Sonne der Wahrheit/Jahrgang 14/Heft 6/Text

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SONNE

DER

WAHRHEIT
 
ORGAN DER DEUTSCHEN BAHAI
 
HEFT 6 14. JAHRGANG AUGUST 1934
 


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Die Bahá’i-Lehre,[Bearbeiten]

die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.

Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.

Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.

Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.

Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“

Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.

Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.

Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.


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SONNE DER WAHRHEIT
Organ der deutschen Bahá’í
Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198
Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo
Verwaltung: Paul Gollmer Begründet von Alice Schwarz-Solivo
Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark, im Ausland 2.– Reichsmark
Heft 6 Stuttgart, im August 1934
Asmá — Namen
14. Jahrgang

Inhalt: Nabíl’s Erzählung: Der Báb erklärt Seine Sendung. — Göttliche Lebenskunst. — Bericht über eine frühe Pilgerreise aus dem Jahr 1898.


Religion ist der äußere Ausdruck der Göttlichen Wirklichkeit. Sie soll daher lebendig, kraftvoll, beweglich und fortschrittlich sein. Mangelt sie der Bewegung und des Fortschrittes, so fehlt ihr das göttliche Leben — sie ist tot. Da die göttlichen Gesetze stets wirksam und in der Entwicklung begriffen sind, muß ihre Offenbarung immer eine fortschreitende sein. Alle Dinge sind der Neugestaltung unterworfen. Wir befinden uns in einem Jahrhundert des Lebens und der Erneuerung.

’Abdu'l-Bahá1).

1) Entnommen und übersetzt aus Bahá’i- Magazine, Vol. 24, March 1934, No. 12, S. 380.



Nabíl’s Erzählung[Bearbeiten]

Übersetzung aus „The Dawn-Breakers“, Nabíl’s Narrative of the early days of the Bahá’i Revelation, New York 1932

(Fortsetzung 3. Kapitel: Der Báb erklärt Seine Sendung)


Eines Nachts, im Verlaufe Seiner Unterhaltung mit Mullá Husayn sprach der Báb diese Worte: „Bis jetzt haben sich siebzehn Buchstaben unter die Fahne des Glaubens Gottes gestellt. Es verbleibt noch einer, um die Zahl zu vollenden. Diese Buchstaben des Lebens werden sich erheben, um Meine Sache zu verkünden und Meinen Glauben zu errichten. Morgen Nacht wird der letzte Buchstabe eintreffen und die Zahl Meiner erwähnten Nachfolger vollenden.“ Als am anderen Tag gegen Abend der Báb zusammen mit Mullá Husayn nach Hause zurückkehrte, erschien ein schlecht gekleideter und von der Reise mit Staub überzogener Jüngling. Er näherte sich Mullä Husayn, umarmte und frug ihn, ob er sein Ziel erreicht hätte. Mullá Husayn versuchte zuerst seine Erregung zu besänftigen und riet ihm, ein wenig auszuruhen. Er versprach ihm, daß er ihn dann aufklären werde. Dieser junge Mann weigerte sich jedoch, auf seinen Rat zu achten. Sein Auge auf den Báb gerichtet, sagte er zu Mullá Husayn: „Warum suchst du Ihn vor mir zu verbergen? Ich kann Ihn an Seiner Haltung erkennen. Voll Vertrauen bezeuge ich, daß niemand außer Ihm, weder im Osten noch im Westen, den Anspruch erheben kann, die Wahrheit zu sein. Niemand anderer kann die Macht und Majestät [Seite 42] offenbaren, die von Seiner heiligen Person ausstrahlen.“ Mullá Husayn wunderte sich über diese Worte. Er bat jedoch um Entschuldigung und bestimmte ihn, mit seinen Gefühlen bis zu der Zeit zurückzuhalten, wo es ihm möglich sein würde, ihn mit der Wahrheit bekannt zu machen. Er verließ ihn und eilte zu dem Báb, um Ihn über seine Unterredung mit jenem Jüngling zu unterrichten. „Wundere dich nicht“, bemerkte der Báb, „über sein seltsames Benehmen. Wir sind in der Welt des Geistes mit diesem Jüngling in Verbindung gestanden. Wir kennen ihn bereits. Wir erwarteten in der Tat seine Ankunft. Gehe zu ihm und fordere ihn sofort auf, in Unsere Gegenwart zu kommen.“ Mullá Husayn erinnerte sich durch diese Worte des Báb sofort des folgenden überlieferten Ausspruches: „Am letzten Tage werden die Männer des Unsichtbaren auf den Flügeln des Geistes die weiten Strecken der Erde durcheilen, werden in die Gegenwart des verheißenen Qá’im gelangen und werden bei Ihm das Geheimnis suchen, welches ihre Probleme lösen und ihre Verwirrung beheben wird.“

