwestlich gelegene Provinz Ádhirbáyján. Es wurde Ihm gestattet, einen Seiner Freunde und einen Diener aus Seiner Gefolgschaft auszuwählen, die um Ihn, während Seines Aufenthaltes in dieser Provinz, sein würden. Er erwählte Siyyid Ḥusayn-i-Yazdí und Siyyid Ḥasan, dessen Bruder. Er lehnte es ab, die Summe, die Ihm von der Regierung für die Ausgaben der Reise zugewiesen wurde, für Sich Selbst zu verwenden. Alle Zuschüsse, die Ihm vom Staat zuerkannt wurden, schenkte Er an die Armen und Bedürftigen und brauchte für Sich Selbst nur das Geld, das Er als Kaufmann in Búshihr und Shíráz verdient hatte. Da der Befehl ausgegeben war, den Eintritt in die Städte auf dem Wege bis nach Tabríz nicht zu gestatten, zog eine Anzahl von Gläubigen aus Qazvín, die vom Kommen ihres geliebten Führers benachrichtigt waren, hinaus nach dem Dorf Síyáh-Dihán und konnten Ihm dort begegnen.
Einer von ihnen hieß Mullá Iskandar, der von Ḥujjat beauftragt war, den Báb in Shíráz zu besuchen und Seine Sache zu erforschen. Der Báb beauftragte ihn, folgende Botschaft an Sulaymán Khán-i-Afshár, der ein großer Verehrer des verstorbenen Siyyid Káẓim gewesen war, zu bestellen: „Der, dessen Tugenden der verstorbene Siyyid unaufhörlich pries und auf dessen herannahende Offenbarung er ständig hinwies, ist nun geoffenbart. Ich bin jener Verheißene. Erhebe dich und befreie Mich aus der Hand des Unterdrückers!“ Als der Báb diese Botschaft Mullá Iskandar anvertraute, war Sulaymán Khán in Zanján in Vorbereitung nach Ṭihrán zu reisen. Innerhalb dreier Tage erreichte ihn die Botschaft. Er aber verfehlte es dennoch, dem Ruf zu folgen.
Zwei Tage darauf lernte ein Freund von Mullá Iskandar Ḥujjat kennen, der auf Anstiftung der 'Ulamás von Zanján in der Hauptstadt unter Berufung auf den Báb eingekerkert war. Sogleich benachrichtigte Ḥujjat die Gläubigen seiner Vaterstadt, alle Vorbereitungen zu treffen und die nötigen Mittel zu beschaffen, um die Befreiung ihres Meisters zu erwirken. Er riet ihnen dringend an, mit aller Vorsicht vorzugehen und zu versuchen, im gegebenen Augenblick Ihn zu ergreifen und Ihn an einen von Ihm zu bestimmenden Ort zu verbringen. Dies wurde kurzerhand von etlichen Gläubigen aus Qazvín und Ṭihrán übernommen, die sich nach Ḥujjat’s Anweisung auf den Weg machten, um den Plan auszuführen. Sie überfielen die Wachen um Mitternacht und, da diese in festem Schlafe lagen, nahten sie sich dem Báb und baten Ihn, zu fliehen. „Die Berge von Ádhirbáyján haben auch ihre Ansprüche“, war Seine zuversichtliche Erwiderung, als Er ihnen liebevoll nahelegte, ihren Plan aufzugeben und in ihr Heim zurückzukehren.
Als sie sich den Toren von Tabríz näherten, trat Muḥammad Big an den Báb heran
im Gefühl, daß nun die Abschiedsstunde von
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seinem Gefangenen herangekommen war, und bat Ihn, Tränen in den Augen, seine
Mängel und Übertretungen gütigst übersehen zu wollen. Er sagte Ihm: „Die Reise von
Iṣfáhán war lang und schwierig. Ich habe meine Pflicht versäumt, Dir zu dienen, wie
ich hätte sollen. Ich flehe um Deine Vergebung und bitte darum, mir Deinen Segen zu
geben.“ „Sei versichert“, erwiderte ihm der Báb, „daß Ich dich als einen aus Meiner
Herde anerkenne. Alle, die Meine Sache annehmen, werden dich für alle Zeiten segnen
und preisen, werden dein Verhalten loben und deinen Namen hoch halten.“ Die Übrigen
der Wache folgten dem Beispiel ihres Führers und flehten um den Segen ihres
Gefangenen, küßten Seine Füße und sagten Ihm mit Tränen in den Augen ein letztes
Lebewohl. Einem jeden sprach der Báb Seine Anerkennung für die ergebene Aufmerksamkeit
aus und versicherte ihn Seiner Gebete. Ungern. lieferten sie Ihn in die Hände des
Statthalters von Tabríz aus, des Erben des Thrones von Muḥammad Sháh. Allen,
mit denen sie fürderhin zusammentrafen, erzählten diese ergebenen Wächter des Báb und
Augenzeugen Seiner übermenschlichen Weisheit und Macht mit Scheu und Verehrung die
Geschichte der Wunder, die sie gesehen und gehört hatten, und halfen dadurch auf ihre
Weise, die Erkenntnis der neuen Offenbarung zu verbreiten.
Die Nachricht von der bevorstehenden Ankunft des Báb in Tabríz erregte die Gläubigen in dieser Stadt. Sie machten sich alle auf, Ihm zu begegnen, eifrig bestrebt, einem so geliebten Führer ein Willkomm zu bieten. Die Regierungsbeamten, in deren Obhut der Báb übergeben werden sollte, verboten ihnen, heranzukommen und Seinen Segen zu empfangen. Ein junger Mann aber, der sich nicht zurückhalten konnte, eilte barfuß durch das Stadttor und rannte in seiner Ungeduld, das Antlitz des Geliebten zu schauen, Ihm einen halben Farsakh entgegen. Als er bei den Reitern ankam, die dem Zug voranritten, begrüßte er sie freudig, ergriff den Saum der Kleidung eines derselben und küßte in Andacht dessen Steigbügel:
„Ihr seid die Begleiter meines Vielgeliebten“, rief er tränenerfüllt, „ich schätze euch wie meinen Augapfel“. Sein ungewöhnliches Benehmen und seine Ergriffenheit ließ sie staunen. Sie erlaubten ihm gleich seine Bitte, in die Gegenwart seines Meisters zu gelangen. Sobald er diesen sah, stieß er einen Schrei des Frohlockens aus. Er warf sich auf sein Angesicht und weinte in Strömen. Der Báb stieg von Seinem Pferd ab, nahm ihn in Seine Arme, wischte seine Tränen fort und besänftigte die Erregung seines Herzens. Von allen Gläubigen in Tabríz gelang es diesem Jüngling allein, seine Ehrerbietung dem Báb zu bezeigen und den Segen von Seiner Hand zu empfangen. Alle andern sahen sich gezwungen, sich mit einem Blick ihres Geliebten aus der Ferne zufrieden zu geben und mit diesem einen Blick ihre Sehnsucht zu stillen.
Als der Báb in Tabríz einzog, wurde Er in eines der besten Häuser der Stadt geführt,
das zu Seinem Gewahrsam ausersehen war. Eine Abteilung des Náṣirí-Regimentes stand
Wache vor Seinem Haus. Mit Ausnahme von Siyyid Huṣayn und dessen Bruder wurde
weder jemand aus der Öffentlichkeit noch von Seinen Anhängern bei Ihm zugelassen.
