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SONNE DER WAHRHEIT | ||
Organ der Bahá’í in Deutschland und Oesterreich | ||
HEFT 7 | 14. JAHRGANG | SEPT. 1934 |
Die Bahá’i-Lehre,[Bearbeiten]
die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.
Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.
Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.
Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.
Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“
Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.
Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.
Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.
SONNE DER WAHRHEIT Organ der Bahá’í in Deutschland und Österreich Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198 Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo Verwaltung: Paul Gollmer • Begründet von Alice Schwarz-Solivo Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark, im Ausland 2.– Reichsmark |
Heft 7 | Stuttgart, im September 1934 ’Izzat — Macht 91 |
14. Jahrgang |
Inhalt: Nabíl’s Erzählung: Der Báb erklärt Seine Sendung. — Göttliche Lebenskunst. — Bahá’i- Glaube. — Kursberichte der Eßlinger Bahá’i-Sommerwochen 1933 und 1934
Dein Gehör ist Mein Gehör, höre damit. Dein Gesicht ist Mein Gesicht, sieh damit, auf daß du im Innersten deiner Seele Meine Heiligkeit bezeugest und daß Ich für dich eine herrliche Stufe vorsehe.
Verborgene Worte von Bahá’u’lláh
Nabíl’s Erzählung[Bearbeiten]
Übersetzung aus „The Dawn-Breakers“, Nabíl’s Narrative of the early days of the Bahá’i Revelation, New York 1932
(Fortsetzung 3. Kapitel: Der Báb erklärt Seine Sendung)
Ich habe von Hájí Siyyid Javád-i-Karbilá’i folgendes erzählen hören: „Während ich nach Indien
reiste, kam ich durch Búshihr. Da ich bereits mit Hájí Mírzá Siyyid ‘Alí bekannt war,
so war es mir möglich, den Báb bei verschiedenen Anlässen zu treffen. Jedesmal, wenn ich Ihn
sah, fand ich Ihn in solcher Bescheidenheit und Demut vor, daß mir die Worte fehlen, dies zu
schildern. Seine niedergeschlagenen Augen, Seine äußerste Höflichkeit und der ernste Ausdruck
Seines Antlitzes hinterließen einen unauslöschlichen Eindruck in meiner Seele. Wie oft hörte
ich die Ihm Nahestehenden die Reinheit Seines Charakters und die Anmut Seines Betragens,
Seine Selbstlosigkeit, Seine große Rechtschaffenheit und Seine unbedingte Gottergebenheit
bestätigent1). Ein gewisser Mann übergab Ihm einen Schatz mit der Bitte, denselben
zu einem bestimmten Preis zu verkaufen. Als der Báb ihm den Wert dieses Artikels zurücksandte,
fand der Mann, daß die angebotene Summe die erwartete erheblich überstieg. Sofort schrieb er
dem Báb und bat um Erklärung. Der Báb antwortete:
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‚Was Ich dir sandte, steht dir vollkommen zu, es ist nicht ein einziger Pfennig darüber. In der
Zeit, als du Mir diesen Schatz anvertrautest, enthielt er diesen Wert. Da Ich verfehlte, ihn
zu diesem Preis zu verkaufen, halte Ich es für Meine Pflicht, dir diese Summe anzubieten.‘ Wie
sehr auch der Kunde des Báb Ihn bat, die Summe, die darüber war, zurückzunehmen, der Báb
verharrte auf Seiner Weigerung.
„Mit welcher Ausdauer besuchte Er die Versammlungen, in welchen die Tugenden des Siyyidu’sh-Shuhadá’, des Imám Husayn aufgezählt wurden! Mit welcher Aufmerksamkeit lauschte Er den Lobgesängen! Welches Zartgefühl, welche Andacht zeigte Er bei den Szenen der Klagelieder und Gebete! Tränen rannen Ihm aus den Augen, und die zitternden Lippen murmelten Worte des Gebetes und des Lobpreises. Wie bezwingend war Seine Hoheit, wie zart waren Seine Gefühle, die Seine Haltung beseelten!"
