| SONNE DER WAHRHEIT | ||
| ORGAN DER DEUTSCHEN BAHAI | ||
| HEFT 5 | 14. JAHRGANG | JULI 1934 |
Die Bahá’i-Lehre,[Bearbeiten]
die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.
Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.
Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.
Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.
Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“
Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.
Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.
Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.
| SONNE DER WAHRHEIT Organ der deutschen Bahá’í Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198 Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo Verwaltung: Paul Gollmer • Begründet von Alice Schwarz-Solivo Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark, im Ausland 2.– Reichsmark |
| Heft 5 | Stuttgart, im Juli 1934 Kalimát — Worte |
14. Jahrgang |
Inhalt: Nabil’s Erzählung: Der Báb erklärt Seine Sendung. — Göttliche Lebenskunst. — Der Gedanke der Eßlinger Bahá’i-Sommerwochen. — Bericht über eine frühe Pilgerreise aus dem Jahr 1898.
O Menschensohn! Erfreue dich des Glücks deines Herzens, damit du würdig bist, auf Mich zu schauen und Meine Schönheit zurückzustrahlen.
Verborgene Worte von Bahá’u’lláh
Nabíl’s Erzählung[Bearbeiten]
Übersetzung aus „The Dawn-Breakers“, Nabíl’s Narrative of the early days of the Bahá’i Revelation, New York 1932
(Fortsetzung 3. Kapitel: Der Báb erklärt Seine Sendung)
„‚Ich fühlte mich im Besitz von solchem Mut und solcher Kraft, daß, wenngleich die Welt mit
all’ ihren Menschen und Herrschern sich gegen mich erheben würde, ich allein und unerschrocken
ihrem Ansturm widerstände. Das Universum schien mir nur eine Hand voll Staub zu
sein. Ich glaubte die Stimme Gabriels zu verkörpern, indem ich der ganzen Menschheit zurief:
„Erwache, denn, siehe! Das Morgenlicht ist angebrochen. Erhebet euch, denn Seine
Gnade ist geoffenbart. Das Portal Seiner Gnade ist weit geöffnet, tretet herein, o Völker der
Welt! Denn Er, der euch Verheißene, ist gekommen!“
„‚In solch einer Verfassung verließ ich Sein Haus und begab mich zu meinem Bruder und Neffen. Eine große Anzahl der Nachfolger des Shaykh Aḥmad, welche meine Ankunft erfuhren, hatten sich in der Masjid-i-Ilkháni versammelt, um mich zu sehen. Getreu den Weisungen meines neu gefundenen Geliebten, machte ich mich sofort daran, Seine Wünsche auszuführen. Wie ich begann, meine Klassen zu organisieren und meine Gebetsübungen zu verrichten, versammelte sich allmählich eine große Anzahl von Menschen um mich. Geistige Würdenträger und Beamte der Stadt kamen ebenfalls, mich zu besuchen. Sie staunten über den Geist, welcher von meinen Vorträgen ausging, nicht wissend, daß die Quelle, aus der mein Wissen floß, keine andere war, denn Er, dessen Ankunft der größte Teil von ihnen erwartete."
„‚Während dieser Tage wurde ich bei verschiedenen Anlässen vom Báb aufgefordert, Ihn
zu besuchen. Er pflegte zur Abendzeit denselben äthiopischen Diener zum Masjid zu senden, um
mir Seine überaus liebreiche Botschaft des Willkommens zu überbringen. Jedesmal, wenn
ich Ihn besuchte, verbrachte ich die ganze Nacht in Seiner Gegenwart. Wachend bis zum
Sonnenaufgang, saß ich zu Seinen Füßen, durch den Scharm Seiner Worte entzückt und die Welt
mit all ihren Sorgen und ihrem Trachten vergessend. Wie schnell eilten diese kostbaren
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Stunden dahin! Bei Tagesanbruch zog ich mich aus Seiner Gegenwart ungern zurück. Wie
sehnsüchtig schaute ich dem Kommen der Abendstunden entgegen! Mit was für einem Gefühl
der Traurigkeit und des Bedauerns sah ich den Tag anbrechen! Im Verlauf einer dieser
nächtlichen Besuche richtete mein Herr diese Worte an mich: „Morgen werden dreizehn deiner
Gefährten ankommen. Erweise jedem von ihnen die größte Herzensgüte. Überlasse sie nicht sich
selbst, denn sie haben ihr Leben dem Suchen ihres Geliebten geweiht. Bete zu Gott, daß Er
gnädig sie befähige, den Pfad zu gehen, welcher feiner ist als ein Haar und schärfer als ein
Schwert. Sicher werden einige unter ihnen in dem Angesichte Gottes als Seine auserwählten