Dieses Regiment, das aus Einwohnern von Khamsih zusammengestellt war und das in
besonders hohen Ehren stand, wurde später dazu ausersehen, die Salve auf den Báb
abzufeuern, die Seinen Tod bedeuteten. Die Umstände der Ankunft des Báb hatte die
Einwohner von Tabríz in große Aufregung versetzt. Eine erregte Menschenmenge hatte
sich zusammengedrängt, um Seinen Einzug in die Stadt zu sehen. Die einen kamen aus
Neugier, andere wieder, um sich ernsthaft von der Wahrhaftigkeit der wilden Gerüchte
zu vergewissern, die über Ihn im Umlauf waren, und andere schließlich kamen,
getrieben von ihrem Glauben und ihrer Ergebenheit, um in Seine Gegenwart zu gelangen
und Ihn ihrer Treue zu versichern. Als Er durch die Menschen schritt, erhob sich der
Beifall der Menge von allen Seiten. Die Mehrheit, die Sein Gesicht sahen, grüßten
Ihn mit dem Rufe: „Alláh-u-Akbar3). Andere lobten und priesen Ihn laut
und einige erflehten den Segen des Allmächtigen auf Ihn herab. Andere wieder sah man
voll Ehrerbietung den Staub Seiner Fußstapfen küssen. Derart war der Aufruhr, den
Seine Ankunft hervorrief, daß ein Ausrufer den Befehl
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erhielt, die Volksmenge vor der Strafe zu warnen, die über die komme, die es wagen
sollten, Ihn aufzusuchen: „Wer den geringsten Versuch macht, sich dem Siyyid-i-Báb
zu nähern, so erklang sein Ruf, „oder ihm zu begegnen sucht, dessen Besitz wird sofort
eingezogen und er selbst wird zu lebenslänglichem Kerker verurteilt!“
Am Tag nach der Ankunft des Báb, wagte dennoh Ḥájí Muḥammad Taqíy-i-Mílání, ein bekannter Kaufmann der Stadt, zusammen mit Ḥájí ‘Alí-'Askar, den Báb zu besuchen. Sie wurden von ihren Freunden und Gönnern gewarnt, daß sie durch einen solchen Versuch nicht nur ihren Besitz, sondern auch ihr Leben in Gefahr brächten. Sie wiesen aber jeden Ratschlag ab. Als sie zum Haustor des Gebäudes kamen, in dem der Báb gefangen war, wurden sie sofort verhaftet. Siyyid Ḥasan, der in diesem Augenblick vom Báb kam, trat sofort dazwischen. „Ich bin vom Siyyid-i-Báb angewiesen,„ so beteuerte er erregt, „euch folgende Botschaft zu bringen: Laßt diese Besucher eintreten, da Ich sie Selbst zu Mir gebeten habe.“ Ich habe von Ḥájí ‘Alí-'Askar folgende Bestätigung gehört: „Diese Botschaft brachte die Gegner augenblicklich zum Schweigen. Wir wurden sofort in Seine Gegenwart geführt. Er grüßte uns mit den Worten: ‚Diese traurigen Wichte, die vor dem Tore Meines Hauses stehen, sind Mir als Schutz beigegeben gegen den Zustrom der Menge, die sich um das Haus drängt. Es steht nicht in ihrer Macht, jene von Meiner Gegenwart abzuhalten, die Ich zu sehen wünsche.‘ Zwei Stunden verbrachten wir bei Ihm. Als Er uns entließ, vertraute Er mir zwei Karneole an und beauftragte mich, auf dieselben die zwei Verse gravieren zu lassen, die Er mir schon vorher gegeben hatte: diese sollte ich fassen lassen und Ihm wiederbringen, sobald sie fertiggestellt seien. Er versicherte uns, daß zu jeder Zeit, wenn wir Ihn zu sehen wünschten, kein Mensch uns von Seiner Gegenwart abhalten könne. Mehrere Male wagte ich, zu Ihm zu gehen, um Seinem Wunsche bezüglich gewisser Einzelheiten in Verbindung mit dem Auftrag, den Er mir anvertraut hatte, nachzukommen. Kein einziges Mal erfuhr ich den geringsten Widerstand seitens der Wachen, die den Eingang Seines Hauses behüteten. Nicht ein beleidigendes Wort fiel gegen mich, noch scheinen sie die geringste Anerkennung für ihre Lässigkeit zu erwarten.
Ich erinnere mich, daß ich im Verlauf meines Zusammenseins mit Mullá Ḥusayn von den vielen Beweisen seines Scharfsinns und seiner außergewöhnlichen Macht einen tiefen Eindruck gewann. Ich hatte den Vorzug, ihn auf seiner Reise von Shíráz nach Mashhad begleiten zu dürfen, und besuchte mit ihm die Städte Yazd, Ṭabas, Bushrúyih und Turbat. Ich beklagte zu jener Zeit voll Schmerz, daß mir mißlungen war, den Báb in Shíráz aufzusuchen. ‚Sei deshalb nicht bekümmert‘, sagte Mullá Ḥusayn voll Zuversicht zu mir, ‚Der Allmächtige ist ganz bestimmt fähig, dich in Tabríz für den Verlust, den du in Shíráz erlitten hast, zu entschädigen. Nicht nur einmal, nein siebenmal kann Er dir die Freude Seiner Gegenwart schenken für den einen Besuch, den du versäumt hast.‘ Ich war erstaunt über die Zuversicht mit dem er diesen Ausspruch tat. Aber erst zur Zeit meines Besuches beim Báb in Tabríz, als ich trotz allerhand Schwierigkeiten verschiedene Male in Seiner Gegenwart zugelassen war, erinnerte ich mich der Worte Mullá Ḥusayn’s und staunte über dessen bemerkenswerte Voraussage. Wie groß war meine Überraschung, als bei meinem siebenten Besuch beim Báb ich Ihn folgende Worte sagen hörte: ‚Gelobt sei Gott, Der dir ermöglicht hat, die Zahl deiner Besuche zu erfüllen, und Der dir Seinen liebevollen Schutz gewährt hat‘. “
(Ende des Kapitels 12)
1) Nach "A Traveller's Narrative", Seite 14, blieb der Báb
im Dorfe Kulayn zwanzig Tage lang.
2) 19. März bis 17. April 1847 n. Chr.
3) Gott ist der Größte.
Erinnerungen an ‘Abdu’l-Bahá[Bearbeiten]
Von Inez M.Greeven
Wenn ich an die Tage zurückdenke, die ich in den Jahren 1920 und 1921 in Haifa in
Gegenwart 'Abdu'l-Bahá’s verleben durfte, so wird es mir immer mehr klar, daß jedes Wort,
jede Handlung des Meisters, die mir damals als unzusammenhängende Erlebnisse
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unbeschreiblich schöner Tage und Stunden vorkamen, in Wirklichkeit ein vollkommenes
Ganzes bildeten und nichts weniger bedeuteten als eine abgeschlossene Lehre fürs Leben. -—
Der Meister vermittelte uns diese Lehren in solch einfacher Form, daß mir ihre volle Bedeutung erst im Laufe der Jahre klar wurde, als die durch das tägliche Leben aufgeworfenen Probleme es deutlich erkennbar machten, daß von Ihm alle Möglichkeiten bereits vorgesehen und behandelt worden waren.