Obgleich körperlich getrennt, sind diese heldenhaften Seelen mit ihrem Geliebten täglich verbunden und nehmen teil an der Fülle Seiner Worte und an dem erhabenen Vorrecht Seiner Gemeinschaft. Wie sonst hätten Shaykh Aḥmad und Siyyid Kázim von dem Báb Kenntnis erhalten können? Wie hätten sie anders die Bedeutung des Geheimnisses erfahren können, das in Ihm verborgen lag? Wie hätte der Báb Selbst, wie hätte Quddús, Sein geliebter Jünger, in solchen Worten schreiben können, wenn nicht das geheimnisvolle Band des Geistes ihre Seelen miteinander verbunden hätte? Hatte nicht der Báb in den frühesten Tagen Seiner Sendung, in den Anfangsstellen des Qayyúmu’l-Asmá’, Seiner Auslegung der Sure des Joseph, auf die Herrlichkeit und Bedeutung der Offenbarung Bahá’u’lláh’s hingedeutet? War es nicht Seine Absicht, durch die Hervorhebung des Undanks und der Feindschaft, welche die Behandlung Josephs durch seine Brüder charakterisierten, vorauszusagen, was Bahá’u’lláh aus den Händen Seiner Brüder und Verwandtschaft zu leiden bestimmt war? War es nicht Quddús, der, obgleich in dem Fort von Shaykh Ṭabarsí von den Bataillonen und dem Feuer eines unerbittlichen Feindes belagert, Tag und Nacht mit der Vollendung seiner Lobpreisung Bahá’u’lláh's beschäftigt war, — jener unvergänglichen Auslegung des Sád von Ṣamad, welche bereits einen Umfang von fünfhunderttausend Versen angenommen hatte? Jeder Vers des Qayyúmu’l-Asmá’, jedes Wort des erwähnten Kommentars des Quddús werden, wenn unbefangen geprüft, für diese Wahrheit beredtes Zeugnis ablegen.

Die Annahme der Wahrheit der Offenbarung des Báb durch Quddús vollendete die bestimmte Zahl Seiner erwählten Jünger. Quddús, dessen Name Muhammad-'Alí war, war durch seine Mutter ein unmittelbarer Abkomme des Imám Hasan, des Enkels des Propheten Muhammad1). Er wurde in Bárfurúsh in der Provinz Mázindarán geboren. Von solchen, die an den Vorträgen des Siyyid Kázim teilnahmen, wird berichtet, daß in den letzten Jahren seines Lebens Quddús sich selbst als einen der Schüler des Siyyid eingeschrieben hatte. Er war der zuletzt Gekommene und nahm immer den niedrigsten Sitz in der Versammlung ein. Er war auch der erste, der nach Schluß jeder Versammlung wegging. Die von ihm bewahrte Ruhe und die Bescheidenheit seines Betragens unterschieden ihn von den übrigen Gefährten. Man hörte Siyyid Kázim häufig bemerken, daß einige seiner Schüler, obgleich sie die niedrigsten Sitze einnehmen und die größte Ruhe bewahren würden, nichtsdestoweniger vor Gott so erhöht wären, daß er sich selbst nicht für wert hielte, sich mit diesen Dienern auf eine Stufe zu stellen. Obgleich seine Jünger die Demut des Quddús bemerkten und den vorbildlichen Charakter seiner Haltung anerkannten, wurden sie doch nicht des Zieles des Siyyid Kázim gewahr. Als Quddús in Shiráz ankam und den Glauben des Báb annahm, war er erst zweiundzwanzig Jahre alt. Obgleich jung an Jahren, bewies er einen solch unbezwingbaren Mut und Glauben, wie sie keiner der Jünger seines Meisters übertreffen konnte. Er bezeugte durch sein Leben und ruhmreiches Martyrium die Wahrheit dieser Überlieferungen: „Wer Mich auch suchen mag, wird Mich finden. Wer Mich auch finden mag, wird zu Mir hingezogen werden. Wen es auch in die Nähe von Mir ziehen mag, der wird Mich lieben. Wer Mich lieben wird, den werde auch Ich lieben. Wer von Mir geliebt wird, den werde Ich töten. Wer von Mir getötet wird, dem werde Ich Selbst seine Erlösung sein.“

[Seite 43] Der Báb, dessen Name Siyyid ‘Alí-Muhammad2) war, war in der Stadt Shíráz am ersten Tag des Muharram im Jahre 1235 nach der Hedschra geboren3). Er gehörte einem Geschlechte an, das durch seine Vornehmheit berühmt war und auf Muhammad Selbst zurückging. Das Datum Seiner Geburt bestätigte die Wahrheit der überlieferten Prophezeiung, welche dem Imám ‘Alí zugesprochen wird: „Ich bin zwei Jahre jünger als mein Herr.“ Es waren fünfundzwanzig Jahre, vier Monate und vier Tage4) seit dem Tage Seiner Geburt verflossen, als Er Seine Sendung erklärte,. Er verlor in früher Kindheit Seinen Vater, Siyyid Muḥammad-Riḍá, ein Mann, der in der ganzen Provinz Fárs durch seine Frömmigkeit und Tugend bekannt war und in hoher Achtung und Ehre stand. Sowohl Sein Vater als auch Seine Mutter waren Abkommen des Propheten, beide wurden vom Volke geliebt und geachtet. Er wurde bei Seinem Onkel mütterlicherseits, Hájí Mírzá Siyyid ‘Alí, einem Märtyrer des Glaubens, erzogen, der Ihn, als Er noch ein Kind war, unter die Obhut eines Hauslehrers namens Shaykh ‘Ábid stellte. Der Báb unterwarf sich dem Willen und den Anleitungen Seines Onkels, obwohl Er noch keine Neigung zum Studium hatte.