und bevorzugten Jünger gezählt sein. Andere werden den Mittelweg einschlagen. Das Schicksal
der übrigen wird unentschieden bleiben, bis zu der Stunde, zu der alles, was verborgen ist,
geoffenbart sein wird.“
„‚Am gleichen Morgen, bei Sonnenaufgang, kurz nach meiner Rückkehr vom Hause des Báb, kam Mullá ‘Alíy-i-Bastámi in Begleitung von der gleichen Anzahl Gefährten, wie mir angegeben, zu der Masjid-i-Ilkháni. Ich begann sofort, für ihre Bequemlichkeit zu sorgen. In einer Nacht, wenige Tage nach ihrer Ankunft, gab Mullá ‘Alí, als der Sprecher seiner Gefährten, seinen Gefühlen Ausdruck, mit welchen er nicht mehr länger zurückhalten konnte. „Du weißt wohl“, sagte er, „wie groß unser- Vertrauen in dich ist. Wir sind dir so ergeben, daß, falls du den Anspruch erheben würdest, der verheißene Qá’im zu sein, wir alle ohne Zögern uns dir unterwerfen würden. Gehorsam deinem Ruf, haben wir unser Heim verlassen und sind fortgegangen, unseren verheißenen Geliebten zu suchen. Du warst der Erste, der uns dieses hohe Beispiel gab. Wir sind deinen Schritten gefolgt. Wir sind entschlossen, in unseren Bemühungen nicht nachzulassen, bis wir den Gegenstand unseres Suchens finden. Wir sind dir bis hierher gefolgt, bereit, den anzuerkennen, wen du auch annehmen mögest, in der Hoffnung, Obdach zu finden unter Seinem Schutz und durch den Tumult und Aufruhr hindurchzukommen, welche die letzte Stunde notwendigerweise ankündigen müssen. Wie kommt es, daß wir dich die Menschen lehren und ihre Gebetsübungen mit der größten Ruhe führen sehen? Die Anzeichen der Unruhe und Erwartung scheinen aus deinen Gesichtszügen verschwunden zu sein. Wir bitten dich, uns den Grund zu sagen, damit wir von unserem augenblicklichen Zustand der Niedergeschlagenheit und des Zweifels ebenfalls befreit werden mögen.“ „Deine Begleiter“, bemerkte ich freundlich, „mögen natürlich meinen Frieden und meine Ruhe der Stellung zuschreiben, welche ich hier in dieser Stadt einzunehmen scheine. Doch die Wahrheit ist weit davon entfernt. Ich versichere dich, daß die Welt mit all ihrem Glanz und ihren Verführungen diesen Husayn von Bushrúyih niemals von seinem Geliebten hinweglocken kann. Schon seit Beginn dieses heiligen Unternehmens, für welches ich mich einsetze, habe ich gelobt, mein eigenes Schicksal mit meinem Lebensblut zu besiegeln. Für Seine Sache heiße ich das Versenktsein in einen Ozean von Trübsalen willkommen. Ich sehne mich nicht nach den Dingen dieser Welt. Ich habe nur nach dem Wohlgefallen meines Geliebten Verlangen. Nicht eher, bis ich mein Blut für Seinen Namen vergossen habe, wird das Feuer, das in mir glüht, gelöscht sein. Bitte Gott, daß du Zeuge dieses Tages sein mögest. Dürften deine Begleiter nicht gedacht haben, daß Gott dank der Stärke seines Verlangens und der Beständigkeit seiner Bemühungen sich in Seiner unendlichen Barmherzigkeit herabgelassen hat, vor dem Angesicht des Mullá Husayn das Tor Seiner Gnade zu öffnen, und mit dem Wunsche, nach Seiner unerforschlichen Weisheit diese Tat zu verhüllen, ihm befohlen hat, sich in solchem Streben zu bemühen?“ Diese Worte erregten die Seele Mullá ‘Alí’s. Er verstand sofort ihren Sinn. Mit tränenvollen Augen bat er mich flehentlich, ihm den zu erkennen geben, welcher meine Unruhe in Frieden und meine Angst in Gewißheit verwandelt hatte. „Ich bitte dich dringend“, bestand er, „auch mir einen Teil dieses heiligen Getränks, welches die Hand der Gnade dir zu trinken gab, zu reichen, denn es wird sicher meinen Durst stillen und den Schmerz des Verlangens in meinem Herzen lindern.“ „Bitte mich nicht“, erwiderte ich, „dir diese Gunst zu erweisen. Setze dein Vertrauen in Ihn, denn Er wird sicherlich deine Schritte führen und die Erregung deines Herzens besänftigen.“
Mullá ‘Alí eilte zu seinen Gefährten und machte sie mit dem Inhalt seiner Unterredung
mit Mullá Husayn bekannt. Entfacht durch das Feuer, welches diese Unterredung in ihren
Herzen entzündet hatte, gingen sie sofort auseinander
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und begaben sich in die Einsamkeit ihrer Zellen, wo sie durch Fasten und Beten die baldige
Beseitigung des Schleiers erflehten, der zwischen ihnen und dem Erkennen ihres Geliebten
bestand. Sie beteten während der Nacht: „O Gott, unser Gott! Zu Dir allein beten wir,