Wenn ich heute die Notizen nachlese, die ich mir während meiner ersten Haifa-Reise machte, so finde ich, daß 'Abdu’l-Bahá nächst dem Begriff „Liebe“ den größten Nachdruck auf „Glücklichsein“ gelegt hat. Er wußte natürlich nur zu gut, wie selten von uns besonders die Kunst des tiefen, inneren Glücklichseins gemeistert wird. Er wollte in uns nicht etwa nur eine lediglich passive Hinnahme des Lebens erwecken, sondern eine unsern Mitmenschen sich mitteilende, überfliessende und ansteckende Lebensfreude, die jeder von uns tagsüber vorgenommenen Handlung ihren Stempel aufdrückt.
Bei einer Gelegenheit sagte der Meister zu mir: „Wenn man selbst in sich nicht glücklich ist, so ist auch ein seelischer Fortschritt nicht möglich. — Betritt man einen herrlichen Garten in trauriger und gedrückter Stimmung, so kann man weder alles sich uns Darbietende voll in sich aufnehmen, noch später Anderen die Schönheit und den Duft der Blumen in geeigneter Weise vermitteln.“ Natürlich meinte Er damit den geistigen Garten von Haifa. —
Es war die Gewohnheit ‘Abdu’l-Bahá’s, jeden von uns täglich zu einer kurzen Unterredung zu sich einzuladen, bei der Begrüßung waren stets seine ersten Fragen: Wie fühlst du dich? Bist du wohl? Bist du glücklich? Mehrere Male kam es vor, daß ich gestehen mußte, traurig zu sein und mich schämen zu müssen, daß ich an einem so geweihten Ort die Fehler meiner Mitmenschen sehen und daran Anstoß nehmen könnte, und daß dieser betrübende Zustand mich in meinem Herzen tief unglücklich mache. Ich fragte im Zusammenhang damit, wie es komme, daß gerade in Haifa alle Schwächen so viel klarer in die Erscheinung treten als anderswo. Der Meister antwortete darauf: Ein Atom kann man mit dem bloßen Auge nicht sehen, aber wenn es in den Bereich eines Sonnenstrahles kommt, so wird es für uns sichtbar. Wenn ein Schmetterling durch die Helle angezogen ans Licht fliegt, so schillern seine Farben stärker als vorher. — Als ich Abschied nahm, sagte Er: Gib dich nicht grüblerischen Gedanken hin, sondern sei glücklich anstatt traurig. Danke Gott, daß du in das göttliche Königreich aufgenommen worden bist.
Sehr oft in den folgenden Jahren, wenn ich mich über etwas quälte, was mir im Augenblick von großer Bedeutung schien, und wofür ich keine Lösung sah, habe ich in der Erinnerung die Stimme des Meisters zu hören geglaubt, wie er mir in so liebevoller, oft halb scherzender Weise Vorhaltungen machte. Ich konnte dann immer zu dem Entschluß mich durchringen, mit Grübeln aufzuhören und einfach glücklich zu sein.
Bei einer anderen Gelegenheit, als ‘Abdu’l-Bahá von Glücklichsein sprach, sagte Er: „Laßt euch nie durch materielle Dinge im Leben unglücklich machen! Glaubt ihr denn wirklich, daß sie das wert sind? Nein, sie sind nichts als eine vorübergehende Täuschung.
Eine Mutter ist oft streng gegen ihr Kind. Die Liebe zwischen Mann und Weib kann bei jahrelanger Trennung ins Wanken kommen, aber Gottes Liebe ist ewig, Er vergißt niemals. Stets ist Er mitten unter uns. Seht doch, wie viele Könige und Königinnen in der Welt die höchsten Stellungen eingenommen haben und wie plötzlich alles ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen zu Ende ist. Alles Materielle geht vorüber, aber im Königreich Gottes sind diejenigen, welche am niedrigsten standen, am meisten erhöht worden.
Ich versicherte dem Meister, daß materielle Dinge mich nie für lange betrüben könnten,
daß aber die mir angeborene Neigung zu starker Kritik mich sehr betrübe. Seine Antwort
war: „Es ist gut, wenn man seine eigenen Fehler einsieht, es trägt zur Vervollkommnung
des Menschen bei, aber in anderen Menschen jeden Fehler zu sehen, beeinträchtigt
den geistigen Aufstieg. — Bleibe nicht bei den Vögeln auf den untersten Zweigen sitzen,
sondern fliege zu denen, die oben in der Krone des Baumes sich niedergelassen haben.
Betrachte alle Kreaturen nur als von Gott geschaffen und in ihrem Verhältnis zu Ihm, aber
lasse dich nie durch sie traurig machen.“ —
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So manche Erinnerungen an die in Haifa verlebten Tage kommen mir in den Sinn. Darunter an sich unbedeutende Vorkommnisse, die aber dadurch, daß sie vom Meister ausgingen, ein großes Ausmaß annahmen.
So erinnere ich mich an den Tag, an dem der kleine Foad, damals nicht mehr als zweieinhalb Jahre alt, ins Zimmer kam, worin ‘Abdu’l-Bahá gerade eine Ansprache an uns hielt. Foad überreichte Ihm eine besonders schöne Birne. Der Meister zeigte sich keineswegs ungehalten über diese Störung, auch sollte der kleine Enkel nicht etwa denken, daß sein Geschenk keine Anerkennung gefunden hätte. ‘Abdu’l-Bahá nahm das Kind zu sich, zog ein großes Messer aus der Tasche und, nachdem Er die Birne in so viele Teile zerschnitten hatte, als Personen im Zimmer waren, d. h. sechs bis sieben, bestand Er darauf, daß jeder von uns auf der Stelle sein ihm zugeteiltes Stück essen sollte.
Ich sehe noch die Bewegung vor mir, mit der ‘Abdu’l-Bahá Seine Hand in eine große, mit Schokolade gefüllte Schachtel steckte, die Ihm jemand von Europa mitgebracht hatte und deren Inhalt Er unter die wartenden Kinder verteilte. In dieser einzigen Handbewegung zeigte sich die durch nichts einzuschränkende Freigebigkeit, deren Verkünder und deren Personifizierung Er war.
Nicht, daß Er hier und da einige Stückchen heraussuchte, nein, Seine ganze Hand tauchte Er tief in die Schachtel und brachte jedesmal überströmende Mengen von Schokolade hervor, die Er nach allen Seiten verteilte.
Oder, wenn Er uns bei Tisch drängte: „Esset, esset“, und wenn unsere Teller wie kleine Berge hoch gefüllt wurden, so daß wir nicht wußten, ob wir dies als eine Prüfung unseres Gehorsams auffassen sollten, oder als einen neuen Beweis schrankenloser Gastlichkeit.