Die Namen derer, so das hohe Vorrecht hatten, durch den Báb im Buche Seiner Offenbarung als Seine erwählten Buchstaben des Lebens eingeschrieben zu werden, waren folgende:
- Mullá Ḥusayn-i-Bushrú’í,
- Muḥammad-Hasan, sein Bruder,
- Muḥammad-Báqir, sein Neffe,
- Mullá ‘Alíy-i-Basṭámí,
- Mullá Khudá-Bakhsh-i-Qúchání, später Mullá ‘Alí genannt,
- Mullá Ḥasan-i-Bajistání,
- Siyyid Ḥusayn-i-Yazdí,
- Mírzá Muḥammad Rawdih-Khán-i-Yazdí,
- Sa'íd-i-Hindí,
- Mullá Maḥmúd-i-Khu’í,
- Mullá Jalíl-i-Urúmí,
- Mullá Aḥmad-i-Ibdál-i-Marághi'í,
- Mullá Báqir-i-Tabrízí,
- Mullá Yúsif-i-Ardibílí,
- Mirzá Hádi, Sohn des Mullá ‘Abdu’l-Vahháb-i-Qazvíní,
- Mirzá Muḥammad-‘Alíy-i-Qazvíní,
- Ṭáhirih2),
- Quddús.
Diese alle, mit der einzigen Ausnahme von Ṭáhirih, gelangten in die Gegenwart des Báb und wurden persönlich von Ihm mit der Auszeichnung dieses Ranges bekleidet. Sie war es, welche bei der Nachricht von der beabsichtigten Abreise des Mannes ihrer Schwester, Mirzá Muḥammad-‘Alí aus Qazvín, diesem einen versiegelten Brief anvertraute und ihn bat, ihn dem Einen Verheißenen zu übergeben, welchem er sicherlich auf seiner Fahrt begegnen würde. „Sage Ihm von mir“, setzte sie hinzu: „‚Der Glanz Deines Antlitzes blitzte auf, und die Strahlen Deines Angesichtes brachen hervor. Dann sprich das Wort: „Bin Ich nicht dein Herr?“, und: „Du bist es, Du bist es!“ werden wir Dir erwidern‘.“
Mirzá Muḥammad-‘Alí traf und erkannte schließlich den Báb und überreichte Ihm beides,
den Brief und die Botschaft von Ṭáhirih. Der Báb erklärte sie sofort als einen Buchstaben
des Lebens. Ihr Vater, Hájí Mullá Ṣálih-i-Qazvíní,
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und sein Bruder, Mullá Taqí, waren beide hochangesehene Mujtahids und bewandert in den
Überlieferungen des muhammedanischen Gesetzes und allgemein geachtet und geehrt von
der Bevölkerung von Ṭihrán, Qazvín und andern bedeutenden Städten Persiens. Sie war
verheiratet an Mullá Muhammad, einen Sohn des Mullá Taqí, ihres Onkels, den die Schiiten
Shahíd-i-Thálith betitelten. Obgleich ihre Familie zu den Bálá-Sarí gehörte,
so zeigte Ṭáhirih allein von Anfang an eine besondere Sympathie und Hochachtung für
Siyyid Kázim. Als ein Zeichen ihrer persönlichen Bewunderung für ihn, schrieb sie eine
Verteidigungsrede zur Rechtfertigung der Lehre Shaykh Aḥmad’s und
übersandte sie ihm. Darauf erhielt sie sehr bald eine Antwort, welche in den herzlichsten Worten
gehalten war und worin der Siyyid sie einleitend mit den Worten anredete: „O du, die du
der Trost meiner Augen (Yá Qurrat-i-'Ayní!) und die Freude meines Herzens bist!“ Seit dieser
Zeit ist sie bekannt als Qurratu'l-'Ayn. Nach der historischen Tagung von Badasht war ein
Teil der Anwesenden so entsetzt über die Furchtlosigkeit und offene Sprache dieser Heldin,
daß sie es für ihre Pflicht hielten, den Báb mit der Art und Weise ihres aufsehenerregenden
und unerhörten Benehmens bekannt zu machen. Sie versuchten die Reinheit ihres Namens zu
beschmutzen. Auf ihre Anschuldigungen erwiderte der Báb: „Was soll Ich sagen über
sie, welche die Zunge der Macht und Herrlichkeit Ṭáhirih („die Reine“) genannt hat?“ Diese
Worte bewiesen genug, um die, so sich bemühten, ihre Stellung zu untergraben, zum Schweigen
zu bringen. Seit dieser Zeit ist sie von den Gläubigen Ṭáhirih benannt.