und zu Dir schreien wir um Hilfe. Führe uns, wir bitten Dich, auf den rechten Pfad, o Herr
unser Gott! Erfülle was Du uns durch Deine Apostel versprochen hast, und beschäme uns
nicht am Tage der Auferstehung. Wahrlich, Du wirst Dein Versprechen nicht brechen.“
In der dritten Nacht seiner Zurückgezogenheit hatte Mullá ‘Alíy-i-Bastámi, während er im Gebet versunken war, eine Vision. Es erschien vor seinen Augen ein Licht, und, siehe! dieses Licht bewegte sich vor ihm her. Verführt durch seinen Glanz folgte er ihm, bis es ihn zuletzt zu seinem verheißenen Geliebten führte. Zu dieser selben Stunde, in der Mitte der Nacht, erhob er sich, und außer sich vor Freude und in strahlender Glückseligkeit, öffnete er die Tür seiner Kammer und eilte zu Mullá Husayn. Er warf sich in die Arme seines hochverehrten Begleiters. Mullá Husayn umarmte ihn überaus liebevoll und sagte: „Gelobt sei Gott, welcher uns hierher geführt hat! Wir wären nicht geführt worden, wenn uns nicht Gott geführt hätte!“
Denselben Morgen, bei Tagesanbruch, eilte Mullá Husayn, von Mullá ‘Alí gefolgt, zu der Wohnung des Báb. Am Eingang Seines Hauses trafen sie den treuen äthiopischen Diener, welcher sie sofort erkannte und mit diesen Worten begrüßte: „Vor Tagesanbruch wurde ich in die Gegenwart meines Meisters gerufen, welcher mich anwies, die Tür des Hauses zu öffnen und an seiner Schwelle zu warten. ‚Zwei Gäste‘, sagte Er, ‚müssen früh an diesem Morgen erscheinen. Entbiete ihnen in Meinem Namen ein herzliches Willkommen. Sage ihnen von Mir: „Tretet ein im Namen Gottes“.
Die erste Begegnung des Mullá ‘Alí mit dem Báb glich der Begegnung mit Mullá Husayn, nur mit dem Unterschied, daß, während in der vorherigen Begegnung die Beweise und Zeugnisse der Sendung des Báb kritisch geprüft und erklärt worden sind, hier bei dieser Begegnung jede Beweisführung beiseite gelassen wurde und nichts als der Geist inniger Anbetung und enger und herzlicher Gemeinschaft vorherrschte. Das ganze Zimmer schien von jener himmlischen Kraft belebt worden zu sein, welche von Seinen inspirierten Worten ausstrahlte. Jeder Gegenstand in diesem Raum schien von diesem Zeugnis zu schwingen: „Wahrlich, wahrlich, der Morgen eines neuen Tages ist angebrochen. Der Verheißene ist in die Herzen der Menschen eingezogen. In Seiner Hand hält Er den geheimnisvollen Becher, den Kelch der Unsterblichkeit. Gesegnet sind die, welche daraus trinken!“
Jeder der zwölf Begleiter von Mullá ‘Alí suchte und fand auf seine Weise seinen Geliebten, durch eigenes Bemühen und ohne Hilfe anderer. Einige im Schlaf, andere wachend, einige im Gebet und andere wieder in Augenblicken der Versenkung, erfuhren das Licht dieser göttlichen Offenbarung und wurden dazu geführt, die Kraft Seiner Herrlichkeit zu erkennen. In derselben Weise wie Mullá ‘Alí, gelangten diese und einige andere in Begleitung von Mullá Husayn in die Gegenwart des Báb und wurden als die „Buchstaben der Lebenden“ erklärt. Siebzehn Buchstaben wurden allmählich in das bewahrte Tablet Gottes eingeschrieben, und als die auserwählten Glaubensboten des Báb, die Werkzeuge Seines Glaubens und die Verbreiter Seines Lichtes bestimmt.
(Fortsetzung folgt.)
Göttliche Lebenskunst[Bearbeiten]
Aus den Schriften von ‘Abdu’l-Bahá (Fortsetzung)
Zusammengestellt von Mary M. Rabb (New York, Brentanos Publishers)
Übersetzung aus dem Englischen
6. Kapitel: Prüfungen
Die ich lieb habe, die strafe und züchtige ich.
So sei nun fleißig und tu’ Buße.
Offenbarung Johannis, 3. Kap. 19.
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O Herr, bewahre uns heute vor allen Versuchungen, Prüfungen und schlechten Einflüsterungen
von denen, die ihr Antlitz von Dir abwandten; dann, o Du gnadenvoller Gott,
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verleihe uns Stärke durch Deine unsichtbaren Heerscharen und gib uns neue Kraft durch Deine
himmlischen Boten.
O Herr! Wir sind schwach, arm, Dir ergeben und demütig; stärke uns, mache Du uns reich und erhebe uns über alle irdischen Zustände. O Gott! So, wie Du unsere Herzen erleuchtet hast mit dem Licht Deiner Erkenntnis, so mache uns fest in Deinem gesegneten Bunde. Wahrlich, Du bist der Gütige, der Erhabene!
Gebet von Bahá’u’lláh.