Ich weiß nur, daß, nachdem ich mich gezwungen hatte, auch das letzte Körnchen Reis aufzuessen, ich mir sehr tugendsam vorkam und als wenn mein Opfer im Abhá-Königreich sicherlich Anerkennung gefunden hätte,
Diese Haifa-Tage sind in meine Erinnerung eingegraben als ein Schulbeispiel reinster Glückseligkeit — als eine Periode meines Lebens, während derer ich, auf Erden wandelnd, mit meinem Herzen und Gedanken im Himmel war. — Zeit verlor jede Bedeutung für uns, es war völlig gleichgültig, ob der Tag ein Montag oder Freitag war, ob wir uns im März oder Mai befanden. Für uns schien nur die Sonne der Gegenwart des Meisters. — Wurden wir zu einer Einzelunterhaltung in Sein Haus gerufen, so waren die diesem Besuch vorausgehenden Minuten für uns Augenblicke größter Erregung. — So auch zum Beispiel, wenn wir für einen Augenblick Seinen Turban über der Gartenmauer auftauchen sahen, wenn Er, auf einem seiner täglichen Spaziergänge begriffen, auf der Straße am Pilgerhaus vorbeikam, so waren das für uns Momente glühender, wenn auch nicht äußerlich erkennbarer Aufregung.
Wenn wir dem Meister gegenüber zum Ausdruck brachten, wie dankbar wir für diesen großen Vorzug wären, Haifa besuchen zu dürfen, so antwortete Er: „Ja, aber eure Haltung und Lebensführung, nachdem ihr von hier gegangen sein werdet, soll eure Dankbarkeit Gott gegenüber für diese euch erwiesene Gunst beweisen.
Am Ende meiner zweiten Haifa-Reise, September 1921, kam Mrs. Stannard dort an. Bis dahin waren wir nur zu Dritt im Pilgerhaus gewesen. Curtis Kelsey, den die amerikanischen Freunde nach Haifa entsandt hatten, um elektrisches Licht in den Grabstätten in ‘Akka und Haifa zu installieren, sowie meine Schwester, die mich begleitet hatte.
'Abdu'l-Bahá schien zu fürchten, daß wir uns einsam fühlen könnten und gab uns deshalb viel von Seiner eigenen Zeit. Jeden Vormittag gegen 11 Uhr kam Er von Seinem Spaziergang ins Pilgerhaus, ruhte Sich in einem der Schlafzimmer etwas aus und setzte Sich dann in die offene Türe und plauderte mit uns über dieses und jenes.
Eines Tages erzählte Er uns dabei von zwei Begebenheiten, die sich zugetragen, bevor Er zu uns kam.
Rubi Effendi war an dem Tage der Dolmetscher und ich erinnere mich sehr deutlich, daß, als wir nachher von dieser Unterhaltung sprachen, Rubi sagte: „Dies ist das erste Mal, daß ich je gehört habe, daß der Meister von einem von ihm verrichteten Wunder gesprochen hat!“ —
Und zwar waren die Begleitumstände, unter denen der Meister zu der Erzählung kam,
die folgenden: In der Frühe des gleichen Tages hatte Er uns, in ein seidenes Taschentuch
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eingeschlagen, eine große Anzahl Jasminblüten aus dem Garten in Bahjí gesandt,
damit wir den Eßtisch mit ihnen schmücken sollten. Als ich Ihm dafür dankte und dabei
bemerkte, wie himmlisch der ihnen entströmende Duft war, bemerkte Er „Ja, ich
habe eine Anzahl der Blüten auch einem englischen Offizier geschenkt, der heute Morgen
zu mir kam, und zwar in der größten Sorge, da seine Frau sterbenskrank war. Er flehte
mich an, für ihn zu beten und seine Frau gesund zu machen. Ich gab ihm eine Handvoll
von diesen Blüten mit der Weisung, sie seiner Frau zu bringen, sie solle den Duft
einatmen und ich werde für sie beten. Jetzt wird sie wieder gesund werden!“ —
Ein wenig später fing der Meister an, vor sich hinzulächeln, als wenn Er Sich an etwas Lustiges erinnerte. Daraufhin sagte Er: Ich will euch etwas erzählen, was mir auf meinem Spaziergang zustieß:
Vor ungefähr einem Jahre kam ein alter Mann, an dessen Hause ich auf meinen Gängen zuweilen vorbeikomme, zum Gartentor hinaus, um mit mir zu sprechen. Er sagte, er sei so sehr traurig, da sein größter Wunsch im Leben ihm nie erfüllt worden sei und der bestehe darin: ein Kind zu haben. Da er und seine Frau jetzt alt seien, so wäre keine Hoffnung mehr vorhanden, und doch, wenn ich für sie beten würde, so könnte es doch sein, daß Gott mein Gebet erhören und ihnen ein Kind schenken würde. Ich versprach ihm, daß ich für ihn beten würde, damit sein Wunsch in Erfüllung ginge. Bis heute hatte ich den Mann nicht wiedergesehen, und als ich an seinem Hause vorbeikam, stürzte er zum Tor heraus und hielt das winzigste Baby mir entgegen, das ich je gesehen habe. („Nur so groß“, sagte der Meister.) Von Herzen lachend schilderte ‘Abdu’l-Bahá mit den Händen eine so kleine menschliche Form, daß man kaum glauben konnte, ein Baby könne überhaupt so klein sein! — '
Während Mrs. Stannard zu Besuch im Pilgerhaus war, stellte sie an den Meister stets eine Reihe wissenschaftlicher Fragen, die Er immer bereitwillig beantwortete. Nur als unerwartete Gäste aus Beirut eintrafen, wünschte er, daß die Unterhaltung mehr rein geistig bleibe.
Zwei von diesen Fragen lauteten: Sind die Planeten bewohnt? Antwort: Ja, aber nicht mit unserer Lebensform. Frage: „Woraus entstehen Sonnen-Flecken?“ Antwort: „Vulkanische Eruptionen von Radium.“
Bei einer anderen Gelegenheit erwähnte ‘Abdu’l-Bahá uns gegenüber, daß in Zukunft in allen Ländern der Erde Tee getrunken werden würde, wie z.B. in China, Japan, Rußland und England ja schon heute hauptsächlich Tee anstatt Kaffee verbraucht wird. Er fügte hinzu, daß Tee die Verdauung fördere und geistigen Einflüssen die Tür öffne, während Kaffee auf den Körper einen zersetzenden Einfluß habe infolge der in ihm enthaltenen kleinen pulverisierten Bestandteile und nur ein den Körper stimulierendes Mittel sei. Er fügte hinzu, daß Er nur höchst selten Kaffee zu sich nehme, und zwar nur, wenn Er sehr ermüdet sei und einer schnellen körperlichen Anregung bedürfe.
Eines Tages, als wir beim Abendessen saßen, fragte ich den Meister, wie es komme, daß so viele Pilger, die nach Haifa kamen, die gleiche Erfahrung machten, nämlich, daß während ihrer Anwesenheit in Haifa es ihnen nicht völlig klar werde, welch wunderbarer Gnade sie dadurch teilhaftig würden. Erst nachdem sie wieder zu Hause angelangt, schiene ihnen erst die volle Erkenntnis aufzugehen.
Als Antwort deutete der Meister auf eine Hängelampe, die über unserem Eßtisch brannte und die einen großen Schattenkreis auf dem Tisch abzeichnete.
Er sagte dazu: direkt unter der Lampe gibt es immer Schatten, erst wenn man aus diesem Schatten heraustritt, kommt man in den vollen Genuß der unmittelbaren Lichtstrahlen.