Mullá Husayn, welcher annahm, er sei der erwählte Begleiter des Báb während Seiner Pilgerreise nach Mecca und Medina, wurde, als letzterer sich entschieden hatte, Shíráz zu verlassen, in die Gegenwart seines Meisters befohlen; dieser gab ihm folgende Aufträge: "Die Tage unseres Beisammenseins nahen sich ihrem Ende. Mein Bündnis mit dir ist nun vollendet. Gürte deine Lenden mit Eifer und erhebe dich, Meine Sache zu verbreiten. Sei nicht verzagt durch den Anblick dieses entarteten und verdorbenen Geschlechtes, denn der Herr des Bündnisses wird dir sicherlich beistehen. Wahrlich, Er wird dich mit Seinem liebevollen Schutz umgeben und wird dich von Sieg zu Sieg führen. Wie die Wolke, die ihre Gnadenfülle auf die Erde regnet, so durchwandere du das Land von einem Ende zum anderen und gieße auf sein Volk die Segnungen, welche der Allmächtige in Seiner Gnade für dich bestimmt hat. Habe Geduld mit den 'Ulamás, und ergib dich in den Willen Gottes. Erhebe den Ruf: ‚Erwachet, erwachet, denn siehe, das Tor Gottes ist geöffnet, und das Morgenlicht wirft seine Strahlen über die ganze Menschheit! Der Verheißene Eine ist geoffenbart; bereitet Ihm den Weg, o Volk dieser Erde! Beraubet euch nicht selbst Seiner erlösenden Gnade, noch verschließet eure Augen Seiner strahlenden Herrlichkeit!‘ Die du für den Ruf aufnahmefähig findest, denen teile die Briefe und Tablete mit, welche Wir für dich geoffenbart haben, daß vielleicht diese wunderbaren Worte sie veranlassen, sich abzuwenden von dem Morast der Nachlässigkeit und sich zu erheben in das Reich der göttlichen Gegenwart. Für diese Pilgerreise, welche Wir sehr bald antreten werden, haben Wir Quddús als Unsern Begleiter erwählt. Wir lassen dich zurück, um dem Ansturm eines grimmigen und unbarmherzigen Feindes entgegenzutreten. Sei jedoch versichert, daß eine unaussprechlich herrliche Gnade für dich bestimmt ist. Nimm deinen Weg nach Norden und besuche die Städte Isfáhán, Kashán, Qum und Ṭihrán. Bitte die allmächtige Vorsehung, daß Sie dir gnädiglich gewähren möge, in die Hauptstadt, den Sitz der wahren Herrschaft, zu gelangen und einzutreten in die Behausung des Geliebten. Ein Geheimnis liegt in dieser Stadt verborgen. Wenn geoffenbart, wird es die Erde in ein Paradies verwandeln. Es ist Meine Hoffnung, daß du an dieser Gabe teilnehmen und ihren Glanz erkennen mögest. Von Ṭihrán begib dich nach Khurásán und verkünde dort von neuem den Ruf. Sodann kehre zurück nach Najaf und Karbilá, und erwarte dort den Ruf deines Herrn. Sei versichert, daß die hohe Mission, für welche du erschaffen bist, in ihrer ganzen Größe von dir vollendet werden wird. Nicht eher, als bis du dein Werk vollbracht hast, werden alle Pfeile einer ungläubigen Welt, die auf dich gerichtet sind, machtlos sein, auch nur ein einziges Haar deines Hauptes zu krümmen. Alle Dinge sind verschlossen in Seiner mächtigen Hand. Er, wahrlich, ist der Allmächtige, der alles Unterwerfende.“
Danach befahl der Báb Mullá ‘Alíy-i-Bastámí in Seine Gegenwart und richtete an ihn Worte
der Aufmunterung und liebevollen Güte. Er befahl ihm, sich direkt nach Najaf und Karbilá
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zu begeben, und spielte auf die schweren Prüfungen und Trübsale an, die über ihn kommen
würden, und gebot ihm, standhaft zu bleiben bis zu seinem Ende. „Dein Glaube“, sagte Er
ihm, „muß unbeweglich sein wie ein Fels, muß jedem Sturm widerstehen und jede Trübsal
überdauern. Laß dich durch die Anschwärzungen der Narren und die Schmähungen der
Geistlichkeit nicht betrüben oder dich gar von deinem Vorsatz abwenden, denn du bist berufen,
teilzunehmen an dem himmlischen Gastmahl, welches für dich im unsterblichen Königreich
