Sonne der Wahrheit/Jahrgang 15/Heft 5/Text

Aus Bahaiworks
Wechseln zu:Navigation, Suche

[Seite 31]

 
S ONNE
DER
WAHRHEIT
 
ORGAN DER BAHÁ’Í
IN DEUTSCHLAND UND ÖESTERREICH
 

 
HEFT 5 15. JAHRGANG JULI 1935
 


[Seite 32]

Die Bahá’í-Lehre,[Bearbeiten]

die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.

Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.

Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.

Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.

Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“

Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.

Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.

Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.


[Seite 33]

SONNE DER WAHRHEIT
Organ der Bahá’í in Deutschland und Österreich
Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198
Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo
Verwaltung: Paul Gollmer Begründet von Alice Schwarz-Solivo
Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark, im Ausland 2.– Reichsmark
Heft 5 Stuttgart, im Juli 1935
Kalimát — Worte 92
15. Jahrgang

Inhalt: Göttliche Lebenskunst. — Nabíl’s Erzählung: Die Pilgerreise des Báb nach Mekka und Medina. — Religiöse Lebenshaltung.


O Sohn des Menschen! Würdest du die Barmherzigkeit beachten, dann würdest du nicht dein eigenes Interesse, sondern das Interesse der Menschheit im Auge behalten. Würdest du die Gerechtigkeit beachten, dann würdest du für andere nur wählen, was du für dich selbst wähltest.

Worte der Weisheit von Bahá’u’lláh


Göttliche Lebenskunst[Bearbeiten]

Aus den Schriften ‘Abdu’l-Bahá's (Fortsetzung)

Zusammengestellt von Mary M. Rabb (New York, Brentanos Publishers)

Übersetzung aus dem Englischen


9. Kapitel: Praktische Anwendung des geistigen Lebens


Materielle Angelegenheiten sind zweierlei Art. Die erste Art betrifft das, was keine direkte Beziehung zum Leben hat, was zu Luxus, Verweichlichung und Trägheit beiträgt. Ein Nachgeben in diesen Dingen macht den Menschen nachlässig Gott gegenüber und erstickt alle Ansätze zur Geistigkeit. Von anderer Art sind jene Angelegenheiten, welche zur Behauptung des Lebensunterhalts beitragen und Behaglichkeit, Glück und Fortschritt der menschlichen Familie fördern. Geistige Kräfte werden solchen Angelegenheiten immer Helfer sein; denn diese lassen die sittliche Einsicht und Verantwortung des Menschen wachsen und schärfen seine Aufgewecktheit und Achtsamkeit.

—————

Der Mensch muß in Zufriedenheit mit seinen zeitlichen Verhältnissen leben. Er darf sich nicht zum Sklaven irgend einer Gewohnheit machen. Er muß ein Stück altbackenes Brot mit gleichem Geschmack und Genuß essen wie das prächtigste Mahl. Genügsamkeit ist wahrer Reichtum. Wenn jemand in sich die Eigenschaft der Genügsamkeit entwickelt, wird er unabhängig werden. Genügsamkeit ist der Schöpfer der Glückseligkeit. Wenn jemand immer genügsam ist, sorgt er sich nicht um Reichtum oder Armut. Er lebt erhaben über deren Einfluß und ist gleichgültig gegen sie. Als wir in Baghdád waren, bestritten wir oft mit einem Pfund Fleisch ein Mahl für fünfzehn oder zwanzig Personen. Wir machten daraus persisches Siedfleisch and füllten den Topf mit Wasser auf, so daß ein jeder eine Schüssel dünner Suppe haben konnte. Trotzdem waren wir alle sehr glücklich und dachten, das köstlichste Mahl wäre unser.

—————

[Seite 34] Wie kompliziert ist das Leben unserer Gegenwart und wie noch viel komplizierter machen wir es täglich! Die Bedürfnisse der Menschheit scheinen nie zum Ende zu gelangen. Je mehr die Menschen anhäufen, um so mehr begehren sie. Es gibt nur einen Weg zur Freiheit und der ist, Auge und Herz all diesen Dingen, die das Gemüt zerstreuen, zu verschließen. Der Araber der Wüste gibt uns eine große Lehre einfachen Lebens. Wie er in der öden Sahara lebt, entbehrt er aller Hilfsmittel des Lebens, mit Ausnahme eines rauhen Zeltes, eines Teppichs oder einer Matte, eines Kessels, eines Schwertes, das innen an der Zeltstange hängt, und eines Wurfspeeres, der außen an die Zeltstange angebunden ist. Das ist sein ganzes Hausgerät. Wenn er aber reich ist, hat er eine Stute oder einen Hengst, einige Kamele und vielleicht einen Palmenhain um sein Zelt. Es kommt ihm gar nicht in den Sinn, daß es sonst noch etwas auf der Welt gibt. Er ist glücklich und hat keine Nöte. Sein Essen besteht in einer Schüssel Milch und einigen Datteln, und er mag sich wohl über den Stadtmenschen wundern, wie dieser nur alle die verschiedenen Arten von Gerichten mit ihren Gewürzen und Zutaten verdauen kann. Sein Denken ist mild und heiter, ganz anders als das der Städter, die immer vom Alpdruck des Lebensunterhaltes verfolgt sind.

—————

Sparsamkeit ist die Grundlage menschlicher Wohlfahrt. Der Verschwender ist immer in Unruhe. Verschwendung von seiten irgend einer Person ist eine unverzeihliche Sünde. Je geringer die Lebensbedürfnisse, um so besser ist es für den Menschen. Dies ist eine göttliche Tugend, die mit sehr wenigem erfüllt werden kann. Genügsamkeit ist das Gegengift gegen alle soziale Krankheiten. Wir müssen ein unabhängiges Leben leben. Niemals dürfen wir auf anderer Kosten leben wie eine Schmarotzerpflanze. Jedermann muß einen Beruf haben, sei er gelehrt oder praktisch, und muß ein reines, mannhaftes, ehrsames Leben leben, ein Vorbild der Sauberkeit, anderen zur Nachahmung. Genügsamkeit ist der Hauptschlüssel für jeglichen Erfolg. Wenn die Glieder meiner Familie verhungern, so werde ich die Leute nicht um Geld bitten. Es ist königlicher, mit einer Rinde alten Brotes zufrieden zu sein, als sich an einem guten Mahl mit vielen köstlichen Gerichten zu freuen, für welches das Geld aber aus den Taschen anderer kommt.