Als wir uns zum letzten Male verabschiedeten, und als wir dabei die tiefe Traurigkeit unserer Herzen sehr deutlich zeigten, sagte der Meister: „Ihr sollt nicht traurig sein, denn es gibt keine Trennung! Wieviel besser ist es, körperlich getrennt aber im Geist vereint zu sein, als stets mit eurem Körper in meiner Nähe zu weilen, wie so viele, die hier wohnen, die mich aber im Geist und mit ihrem Herzen nicht kennen.“
Er wies dann auf einen Sonnenstrahl hin, der sich auf dem Fußboden abzeichnete und
sagte: Obgleich die Sonne so weit weg ist, so umgibt euch doch stets ihr Licht. Deshalb,
wo ihr auch immer sein möget, immer werde
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ich in eurer Nähe sein! — Ich meine, daß diese verheißungsvollen Worte all denen,
die nicht die Gelegenheit hatten, 'Abdu'l-Bahá körperlich zu sehen, den Grad von
Glückseligkeit bringen sollten, den Er uns allen so glühend wünschte.
Ein Weltglaube[Bearbeiten]
Studien in den Lehren Bahá’u’lláh’s
IV. Kulturperioden
Von N. F. Ward*).
Nach welcher Richtung wir unseren Gedanken auch wenden — wir finden, daß die
Gesellschaft dem unveränderlichen Gesetze der Wandlung unterworfen ist. Die organisierte
Gesellschaft, ob alt oder neu, hat eine tiefgehende Wandlung von derjenigen der Familie
zu der des mechanisierten Zeitalters des heutigen Tages erfahren. Das Fortschreiten
der Vernunft hat ihre Erkenntnisse für eine Periode in der Kultur eines Volkes zur Reife
gebracht — in der Grundform nur als mühseliger Ansatz vorhanden —, bis das natürliche
Leben zum Automatismus geworden war, wobei die meiste Kraft durch Maschinen
erzeugt wurde.
Man hat uns zu verstehen gegeben, daß wir die Sklaven der Maschinen geworden seien, anstatt umgekehrt. Gleichwohl würde kein denkender Mensch auf die früheren Methoden der Verbindung, der Beförderung und Denkweise zurückkommen wollen. Tatsächlich liegt bei der richtigen Nutzbarmachung der Technik der bis jetzt größte Fortschritt in der Förderung der Intelligenz und ihrer Kontrolle zum Segen der anwachsenden Menschheit.
I.
Die Entwicklung der Gesellschaft ist weiterhin in großem Maße durch Umgebung, Art des Verkehrs, der Beförderung und der Regierung bedingt. Die Zivilisation ist weiterhin eine periodische Bewegung des sozialen Lebens in der Richtung einer vollkommenen Gliederung der Beziehungen von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Gott und vom Menschen zu seinen Schöpfungen — den Künsten und Wissenschaften. Bei der Behandlung dieses Gebiets können wir die Zivilisation als die Lebensweise betrachten, welche von einem Volke zu irgendeiner Epoche erreicht worden ist.
Das Menschengeschlecht befindet sich auf einer Stufe in der Geschichte, zu einer Zeit, da das Licht des Erkenntnisvermögens mit größerem Glanze als zu irgend einer früheren Zeit geschienen hat. Es bietet sich keine bessere Gelegenheit, die Lektion, welche die Geschichte lehrt, zu lernen, als in der gegenwärtigen Geschichtsepoche, weil das Panorama der menschlichen Rasse, alle seine elementaren Bestandteile aneinandergereiht, dasteht. Wenn die Geschichte eher als eine Synthese des menschlichen Fortschrittes auf dem Wege zu einer zusammengesetzten Gesellschaft als eine Aufzeichnung aufeinander folgender Ereignisse aufgefaßt wird, so können die Zivilisationen so betrachtet werden, daß sie eine endgültige Rolle in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft spielen.
Die Ablösung der Familie durch den Stamm, welcher sein Lebensblut von der Familie wechselweise empfing, erhielt umgekehrt wieder die Familien. Die in Sippen lebende Gesellschaft war die Lebensweise des primitiven Daseins. Wandernde Stämme, besonders solche von Nomadenart, wurden eine Drohung für die Einheit und die Wohlfahrt einer an Zahl beschränkten Rasse. Der nächste Schritt in der Entwicklung der Gesellschaft war die Nation, welche sich auf die Loyalität der Stämme gemeinsamer rassischer Herkunft oder anderer Interessengemeinschaft gründete.
Der vierte Schritt, welcher unvermeidlich ist, aber noch getan werden muß, wenn die
Errungenschaften jeder Nation gefestigt und der Welt Sicherheit gewährleistet werden
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soll, ist die Verbindung der Nationen. Der Plan für diese Weltordnung wurde vor mehr
als fünfundsiebzig Jahren von Bahá’u’lláh dargelegt. Eine Betrachtung dieses
Gegenstandes wird die Weisheit dieses Schrittes zeigen. Der „Traum des Imperiums“
ist geradeso eine Drohung für den Frieden und die Sicherheit des Menschengeschlechts,
wie die plündernden Stämme Israels und Arabiens eine solche für eine im Kindesalter
stehende Rasse waren.
Eine Ausdehnung der Einflußsphäre irgend eines Volkes ohne die freiwillige Unterwerfung und Mitarbeit des unterworfenen Volkes ist mit Groll und Widerstreit belastet, die schwerer wiegen als der wirtschaftliche Gewinn wert ist. Das Versklaven eines Volkes kann in einer halb freien, halb unterjochten Gesellschaft nicht lange währen. Eine in sich entzweite Menschheit kann keinen bleibenden Gewinn, weder wirtschaftlicher noch anderer Art, ermessen, ohne die Treue zur Regierung zu gefährden. Eine unter sich uneinige Menschheit findet nur einen immer weiter klaffenden Riß zwischen den Völkern vor.
Nationen, die an sich untüchtig sind, bleiben doch ein Teil des organischen Ganzen und müssen sich auf die Zusammenarbeit ihrer Glieder stützen, um international Schritt halten zu können. Nationen, welche ihre inneren Angelegenheiten durch ihre eigenen Fähigkeiten in ihrer eigenen Art und Weise entwickeln, verdienen mehr Würdigung, wenn sie ihre äußeren Angelegenheiten einem starken Völkerbund anvertrauen, der unparteiisch und fest entschlossen ist, seine Verordnungen zur Herstellung des Weltfriedens durchzuführen, wenn nötig, selbst mit Waffengewalt. Die Völker würden, anstatt sich auf Gewalt zu stützen, ein vernünftigeres Verfahren anwenden, wenn ein internationales Gesetz bestünde, nach dem die Verletzung der Verordnungen eines ordnungsgemäß eingesetzten Völkerbundes den Widerstand aller übrigen Völker gegen das Volk mit selbstsüchtigen Beweggründen bedeuten würde. Wenn tatsächlich alle Völker verpflichtet wären, das Volk niederzuhalten, welches den Versuch macht, das Gesetz zu verletzen, so würde der böswillige Staat seine Kräfte auf die Veredelung der Rasse richten.