bereitet ist. Du bist der erste, der das Haus Gottes verlassen wird, um für Seine Sache zu
leiden. Solltest du auf Seinem Pfade getötet werden, dann denke daran, daß groß dein Lohn
sein wird und schön die Gabe, die deiner harrt.“
Kaum waren diese Worte gesprochen, so erhob sich Mullá ‘Alí von seinem Sitz und schickte sich an, seine Mission auszuführen. Als er etwa eine Meile von Shíráz entfernt war, wurde er von einem Jüngling überholt, der, vor Erregung erhitzt, ihn ungeduldig zu sprechen wünschte. Sein Name war ‘Abdu’l-Vahháb. „Ich flehe dich an“, bat er unter Tränen Mullá ‘Alí, „mir zu erlauben, dich auf dieser Reise zu begleiten. Bestürzung bedrückt mein Herz; ich bitte dich, leite meine Schritte auf dem Wege der Wahrheit. Letzte Nacht, in meinem Traum, hörte ich den Ausrufer auf der Marktstraße von Shíráz die Ankunft des Imám ‘Alí verkünden, des Gebieters der Gläubigen. Er rief in die Menschenmenge: ‚Erhebet euch und suchet ihn. Siehe, er zieht aus dem brennenden Feuer Freiheitsbriefe und verteilt sie unter das Volk. Eilet zu ihm, denn wer sie aus seiner Hand empfängt, wird sicher sein vor jeder Strafe; wer aber versäumt, sie zu erhalten, wird der Segnungen des Paradieses beraubt sein.‘ Kaum hörte ich die Stimme des Ausrufers, so erhob ich mich und verließ mein Geschäft. Ich rannte über die Marktstraße von Vakíl zu einem Platz, wo meine Augen dich stehen sahen, eben diese Freiheitsbriefe unter das Volk verteilend. Jedem, der sich dir näherte, um sie aus deiner Hand zu empfangen, flüstertest du einige Worte ins Ohr, welche ihn sofort in voller Bestürzung fliehen und ausrufen ließen: ‚Wehe mir, daß ich beraubt bin der Segnungen ‘Alí’s und seiner Verwandtschaft! Ach, ich Unwürdiger, daß ich zu den Verworfenen und Gefallenen zähle!‘ Ich erwachte aus meinem Traum und, versunken in ein Weltmeer von Gedanken, erreichte ich mein Geschäft. Plötzlich sah ich dich vorübergehen, begleitet von einem Mann, welcher einen Turban trug und mit dir redete. Ich sprang von meinem Sitze auf und rannte dir nach, gezwungen von einer Macht, der ich nicht widerstehen konnte. Zu meiner größten Bestürzung sah ich dich nun auf demselben Platze stehen, dessen ich im Traume Zeuge gewesen, mit Hersagen von Überlieferungen und Versen beschäftigt. Ich stand abseits und beobachtete dich aus der Ferne, von dir und deinem Freund gänzlich unbemerkt. Ich hörte den Mann, zu welchem du sprachst, ungestüm ausrufen: ‚Es ist leichter für mich, von den Flammen der Hölle verzehrt zu werden, denn deine Worte als Wahrheit anzuerkennen, deren Gewicht zu tragen Berge unfähig sind!“ Auf diese verächtliche Abweisung gabst du zur Antwort: ‚Würde das ganze Weltall Seine Wahrheit widerrufen, es könnte niemals die unbefleckte Reinheit Seines Gewandes der Größe beschmutzen.‘ Ihn verlassend, wandtest du deine Schritte dem Kázirán-Tore zu. Ich folgte dir, bis ich diesen Platz erreichte.“
Mullá ‘Alí versuchte sein aufgestörtes Herz zu beruhigen und ihn zu überreden, in sein Geschäft zurückzukehren und seine tägliche Arbeit wieder aufzunehmen. „Deine Gemeinschaft mit mir“, legte er ihm nahe, „würde mich in große Schwierigkeiten bringen. Gehe zurük nach Shíráz und sei versichert, daß du zu dem Volke der Erlösten gezählt bist. Fern liegt es der Gerechtigkeit Gottes, einem solch ergebenen Sucher den Becher der Gnade vorzuenthalten, oder eine solch dürstende Seele des wogenden Ozeans Seiner Offenbarung zu berauben.“ Die Worte Mullá ‘Alí's waren jedoch ohne Erfolg; je mehr er auf der Heimkehr des ‘Abdu’l-Vahháb bestand, um so lauter wurde dessen Jammern und Weinen. Endlich fühlte sich Mullá ‘Alí bewogen, seinem Wunsche nachzukommen, und er ergab sich in den Willen Gottes.