Shaykh ‘Ábid, bei seinen Schülern als Shaykhuná bekannt, war ein Mann von Frömmigkeit und Gelehrsamkeit. Er ist ein Jünger sowohl von Shaykh Ahmad als auch von Siyyid Kázim gewesen. „Eines Tages“, so erzählte er, „bat ich den Báb, die ersten Worte des Qur’án: ‚Bismi’lláhi’r-Rahmáni’r-Rahím‘ (‚Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Verzeihenden‘) herzusagen. Er zögerte und legte dar, daß Er in keiner Weise versuchen werde, sie auszusprechen, wofern Ihm nicht gesagt würde, was diese Worte bedeuteten. Ich gab vor, ihre Bedeutung nicht zu kennen. ‚Ich weiß, was diese Worte bedeuten‘, bemerkte mein Schüler; ‚Ich will sie mit deiner Erlaubnis erklären.‘ Er sprach mit einer solchen Kenntnis und Geläufigkeit, daß ich in höchstes Erstaunen geriet. Er legte die Bedeutung von ‚Alláh‘, von ‚Rahmán‘ und ‚Rahím‘ aus in Worten, wie ich sie weder gelesen noch gehört habe. Der Wohllaut Seiner Worte ist noch deutlich in meiner Erinnerung. Ich fühlte mich dazu gedrängt, Ihn zu Seinem Onkel zurückzubringen und den Anvertrauten, dessen Pflege mir übertragen war, in seine Hände zurückzugeben. Ich fühlte mich gezwungen, ihm zu sagen, für wie unwürdig ich mich hielte, ein so auffallendes Kind zu unterrichten. Ich traf Seinen Onkel auf seinem Büro allein an. ‚Ich habe Ihn dir zurückgebracht‘, sagte ich, ‚und vertraue Ihn deinem sorgsamen Schutze an. Er ist nicht nur wie ein Kind zu behandeln, denn in Ihm kann ich bereits deutlich jene geheimnisvolle Macht feststellen, welche die Offenbarung des Sáhibu’z-Zamán5) allein entfalten kann. Es ist dir auferlegt, Ihn mit deiner liebevollsten Sorge zu umgeben. Halte Ihn in deinem Hause, denn Er bedarf wahrlich keiner Lehrer, wie ich einer bin.‘ Háji Mirzá Siyyid ‘Alí hat den Báb streng zurechtgewiesen. ‚Hast Du meine Anweisungen vergessen?‘, sagte er. ‚Habe ich Dich nicht bereits dazu ermahnt, dem Beispiel Deiner Mitschüler zu folgen, Ruhe zu bewahren und aufmerksam auf jedes von Deinem Lehrer gesprochene Wort zu hören?‘ Nachdem er Sein Versprechen erhalten, seinen Anweisungen gewissenhaft Folge zu leisten, befahl er dem Báb, zu Seiner Schule zurückzukehren. Der inneren Neigung dieses Kindes konnten jedoch die ernsten Vorhaltungen Seines Onkels keinen Einhalt gebieten. Keine Zucht konnte den Fluß Seines Wissens unterbinden. Mit jedem Tage fuhr Er fort, bemerkenswerte Beweise einer übermenschlichen Weisheit zu liefern, die zu erzählen ich außerstande bin.“ Zuletzt sah sich Sein Onkel veranlaßt, Ihn von der Schule des Shaykh ‘Ábid wegzunehmen und als Teilhaber in sein eigenes Geschäft aufzunehmen. Hier jedoch bekundete Er eine Macht und Größe, daß wenige Ihm nahekamen und niemand mit Ihm wetteifern konnte.

Einige Jahre später6) heiratete der Báb die Schwester des Mírzá Siyyid Hasan und Mírzá Abu’l-Qásim. Dem Kind, das dieser Ehe entsprang, gab Er den Namen Ahmad. Es starb im Jahre 1259 nach der Hedschra7), dem Jahr vor der Glaubensverkündung des Báb. Der Vater klagte nicht über seinen Verlust. Er widmete dem Tode Seines Kindes Worte wie diese:

„O Gott, mein Gott! Ich wollte, daß Mir, [Seite 44]Göttliche Lebenskunst Deinem Abraham, tausend Ismaele gegeben wären, daß Ich sie Dir, einen und jeden als ein Liebesopfer darbringen dürfte. O Mein Geliebter, Meines Herzens Sehnsucht! Das Opfer dieses Ahmad, das Dein Diener ‘Ali Muhammad Dir auf dem Altar Deiner Liebe dargebracht hat, kann nimmermehr genügen, um die Flamme Seines verlangenden Herzens zu löschen. Nicht eher, als bis Er Sein eigenes Herz zu Deinen Füßen geopfert hat, nicht eher, als bis Sein ganzer Körper auf Deinem Pfade der grausamsten Tyrannei zum Opfer fällt, nicht eher, als bis Seine Brust um Deinetwillen zur Zielscheibe unzähliger Geschosse wird, kann die Erregung Seiner Seele gestillt werden. O mein Gott, mein einziger Wunsch! Gewähre, daß das Opfer Meines Sohnes, Meines einzigen Sohnes von Dir angenommen werden möge. Laß es die Einleitung des Opfers Meiner selbst, Meines ganzen Selbst auf dem Pfade Deines Wohlgefallens sein. Bereichere mit Deiner Gnade Mein Lebensblut, das auf Deinem Pfade zu vergießen Mich verlangt. Laß es die Saat Deines Glaubens bewässern und nähren. Statte es mit Deiner himmlischen Kraft aus, damit diese junge Saat Gottes bald in den Herzen der Menschen keimen, wachsen und gedeihen möge, auf daß sie zu einem mächtigen Baum heranwachse, unter dessen Schatten sich alle Völker und Geschlechter der Erde zusammenfinden mögen. Erhöre Du Mein Gebet, o Gott, und erfülle Meinen innigsten Wunsch. Du bist wahrlich der Allmächtige, der Allgütige.“