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Ich bin weder über die Trübsal auf dem Pfade zu Gott noch über die Schwierigkeiten beim Suchen nach Seinem Wohlgefallen und Seiner Liebe bekümmert. Gott machte die Trübsal zum Frühregen für Seine grünen Auen und zum zündenden Funken für Seine Leuchte, die Erde und Himmel erhellt.
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„O Sohn des Menschen! Wenn dich Trübsal nicht befiele auf dem Pfade zu Mir, wie wolltest du dann auf dem Wege derer wandeln, die in Meinen Willen ergeben sind? Wenn keine Not über dich käme bei deiner Sehnsucht, Mir zu begegnen, wie könntest du das Licht der Liebe Meiner Schönheit erreichen?“
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„O Sohn des Menschen! Meine Trübsal ist Meine Vorsehung. Dem Scheine nach ist sie Feuer und Rache, in Wirklichkeit ist sie Licht und Gnade. Darum nähere dich ihr, damit du ein ewiges Licht und ein unsterblicher Geist werden mögest. Dies ist Mein Befehl, beachte ihn wohl!“
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„O Sohn der Menschheit! Freue dich nicht, wenn das Glück dir lächelt, und sei nicht traurig, wenn Demütigungen über dich kommen, denn bald werden beide vergehen und nicht mehr sein.“
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„O Sohn der Existenz! Wenn dir Armut begegnet, sei nicht bekümmert, denn zu seiner Zeit wird der König aller Reichtümer zu dir herabkommen. Fürchte keine Demütigung, denn Ruhm wird dein Teil sein.“
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„O Sohn der Existenz! Hänge dein Herz nicht an die Besitztümer dieser Welt, denn mit Feuer prüfen Wir das Gold und mit Gold erproben Wir unsere Diener.“ Worte von Bahá’u’lláh.
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Je mehr man von dieser Welt, von Wünschen, von menschlichen Angelegenheiten und Dingen losgelöst ist, desto weniger wird man von den Prüfungen Gottes erschüttert. Prüfungen sind ein Mittel, durch welches die Tauglichkeit eines Menschen ermessen und seine Handlungsweise erprobt wird. Gott kennt die Tauglichkeit zuvor, und ebenso das Nicht-Bereitsein, aber der Mensch mit seinem Ich würde das selbst nicht glauben, wenn ihm nicht der Beweis gegeben würde. Folglich wird ihm seine Empfänglichkeit für das Übel bewiesen, wenn Prüfungen über ihn kommen, und die Prüfungen dauern an, bis der Mensch seine eigene Untauglichkeit erkennt, dann kann er mit Bedauern und Reue darnach streben, die Schwäche zu überwinden. Dieselbe Prüfung kommt wieder in stärkerem Maße, bis sich zeigt, daß die frühere Schwäche zur Stärke geworden ist und die Kraft, das Übel zu besiegen, erlangt wurde.
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Du hast über Heimsuchungen, Schwierigkeiten und Katastrophen gefragt: „Sind diese von Gott verordnet oder sind sie die Frucht übler Taten der Menschen?“
Wisse, daß es zweierlei Arten von Heimsuchungen gibt: eine Art ist Versuchung (um die Seele zu prüfen), und die andere ist Strafe für Taten. (Wie der Mensch säet, so wird er ernten) Was als Versuchung bestimmt wurde, ist erzieherisch und fördernd, und Strafe für Übeltaten ist strenge Vergeltung.
Der Vater und der Lehrer lassen manchmal den Kindern ihren Willen, und dann wieder halten sie auf strenge Zucht und Ordnung. Diese Zucht dient der Erziehung und bezweckt das wahre Glück der Kinder, sie ist reine Güte und wahre Vorsorge. Obwohl dem Anschein nach oft Zorn, ist sie in Wirklichkeit Güte. Obwohl dem Äußeren nach oft schwere Last, ist sie dem Wesen nach reinigendes Wasser.
Wahrlich, in beiden Fällen müssen wir beten und bitten und uns in die Gegenwart Gottes begeben, um in der Heimsuchung geduldig zu bleiben.