Ḥájí ‘Abdu’l Majid, den Vater ‘Abdu’l-Vahháb’s, hörte man häufig mit tränenerfüllten
Augen diese Geschichte erzählen: „Wie tief“, sagte er, „bedaure ich die Tat, die ich beging.
Betet zu Gott, daß Er mir meine Sünden vergebe. Ich war einer der Bevorzugten am Hofe
der Söhne des Farmán-Farmá, des Gouverneurs der Provinz Fárs. So hoch war meine Stellung,
daß keiner mir zu widersprechen oder zu schaden wagte. Niemand bestritt mein Ansehen oder
wagte es, sich in meine Freiheit zu mischen. Sofort, als ich erfahren hatte, daß mein Sohn
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‘Abdu’l-Vahháb sein Geschäft und die Stadt verlassen hatte, lief ich ihm in der Richtung auf
das Kázirán-Tor nach, um ihn einzuholen. Mit einem Stock bewaffnet, ihn damit zu schlagen,
forschte ich nach, welche Straße er gegangen sei. Man sagte mir, daß ein Mann, welcher einen
Turban trug, soeben die Straße überquert habe und mein Sohn ihm gefolgt sei. Es schien, daß
sie übereingekommen waren, die Stadt zu verlassen. Dies erregte meinen Zorn und Unwillen.
‚Wie kann ich‘, dachte ich bei mir, ‚nur ein solch unziemliches Betragen von seiten meines Sohnes
zulassen, ich, der ich doch eine so bevorzugte Stellung am Hofe der Söhne des Farmán-Farmá
einnehme? Nichts, als die ernsteste Strafe‘, so fühlte ich, ‚konnte die Folgen des schmachvollen
Betragens meines Sohnes auslöschen‘.
(Fortsetzung folgt.)
1) „Zuhause zurückgezogen, immer mit frommen Dingen beschäftigt, von äußerster
Einfachheit der Sitten, von gewinnender Sanftmut — und diese Gaben noch erhöht durch erste Jugend
und wundersame Anmut — war er der Anziehungspunkt für einen Kreis gebildeter Persönlichkeiten.
Da wurde immer mehr von seinem Wissen und der schlagenden Beredsamkeit seiner Ansprachen geredet.
Seine Bekannten versichern, daß er nicht seinen Mund öffnen konnte, ohne die Herzen im Grunde
aufzuwühlen. Doch sprach er mit tiefer Ehrfurcht vom Propheten, den Imamen und ihren heiligen
Begleitern. Er entzückte die strengen Rechtgläubigen, während zugleich, in vertraulicheren
Ausspraden, unruhige Schwarmgeister sich freuten, in ihm nicht jener Schroffheit im Bekenntnis
heilig gewordener Ansichten zu begegnen, die sie sonst bedrückt hätten. Im Gegenteil, die
Unterhaltung mit ihm eröffnete ihnen da und dort in blendender Beleuchtung alle die unendlichen,
vielfältigen, farbenfrohen, geheimnisvollen, dunklen und weithin verlaufenden Ausblicke, welche
die Einbildungskraft dieses Landes so leicht vermitteln läßt.“ Graf Gobineau in seinem Werke:
„Die Religionen und Philosophien Innerasiens“.