Die Tage, die der Báb Seinem kaufmännischen Berufe nachging, verbrachte Er meistenteils in Búshihr. Die drückende Hitze dieses Sommers hielt Ihn nicht zurück, jeden Freitag verschiedene Stunden Seinen Gottesdienst auf dem Dache Seines Hauses zu verrichten. Obgleich den furchtbaren Strahlen der Mittagssonne ausgesetzt, wandte Er Sein Herz Seinem Geliebten zu und verband Sich mit Ihm, der drückenden Hitze unbewußt und die Welt um Sich herum vergessend. Von der ersten Dämmerung bis Sonnenaufgang und von Mittag bis spät in den Nachmittag hinein widmete Er Seine Zeit dem Gebet und Gottesdienst. Seinen Blick nach Norden gewandt, in der Richtung nach Tihrán, begrüßte Er mit jedem Tagesanbruch, das Herz überströmend voll Liebe und Freude, die aufgehende Sonne, die Ihm ein Zeichen und Symbol des Tagesgestirns der Wahrheit war, das bald über die ganze Welt hinleuchten wird. Wie ein Liebender das Gesicht seiner Geliebten festhält, so schaute Er mit Festigkeit und Verlangen in den aufsteigenden Ball. Er schien diese strahlende Leuchte in geheimnisvoller Sprache anzureden und ihr die Botschaft Seiner Sehnsucht und Seiner Liebe zu Seinem verborgenen Geliebten anzuvertrauen. Mit solch freudigem Entzücken begrüßte Er die glänzenden Strahlen, daß die Nachlässigen und Unwissenden, die Ihn beobachteten, glaubten, Er sei in die Sonne selbst verliebt.

(Fortsetzung folgt.)

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1) Der Vater des Quddús starb nach „Kashfu’l-Ghitá’“ einige Jahre vor der Offenbarung des Báb. Zur Zeit des Todes seines Vaters war Quddús noch ein Knabe, der in Mashhad an der Schule des Mírzá Ja'far studierte.

2) Er war auch unter folgenden Namen bekannt: Siyyid-i-Dhikr, 'Abdu’dh-Dhikr, Bábu’lláh, Nuqtiy-i-Ulá, Tal’at-i-A’lá, Hadrat-i-A'lá, Rabb-i-A’lá, Nuqtiy-i-Bayán, Siyyid-i-Báb.

3) 20. Oktober 1819.

4) Mondjahre, nach der Zeitrechnung des Islam = 24 Jahre, 7 Monate, 3 Tage nach unserer Zeitrechnung.

5) „Der Herr des Zeitalters“, einer der Namen des erwarteten Qá’im.

6) Nach der Erzählung des Háji Mu’ínu's-Saltanih trat der Báb mit 22 Jahren in die Ehe.

7) 1843.



Göttliche Lebenskunst[Bearbeiten]

Aus den Schriften von ‘Abdu’l-Bahá (Fortsetzung)

Zusammengestellt von Mary M. Rabb (New York, Brentanos Publishers)

Übersetzung aus dem Englischen


6. Kapitel: Prüfungen


Einzig der Mensch ist allein, welcher unachtsam ist gegen Gott. Aber wenn er Gott erkennt, dann mag er in einer unendlichen Wüste ohne Wasser und Vegetation sein, und doch ist er nicht allein; Gott ist bei ihm. Der Himmel über dieser Erdkugel ist oft dunkel und neblig und mit düsteren, tintenfarbenen Wolken bedeckt. Einmal rollt der Donner und dann zucken die Blitze. Einmal fällt Hagel und einmal schneit es. Zuweilen tobt ein wilder Wirbelsturm und zuweilen stürzt ein reißender Strom von den Bergen herab. Darum denke nicht einen Augenblick, daß diese Prüfungen und Heimsuchungen auf dich beschränkt seien. In Wirklichkeit sind alle Menschen von Leiden umgeben, damit sie ihr Herz nicht an diese Welt hängen, sondern nach glücklicher Gemütsstimmung und Ruhe in der göttlichen Welt suchen und um die Gaben des ewigen Königreiches bitten. Darum sei freudig aus der Tiefe deines Herzens heraus und sei glücklich über die göttlichen Frohen Botschaften.

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[Seite 45] Wahrlich, Versuchungen sind notwendig. Hast du nicht gehört und gelesen, wie Gott Versuchungen sandte in den Tagen Jesu Christi und später, und wie der Sturm der Prüfungen einherbrauste? Selbst Petrus, der Fels, wurde von diesem Sturm nicht verschont, und er wankte. Dann bereute und trauerte er tief, und die Trauer dieses größten Schmerzes und seine Klagen erhoben sich zu den höchsten Heerscharen. Ist es denn möglich, den Versuchungen Gottes zu entgehen? Wahrlich nein. Es liegt eine große Weisheit in ihnen, die niemand gewahrt außer den Weisen und Sehenden. Wäre es nicht um der Prüfung willen, reines Gold würde nicht von gefälschtem gesondert. Wäre es nicht um der Prüfung willen, die Getreuen würden nicht von den Selbstsüchtigen unterschieden. Wäre es nicht um der Prüfungen willen, Klugheit und Fähigkeit der Studierenden an den Hochschulen würden nicht voll entwickelt. Wäre es nicht um der Prüfungen willen, funkelnde Edelsteine würden nicht von wertlosem Tand unterschieden. Wäre es nicht um der Prüfungen willen, die armen Fischer wären nicht ausgezeichnet worden vor Annas und Kaiphas, welche in Ruhm und Herrlichkeit lebten.