Eine Etappe in der Entwicklung der Menschheit wird erreicht sein, wenn eine aufbauende Tätigkeit gewissen Entscheidungen gegenübergestellt wird. In dem Lichte dessen, was gesagt worden ist, und was das Gewissen jedes lebenden Wesens vorschreibt, wird die Wahl einer der folgenden Mittel der Zusammenarbeit ein Pflichtgebot:
1) Alle Tatkraft und Einsicht für die durch gewaltsame Kriegsmethoden gewonnene Sicherheit einsetzen. Das Gebrüll der todbringenden Geschosse ist von jeher die Stimme der durch die Gier nach Macht toll gewordenen Staaten unter Verlust der für ihre Gemeinschaftspolitik Tüchtigsten.
2) Errichtung eines Weltstaatenbundes, dessen gemeinsamer Vertrag vermittelst eines religiösen Weltglaubens, welcher die Schranken von Rasse, Bekenntnis und gesellschaftlichem Reichtum übersteigt, allen körperliche und wirtschaftliche Sicherheit verbürgt. In diesem Glauben ruht die Erneuerungskraft, welche das geistige Gleichgewicht hinsichtlich der rassischen, religiösen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bestrebungen des Menschengeschlechts herstellt.
11.
Wenn die gegenwärtige Zeit als irgendein Maßstab gelten kann, so ist offenbar, daß die Ziele jeglicher Art, welche die Zivilisation sucht, zurückzuweichen scheinen, wenn man sich ihnen nähert. Der Krieg, der die Demokratie retten sollte, und in den die Hauptnationen des Erdballs verwickelt waren, hat mehr getan, die demokratische Regierungsform zugrundezurichten und Mißtrauen gegen ihre Grundsätze aufzurichten, als irgend eine einzelne Bewegung, welche sie von ihrer verderblichsten Geißel, der ruchlosen Demagogie, befreien wollte. Der Wert einer geordneten, disziplinierten Bürgerschaft bleibt das Lebensblut der Regierung. Aber wenn sie der Herrschaft des Pöbels erliegt, hört sie auf, mannhaft und nützlich zu sein, und wird eine wahre Bedrohung des Fortschrittes.
Die Lehren der Geschichte beweisen, daß es wirklich erreichbare Ziele gibt, welche in
der Tat von immer wiederkehrenden Persönlichkeiten ausgingen. Diese Persönlichkeiten
können durch keine Beweisführung erklärt werden und begründen doch innerhalb
eines kurzen Zeitabschnittes eine langdauernde
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Kultur. Ihre Macht ist eine derartige, daß sie von Herrschern beneidet werden
könnte. Aber sie ist nicht allein ein Werk der Umgebung. Die Substanzen, die in diese
Zivilisationen gegossen worden sind, sind irdische Gesetze und Kräfte, abgestimmt durch
die beherrschende Genialität des Propheten...
Der Grad des Fortschritts der großen Nationen kann durch die Vervollkommnung, die sie in den nachstehenden Einzelheiten erzielt haben, kurz zusammengefaßt werden:
1. Glaube — Anerkennung des wahrhaft Großen der Ära, welche er in Umrissen vorzeichnet durch seine umfassenden Lehren, die sich Geltung erringen. Im Kindesalter der Rasse werden die umfassenden Lehren auf beschränkten Gebieten angewandt, schließen aber mit der Erweiterung der Einflußsphäre größere Teile ein.
2. Sprache — Entwicklung eines besonderen Hilfsmittels, um Gedanken und Ideen weiterzuleiten.
3. Obdach und Kleidung — Anpassung an die Rauheit des Klimas.
4. Wärme — Wärme und Kraft als ein Mittel, physische Beschränkungen der Umgebung zu bekämpfen.
5. Regierung — Regelung der materiellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Hilfsquellen für die Wohlfahrt des Staatskörpers.
6. Hilfsmittel für Krieg und Frieden — die wirksam sein sollen, um verschiedene Elemente der Gesellschaft in Einklang zu bringen.
7. Entwicklung in den Künsten — Bildhauerei, Malerei, Musik, Literatur und Architektur..
8. Anwendung der Wissenschaften — praktischer Gebrauch der Mathematik, Physik und Chemie, der Medizin, des Ackerbaus und des Maschinenbaus.
9. Nutzbarmachung mechanischer Kraft — Übertragung körperlicher Lasten auf Haustiere; Heranziehen natürlicher Hilfsquellen zum Nutzen der Menschenrasse; Übertragung der Arbeitsleistung auf Maschinen und Regulierung und Verteilung der Maschinenerzeugnisse.
Wenn die eben aufgezählten Maßstäbe auf die alten Völker angewendet würden, müßte deren Fortschritt um so wunderbarer scheinen, als die Erleichterung der Verbindung, der Beförderung und der Wissenschaften im Vergleich mit der modernen Gesellschaft unerheblich war. Die Leistungen der Hindu-Zivilisation von 800 v. Chr. bis 1200 n. Chr, wie in den „Hindu Achievements of Science“ von Sarkar berichtet, beweisen den Fortschritt dieses Volkes in der Mathematik, Kinetik, Astronomie, Physik — besonders Wärme, Licht, Optik und Magnetismus —, Chemie, Medizin, Haustierhaltung, Naturbeschreibung von Edelsteinen und Erzen, sowie in Betriebsanlagen.
Die Entwicklung der Künste und Wissenschaften von Ägypten und Mesopotamien sind allgemeiner bekannt. Das kaiserliche Rom bleibt das lebendigste Beispiel einer Zivilisation, wo trotz aller materiellen Vorteile das Gleichgewicht zwischen materiellen und geistigen Werten verloren ging. Die von diesen Völkern erreichte Einheit gründete sich auf Ausübung überlegener Kraft und Herrschaft. Die unterjochten Völker wurden bei Strafe der Vernichtung zu Gläubigen. Die Geschichte berichtet von der bis ins Mark gehenden Verderbnis Roms und der nachfolgenden Wiedergeburt dieser Zivilisation durch die Jünger Christi. Denn inmitten dieser einst mächtigen Nation finden wir Paulus, den Jünger Christi, als Märtyrer der Idee einer im Werden begriffenen neuen Gesellschaft. Die Vortruppen dieser neuen Gesellschaft waren der wahre Gegensatz ihrer Verfolger.
Diese Apostel hatten nur die Macht des Wortes Gottes, sie zu beschützen. Sie waren weder zahlreich noch hatten sie Verteidigungswaffen wie ihre römischen Herren. Trotzdem sind alle der wahren Überlegenheit der christlichen Zivilisation gewahr.
Ebendeshalb bleibt nur die Schale leeren Bekenntnisses übrig, wenn die Macht, welche
eine besser geeinte und wundervolle Gesellschaft entstehen ließ, durch gewisse Lehren
getrübt ist, welche sie auf kleinliche unwesentliche Dinge beschränken. Dann erschallt
der Ruf zurück zu den reinen Grundlehren durch die Vorbilder der Menschheit — die
Propheten. Diese Wesen sind die Erzieher zu einer neuen Zivilisation gewesen und haben
bei jeder Gelegenheit unter den verschiedenen Elementen der Gesellschaft, zu der sie
kamen, die Einheit erreicht. Die frühe Geschichte aller großen Glaubensbekenntnisse
offenbart die Glaubenstreue ihrer Anhänger selbst bis zur Hingabe ihres
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Lebens füreinander. Um wieviel geringer war diese Überzeugung, wenn die Bekenntnisse
das gegenseitige Verstehen zwischen den Anhängern des einen Christus noch weiter
auseinanderklaffen ließen.