2) Nach den „Erinnerungen des Gläubigen“ hatte Ṭáhirih zwei Söhne und eine Tochter; jedoch keines von ihnen erkannte die Wahrheit der Heiligen Sache. So hoch war der Grad von Ṭáhirih’s Erkenntnis und erworbenen Fähigkeiten, daß ihr Vater, Hájí Mullá Sálih, oft sein Bedauern in folgenden Worten ausdrückte: „Ach, wäre sie doch ein Knabe gewesen, dann hätte sie Glanz über mein Haus gebracht und wäre mein Nachfolger geworden!“ Sie wurde mit den Schriften Shaykh Aḥmad’s bekannt, während dieser in dem Hause ihres Vetters, Mullá Javád, weilte; aus dessen Bibliothek borgte sie diese Bücher und nahm sie mit nach Hause. Ihr Vater erhob heftige Einwände gegen ihr Tun und beschuldigte und kritisierte in hitzigem Wortstreit die Lehren des Shaykh Aḥmad. Ṭáhirih aber achtete nicht auf den Rat ihres Vaters und knüpfte einen heimlichen Briefwechsel mit Siyyid Kázim an, der ihr den Namen „Qurratu’l ‘Ayn“ beilegte. Der Titel „Ṭáhirih“ war, während sie in Badasht weilte, in erster Linie mit ihrem Namen verbunden gewesen und wurde demzufolge auch vom Báb übernommen. Sie reiste von Qazvín nach Karbilá in der Hoffnung, Siyyid Kázim zu begegnen; aber sie kam zu spät: zehn Tage vor ihrer Ankunft war Siyyid Kázim verschieden. Sie gesellte sich zu den Gefährten des dahingegangenen Führers und verbrachte ihre Zeit in Gebet und Versenkung und in sehnlicher Erwartung Seines Erscheinens, Dessen Kommen Siyyid Kázim vorausgesagt hatte. In dieser Stadt erlebte sie einen Traum: ein junger Mann, ein Siyyid in schwarzem Rock mit grünem Turban, erschien ihr im Himmel und sprach mit erhobenen Händen gewisse Verse, deren einen sie in ihr Buch schrieb. Sie erwachte aus ihrem Traum, aufs tiefste beeindruckt durch ihr seltsames Erlebnis. Als sie später einmal ein Exemplar des „Aḥsanu’l-Qisas“, des Kommentars des Báb zu der „Sure Joseph", erhielt, entdeckte sie mit lebhaftem Entzücken denselben Vers darin, den sie im Traum gehört hatte. Diese Entdeckung machte ihr die Wahrheit der Botschaft noch gewisser, die der Verfasser jenes Werkes verkündet hatte. Sie unternahm selbst die Übersetzung des „Aḥsanu’l-Qisas“ ins Persische und setzte sich aufs äußerste für seine Verbreitung und Auslegung ein. Drei Monate lang war ihr Haus in Karbilá von den Wachen umlagert, die der Gouverneur gestellt hatte, um sie vom Verkehr mit dem Volke abzuschließen. Von Karbilá reiste sie hierauf weiter nach Baghdád und lebte einige Zeit in dem Hause des Shaykh Muhammad-i-Shibl; dann verlegte sie ihren Aufenthalt von dort in ein anderes Quartier und wurde schließlich in dem Hause des Muftí aufgenommen, wo sie ungefähr drei Monate verweilte.
Göttliche Lebenskunst[Bearbeiten]
Aus den Schriften von ‘Abdu’l-Bahá (Fortsetzung)
Zusammengestellt von Mary M. Rabb (New York, Brentanos Publishers)
Übersetzung aus dem Englischen
6. Kapitel: Prüfungen
„Du hast Worte der Besorgnis und Furcht geschrieben über die Belästigungen und Verfolgungen, welche über diesen Gefangenen gekommen sind. Sei darüber nicht traurig, sei davon nicht ergriffen. Rege dich nicht auf, denn Einkerkerung ist für diesen Gefangenen ein Fest der Glückseligkeit und ein immerwährendes Paradies. Verfolgungen und Mißgeschicke sind Gaben der Gnade. Wenn diese Verfolgungen und Leiden auf dem Pfade zu Gott nicht wären, wie könnte ‘Abdu’l-Bahá Glück und Frieden gewinnen? Durch Prüfungen ist mein Herz getröstet, und durch das Ertragen schrecklicher Trübsal ist meine Seele voll Friede!“
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„Härme dich nicht, wenn göttliche Prüfungen über dich kommen. Sei nicht verwirrt durch Schwierigkeiten und Heimsuchungen, wende dich zu Gott, beuge dich demütig vor Ihm und bete zu Ihm und trage jede Heimsuchung, sei zufrieden in jeder Lage und dankbar in jeder Schwierigkeit. Wahrlich, dein Herr liebt Seine Dienerinnen, welche geduldig, glaubensvoll und standhaft sind. Er zieht sie nahe zu Sich durch diese Heimsuchungen und Prüfungen.