—————

Reichtum wird zur Ursache der Achtlosigkeit für viele Seelen, jene ausgenommen, welche an Gott glauben und die Verse Gottes lesen. Darum hat Christus gesagt: „Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, denn daß ein Reicher in das Himmelreich gelangt.“ Gesegnet aber ist der Reiche, dessen Wohlstand und Reichtum ihn nicht hindert, sein Antlitz Gott zuzuwenden, und dessen Herz nicht an seinen Besitztümern hängt. Solch ein Reicher ist das Licht der Welt.

Heute kam Baron Rothschild nach Haifa. Er ist einer der Reichsten Europas. Er ist sehr für die jüdische Ansiedlung in Palästina interessiert, und schenkt dieser Frage viel Zeit und Aufmerksamkeit. Jetzt ist er nach Tiberias gegangen. Er ist immerfort beschäftigt. Er konnte nicht länger als eine Stunde verweilen.

Alle Menschen mühen und arbeiten sich ab, um die Stufe eines reichen Mannes zu erreichen. Doch ist das Leben für viele Reiche nichts als eine schwere Last. Sie sind Lastträger. Statt des Segens des Reichtums kommt großes Unglück über sie. Der Überblick über ihr ungeheures Vermögen und dessen genaue Geldverwaltung wird der einzige Gegenstand ihres Lebens. Tag und Nacht, schlafend und wachend denken und schaffen sie, um ihren Haufen größer und den anderer kleiner zu machen, bis sie schließlich zu bloßen Geldmaschinen werden, jeglichen anderen Gefühles oder höherer Regungen bar, wilden Auges nach immer noch mehr hungernd. Gier und Selbstsucht werden zum herrschenden Einfluß ihres Lebens. Graps, graps, graps! Links und rechts greifen sie nach allem. Im tollen Drängen und Ringen um noch mehr Gewinn, um noch mehr weltliche Güter, treten sie über die Körper der Mühseligen und der Kinder. Sie werden die Verkörperung der Herzlosigkeit und Grausamkeit. Stolz und Hoffahrt herrschen über sie und sie werden bloßes Spielzeug in den Händen schmutziger, teuflischer Leidenschaft.

Reichtum hat einen verführerischen, verlockenden Zug. Er verwirrt den Blick seiner entzückten Opfer mit prächtigem Schein und zieht sie fort und fort bis an den Rand gähnender Klüfte. Er macht den Menschen selbstherrlich, selbsteingenommen und uneingedenk Gottes und heiliger Dinge.

Andererseits gibt es Seelen, welche die Essenz des Daseins sind; in ihrer Wertung steht der Reichtum ohne Reize da. Wenn die Tore der himmlischen Wohltaten vor ihrem Antlitz [Seite 35] geöffnet würden, wenn sie die Herren der Reichtümer der ganzen Welt würden, wenn die Berge der Erde sich in Diamanten verwandeln würden, wenn die Weltmeere des Erdballs sich in Gold wandeln würden — ihre geistige Unabhängigkeit wird keinen Wechsel noch Wandel erfahren, ihr Glaube in Gott wird noch wachsen, ihre Achtsamkeit wird sich noch steigern, die Feuerglut ihrer Liebe zu wahrer Volksgemeinschaft und Menschheitserziehung wird alle Schranken des Prunkes und Stolzes hinwegbrennen. Ihre heftige Leidenschaft für Gott wird von Tag zu Tag wachsen. Solche Reichen sind in Wirklichkeit die erleuchtenden Sterne am Himmel des Menschengeschlechtes, denn sie sind versucht und geprüft worden und sind als reines Gold dem Schmelztiegel entstiegen, unvermischt und unbefleckt. Mit all dem Reichtum der Welt zu ihren Füßen sind sie doch Gottes und der Menschheit eingedenk, geben sie ihre erworbenen Reichtümer dahin, um das Dunkel des Unwissens zu zerstreuen, und wenden sie ihre Schätze dafür auf, um das Elend der Kinder Gottes zu erleichtern. Das Licht solcher Reichen wird niemals verdunkeln und der Baum ihres Edelmuts wird in Form und Wuchs aufblühen und Früchte zu allen Jahreszeiten hervorbringen. Alle ihre Taten werden folgenden Geschlechtern zum Vorbild dienen.

(Fortsetzung folgt.)




Nabíl’s Erzählung[Bearbeiten]

Übersetzung aus „The Dawn-Breakers“, Nabíl’s Narrative of the early days of the Bahá’í Revelation, New York 1932


7. Kapitel: Die Pilgerreise des Báb nach Mekka und Medina (Fortsetzung)

Verwirrt und verängstigt gab er zur Antwort: „Mein Herr, mein Meister! Immer seit dem Tage, da meine Augen Dich in Karbilá sahen, schien es mir, Ihn gefunden und erkannt zu haben, der das Ziel meines Suchens gewesen ist. Ich verleugne jeden, wer es auch sei, der Dich zu erkennen verfehlte, und verschmähe den, in dessen Herzen noch das geringste Böse gegen Deine Reinheit und Heiligkeit dahinschwebt. Ich bitte Dich, meine Schwäche zu übersehen, und ich flehe Dich an, mir in meiner Verwirrung zu antworten. Möge es Gott gefallen, daß ich auf diesem Platz, im Bereich dieses heiligen Grabes, Dir meine Treue schwöre und mich zum Triumph Deiner Sache aufmache. Sollte ich dem, was ich erkläre, untreu sein, sollte mein Herz nicht glauben, was meine Lippen reden, so würde ich mich gänzlich unwürdig der Gnade des Propheten Gottes betrachten, und meine Tat als einen Akt offenkundiger Untreue an ‘Alí, Seinem erwählten Nachfolger, ansehen!“