Wäre es nicht um der Prüfungen willen, das Antlitz Maria Magdalenas würde nicht als Leuchte der Festigkeit und Gewißheit durch alle Horizonte strahlen. Dies sind einige der Geheimnisse der Prüfungen, welche wir dir enthüllt haben, damit du von den Geheimnissen Gottes in jedem Zeitalter Kenntnis erlangen mögest. Wahrlich, ich bete zu Gott, daß Er die Angesichter wie lauteres Gold, im Feuer der Prüfungen, erleuchten möge.

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Sei fest und standhaft. Wenn ein Baum fest verwurzelt ist, wird er Früchte tragen. Darum ist es nicht gestattet, durch irgend welche Prüfungen erregt zu sein. Sei nicht verzagt! Sei nicht entmutigt! Mannigfaltig sind die Versuchungen Gottes, aber wenn ein Mensch fest und standhaft bleibt, wird die Versuchung selbst zu einer Stufe für den Fortschritt der Menschheit.

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„Der Regen hört nicht auf. Ich wollte während der vergangenen Tage immer auf den Berg gehen, aber der Regen hält mich ab. Dies ist die Regenzeit. Wenn der Regen nicht niederfällt, wenn der Wind nicht bläst, wenn Sturm und Wirbelwind nicht toben, so kommt keine herzerquickende Frühlingszeit. Wenn die Wolken nicht weinen, können die Wiesen nicht lachen. Der Orkan und Wirbelwind, der Zyklon und Sturm sind die Vorboten des Frühlings.

Gleicherweise gäbe es keine Prüfungen und Versuchungen, keine Mühsal und Not, dann könnte die Hingabe der Herzen nicht Wirklichkeit werden, die geistigen Düfte könnten nicht aufgenommen, noch das Glück der Gnade erlangt werden, und die Schönheit des himmlischen Frühlings würde sich nicht erschließen!“

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„Wenn dir das tägliche Leben schwer wird, dann wird dir dein Herr bald gewähren, was dir Genüge leistet. Sei geduldig in Zeiten der Not und Versuchung, ertrage jede Schwierigkeit und Mühsal mit großem Herzen, fröhlichem Geiste, und mit der Erwähnung des Gnadenvollen auf deinen Lippen. Wahrlich, das ist das Leben wirklicher Befriedigung, heiliger Erquickung, göttlicher Segnung und der Teilnahme am himmlischen Mahle. Bald wird dein Herr deine Lebensumstände klären und erleichtern, selbst in dieser Welt!“

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„Du hast deine Freude gezeigt bei der Befreiung ‘Abdu’l-Bahá’s. Dein Glück kam aus deiner großen Liebe. Ohne Zweifel sind alle Freunde sehr froh über die Befreiung ‘Abdu’l-Bahá’s. Aber ich war dankbar für dieses Gefängnis auf dem Pfade zu Gott und der Mangel an Freiheit war sehr angenehm für mich, denn ich verlebte diese Zeit als Wanderer auf dem Pfade der Liebe Gottes unter den größten Schwierigkeiten und Heimsuchungen, welche Früchte und Erfolge brachten. Wenn man nicht Leiden auf sich nimmt, sich Prüfungen unterwirft und Wechselfälle des Lebens erträgt, wird man keinen Lohn ernten, noch Erfolg haben und Glück erreichen. Darum mußt auch du schwere Prüfungen ertragen, damit die unendlichen göttlichen Gaben dich umgeben und damit du im Verbreiten der göttlichen Kräfte unterstützt werden mögest. Betrachte die Apostel Christi! Sie nahmen alle Heimsuchungen und Verfolgungen auf sich und erfuhren alle Arten von Unterdrückung und Mühsal, bis sie durch große geistige Schenkungen unterstützt und in der Führung des Volkes bestätigt wurden!“

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„Mein Glück war vollkommen in diesen dunkeln Tagen der Gefangenschaft und der großen [Seite 46] Schwierigkeiten. Ich war glücklicher als jetzt, denn ich hatte keinen eigenen Willen. Ich war vollkommen gelassen. Das Leben dieser Welt währt nur wenige Tage. Ob glücklich oder unglücklich, in Freiheit oder in Banden, gesund oder krank, reich oder arm — sie gehen vorüber. Der herrlich auf dem Throne sitzt, und der, welcher nur auf einer Matte ruht — beider Leben währt nur eine kurze Frist.“

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„Für die Schwachen ist es schwer, Prüfungen zu ertragen, aber für Menschen wie du ist es sehr leicht. Es ist meine Hoffnung, daß du während der Zeit der Prüfungen in größter Festigkeit und Standhaftigkeit verharrst, damit du gleich einer Flamme in der Lampe vom schützenden Glase bewahrt und nicht verlöscht werden mögest durch das Wehen des Windes!“

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„Je höher wir stehen, desto näher sind wir Gott, und desto heftiger werden unsere Prüfungen; wenn wir großen Segen empfingen, sind wir geneigt, uns nur auf uns selbst zu verlassen und zu denken, wir seien sicher vor dem Falle; und dadurch kommen wir in große Gefahr!“