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O ihr Freunde Gottes! Die Freude und das Glück der Getreuen besteht im Dienst an der
Schwelle des Allerhöchsten und im Erheben des Antlitzes zum Königreiche Abhás. Die Hoffnung
der Liebenden ist das Opfer des eigenen Ich und das Verlangen der Sehnenden ist
Selbstverleugnung. Denn göttliche Liebe ist eine unwiderstehliche Macht und ein
unauslöschliches Feuer, und der Spiegel der Liebe zu Gott ist das große
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Martyrium. Darum sehnten sich die geheiligten Seelen und die Offenbarer Gottes nach
Selbstaufopferung und nach der Erlangung des Martyriums. Sie achteten nicht ihres Lebens, sie
erfuhren Verbannung, ertrugen Verfolgungen und schreckliches Elend, sie wurden gefangen und
gefesselt und sie waren die Zielscheibe für die Pfeile der Unterdrückung und die Schwerter der
Bosheit. Sie beklagten sich nicht, noch waren sie verzagt. Sie tranken den Kelch des Martyriums
von der Hand des Mundschenkes der Vorsehung, und mit der größten Freude erlebten sie die
Süßigkeit der Vernichtung. Sie fanden keine Rast und Ruhe. Sie dachten keinen Augenblick
an ihre Bequemlichkeit. Sie widerstanden der Verfolgung der Feinde und wurden zum Hohn
und Spott für die Boshaften. Sie kannten keine Stunde der Sicherheit mehr und keinen Tag der
Ruhe für Leib und Seele. Dies ist der untrügliche Beweis für den aufrichtig Liebenden, und
dies ist die Feuerprobe für den treuen Freund. Wäre dem nicht so, dann könnte jeder Fremdling
ein Freund, der Einfältige ein Wissender der Geheimnisse, der Fernstehende der Vertraute
und der Verstoßene der Geliebte werden. Folglich hat die Größte Weisheit verordnet, daß
das Feuer der Prüfungen wüte und der jagende Sturm schwerer Versuchungen vom Berge der
Offenbarung mächtig dahinfahre, damit die Wahren von den Unwahren, die Getreuen von
den Ungetreuen, die Gerechten von den Ungerechten unterschieden werden; damit die Anbeter
ihres eigenen Selbst von den Anbetern Gottes abgesondert, die guten Früchte von den
schlechten ausgesondert, die Zeichen des Lichtes offenbar und die Dunkelheit zerstreut werden,
damit die Nachtigall der Wahrhaftigkeit die Melodie der Liebe singe und die Raben der
Unterdrückung die Mißtöne ihres Irrtums krächzen, damit der fruchtbare Boden grüne und der
unfruchtbare seine Dornen und Disteln trage, damit die zum Leben der Höchsten Schönheit
Hingezogenen gefestigt werden, und damit diejenigen sich wegwenden, welche niedrigen
Wünschen und Leidenschaften nachjagen. Dies ist die Weisheit der Prüfungen und dies ist
die Ursache für die Heimsuchungen.
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Dein ausführlicher Brief traf ein und sein Inhalt verursachte großes Glück, denn er bezeugte, daß du das Wissen von der wahren Natur der Prüfungen erlangt hast; nämlich, daß Prüfungen, die uns auf dem Wege zu Gott begegnen, zur Stärkung werden, nein, vielmehr, sie sind himmlische Kräfte und Gnade vom Reiche der Macht. Aber für schwache Menschen sind Prüfungen nur Anfechtungen und Lasten, denn wegen ihrer Schwäche in Glaube und Sicherheit geraten sie in Schwierigkeiten und schwanken hin und her. Für die Menschen jedoch, welche fest und standhaft sind, bedeuten Prüfungen die größte Gunst.
Bedenke, daß zur Zeit einer Prüfung in Kunst und Wissenshaft der faule und nachlässige Schüler in Unannehmlichkeiten gerät. Aber dem klugen und scharfsinnigen Studenten bringen die Prüfungen in seinem Fache Ehre und großes Glück. Verfälschtes Gold läßt bei der Feuerprobe seine Wertlosigkeit erkennen, während die Feuersglut den Wert des reinen Goldes erhöht. Darum sind Prüfungen für schwache Seelen Trübsal und für die Blinden die Ursache ihrer Schande und Demütigung.
Es sei damit gesagt, daß auf dem Pfade der Wahrheit jede Schwierigkeit klar gemacht wird und jede Prüfung eine unvergleichliche Gnade ist. Darum müssen alle, die an Gott glauben, und die Dienerinnen des Gnadenvollen in Prüfungen nicht erschlaffen, und kein Mißgeschick darf sie vom Dienst an der Sache Gottes abhalten.
(Fortsetzung folgt.)
Der Gedanke der Eßlinger Baha’i-Sommerwoche[Bearbeiten]
Von Dr. Hermann Grossmann
Vom 5. bis 12. August d. J. findet, wie in der vorausgegangenen Nummer des Näheren angekündigt, bei Eßlingen die 3. deutsche Bahá’i-Sommerwoche statt. Wir geben daher gerne den nachstehenden Ausführungen Raum, die eine Erläuterung des Gedankens geben, der dieser Veranstaltung zu Grunde liegen wird.
Die Gesamthaltung des Bahá’i — die äußere wie auch die innere — ergibt sich aus seinem
Verhältnis zu Gott. Der Bahái-Glaube lehrt das Wesen der Religion darin zu erkennen, daß
sich der Mensch vorbehaltslos dem Göttlichen zuwendet und aus ihm heraus, durch die
Vermittelung der Manifestation, die Kraft und die Richtung für den Aufbau seines Lebens
gewinnt.