Der Báb, der seinen Worten aufmerksam gefolgt war und der seine Hilflosigkeit und Seelenarmut wohl bemerkte, antwortete und sprach: „Wahrlich, Ich sage, die Wahrheit ist jetzt schon bekannt und von Falschheit geschieden. O Grab des Propheten Gottes, und du, o Quddús, der du an Mich geglaubt hast! Ich rufe euch beide in dieser Stunde als Meine Zeugen auf. Ihr habt gesehen und gehört, was sich zugetragen hat zwischen Mir und jenem. Ich rufe euch zum Zeugen an und Gott, wahrlich, ist hinter und über euch, Mein sicherer und letzter Zeuge. Er ist der Allsehende, der Allwissende, der Allweise. O Muḥíṭ! Erschließe, was deinen Geist verwirren mag, und Ich will, mit Gottes Hilfe, meine Zunge befreien und die Lösung deiner Probleme übernehmen, damit du die Vortrefflichkeit Meiner Worte bezeugest und erkennest, daß niemand außer Mir fähig ist, Meine Weisheit zu offenbaren!“

Mírzá Muḥíṭ folgte der Aufforderung des Báb und legte Ihm seine Fragen vor. Die Notwendigkeit seiner sofortigen Abreise nach Medina betonend, drückte er die Hoffnung aus, noch ehe er von dieser Stadt aufbreche, den Wortlaut der versprochenen Antwort zu erhalten. „Ich will deiner Bitte willfahren“, versicherte ihm der Báb. „Auf Meinem Wege nach Medina werde Ich mit Gottes Hilfe Meine Antwort auf deine Fragen offenbaren. Wenn ich dich nicht in dieser Stadt treffe, wird meine Antwort dich sicherlich unverzüglich nach deiner Ankunft in Karbilá erreichen. Was immer Gerechtigkeit und Billigkeit mir eingeben mögen, gleicherweise erwarte ich von dir, daß du es erfüllest. Wenn du es gut machst, tust du es gut für dich, und wenn du es schlecht machst, so tust du es schlecht für dich! [Seite 36] ‚Gott ist wahrlich unabhängig von allen Seinen Geschöpfen1)‘.“

Mírzá Muḥíṭ drückte vor seiner Abreise nochmals den festen Entschluß aus, sein feierliches Gelübde einzulösen. „Ich werde niemals von Medina abreisen“, so versicherte er dem Báb, „was immer auch geschehen mag, ehe ich meinen Bund mir Dir nicht erfüllt habe.“ Wie ein Sonnenstäubchen, das vom Sturm dahingejagt wird, so floh er, unfähig, der fortreißenden Majestät der vom Báb verkündeten Offenbarung zu widerstehen, von Entsetzen gejagt vor Seinem Angesicht hinweg. Er hielt sich kurze Zeit in Medina auf, und treulos gegen seine Bürgschaft und gleichgültig gegen die Warnungen seines Gewissens, reiste er nach Karbilá ab.

Der Báb, Seinem Versprechen getreu, offenbarte auf dem Wege von Mekka nach Medina Seine schriftliche Antwort auf die Fragen, welche den Geist von Mírzá Muḥíṭ verwirrt hatten, und gab dem Schreiben den Namen Ṣaḥífiy-i-Baynu’l-Ḥaramayn2). Mírzá Muḥíṭ, der dieses Schreiben in den ersten Tagen nach seiner Ankunft in Karbilá erhielt, blieb von seiner Sprache unberührt und lehnte es ab, die Vorschriften anzuerkennen, die es enthielt. Seine Stellungnahme dem Glauben gegenüber war die einer geheimen und beharrlichen Gegnerschaft. Zeitweilig erklärte er, ein Nachfolger und Förderer jenes notorischen Gegners des Báb, Ḥájí Mírzá Karim Khán’s, zu sein, und gelegentlich beanspruchte er für sich selbst die Stufe eines unabhängigen Führers. Gegen das Ende seiner Tage, als er im ‘Iráq lebte, heuchelte er Unterwürfigkeit gegen Bahá’u’lláh und drückte durch einen der persischen Prinzen, der in Baghdád lebte, den Wunsch aus, Ihm zu begegnen. Er bat, daß seine vorgeschlagene Unterredung als streng vertraulich betrachtet werde. „Sage ihm“, war Bahá’u’lláh’s Antwort, „daß Ich in den Tagen Meiner Zurückgezogenheit in den Bergen von Sulaymáníyyih in einer gewissen Ode, die ich verfaßte, die wesentlichen Erfordernisse eines jeden Reisenden, der den Pfad des Suchens in seinem Forschen nach Wahrheit betritt, aussprach. Teile ihm diesen Vers aus jener Ode mit: „Wenn dein Ziel es ist, dein Leben zu lieben, so nahe dich nicht Unserem Hofe; wenn aber das Opfer deines Herzens Wunsch ist, so komme und lasse andere mit dir kommen. Denn solcher Art ist der Weg des Glaubens, wenn du in deinem Herzen Vereinigung mit Bahá suchst; solltest du dich weigern, diesen Pfad zu betreten, wozu belästigst du Uns? Hebe dich von hinnen!“ Wenn er willig ist, so wird er öffentlich und rückhaltlos herbeieilen, um Mich zu begegnen; wenn nicht, so lehne ich es ab, ihn zu sehen!“ Bahá’u’lláh’s unzweideutige Antwort brachte Mírzá Muḥíṭ außer Fassung. Unfähig, zu widerstehen, und doch nicht Willens, sich zu fügen, reiste er noch am selben Tag, als er die Botschaft erhielt, nach Karbilá in seine Heimat ab. Kaum war er dort angelangt, da erkrankte er; drei Tage später starb er.