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„Sei zuversichtlich in der Hut Gottes. Er wird Seine Kinder unter allen Umständen bewahren. Sei nicht furchtsam und sei nicht erregt. Er hält das Zepter der Macht in Seinen Händen, und wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel nimmt, so sammelt er Seine Kinder unter Seinen starken Schutz. Jedes Ding hat seine Weile, und alles unter der Sonne seine festgesetzte Zeit. Eine Zeit für die Geburt, eine Zeit für den Tod, eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden. Jetzt, meine Freunde, ist die Zeit der Gewißheit und des Glaubens, und nicht die Zeit der Furcht und des Schreckens!“

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„Die Leute, die heute zu uns kamen, waren in großer Furcht. Sie erwarten täglich die Beschießung von Haifa durch die feindlichen Kriegsschiffe. Sobald sie am Horizont des Meeres etwas sehen, was sich bewegt, schauen sie ängstlich durch ihre Ferngläser, um festzustellen, ob die erwarteten Kreuzer kommen. Ihre Herzen sind in ständiger Furcht. Sie sind von Angst verwirrt. Sie haben keine Gemütsruhe mehr. Dies ist eines der Zeichen für das Fehlen von Glauben. Es ist im Koran gesagt: „Sie glauben, jeder Schrei, den sie hören, käme von einem Feind unter ihnen.“ Zum Beispiel, wenn sich ein Dieb in ein Haus schleicht, verursacht das kleinste Geräusch seine Flucht. Er zittert und bebt. Aber die Herzen der glaubensstarken Menschen sind zuversichtlich. Wenn sie von tausend Feinden umgeben sind, stehen sie doch fest auf ihrem Boden. Die größte göttliche Gabe ist ein vertrauendes Herz. Wenn das Herz vertrauend und sicher ist, werden alle Prüfungen der Welt wie Kinderspiel sein. Wenn ein solcher Mensch ins Gefängnis geworfen, oder in einem dunklen Brunnen eingeschlossen wird, wenn alle Arten von Betrübnis über ihn gehäuft werden, so ist sein Herz doch ergeben, friedevoll und zuversichtlich!“

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„In das Königreich einzugehen ist leicht, aber fest und beständig zu bleiben, ist schwer. Das Pflanzen der Bäume ist leicht, aber ihre Pflege und Aufzucht, die ihre Wurzeln stark und ihren Wuchs hoch machen sollen, sind schwer. Nun, da du ein festgewurzelter Baum bist, wirst du sicherlich wachsen und Zweige, Blätter und Blüten hervorbringen und Früchte tragen. Diese Zweige, Blätter, Blüten und Früchte sind die Seelen, welche, durch die göttliche Vorsehung, von dir geführt werden mögen.“

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„Der Mensch muß darnach streben, die Gunst Gottes zu gewinnen, und nicht die Gunst verschiedener Menschenklassen. Ist ein Mensch von Gott erwählt und gepriesen, so ist es kein Schaden für ihn, wenn ihn alle Geschöpfe verwerfen; und wenn ein Mensch nicht an der Schwelle Gottes angenommen ist, wird ihm der Ruhm und die Bewunderung aller Menschen von keinerlei Nutzen sein!“

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„Sei nicht traurig über die Betrübnis und die Schwierigkeiten ‘Abdu’l-Bahá’s, denn Trübsal ist ein Licht, durch das sein Antlitz bei den erhabenen Heerscharen leuchtet, Trübsal ist ein Heilmittel für seine Brust, Freude für sein Herz, Glück für seine Seele, nein, vielmehr, das größte Ehrenkleid für seinen Tempel, das beste Gewand für seinen Körper, die liebste Krone für sein Haupt. Sie ist sein höchster Wunsch!“

(Fortsetzung folgt.)

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Bericht über eine frühe Pilgerreise aus dem Jahr 1898[Bearbeiten]

Von May Maxwell (Fortsetzung und Schluß)


Als wir nach dieser verhängten Tür blickten, rührte sich unsere Seele, als ob sie Befreiung suchte, und hätte uns nicht Gottes Gnade aufrecht erhalten, so hätten wir das Übermaß an Freude und Schmerz, an Liebe und Sehnsucht nicht zu ertragen vermocht, das uns im Innersten unseres Wesens erschütterte. Der gesegnete Meister geleitete uns ruhig und strahlenden Angesichts zu dem offenen Raum am Ende des Hofes, neben dem Grab, wo wir alle in dem milden Licht eines Buntglasfensters schweigend stehen blieben, bis Er eine Gläubige aus unserer Gruppe aufforderte, „Die Heilige Stadt“ (ein Gebet) zu singen. Keine Feder vermag die erhabene Schönheit jenes Augenblicks zu beschreiben, als ein junges Mädchen mit halblauter Stimme das Loblied sang und die Herrlichkeit Gottes pries, während wir alle in den Ozean der Göttlichen Gegenwart versenkt waren. Die Pilger waren alle tief ergriffen; selbst starke Männer konnten nicht ohne Rührung bleiben. Nun führte uns 'Abdu'l-Bahá zur Grabtüre, vor deren Schwelle wir für einen Augenblick niederknieten, dann öffnete Er die Türe und ließ uns eintreten. Wer jene Schwelle überschreitet, ist wahrlich kurze Augenblicke in die Gegenwart Gottes, seines Schöpfers, gelangt, wie es von keinem auszudenken ist. Das Tablet vom Heiligen Grab wurde von einem jungen Perser gesungen. Als wir die heilige Stätte verließen, traten die orientalischen Pilger langsam nacheinander ein, bis jedes das geweihte Grab besucht hatte. Dann schloß der Meister die Türe, und nachdem wir auf Seinen Wunsch „Näher, mein Gott, zu Dir“ gesungen hatten, zogen wir uns still zurück. Draußen warteten in kurzer Entfernung die Wagen, und 'Abdu'l-Bahá, der uns langsam folgte, begab sich auf eine leichte Erhöhung der neben uns dahinrollenden grünen Felder und hob sich so gegen den milden Hintergrund des Abendhimmels ab. Oh, welch schöner Anblick! Er stand so im Zwielicht der am westlichen Himmel in weichen Farben verblassenden Abendsonne und des über Seinem göttlichen Haupte aufsteigenden Vollmondes. Wir fuhren nach Akka durch die Kühle des dämmernden Abends und das duftende Land zurück, das für alle Zeiten der beglückendste und heiligste Boden, „die Freude der ganzen Erde“ sein wird.