Eine Erneuerung des alten Glaubensgeistes ist in Zeitabständen immer wieder den Bedürfnissen der Rasse gemäß durch Moses, Buddha, Zoroaster, Christus, Muḥammad, den Báb und Bahá’u’lláh in ungefähr alle 1000 Jahre erfolgt, und wird sich fortsetzen, so lange, als beschränkte menschliche Seelen zu anderen Lebensregeln greifen, als sie von der goldenen Regel vorgeschrieben ist, welche in jedem religiösen Glauben zu finden ist. Diese Propheten haben durch das Lehrbeispiel ihres Leidens jedem Volk und jedem Einzelwesen den Weg und das Leben gewiesen. Sie haben ihr Kreuz des Opfers für das höchste Wohl der Menschheit getragen. Ihre einzige Belohnung ist in den Zivilisationen zu finden, denen sie ihren Namen und ihr Gewand gaben. Diese höchste Stufe ist nie von anderen Sterblichen erreicht worden.
*) Entnommen und ins Deutsche übertragen aus „World Order“,
Dezember 1935, Bd. 1, Nr. 9, S. 323 ff.
Vom Schicksal und freien Willen[Bearbeiten]
Von Hede Schubert
- Die folgenden Ausführungen sind einem Vortrag während der vierten Bahá’í-Sommerwoche in Eßlingen im August 1935 entnommen.
Wir wissen, daß die gesamte Natur von Gesetzen regiert wird, daß es kein Geschehen ohne Gesetzmäßigkeit gibt. Der Mensch jedoch ist nicht nur ein Stück Natur, sondern in seinem wahren Sein ein geistiges Wesen, daher besteht für ihn auch eine geistige Gesetzmäßigkeit. Da wir aber diese geistige Gesetzmäßigkeit und deren Auswirkung in der materiellen Welt nicht restlos erkennen und verstehen, geraten wir oftmals in Zwiespalt. Eine Menge Begebenheiten, die wir kurz als Schicksal bezeichnen können, treten an uns heran und zwingen uns, irgendwie Stellung zu ihnen zu nehmen.
Es gibt zwei Arten von Schicksal, und zwar erstens das bestimmte und zweitens das abhängige oder bewegliche Schicksal. — Das bestimmte, von Gott gewollte Schicksal kann nicht verändert oder abgewandt werden, dem abhängigen Schicksal jedoch vermag der Mensch entgegenzutreten und durch vernunftgemäßes Handeln dieses zu ändern. Der Mensch als die Krone der Schöpfung nimmt unter allen erschaffenen Wesen eine Sonderstellung ein. Er verfügt über geistige Fähigkeiten, die ihm die Möglichkeit geben, sich innerhalb gewisser Grenzen über die Natur zu stellen, sich diese dienstbar zu machen. Während die Natur weder Verstand noch Willen1) hat, ist der Mensch befähigt, die Eigenschaften und das Verhalten der Dinge, ihre Gesetzmäßigkeit zu erforschen und dadurch vielfach die Natur zu beherrschen. „Außer dem Menschen“, sagt 'Abdu'l-Bahá einmal, „ist nichts imstande, sich den Naturgesetzen zu widersetzen. Aber dem Menschen hat Gott eine solch wunderbare Macht gegeben, „daß er die Natur lenken, kontrollieren und überwinden kann2).“ Diese Fähigkeit des Menschen bezeichnen wir als eine bestimmte Handlungs- oder Willensfreiheit.
Es gibt Gesetzmäßigkeiten in der Natur, gegen die der Mensch nichts zu tun vermag — die bestimmten, unabänderlichen Gesetze. (Der Geburt folgt z.B. unabänderlich einmal der Tod. Hier ist das Kausalitätsgesetz unabänderlich, unumstößlich.)
Nur bei dem abhängigen, veränderlichen Gesetz vermag der Mensch einzugreifen3).
So wie es in der Natur Gesetze gibt, die unabänderlich sind und solche, welche durch
vernünftiges Handeln und Eingreifen des Menschen in ihrer Auswirkung verändert
werden können, so gibt es auch in der auf den Menschen anwendbaren geistigen
Gesetzmäßigkeit unabänderliche, bestimmte und veränderliche Gesetze, oder
anders ausgedrückt,
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ein unabänderliches, von Anfang an bestimmtes, gottgewolltes Schicksal, innerhalb
dessen Erfüllung wir aber die Möglichkeit haben, den jeweiligen Gegebenheiten
die Kraft unsres Willens und unsrer Vernunft entgegenzusetzen. Schicksal bedeutet
also einerseits ein Geschick, etwas uns Zugeteiltes, für uns Bestimmtes, das wir nicht
selbst uns erringen, sondern als Gabe, als Geschick empfangen, und andrerseits die
Begebenheiten, die wir kraft unsrer Vernunft, unsres Willens leiten und meistern können,
von beiden aber hängt der ganze Verlauf unsres Lebens ab.
Das unabänderliche Schicksal kennen wir nicht. Niemand weiß, was ihm in seinem Leben bestimmt, was für ihn vorgesehen ist. Wir kennen unsre Bestimmung nur insoweit, als wir wissen, daß Gott den Menschen schuf, Ihm zum Bilde, um erkannt zu werden, wir wissen, daß Er dem Menschen Gaben und Fähigkeiten verlieh, die ihn befähigen, die innerhalb der für ihn bestimmten Stufe mögliche geistige Vervollkommnung zu erlangen, damit er Gott erkenne. Nie aber vermag das Geschöpf den Schöpfer, nie der Mensch das Wesen Gottes zu erfassen, sondern nur Seine Attribute, Seine Eigenschaften vermag er zu erkennen. Selbst als ein Teil der Schöpfung, sind wir hineingestellt in das große Schöpfungswerk Gottes. Da die Schöpfung als Emanation Gottes, vom Geistigen bedingt, gewissermaßen ein Symbol, ein Spiegelbild des geistigen Reiches darstellt, können wir in ihrer Mannigfaltigkeit die Mannigfaltigkeit des geistigen Reiches, d.h. die Mannigfaltigkeit der einzelnen Erkenntnisstufen, und im Erforschen der kosmischen Gesetzmäßigkeit die geistige Gesetzmäßigkeit in ihrer wundervollen Einheit erkennen. Vom Sichtbaren auf das Unsichtbare, vom Konkreten auf das Abstrakte, vom Materiellen auf das Geistige schließend, werden wir gewahr, daß alles Seiende, alles Geschehen einer bestimmten Gesetzmäßigkeit unterliegt, also auch all die Geschehnisse, die wir kurz als Schicksal, als Vorsehung bezeichnen. Dieses Geschick kommt nicht von außen, es liegt in uns selbst begründet. So wenig wir uns außerhalb der Schöpfung, außerhalb der Weltordnung stellen können, so wenig können wir unsrem nach urewigen Gesetzen gegebenen, ursächlich bedingten, von Gott gewollten, sich unbedingt gesetzmäßig auswirkenden Schicksal entrinnen. Es ist der Wille des Schöpfers, den wir nie erforschen, nie vernunftgemäß erfassen können. Damit soll nicht gesagt sein, daß Gott gebunden wäre an die Gesetze, denn Er, Der über allem Erhabene, tut stets, was Er will. Niemand aber weiß, was Gott im Letzten für ihn bestimmt und beschlossen hat in Seinem unerforschlichen Ratschluß; stets aber wird es Gerechtigkeit und Liebe sein. Doch „der Mensch kann sich nicht vom Willen Gottes freimachen und hat keinen anderen Ausweg, als sich Ihm zu unterwerfen4).