Sobald der Báb die letzte der zu Seiner Pilgerfahrt nach Mekka gehörigen gottesdienstlichen Handlungen vollbracht hatte, richtete Er einen Brief an den Sherif dieser heiligen Stadt, worin Er in klaren und unzweideutigen Ausdrücken die ausgezeichneten Merkmale Seiner Sendung erklärte und ihn zugleich aufrief, sich zu erheben und Seine Sache anzunehmen. Diesen Brief zusammen mit einer Auswahl aus Seinen anderen Schriften übergab Er Quddús und wies ihn an, dieselben dem Sherif zu bringen. Letzterer jedoch, zu sehr in Anspruch genommen durch seine eigenen materiellen Geschäfte, um sein Ohr den Worten zu leihen, die vom Báb an ihn gerichtet waren, unterließ es, dem Ruf der Göttlichen Botschaft zu folgen.

Ḥájí Níyáz-i-Baghdádi soll folgende Geschichte erzählt haben: „Im Jahr 1267 A.H.3) unternahm ich eine Pilgerfahrt nach der heiligen Stadt, wo ich den Vorzug hatte, den Sherif zu treffen. Im Verlauf seines Gesprächs mit mir sagte er: „Ich erinnere mich, daß im Jahre ’60 während der Pilgerreisezeit ein Jüngling mich besuchen kam. Er überreichte mir ein versiegeltes Buch, das ich bereitwillig entgegennahm; ich war aber selbst zu sehr beschäftigt zu jener Zeit, um es zu lesen. Einige Tage später traf ich jenen jungen Mann wieder, der mich frug, ob ich irgend eine Antwort auf sein Angebot habe. Eilige Erledigung meiner Arbeit hatte mich abermals abgehalten, den Inhalt jenes Buches näher zu betrachten. Ich war daher nicht in der Lage, ihm eine befriedigende Antwort zu geben. Als die Pilgerreisezeit um war, fiel eines Tages mein Blick zufällig beim Ordnen meiner Briefe auf jenes Buch. Ich öffnete es und fand auf den einführenden Seiten eine ergreifende und ausgezeichnet verfaßte Lehrpredigt, auf welche Verse in einem Ton und in einer Sprache folgten, die eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Qur’án hatten. [Seite 37] Alles, was ich beim Durchblättern des Buches entnahm, war, daß aus dem persischen Volk ein Mann aus dem Geschlecht der Fatimiden und Abkomme der Familie Háshim einen neuen Ruf erhoben hatte und allem Volke das Kommen des verheißenen Qá’im verkündete. Dennoch wußte ich den Namen des Schriftstellers jenes Buches nicht und war ebensowenig über die Umstände unterrichtet, unter denen der Ruf erschollen war.“ „Ein großer Aufruhr“, bemerkte ich, „hat das Land in den letzten Jahren ergriffen. Ein junger Mann, ein Nachkomme des Propheten, Kaufmann von Beruf, hat den Anspruch gestellt, daß Seine Worte die Stimme göttlicher Inspiration seien. Er hat öffentlich geltend gemacht, daß im Verlaufe von wenigen Tagen von Seiner Zunge Verse von solcher Zahl und Vollendung fließen könnten, daß sie an Umfang und Schönheit den Qur’án selbst übertreffen würden, — ein Werk, zu dessen Offenbarung Muḥammad nicht weniger als 25 Jahre benötigte. Eine Menge Volkes unter den Einwohnern Persiens, hoch und niedrig, Laien und Geistliche, haben sich um Seine Fahne geschart und haben sich willig auf Seinem Pfad geopfert. Dieser junge Mann hat im vergangenen Jahr, in den letzten Tagen des Monats Sha’bán4), den Märtyrertod in Tabríz in der Provinz Ádhirbáyján erlitten. Die, welche Ihn verfolgten, suchten durch diese Maßnahmen das Licht, das Er in jenem Lande entzündet hatte, zu verlöschen. Seit Seinem Märtyrertod jedoch ist Sein Einfluß in alle Volksschichten gedrungen.“ Der Sherif, der aufmerksam zugehört hatte, drückte seinen Unwillen über das Benehmen derer aus, die den Báb verfolgt hatten. ‚Der Fluch Gottes sei über diesem bösen Volke‘, rief er aus, ‚einem Volke, das in alten Zeiten in gleicher Weise unsere Heiligen und erlauchten Vorfahren behandelt hat!‘ Mit diesen Worten schloß der Sherif seine Unterhaltung mit mir.“

Von Mekka begab Sich der Báb nach Medina. Am ersten Tag des Monats Muḥarram im Jahre 1261 A.H.5) befand Er Sich auf dem Wege nach der heiligen Stadt. Als Er Sich ihr näherte, gedachte Er der ergreifenden Ereignisse, die den Namen Dessen unsterblich gemacht haben, der in ihren Mauern gelebt hatte und gestorben war. Diese Begebenheiten, welche die beredten Zungen für die schöpferische Macht jenes unsterblichen Genies sind, erschienen neubelebt mit unverminderter Pracht vor Seinem Auge. Er betete, als Er Sich zu der heiligen Grabstätte hinneigte, welche die irdische Hülle des Propheten Gottes barg. Er gedachte auch, als Er diesen heiligen Boden betrat, des leuchtenden Herolds eigener Sendung. Er wußte, daß im Friedhof von Baqí, an einem Orte, nicht weit entfernt vom Grabe Muḥammad’s, Shaykhi Aḥmad-i-Aḥsá’i, der Vorbote Seiner eigenen Offenbarung, zur Ruhe bestattet war, der nach einem Leben beschwerlichen Dienstes, sich dazu entschieden hatte, seinen Lebensabend in der Umgebung jenes geheiligten Grabes zu verbringen. Ihn überkam auch die Vision jener heiligen Männer, jener Pioniere und Märtyrer des Glaubens, die heldenhaft auf dem Felde der Ehre gefallen waren und die mit ihrem Herzblut den Triumph der Sache Gottes besiegelt hatten. Ihr geheiligter Staub erschien wie neubelebt beim sanften Schreiten Seiner Füße. Ihr Schatten schien aufzuerstehen durch den belebenden Hauch Seiner Gegenwart. Sie schauten zu Ihm hin, als ob sie durch Sein Nahen auferstanden seien, Ihm entgegeneilten und Ihm ihr Willkommen entböten. Sie schienen die flehende Bitte an Ihn zu richten: „Gehe nicht in Dein Heimatland, wir flehen Dich an, o Du Geliebter unserer Herzen! Bleibe in unserer Mitte, denn hier, ferne dem Lärm Deiner Feinde, die auf Dich lauern, wirst Du heil und sicher sein. Wir fürchten für Dich. Wir scheuen die Ränke und Machenschaften Deiner Feinde. Wir zittern beim Gedanken, daß ihre Taten ihren Seelen ewige Verdammnis bringen möchten.“ „Fürchtet Euch nicht“, gab der unbezähmbare Geist des Báb zur Antwort, „ich komme in diese Welt, um Zeugnis abzulegen für die Herrlichkeit des Opfers. Ihr gewahrt die Stärke Meiner Sehnsucht; ihr erkennt den Grad Meiner Entsagung. Nein, fleht vielmehr zum Herrn, euerem Gott, die Stunde Meines Martyriums näherzurücken und Mein Opfer anzunehmen. Freuet euch, denn wir beide, Ich und Quddús, werden auf dem Altar unserer Ergebenheit für den König der Herrlichkeit getötet werden. Das Blut, das uns auf Seinem Pfade zu vergießen bestimmt ist, wird den Garten unserer unsterblichen Glückseligkeit bewässern und beleben. Die Tropfen dieses geweihten Blutes werden der Samen sein, aus dem der mächtige Baum Gottes erstehen wird, der Baum, der in seinem allumfassenden Schatten die Völker und Geschlechter auf Erden sammeln wird. Seid deshalb nicht traurig, wenn ich aus diesem Lande gehe; denn ich eile, Meine Bestimmung zu erfüllen.“