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Nach innen schauend überwindet er den Dualismus zwischen Materie und Geist, indem ihm
Gott zum Logos wird, dem schöpferischen Prinzip, das als Plan, Wille und Tat alles Sein
umfaßt. Die geäußerte Erscheinungswelt ist im Verhältnis zu der für den Menschen unfaßbaren
Wesenheit Gottes gleich einem Nichts, ein winziges Pünktchen in der unermeßllichen Ewigkeit
des unbeschreiblichen Schöpfers. Selber ein Glied der Schöpfung, selber Tat gewordener Plan, geht
der Mensch also, indem er sich ganz dem Schöpfer zuwendet, bewußt den Weg des Logos zu
seinem Ausgang zurück und lauscht dadurch dem Geheimnis des großen Schöpfungsplanes,
wie es ihm durch den göttlichen Geist geoffenbart wird. Dies ist das Mysterium der Loslösung,
des restlosen Gehorsams gegenüber dem schöpferischen Willen des Logos, des Wortes Gottes.
Aus diesem Gehorsam aber ergibt sich auch die äußere Haltung in den zahllosen Fragen des Lebens. Denn alle Erscheinung ist dem Bahá’i Tat gewordener Logos, faßbare Äußerung des unfaßbaren göttlichen Wesens. Wenn der Bahá’i-Glaube an den Bahá’i in bezug auf das äußere Leben die höchste Forderung der sittlichen Tat richtet, so hört für den Bahá’i diese Tat auf, ein für das Weltgeschehen mehr oder minder unwichtiges Verhalten zu sein, er erkennt vielmehr seine Aufgabe im Sinne des Tatgedankens des Logos. Selber Glied des Logos, hat er die heilige Pflicht, durch sein eigenes Verhalten dazu zu helfen, daß der göttliche Wille nach dem göttlichen Plan Tat wird. Für eine so hohe Auffassung des Lebens und der aus ihm erwachsenden Aufgaben gibt es infolgedessen für den Bahá’i keine Frage, außer der versiegelten göttlichen Wahrheit, die außerhalb des Bereiches des für ihn Bereiten und seiner Pflicht liegt. (Dies schließt natürlich nicht aus, daß die Aufgaben für jeden Menschen sich gemäß seiner Eigenart verschieden ergeben werden, gleichwohl aber ist es Pflicht eines jeden, nicht einseitig sein Erkenntnisstreben diesen besonderen Aufgaben zuzuwenden.)
Hiermit ergeben sich sowohl für das Studium des Bahá’i-Glaubens als auch für die Übermittelung und Vertiefung des Bahá’i-Gedankens durch den Lehrer ernste und weitgehende Anforderungen und das Bedürfnis der Schulung. Der Erkenntnis dieser Notwendigkeit entsprang der Gedanke besonderer Bahá’i-Schulungsveranstaltungen. Gelegentliche Kurse an einzelnen Plätzen im Kreise der ortsansässigen Freunde, sowie arbeitsmäßige Themen gelegentlich verschiedener Bahá’i-Tagungen hatten die Erfahrungsgrundlage geliefert.
Auf Grund dieser Erfahrungen fand im Herbst 1931 in dem von den Eßlinger Bahá’i-Freunden unweit der Katharinenlinde errichteten Bahá’i-Heim eine zweitägige Schulungszusammenkunft statt, bei der durch verschiedene Redner und die gemeinsame Aussprache das Thema der Erlösung behandelt wurde. Dieser erste Versuch führte im darauffolgenden Sommer zu einem achttägigen Beisammensein am gleichen, durch seine liebliche Lage und seine wohltuende Abgeschlossenheit so geeigneten Platz, zu dem sich Freunde aus den verschiedenen Teilen Deutschlands fanden. Veranstalter war die Eßlinger Bahá’i-Arbeitsgemeinschaft, die mit rührender Aufopferung alles auf das trefflichste für die Aufnahme und Versorgung der Teilnehmer vorbereitet hatte, während die Programmgestaltung Dr. Adelbert Mühlschlegel, Stuttgart, Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart, und Dr. Hermann Großmann, Neckargemünd, anvertraut war. In dieser ersten deutschen Bahá’i-Sommerwoche wurde die Form für die späteren gleichen Veranstaltungen gefunden: Verschiedene Kurse, die in sich eine gewisse Einheit bilden, so daß sie sich immer wieder in gewissen Fragen berühren und dadurch die Einheit der Bahá'i-Erkenninis in verschiedenen Personen zum Ausdruck kommt; einige Einzelvorträge und zwanglose Belehrung und Aussprache gelegentlich der Freistunden und Spaziergänge. Die Tage der Sommerwoche tragen für die Teilnehmer den Charakter der Gemeinsamkeit: kurze Andachten morgens und abends, gemeinsame Mahlzeiten, zwanglose Spaziergänge in den Abendstunden, Erholung im Garten des Bahá’i-Heims und am Wiesenhang, eine Morgenfeier als Abschluß und Rückblick am Sonntagmorgen, dazu Lied und Musik, wie es sich aus dem Impuls der anwesenden Freunde ergibt.
Die Eßlinger Bahá’i-Sommerwochen mögen im Sinne einer Arbeitsgemeinschaft und geistigen Schulung in wachsendem Maße dazu beitragen, den Weg zu religiöser Lebensgestaltung auf dem Boden des Bahá’i-Glaubens aufzuzeigen.