Sei nicht traurig über den Heimgang deines lieben Sohnes. Er ging von dieser engen und trüben Welt, welche von unermeßlichem Leid verdunkelt wird, und gelangte zum ewigen Königreich, das weit und hell, freudenvoll und herrlich ist. Gott befreite ihn aus diesem dunklen Hause, und ließ ihn aufsteigen zur erhabenen Höhe! Er gab ihm Schwingen, mit denen er sich zum Himmel des Glückes aufschwang. Wahrlich, dies ist die größte Gnade von Ihm, der der Edelste ist und der Vergebende!“
- —————
„Wir leben in einer Zeit, in der so viele Menschen sich ganz auf das Materielle verlassen. Sie glauben, daß der Umfang eines großen Schiffes, die Vollkommenheit der Maschine oder die Geschicklichkeit eines Kapitäns die Sicherheit eines Fahrzeuges gewährleiste. Diese Dinge (kurz vorher war der prachtvolle Dampfer, die Titanic, durch den Zusammenstoß mit einem Eisberg untergegangen, darauf beziehen sich diese Worte) geschehen manchmal, damit die Menschen erkennen, daß es Einen Beschützer gibt, und der ist Gott. Wenn Gott den Menschen beschützt, und es ist Sein Wille, so entgeht oft ein kleines Schiff dem Verderben; verläßt der Mensch sich aber gänzlich auf ein Schiff, und wäre es noch so groß und prachtvoll, wäre es noch so gut gebaut, und hätte es den besten Kapitän, so mag es einer Gefahr, wie sie auf dem Ozean bestand, nicht entgehen, damit die Menschen der Welt erkennen, daß sie sich zu dem Einen Beschützer wenden müssen. Damit die Seelen sich auf den Schutz Gottes verlassen und erkennen mögen, daß Er der wahre Erhalter ist. Solche Ereignisse geschehen manchmal aus den erwähnten Gründen. Sie geschehen, damit des Menschen Glaube größer werde...
Aber niemand denke, diese Worte wollten die Menschen veranlassen, zu glauben, sie müßten
ihre Unternehmungen nicht gründlich und umsichtig führen. Gott hat den Menschen mit
Verstand begabt, damit er seine Intelligenz
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gebrauche. Darum muß er sich alles aneignen, was die Wissenschaft bieten kann. Er muß äußerst
bedachtsam und äußerst vorsichtig sein. Er muß in all seinen Unternehmungen sehr umsichtig
sein. Er muß jedes Ding wohl aufbauen, das beste Schiff fertigen, das sein Geist erfinden
kann, und den geschicktesten Kapitän mit der Führung betreuen, aber trotz allem soll er sich
auf Gott stützen. Er soll Gott ansehen als den Einzigen Erhalter!“
- —————
„O ihr Geliebten Gottes! Wenn der Wind heftig bläst und strömender Regen fällt, oder wenn die Blitze zucken, der Donner rollt und Wolkenbrüche sich ergießen, wenn die Stürme der Versuchungen heftig werden, härmet euch nicht, denn nach diesem Sturm wird wahrlich der Frühling erscheinen, die Hügel und Berge werden grün werden, die Kornfelder werden fröhlich wogen, die Erde wird mit Blüten bedeckt sein, die Bäume werden in frischem Grün prangen und mit Blüten und Früchten geschmückt werden. Diese Segnungen werden in allen Ländern sichtbar. Diese Begünstigungen sind die Früchte dieser Stürme und Orkane.
Der scharfsichtige Mensch freut sich in den Tagen der Prüfung; seine Brust dehnt sich zur Zeit der heftigen Stürme, sein Auge glänzt, wenn er die Regenschauer sieht und wenn die Windstöße Bäume entwurzeln; denn er sieht das Ergebnis und das Ende voraus — die Blätter, Blüten und Früchte; während der Unwissende beunruhigt ist, wenn er einen Sturm sieht, traurig wird beim heftigen Regen, erschrickt beim Gewitter und furchtsam wird beim Brausen der Meereswogen, welche der Sturm ans Ufer jagt!“
7. Kapitel: Die Macht des Heiligen Geistes
„Das war das wahrhafte Licht, welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen.“
Johannes 1, 9.
„Das Wesen meines Lichtes habe ich in dich gesenkt; halte dich daran.“ „Meine Liebe ist in dir: suche und du wirst mich nahe finden.“
Bahá’u’lláh.
Nichts in der Welt ist so wichtig als der Geist. Nichts ist so wesentlich als der Geist des
Menschen. Der Geist des Menschen ist die vornehmste aller Erscheinungen. Der Geist des
Menschen ist die Begegnung zwischen Mensch und Gott. Der Geist des Menschen ist die Ursache
für das menschliche Leben. Der Geist des Menschen ist der Sammelpunkt aller Tugenden.
Der Geist des Menschen ist die Ursache für die Erleuchtung der Welt. Die Welt kann mit dem
Körper verglichen werden und der Mensch mit dem Geist des Körpers, denn das Licht der Welt
ist der Geist. Der Mensch in der Welt ist das Leben der Welt, und das Leben des Menschen
ist der Geist. Das Glück der Welt hängt vom Menschen ab und das Glück des Menschen hängt
vom Geiste ab. Die Welt kann mit dem Zylinder der Lampe verglichen werden, und der Mensch
mit dem Lichte selbst. Der Mensch kann mit der Lampe verglichen werden, das heißt mit dem
wirklichen Licht in der Lampe. Darum laßt uns vom Geiste sprechen.