(Fortsetzung folgt.)


1) Verse aus dem Qur’án.

2) Der Brief zwischen den beiden Gräbern.

3) 1850-51.

4) Juli 1850.

5) Freitag, 10. Januar 1845.

[Seite 38]



Religiöse Lebenshaltung[Bearbeiten]

Von Dr. Eugen Schmidt


Wir veröffentlichen nachstehend eine Wiedergabe der zweiten Ansprache, welche in der anläßlich der 13. Nationaltagung der Bahá’í in Deutschland und Österreich in Stuttgart, Haus des Deutschtums, am Sonntag, 28. April 1935, stattgefundenen Morgenfeier gehalten wurde.


Der Mensch ist zunächst in die Welt hineingestellt als ein Kind, das sich nicht zu helfen weiß. Er unterscheidet sich aber vom Tier ganz grundsätzlich dadurch, daß ihm der Schöpfer ein Denken, einen Verstand, ein Selbstbewußtsein gegeben hat, welche Fähigkeiten sich mit der physischen Reife langsam entwickeln. Deshalb drängt sich die Urfrage des Daseins, die Frage nach dem Sinn dieses Lebens, dem Menschen in wachsendem Maße auf. Er steht in einer Welt drin, die ihm zunächst fremd erscheint. Er sucht, wenn er wach genug ist, nach einem lebendigen Verhältnis zu dieser Welt und vor allem zu den Menschen.

Die Aufspaltung des Menschenseins, einmal in das ganz lebendige, organische Eingebettetsein in der göttlichen Schöpfung, das andere Mal in das verstandesmäßige Erkennen der Zusammenhänge, der Spannungen, der Widersprüche des Lebens, stellt den Menschen vor seine Lebensentscheidung. Sie soll ihn dazu führen, daß er die Schöpfung als eine grandiose lebendige, dynamische Einheit erkennt und erlebt, daß er weiß: der Schöpfer hat mich an einen ganz bestimmten Platz gestellt und nun ist es meine höchste Pflicht, meine Lebensaufgabe gläubig und gottverbunden zu erfüllen. Dann wird sein Verstand zum wahren Fackellicht, wie ihn Bahá’u’lláh bezeichnet, dann wird sein Denken schöpferisch, dann wächst er hinein in die Einheit des Lebens, dann wird ihm bewußt, daß er Ich und Glied der Gemeinschaft zugleich ist, daß er sich nicht herauslösen darf aus der menschlichen Gemeinschaft, daß sein gesamtes Tun und Handeln entscheidend mitbestimmt sein muß durch das Wohl und den Fortschritt seiner Mitmenschen, seines Volkes, ja der ganzen Menschheit. Er wird in wachsendem Maße erkennen, daß jeder Gedanke von ihm, jede Handlung gleich Radiowellen hinausgeht in den Raum, von den Menschen aufgefangen wird und so und so wirkt. Er wird allmählich gewahr, wie groß seine Lebensverantwortung ist, was ihm als Geschöpf Gottes, als Zeichen Gottes, wie ‘Abdu’l-Bahá den Menschen bezeichnet, aufgegeben ist.

Eine Entfremdung des Einzelnen von seiner Verwobenheit mit dem Lebensganzen tritt ein, wenn er seinen Verstand nicht in dessen Dienst stellt. Wir wollen uns dabei klar vor Augen halten, daß der Verstand als solcher, d. h. das logische Denken, die Erkenntnis von kausalen Zusammenhängen, überhaupt jede gesetzmäßige Erkenntnis an und für sich weder gut noch böse ist, sondern jenseits dieses Bereiches liegt. Es kommt entscheidend auf die Anwendung dieser Erkenntnis an, wie der Einzelne das Fackellicht seines Verstandes benützt, wie er es in den Dienst der Menschheit stellt. Und hier kann der Mensch, weil er zunächst die freie Entscheidung hat, im Gegensatz zum Tier, das naturgesetzlich völlig gebunden ist, in sein Schicksal bewußt eingreifen und dadurch sich weitgehend von den Naturgesetzen unabhängig machen. Er baut sein eigenes Reich auf, wo es den Anschein hat, als ob es ganz auf seinem Wissen, auf seinem Können und auf seiner Erkenntnis beruhen würde. In dem Maße, wie dies ein Mensch glaubt, richtet er sich immer nach seinem Ich, sucht er seine egozentrischen, auf selbstsüchtige Triebe gerichteten Ziele. Er zerreißt dadurch den wundervollen und göttlich gegebenen Zusammenhang des Selbst mit seinem Nebenmenschen und der ganzen Umwelt. Er geht analytisch vor, wendet den Verstand darauf an, alles zu zergliedern, das Leben zu zerstückeln, ohne seine Einheit zu erkennen. Der tragende Grund lebendiger Verbundenheit mit dem Ganzen bröckelt unter ihm ab, weil ihm die höhere Erkenntnis, die obere Führung, die Einsicht der wahren Bedeutung seines Verstandes mangelt, Wir kommen damit zu dem entscheidenden Gesichtspunkt für die wahre und lebensgerechte Geisteshaltung des Menschen.