Bericht über eine frühe Pilgerreise aus dem Jahr 1898[Bearbeiten]
Von May Maxwell (Fortsetzung)
Allabendlich wünschte Er uns eine gute Nacht und sagte, wir möchten in unseres Vaters Hause
gut schlafen und schöne Träume haben. Am Morgen begrüßte Er uns in aller Frühe und
frug jeden einzelnen nach dessen geistigem Wohlergehen und Glück, wobei Er jenen liebevolle
Besorgtheit erzeigte, die sich nicht wohl fühlten. Gelegentlich sagte eine amerikanische
Gläubige zur heiligen Mutter, daß sie sich verwaist fühle, seit ihre Eltern ihren Glauben
nicht teilten. Die Gattin unseres Meisters nahm das Mädchen in ihre Arme, legte ihren
Kopf an ihre Brust und sagte ihr, daß sie nun ihre Mutter wäre, sie solle sich deshalb
trösten. Dann ging sie mit dem Mädchen zum Meister, setzte sich ganz zwanglos zu Dessen Füßen,
hielt das Mädchen eng an ihr liebendes Herz und erzählte Ihm alles. ‘Abdu’l-Bahá sagte: „Irdische
Verwandtschaft bedeutet nichts, sie trägt keine ewigen Früchte, Du bist das Kind Gottes und
des Königreiches. Die irdischen Bande bedeuten nichts, die Bande des Geistes dagegen sind alles.
Ich bin dein Vater, diese sind deine Brüder und Schwestern und du mußt glücklich und froh sein,
denn ich habe dich innig lieb.“
Am Freitag Morgen sagte uns der Meister, daß wir heute das Heilige Grab von Bahá’u’lláh besuchen würden. Am Nachmittag fuhren wir alle in Wagen durch die engen Straßen und durch das Stadttor, in das vor uns sich dehnende weite Land in der Richtung nach Bahja und dem Garten Ridwan. Es war ein herrlicher Tag, der Himmel tiefblau und klar, die Sonne heiß in voller Pracht, es erhob sich ein leichter Wind, der uns Rosendüfte entgegentrug. Nach halbstündiger Fahrt erreichten wir den Garten, in dem Bahá’u’lláh Sich des öftern nach den langen Jahren Seiner Einkerkerung in Akka aufhielt. Obgleich dieser Garten nicht groß ist, so ist er doch einer der lieblichsten Plätze, die man sich denken kann.
Bahá’u’lláh sagte öfters zu Seinem Gärtner Abul Kasim: „Dies ist der schönste Garten in der Welt!“ Er liegt mit seinen hohen Bäumen, seiner Blumenfülle und seinen Brunnen, einem unvergleichlichen Edelstein gleich, inmitten von zwei klaren Wasserarmen, gerade so wie es im Koran beschrieben ist. Die Atmosphäre, die dort alles durchdringt, ist so erfüllt mit geheiligten Erinnerungen, mit göttlicher Bedeutung, mit himmlischem Frieden und einer Stille, daß es nicht weiter wundernimmt, von dem Reisenden zu hören, der eines Tages an dem Garten vorüberkam, staunend stehen blieb und Bahá’u’lláh im Schatten der Maulbeerbäume sitzen sah, unter jenem nicht von Menschenhänden erbauten Baldachin, wodurch er sich der Prophezeiung im Koran erinnerte, seinen Herrn erkannte und sich beeilte, um sich zu Seinen Füßen zu werfen.
Wir besichtigten das kleine Haus am Ende des Gartens und standen an der Schwelle jenes
Zimmers, in dem Sich Bahá’u’lláh bei heißem Wetter aufzuhalten pflegte. Wir knieten nieder
und berührten tiefergriffen mit unserer Stirne die Schwelle, die Seine gesegneten Füße
betreten hatten. Dann kehrten wir in den Garten zurück, wo uns von dem Gärtner Abul Kasim
Tee gereicht wurde. Hier erzählte er uns die Geschichte von den Heuschrecken. Wie in einem
besonders heißen Sommer eine Heuschreckenplage aufgetreten war und die Tiere den größten
Teil des Laubes in der ganzen Umgegend abgefressen hatten. Eines Tages sah Abul Kasim
eine dunkle Wolke geradewegs auf den Garten zukommen und im Augenblick bedeckten Tausende
von Heuschrecken die hochgewachsenen Bäume, unter denen Bahá’u’lláh so häufig zu
sitzen pflegte. Abul Kasim eilte nach dem Hause am Ende des Gartens, um seinem Herrn eine
dringende Bitte mit folgenden Worten vorzubringen: „Mein Herr, die Heuschrecken sind
eingefallen und fressen den Schatten weg, der auf Dein gesegnetes Haupt fiel. Ich bitte Dich,
sie zu veranlassen, fortzufliegen.“ Die Manifestation lächelte und sagte: „Die Heuschrecken müssen
auch ernährt werden, lasse sie nur!“ Sehr bekümmert kehrte Abul Kasim in den Garten zurück
und sah kurze Zeit dem Zerstörungswerk still zu, bis er es nicht mehr länger ertragen
konnte und zu Bahá’u’lláh wieder zurückzukehren wagte, um Ihn voll Ehrerbietung eindringlich
zu bitten, die Heuschrecken zu verjagen. Die Gesegnete Vollkommenheit erhob Sich, ging
in den Garten, stand unter die mit Insekten über und über bedeckten Bäume und sprach:
„Abul Kasim kann euch nicht brauchen — Gott schütze euch!“ Er erhob den Saum Seines
Gewandes, schüttelte ihn leicht und gleich darauf
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flogen die Heuschrecken als ein einziger Schwarm davon. Als Abul Kasim seine Geschichte beendet
hatte, rief er tiefergriffen aus, indem er seine Augen berührte: „Gesegnet sind diese Augen,
die solche Dinge sahen! Gesegnet sind diese Ohren, die solche Dinge vernahmen!“
Beim Abschied überreichte er uns Blumen und konnte sich, wie alle orientalischen Gläubigen, nicht genug tun, uns seine Liebe zu erzeigen. Wir bestiegen wieder unsere Wagen, und mit einem letzten Blick nach diesem wunderschönen Ort fuhren wir weiter nach dem Heiligen Grab.