“ Gott wünscht für Seine Geschöpfe nur das Beste; was aber dem Einzelnen zum Besten gereicht, das zu beurteilen steht allein Gott zu: Er wird stets die letzte Entscheidung treffen. So können wir z.B. manchmal ein offensichtliches Eingreifen Gottes wahrnehmen, dort, wo der Mensch versagte, wo nur Gott noch helfend eingreifen konnte. Sei dies in Zeiten der Not, oder bei schweren Krankheiten, oder wenn ein Mensch in höchster Lebensgefahr im letzten Augenblick noch gerettet wurde. In solchen Fällen sehen wir deutlich das Walten der göttlichen Vorsehung. Es ist kein Zufall, denn es gibt keinen Zufall. Da, wo unsre Vernunft versagt, wird das Geschehen meist als Zufall bezeichnet, in Wirklichkeit aber ist es ein Nichterkennen, ein Nichtverstehen der waltenden Gesetze, denn es gibt kein gesetzloses Geschehen. Die Vorsehung jedoch steht außerhalb des uns vernunftgemäß erfaßbaren Kausalitätsprinzips. —
Eine Frage, der wir häufig begegnen, möchte ich nicht unerwähnt lassen: Wird unser
Schicksal von den Gestirnen beeinflußt? Wenn man sagt: das Schicksal steht in den
Sternen geschrieben, so liegt darin unbedingt eine tiefere Erkenntnis. ‘Abdu’l-Bahá
sagt darüber: „Dies grenzenlose Weltall gleicht dem menschlichen Körper, dessen Glieder
alle in größter Kraft miteinander verbunden sind. Wie eng sind die Organe, die Glieder
und Teile des menschlichen Körpers zu gegenseitiger Hilfe und Unterstützung miteinander
verbunden und wie groß ist ihr Einfluß aufeinander! So haben auch die Teile
dieses unendlichen Weltalls ihre Glieder und Elemente, die miteinander verbunden sind
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und einander geistig und materiell beeinflussen5).“
Da Gott das ganze Weltall, den ganzen Kosmos erschuf und ihm, da Gott selbst die Einheit ist, eine einheitliche, sich nicht widerstreitende Gesetzmäßigkeit zu Grunde legte, wir selbst aber, in diesen Kosmos hineingestellt, derselben Gesetzmäßigkeit unterliegen und alles in engster wechselseitiger Verbindung steht, wie die Glieder und Organe eines Körpers, so ist es klar, daß es eine Verbindung zwischen den Weltkörpern geben muß und daß der Mensch, der wohl ein Geschöpf dieser Erde, zugleich aber ein Geschöpf des gesamten Kosmos ist, auch mit diesem in engster Verbindung steht, daß jede sich auswirkende kosmische Gesetzmäßigkeit und Begebenheit nicht spurlos an uns vorübergehen kann, daß sie so oder so den Menschen beeinflußt, weil eben auch der Mensch als Teil des Kosmos dieser kosmischen Gesetzmäßigkeit unterliegt.
Nun ist der Mensch aber in seinem wahren Sein doch geistiger Natur, wie — könnte man fragen — ist es möglich, daß die geistige Entwicklung des Menschen beeinflußt werden kann? Gott der Schöpfer ist Geist, und was Er erschaffen hat, besteht durch Seinen Geist. Alles Erschaffene geht von dem Schöpfer aus, hängt von Ihm ab, steht also bewußt oder unbewußt in Beziehung zu Ihm. So besteht zwischen Materie und Geist ein enger Zusammenhang. Alles Geschehen ist also letzten Endes die Auswirkung geistiger Gesetze, denn der Geist ist stets das Primäre, die Materie aber Träger, Werkzeug des Geistes.
Insofern nun berühren rein materielle Vorgänge stets auch die Seele des Menschen. Denken wir z.B. an die Einwirkung von Musik, die erzeugt wird durch irgend ein Instrument. Die Töne treffen, durch die Schallwellen weitergeleitet, das menschliche Ohr und kommen durch die Gehörnerven zum Gehirn geleitet, dem Menschen als Musik zum Bewußtsein — also ein rein mechanischer Vorgang. — Bedenken wir, wie aber diese Musik den Menschen seelisch beeinflußt, ihn erhebt, ihn freudig oder traurig stimmt, so können wir an Hand dieses Beispieles uns klar machen, in welcher Weise Materie und Geist, also auch die Auswirkung kosmischer Gesetze die geistige Entwicklung des Menschen beeinflussen kann6).“ —
Wenn ich nun zuvor versuchte, den Begriff Vorsehung klarzustellen, so ist ein anderer Begriff, nämlich Zulassung, nicht von jenem zu trennen. Zulassungen sind Geschehnisse, die allein der Wille und die Weisheit Gottes bestimmen und die notwendig sind, um uns unsrem bestimmten Schicksal, dem, was im Letzten mit uns geschehen soll, zuzuführen. Es sind Geschehnisse, die zu unsrer Läuterung dienen, um uns der Vervollkommnung näher zu bringen. Wohl weiß Gott, daß die Menschen nach ihrer Veranlagung, Mentalität, Erkenntnisfähigkeit so und nicht anders handeln werden und weiß, daß sie sich nur stufenweise entwickeln; aber in diesem Entwicklungsprozeß, der individuell verschieden ist, sind Ereignisse nötig, an denen wir lernen, um zu neuer Erkenntnis zu gelangen. Da nur Gott den Menschen in seinem wahren innersten Wesen kennt, steht es auch bei Ihm allein, darüber zu bestimmen, welcher Art diese Geschehnisse sein werden. In den „Verborgenen Worten“ sagt Bahá’u’lláh: „O Sohn des Menschen! Meine Trübsal ist Meine Vorsehung. Dem Scheine nach ist es nur Feuer und Rache, doch im Wesen ist es nichts denn Licht und Barmherzigkeit. Eile dorthin, auf daß du ein ewiges Licht werden mögest und ein unsterblicher Geist. Dies ist Mein Befehl an dich. Achte auf ihn7)8). —
(Fortsetzung folgt)
1) Näheres siehe: ‘Abdu’l-Bahá, Beantwortete Fragen, S. 2.
2) Aus 'Abdu'l-Bahá’s „Ansprachen in Paris“ S. 134/135,
3) Näheres: „Beantwortete Fragen“ S. 309
4) S. d. W. XI, S. 99.
5) „Beantwortete Fragen“ S. 311.
6) 'Abdu'l-Bahá führt dieses Beispiel in dem Kap.: „Der Einfluß der Sterne“ an. Beantwortete Fragen S. 310.
7) „Verborgene Worte“ aus dem Arab. Nr. 50.
8) Man lese auch: Über den Sinn des Läuterungsleidens, S. d. W. XIII, S. 95.
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