Den letztgültigen Maßstab für sinnhafte Lebensgestaltung finden wir weder in der Wissenschaft noch in den menschlichen Trieben, denn wir wissen, physisch betrachtet, sind wir dem Tiere gleich. Die grundsätzliche Unterscheidung liegt in dem menschlichen Geist. Wie ‘Abdu’l-Bahá sagt, sind die Wirkungsstufen des schöpferischen göttlichen Geistes das Pflanzenreich, das Tierreich und das Reich des Menschen. Wenn der Mensch tätig wird, so wissen wir, daß hinter jeder Handlung eine bestimmte Gesinnung steht, wenn er nicht gerade tier- und triebhaft und gedankenlos irgend etwas tut. Der Mensch fängt [Seite 39] erst da an Mensch zu sein, wo er sich überlegt, was er tut und was für Folgen seine Handlungen haben können. Woher stammt nun diese Gesinnung des Menschen, die sein Wollen, seine Taten, seine Unterlassungen bestimmt? Ist es seine Weltanschauung, die man bei ihm voraussetzt? Es gibt bekanntlich viele philosophische Systeme, denen unterschiedliche Weltbilder zu Grunde liegen. Man sucht jedoch bei ihnen vergebens nach der Antwort auf die letzte Daseinsfrage des Menschen, nach dem Sinn und Zweck des menschlichen Lebens auf diesem Planeten. Wir befinden uns hier an den der menschlichen Erkenntnis gesetzten Grenzen. Daher ist jedem wahren und großen Philosophen tiefe Ehrfurcht vor den letzten geheimnisvollen Lebenszusammenhängen eigen, die mit dem Verstand allein nicht erfaßt, geschweige erschlossen werden können. In der Gesinnung wird der Mensch noch durch eine andere Kraft bestimmt, die vom Herzen ausstrahlt. Wenn er sich höheren Führungsreichen zuwenden will, dann sind es die der Religion als das Grundverhältnis des Geschöpfes zum Schöpfer. „Die Quelle alles Wissens ist die Erkenntnis Gottes1)“ Diese höchste Erkenntnis bewirkt das Wort Gottes, das den Menschen immer wieder gleich einem neuen Sonnenaufgang durch Seine Manifestation geoffenbart wurde. Jede Offenbarungsreligion verkündigt die Einheit Gottes und die Einheit der Schöpfung. Diese Einheit zu erkennen und zu erfahren ist das hohe Ziel der Lebensschau des Menschen. Bahá’u’lláh erklärt in Seiner an einen Religionsgelehrten gerichteten Schrift „Die Sieben Täler“ diese Einheit, welche der Mensch auf seinem Lebensweg finden soll. Er sagt2):

„Du weißt, daß alle Unterscheidung, die der Wanderer auf seiner Fahrt in der Erscheinungswelt sieht, allein in ihm selbst liegt. Zum klaren Verständnis nennen wir dir folgendes Beispiel: schau, wie die Sonne über alles, was ist und vergeht, durch den Willen des Königs der Offenbarung mit dem nämlichen Licht scheint, aber an jedem Ort erscheint sie verschieden und gibt ihr Licht so, wie es durch die Eigenart des empfangenden Platzes bedingt ist. So erscheint sie im Spiegel dank seiner Reinheit als Scheibe, im Kristall zeugt sie Feuer, während aus anderen Dingen nur ihre Wirkung und nicht ihre Scheibe zurückstrahlt. Und durch diese Wirkung entwickelt sich auf Befehl dessen, der jede Wirkung verursacht, alles gemäß der besonderen Bedingung. So wird auch die Farbe des Lichtes verändert, je nachdem, wo es hinfällt: es wird gelb, weiß oder rot, je nach der Farbe des durchscheinenden Glases. Darum liegt der Unterschied nicht im Licht selbst, sondern im Ort, wo es hinfällt, und wenn der Ort ihm verwehrt ist durch irgend ein Hemmnis, eine Mauer oder ein Hausdach, so bleibt er des Glanzes benommen. und die Sonne vermag dorthin nicht zu scheinen. So erklärt es sich, daß auch mancher Schwache der Sonne der geistigen Bedeutung und der Wunder des ewigen Geliebten beraubt ist, da er den Boden des Wissens mit der Mauer des Ichs und Begehrs und durch die Schleier der Achtlosigkeit und Blindheit umgrenzt hat und so wird er ferngehalten von den Schätzen der Weisheit und der offenbaren Verkündung des Herrn der Propheten und vom Eingang zum Hause der erhabenen Schönheit und dem Heiligtume des Ruhmes.“

Wenn der Mensch diesen Blick der Einheit gewinnt, erfährt er in allem die ewige Wirklichkeit Gottes, von der jegliches Leben und Sein, auch der Mensch selbst, absolut abhängig ist.

„Einheit in ihrem wahren Sinn bedeutet, daß Gott allein als die einzige Macht gedacht werden soll, die alle Dinge belebt und beherrscht, die ja nur Offenbarungen Seiner Schöpferkraft sind.“

Die Wirklichkeit Gottes kann symbolisch der Sonne der Wahrheit verglichen werden, deren Eigenschaften uns durch ihre Strahlen übermittelt werden. Das Wesen Gottes bleibt dem Menschen verschlossen. Die Eigenschaften Gottes, als der alles bestimmenden Wirklichkeit, werden in dem vollkommenen Spiegel der göttlichen Manifestation offenbar.