Seit dieser Zeit lag ein großer Friede über uns, und die himmlische Ruhe und Schönheit dieser letzten Nacht in Akka schenkten uns Kraft für die Zukunft. Am nächsten Morgen sollten wir nach Haifa zurückfahren und am Nachmittag an Bord gehen, um uns mit jeder Stunde weiter von 'Abdu'l-Bahá zu entfernen. Beim Erwachen am Samstagmorgen schien es mir, als ob die Verwirklichung dieser Trennung wie eine tiefe Dunkelheit auf mich herabfiele und als ob ich völlig allein in der Welt stünde und nur bei Ihm ('Abdu'l-Bahá) in Sicherheit wäre. Er ließ uns in früher Morgenstunde zu sich rufen, und als wir in Sein Angesicht schauten, wußten wir, daß Er uns alle kannte und uns aufrichten und Kraft geben wird; dies aber wog die ganze Welt auf. Durch die Macht und Majestät Seiner Gegenwart verwandelte sich unsere Furcht in vollkommenen Glauben, unsere Schwachheit in Kraft, unser Leid in Hoffen und wir vergaßen uns ganz und gar aus Liebe zu Ihm. Als wir bei Ihm saßen, um Seinen Abschiedsworten zu lauschen, weinten einige Gläubige bitterlich. Er bat sie, Seinethalben nicht zu weinen, Er werde nicht eher zu uns sprechen und uns lehren, bis alle unsere Tränen getrocknet seien und wir uns beruhigt hätten. Dann sprach Er: „Betet, daß ihr euer Herz von euch selbst und von allem auf dieser Welt zu trennen vermögt, damit ihr bestätigt werdet vom Heiligen Geist und erfüllt werdet von der Liebe Gottes. Je näher ihr dem Lichte seid, desto ferner seid ihr der Finsternis; je näher ihr dem Himmel seid, desto ferner seid ihr der Erde; je näher ihr Gott seid, desto ferner seid ihr der Welt. Ihr zählt zu den ersten, die hierhergekommen sind, und euer Lohn ist groß. Es gibt zweierlei Arten von Besuchen, die erstere ist um des Segens willen: da kommt ihr und seid gesegnet und werdet hinausgeschickt zur Arbeit in dem Weinberg Gottes; zum zweiten Besuch kommt ihr mit Musik und fliegenden Fahnen, wie Soldaten, voller Freude und Triumph, um euren Lohn zu empfangen. Wer in vergangenen Zeiten sich erhob und vorwärtsschritt in der Sache Gottes, dem wurde beigestanden und der wurde durch Seinen Geist bestätigt, selbst um den Tod für Ihn zu erleiden; wie viel größer ist die Flut des Lebens, von der ihr jetzt überschüttet werdet! Denn dies ist das [Seite 48] Ende und die vollkommene Offenbarung und Ich sage euch, daß, wer sich auch in dieser Zeit in der Sache Gottes erheben mag, mit dem Geiste Gottes erfüllt sein wird, und daß Er Seine Heerscharen vom Himmel senden wird, um euch zu helfen, und nichts wird euch unmöglich sein, so ihr Glauben habt. Und nun gebe ich euch einen Befehl, der ein Bündnis zwischen euch und Mir sein wird — daß ihr Glauben haben sollt; daß euer Glaube unerschütterlich wie ein Fels sei, den keine Stürme stürzen können, den nichts zerstören kann, und daß er durch alle Geschehnisse hindurch bis zum Ende standhalte; selbst wenn ihr vernehmen solltet, daß euer Herr gekreuzigt wurde, dann laßt euren Glauben nicht ins Wanken kommen; denn Ich bin bei euch, ob lebend oder tot, Ich bin mit euch bis ans Ende. So wie ihr Glauben habt, so werden eure Kräfte und Segnungen sein. Dieser hält die Wage — dieser hält die Wage — dieser hält die Wage!“