‘Abdu’l-Bahá erwartete uns gegenüber den Gebäuden, Bahje genannt, der Terrasse, dem kleinen Teehaus und dem Heiligen Grab. Als wir ausstiegen, trafen wir dort über hundert orientalische Gläubige, die uns erwarteten. Sie hatten erfahren, daß wir zu den ersten amerikanischen Pilgern nach diesem heiligen Ort zählten, weshalb sie aus allen Gegenden kamen, um uns zu sehen. Sie selbst strahlten vor solcher Liebe und Freude, daß wir sie bewunderten und nimmer vergessen konnten. Wir stiegen die Treppen zur Terrasse hinauf und betraten das Teehaus, wo wir unseren geliebten Herrn am offenen Fenster sitzen sahen. Er erhob Sich, um uns herzlich willkommen zu heißen und uns mit großer Güte zu begrüßen. Er bat uns, Platz zu nehmen und Tee mit Ihm zu trinken, der auf einem kleinen Tisch durch seinen treuen Diener Ali Muhammed zubereitet wurde. Dann verließ Er uns mit einem Wort der Entschuldigung. Er trat auf die Terrasse hinaus und ging, mit auf dem Rücken gekreuzten Händen und erhobenem Haupt, auf und ab. Da auch nicht die geringste Handlung oder ein Wort des Meisters ohne Bedeutung sind, so begriffen wir bald, daß Er auf der Terrasse hin und her ging, damit alle Seine Diener Ihn sehen konnten. Unsere orientalischen Freunde standen regungslos auf einem Grasplatz beieinander und blickten voll Liebe und Ergebenheit zu dem Geliebten auf. Wer hätte es auch vermocht, den Blick von Seinem so leuchtenden, ruhigen und erhabenen Antlitz zu wenden. Nie sah ich den Meister so schön wie an diesem Tag, als wir uns anschickten, in den geweihten Bereich des Heiligen Grabes einzutreten. Als wir zu Ihm hinschauten, kam uns zum Bewußtsein, daß wir Ihn in keiner Weise begreifen konnten; wir konnten Ihn nur lieben, Ihm nachfolgen, Ihm gehorchen, um dadurch Seiner Schönheit näher zu kommen. Ich begriff, daß wir das Geheimnis Seines Wesens nicht ergründen konnten, wir konnten nur hoffen, darin versenkt zu werden. Als Er Sich bald darauf der Türe des Teezimmers näherte, fiel Sein Blick auf uns, und mit ruhiger, tiefer Stimme sagte Er: „Wir wollen jetzt das Heilige Grab besuchen. Wenn ihr an diesem Heiligen Grab betet, so gedenket der Verheißung Bahá’u’lláh’s, daß jene, welche diese Pilgerreise machen, auf ihre Gebete eine Antwort erhalten und ihre Wünsche erfüllt werden!“
Er bat uns dann, Ihm zu folgen; wir gingen die Treppe mit den amerikanischen Gläubigen hinab, es folgten alle anderen Gläubigen geschlossen, und indem der Meister einige Schritte allen voranging, näherten wir uns langsam dem Grabe Bahá’u’lláhs. Am äußeren Tor legte ‘Abdul-Bahá Seine Schuhe ab und deutete uns an, das gleiche zu tun. Wir folgten Ihm durch einen Gang in einen viereckigen, mit einem Glasdach überdeckten Hof, in dessen Mitte sich eine Gartenanlage mit Blumen, Buschwerk und Mandarinenbäumen befand. Als wir eintraten, öffnete sich eine Türe auf der entgegengesetzten Seite und die Frauen der heiligen Familie traten tiefverschleiert ein. Sie kamen auf uns zu und begrüßten uns liebevoll. Am anderen Ende des Hofes befindet sich auf einer Seite die Tür, welche zu dem Heiligen Grab führt.
(Fortsetzung folgt.)
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