„Gott einzig und allein, wohnt an Seinem eigenen Ort, welcher über Raum und Zeit, Erwähnung und Äußerung, Zeichen, Beschreibung und Erklärung, Höhe und Tiefe, heilig ist3).“

Gott spricht zum Menschen wie zu einem Kinde, das erzogen werden muß, immer wieder von neuem in Anpassung an sein Fassungsvermögen, seine Wachstums- und Entwicklungsstufe durch Seine Willenskünder, die Manifestation und den Propheten. Das von ihnen den Menschen enthüllte Wort Gottes entstammt immer dem gleichen Geist, der gleichen Quelle. Sie ist die Sonne der Wahrheit, welche nur verschiedene Aufgangsorte und verschiedene Benennungen hat. Das Wort Gottes ist für den Menschen die einzige und tiefste Kraftquelle für seine Lebensführung. Er findet für sein Handeln keinen höheren Maßstab als das Wort Gottes, weil in diesem Plan und Wille des Schöpfers offenbar wird. Die höchste Lebensethik schöpft daraus ihre Gebote.

„Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist. Es ist der Geist der Wirklichkeit und das Wasser des Lebens. Ihm verdanken alle Dinge ihr Dasein... Alle Dinge der Welt erheben sich durch den Menschen und kommen durch ihn zum Vorschein. Durch ihn finden sie Leben und Entwicklung, und der Mensch ist bezüglich seiner geistigen Existenz von der Sonne des Wortes Gottes abhängig. Alle guten Namen und edlen Eigenschaften sind Resultate des Wortes Gottes. Das Wort ist das Feuer, das in den Herzen der Menschen glüht und alles verbrennt, was nicht von Gott ist4).“ .
„Die Quelle des Mutes und der Macht ist: das Wort Gottes zu fördern und in Seiner Liebe standhaft zu bleiben5).“

[Seite 40]

Das Lebensgebot des Menschen besteht darin, seinen Willen mit dem Willen Gottes, der sich „in uns als Wille der Liebe erlebt, als das Elementare und Wesentliche der Frömmigkeit6)“, in eins zu setzen. In dem Urphänomen der Liebe kommt das schöpferische Lebensgesetz zum Ausdruck, unter das auch die Menschengemeinschaft gestellt ist. Das Geheimnis der Liebe lüftet kein Menschenverstand. Sie hat ihren Ursprung in Gott. „Verhüllt in Meinem unvordenklichen Wesen und in Meinem ewigen Sein fühlte Ich Meine Liebe zu dir; deshalb erschuf Ich dich, verlieh dir Mein Ebenbild und offenbarte dir die Schönheit Meines Angesichts7).“ Durch alle geschichtlichen Offenbarungsreligionen zieht sich der goldene Faden des Gebotes der Gottes- und Nächstenliebe. Die Erfüllung dieses höchsten Gebotes erfordert eine ebenso bejahende wie verantwortungsbewußte Lebens- und Geisteshaltung. Die Erde wird dem Menschen zum Wirkungsfeld seiner geistigen Berufung, opfer- und einsatzbereit den Willen Gottes zur Heraufführung Seines Reiches zu tun. Religiöse Lebenshaltung ist deshalb immer auf die Einheit und das Ganze gerichtet, in das der Einzelne schicksal- und organhaft hineingestellt ist. Die sichtbare Welt ist der zeitlich begrenzte Lebensraum des Menschen; sie liefert ihm den Baustoff, nicht aber den belebenden Odem. Die tiefe Bedeutung der Erlösung des Menschen durch die Wahrheit liegt darin, daß er sich der irdischen Gebundenheiten entledigt und seine Lebensführung gänzlich an den Willen des Schöpfers bindet. Diese Lebensbindung an Gott prägt den wahrhaft religiösen Menschen, dessen Herz Gott nach einem Wort Bahá’u’lláh’s zur Wohnstätte machen will. Allein der Rhythmus von Gebet und Arbeit verbürgt die göttliche Sinngebung persönlicher Lebensgestaltung. Daraus ersteht die Frucht echter Gläubigkeit: die heldisch-sittliche Tat zum Wohle der Gemeinschaft.

Der religiöse Glaube ist letztlich keine Bekenntnis- oder Vorstellungsfrage, sondern wird aus dem Ergriffensein vom Urstrom des Lebens, von der göttlichen Wirklichkeit geboren. Dieser Glaube führt über Dogma und Vorurteil hinaus zur überzeugenden mutigen Tat. Sie allein offenbart die geistige Stufe des Menschen8). „An diesem Tag müssen die Menschen ihrem Gott mit Reinheit und Tugenden dienen... Manche begnügen sich nur mit Worten, aber die Wahrheit der Worte wird durch Taten bezeugt und hängt von der Lebensführung ab9)

Liebe ist der eine Pol, Gerechtigkeit der andere Pol des Menschenlebens, auf den Bahá’u’lláh so eindringlich hinweist. Die Liebe ist die Kraft des Sichverbindens, die Bildnerin jeder sittlichen Menschengemeinschaft. Die Gerechtigkeit ist die Hüterin ihrer Belange. Die Gerechtigkeit bezeichnet Bahá’u’lláh als das Köstlichste, weil sie den Menschen dazu führen soll, vorurteilslos und unbefangen in jeder Lebensentscheidung das Ganze, die Einheit und die hohen Forderungen selbstlosen Dienstes im Auge zu behalten. Gerechtigkeit im höchsten Sinne ist immer unbestechlich und leidenschaftslos, wird stets das Gesamtwohl über die Interessen des Einzelnen stellen. „Gerechtigkeit und Rechtlichkeit“ dienen zum Schutze der Menschen und Völker, sie erhalten, wie Bahá’u’lláh sagt, die Welt in rechter Verfassung10).