Daraufhin erhob Er Sich und bat uns, Ihm zu folgen. Er führte uns in ein anschließendes Zimmer, und dort stand auf einem Divan, gegen die Wand gelehnt, das Bildnis Bahá’u’lláh’s. Wir knieten davor nieder und weinten Tränen der reinen Liebe und tiefsten Verehrung. Wir hätten immer so verharren mögen, unseren Blick auf das herrliche Antlitz gerichtet, allein der Meister berührte unsere Schulter, damit wir auch das Bildnis Seiner Erhabenheit, des Báb, betrachten mögen. Es zeigte ein schönes, junges Antlitz, aber ich konnte meinen Blick nicht eher von den Augen Bahá’u’lláh’s wenden, bis sich 'Abdu'l-Bahá plötzlich uns zuwandte und mit erhobener Stimme, Seine Hände über uns ausstreckend, so nachdrücklich und in jedes Herz dringend sagte: „Jetzt ist die Zeit gekommen, uns voneinander zu trennen, allein die Trennung ist nur eine räumliche, im Geiste sind wir vereint. Ihr seid die Leuchten, die ausstrahlen sollen; ihr seid die Wogen jenes Meeres, das sich ausdehnen und die Welt überfluten wird. Jede Woge ist Mir kostbar und Mein Geruchsinn wird durch euren Wohlgeruch erfreut sein. Einen weiteren Befehl gebe Ich euch, daß ihr einander liebet, wie Ich euch liebe. Große Gnade und großer Segen sind dem Volk eures Landes verheißen, aber unter einer Bedingung: daß eure Herzen erfüllt sind vom Feuer der Liebe, daß ihr in vollkommener Güte und Harmonie wie eine Seele in verschiedenen Körpern lebt — wie eine Seele in verschiedenen Körpern. Wenn die Gläubigen diese Bedingung nicht erfüllen, so wird der große Segen verzögert werden. Vergeßt dies niemals; schaut aufeinander mit dem Auge der Vollkommenheit; schaut auf Mich, folget Mir, seid wie Ich bin. Denkt nicht an euch oder an euer Leben, ob ihr eßt oder ob ihr schlaft, ob es euch gut geht, ob ihr gesund oder krank seid, ob ihr mit Freund oder Feind beisammen seid, ob ihr Lob oder Tadel empfangt; um all diese Dinge sollt ihr euch keineswegs kümmern. Schaut auf Mich, und seid, wie Ich bin; ihr müßt euch und der Welt absterben, damit ihr aufs neue geboren werdet und in das Königreich des Himmels eintretet. Seht wie eine Kerze ihr Licht spendet. Sie gibt ihr Leben Tropfen um Tropfen dahin, um ihre Flamme zu speisen!“

Als Er zu Ende gesprochen hatte, wurden wir in liebevoller Weise von den Gliedern der heiligen Familie hinausgeleitet, aber es schien uns für einen Augenblick, als sei unser Leben zu Ende. Doch der liebevolle Blick unseres Meisters folgte uns, bis wir Ihn wegen unserer Tränen nicht mehr sehen konnten. Dann umarmten uns die Frauen der heiligen Familie. Es war uns schwer ums Herz und es schien uns, als ob alle Bande des Lebens zerrissen. Als wir von dem Heim unseres himmlischen Vaters abfuhren, war uns aber plötzlich, als ob Sein Geist mit uns sei, und eine große Kraft und Ruhe erfüllten unsere Seele, der Abschiedsschmerz wurde in Freude geistiger Vereinigung umgewandelt. Wir hatten unsern geliebten Meister in Seinem glorreichen Gefängnis verlassen, um in die Welt zu gehen und Ihm zu dienen, Seine Sache zu verbreiten und von Seiner Wahrheit in der Welt Zeugnis abzulegen. Schon erfüllten sich Seine Worte: „Jetzt ist die Zeit gekommen, uns voneinander zu trennen, allein die Trennung ist nur eine räumliche, im Geiste sind wir vereint!“


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Bahá’u’lláh

Verborgene Worte.. Worte der Weisheit und Gebete. Geschrieben während seiner Verbannung in Bagdad 1857/58 . . . kart. —.80

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Frohe Botschaften. Worte des Paradieses, Tablet Tarasat (Schmuck), Tablet Taschalliat (Lichtstrahlen), Tablet Ischrakat (Glanz). Mahnrufe und Anweisungen an die Völker der Erde . . gebunden 2.00

Ganzleinen 2.50

Buch der Gewißheit oder Kitábu’l-Iqán. Eine Auseinandersetzung mit theologischen Fragen verschiedener Religionen, geschrieben in Bagdad um 1862. Ist fortsetzungsweise in den beiden Jahrgängen X und XI unserer Zeitschrift „Sonne der Wahrheit“ enthalten.

Jahrgang gebunden je 6.--


'Abdu'l-Bahá Abbas

Ansprachen in Paris. ‘Abdu’l-Bahá spricht hier über zahlreiche Fragen, nach deren Klärung die Völker der Erde suchen.

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Sendschreiben an die Haager Friedenskonferenz 1919 . . . . . --.20


Sonstiges

Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahá’i-Religion, Einführung in die Gedankenwelt der Bahá’i-Lehre von einem orientalischen Gelehrten. Von Mirza Abul Fazl . . . . . gebunden 2.--

Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter. ein Lehrbuch von Dr. J. E. Esslemont. Ganzleinen 2.50

'Abdu'l-Bahá Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps. . . . . .gebunden 2.--

Die Bahá’i-Offenbarung, ein Lehrbuch von Thornton Chase. . . . . . . kart. 2.--

Am Morgen einer neuen Zeit. Untersuchung der geistigen Ursachen der Weltkrise und Beleuchtung der letzthin einzigen Möglichkeit ihrer Überwindung durch die Bahá’i-Lehre. Von Dr. Hermann Großmann . . . . . kart. 1.80

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Die Bahá’i-Weltanschauung. Eine kurze Einführung. Von Pauline Hartmann . . . . —.20

Das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahás ("The Passing of 'Abdu'l-Bahá") . . . -.30

Sonne der Wahrheit. Bahá'i-Monatszeitschrift.

Jahrgang III - IX gebunden je 3.--
Jahrgang X - XII gebunden je 6.--