Persönliche Menschenbeziehungen stellten die Gottgesandten immer unter das göttliche Gesetz der Liebe. Auch alle sozialen Gebilde des Menschen sind in ihrer Höherentwicklung von dem Grad der Wirksamkeit dieses Grundgesetzes abhängig. Sie bedürfen aber zugleich des Fundamentes der Gerechtigkeit, die sich abwägend der Strafe und Belohnung bedient sowie die Ordnung und Sicherheit des einzelnen Volkes und der Menschheit nach dem Gebot wechselseitiger Achtung und Hilfsbereitschaft garantiert.

Großes und Herrliches ist dem Menschen von seinem Schöpfer aufgetragen: „Meine Ewigkeit ist Meine Schöpfung. Ich schuf sie für dich. Mache sie zum Gewand deines Tempels. Meine Einheit ist Mein Werk, für dich habe ich sie bestimmt. Schmücke dich mit ihr, damit du in aller Ewigkeit die Offenbarung Meines ewigen Wesens wirst11).“


1) Worte der Weisheit von Bahá’u’lláh, S. 64.

2) In der Fassung der in Vorbereitung befindlichen deutschen Übertragung aus dem Englischen.

3) Worte der Weisheit von Bahá’u’lláh, S. 60.

4) Worte der Weisheit von Bahá’u’lláh, S. 57, 58.

5) Worte der Weisheit von Bahá’u’lláh, S. 63.

6) Albert Schweitzer.

7) Verborgene Worte Bahá’u’lláh’s, S. 6.

8) Vgl. Worte der Weisheit Bahá’u’lláh’s, S. 61/62.

9) Worte der Weisheit von Bahá’u’lláh, 5. 61/62.

10) Vgl. Worte Bahá’u’lláh’s, „Sonne der Wahrheit“ XIV, Heft 10, S.81.

11) Verborgene Worte von Bahá’u’lláh, S. 20.



In der „Sonne der Wahrheit“ finden nur solche Manuskripte Veröffentlichung, bezüglich deren Weiterverbreitung keine Vorbehalte gemacht werden. — Alle auf den Inhalt der Zeitschrift bezüglichen Anfragen, ferner schriftliche Beiträge wie auch alle die Schriftleitung betreffenden Zuschriften sind an Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart W, Reinsburgstraße 198, zu senden. — Bestellungen von Abonnements, Büchern und Broschüren sind an die Verlagsabteilung des Nationalen Geistigen Rats der Bahá’í in Deutschland und Österreich e. V., Stuttgart, Alexanderstr. 3 (Nebengebäude) zu richten. — Alle Zahlungen sind zu leisten an den Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland und Österreich e. V., Stuttgart, Alexanderstraße 3 (dessen Postscheckkonto Nr. 19340 Amt Stuttgart). — Alle Rechte vorbehalten. Copyright by Verlagsabteilung des Nationalen Geistigen Rats der Bahá’í in Deutschland und Österreich e. V., Stuttgart. — Druck von J. Fink, Hofbuchdruckerei, Stuttgart.


[Seite 41]


Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland und Oesterreich e. V., Stuttgart

Fernsprecher Nr. 26168 / Postscheckkonto Stuttgart Nr. 193 40 / Alexanderstr. 3, Nebengebäude


Von unserer Verlagsabteilung können bezogen werden:


(Der Versand erfolgt gegen Nachnahme oder gegen Voreinsendung des Betrages zuzüglich Porto)


Bahá’u’lláh

Verborgene Worte.. Worte der Weisheit und Gebete. Geschrieben während seiner Verbannung in Bagdad 1857/58 . . . kart. —.80

gebunden 1.--

Frohe Botschaften. Worte des Paradieses, Tablet Tarasat (Schmuck), Tablet Taschalliat (Lichtstrahlen), Tablet Ischrakat (Glanz). Mahnrufe und Anweisungen an die Völker der Erde . . gebunden 2.00

Ganzleinen 2.50

Buch der Gewißheit oder Kitábu’l-Iqán. Eine Auseinandersetzung mit theologischen Fragen verschiedener Religionen, geschrieben in Bagdad um 1862. Ist fortsetzungsweise in den beiden Jahrgängen X und XI unserer Zeitschrift „Sonne der Wahrheit“ enthalten.

Jahrgang gebunden je 6.--


'Abdu'l-Bahá Abbas

Ansprachen in Paris. ‘Abdu’l-Bahá spricht hier über zahlreiche Fragen, nach deren Klärung die Völker der Erde suchen.

gebunden 2.--

Beantwortete Fragen. Erklärungen zu christlichen und islamischen Fragen, Behandlung allgemeiner weltanschaulicher Probleme . . . . . . Ganzleinen 2.50

Sendschreiben an die Haager Friedenskonferenz 1919 . . . . . --.20


Sonstiges

Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahá’i-Religion, Einführung in die Gedankenwelt der Bahá’i-Lehre von einem orientalischen Gelehrten. Von Mirza Abul Fazl . . . . . gebunden 2.--

Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter. ein Lehrbuch von Dr. J. E. Esslemont. Ganzleinen 2.50

'Abdu'l-Bahá Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps. . . . . .gebunden 2.--

Die Bahá’i-Offenbarung, ein Lehrbuch von Thornton Chase. . . . . . . kart. 2.--

Am Morgen einer neuen Zeit. Untersuchung der geistigen Ursachen der Weltkrise und Beleuchtung der letzthin einzigen Möglichkeit ihrer Überwindung durch die Bahá’i-Lehre. Von Dr. Hermann Großmann . . . . . kart. 1.80

Ganzleinen 2.50

Lebensgestaltung. Das Leben und ich. Das Leben und mein Nächster. Das Leben und Gott. Kursberichte der Eßlinger Bahá’í-Sommerwoche 1933 . . . -.30

Die Bahá’i-Weltanschauung. Eine kurze Einführung. Von Pauline Hartmann . . . . —.20

Das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahás ("The Passing of 'Abdu'l-Bahá") . . . -.30

Sonne der Wahrheit. Bahá'i-Monatszeitschrift.

Jahrgang III - IX gebunden je 3.--
Jahrgang X - XIV gebunden je 6.--