Die Menschen der Welt sind in zwei Gruppen geteilt. Eine Gruppe wird gebildet von den Philosophen der materiellen Richtung, welche den Geist und seine Unsterblichkeit leugnen. Die zweite Gruppe umfaßt die göttlichen Philosophen, die weisen Männer Gottes, die weisen Erleuchteten. Sie glauben an den Geist und seine Unsterblichkeit. Einige der griechischen Philosophen behaupten, der Mensch bestehe nur aus den materiellen Elementen. Aus diesen materiellen Elementen setzen sich die Zellen des menschlichen Organismus zusammen, und wenn diese Zusammensetzung aufgelöst werde, so werde das Leben des Menschen ausgelöscht. Sie lehrten, daß es außerhalb des Körpers keinen Geist gebe. Er ist Stoff und nur Stoff. Aus diesen Elementen entstehe die menschliche Erscheinung, ihnen seien Auge und Ohr zuzuschreiben; sie haben die Sinne des Fühlens, Tastens, Riechens geschaffen, und wenn diese Elemente aufgelöst werden, seien diese Sinne ebenfalls aufgelöst. Dies ist die Erklärung der Philosophen der materiellen Richtung.
Aber die göttlichen Philosophen sagen: Nein! Der Geist existiert; der Geist ist lebendig und
lebt ewig. Darum haben die Weisen Gottes den Einwendungen der materiellen Philosophen
vernunftgemäße Beweise entgegengesetzt hinsichtlich der wissenschaftlichen Gültigkeit des
Geistes. Die Philosophen der materiellen Richtung glauben nicht an die heiligen Bücher, und darum
haben überlieferte Beweise für sie keine Gültigkeit; materielle Beweise sind darum notwendig.
Demzufolge haben Philosophen und weise Gottesgelehrte ausgesagt, daß es klar erwiesen sei,
daß die existierenden Erscheinungen in verschiedene Stufen eingeteilt werden, d. h. in das
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Mineralreich, das Pflanzenreich, das Tierreich. Wenn wir das Mineralreich betrachten, so sehen wir,
daß ein Lebensgeist in ihm existiert. Wenn wir das Pflanzenreich betrachten, sehen wir, daß es
die Kraft des Minerals und dazu die Wachstumskraft besitzt. Darum ist es klar, daß das
Pflanzenreich dem Mineralreich überlegen ist. Wenn wir das Tierreich betrachten, erkennen wir in
ihm die Kraft des Pflanzenreichs und ebenso die des Mineralreiches. Es hat dazu noch die Sinne
des Sehens, Hörens, Riechens, Fühlens und Schmeckens, die fünf Empfindungssinne. Es hat
ebenso die Kraft des Gedächtnisses. Diese Kräfte bestehen nicht in den niedrigen Reichen.
Gerade wie das Tier edler ist als Pflanze und Mineral, so ist der Mensch dem Tier überlegen.
Wenn wir das Tier betrachten, sehen wir, daß es wohl die fünf Sinne besitzt, aber trotzdem
der Begriffsbildung nicht fähig ist; d. h., das Tier ist ein Gefangener der Natur, es hat keine
Berührung mit dem, was jenseits der Natur liegt, es ist der geistigen Empfänglichkeit nicht fähig,
es ist unfähig, die Reize des Vernunft-Bewußtseins zu empfinden, es steht nicht in Berührung
mit der Welt Gottes, es kann nicht um Haaresbreite vom Gesetze der Natur abweichen. Anders der
Mensch. Der Mensch wird von den Anregungen des Geistes ergriffen; er besitzt Intelligenz und
Wahrnehmungsvermögen und ist fähig, Geheimnisse des Weltalls zu entdecken. Alle menschliche
Industrie, welche wir sehen, alle Erfindungen und Unternehmungen waren Geheimnisse der
Natur und in früheren Zeiten verborgen; aber die Wirklichkeit des Menschen hat
diese Geheimnisse entdeckt. Tatsächlich sollten diese Dinge, nach den Gesetzen der Natur,
verborgen und gebunden bleiben, aber der Mensch überschritt die Naturgesetze, entdeckte
diese Geheimnisse und brachte sie aus dem Unsichtbaren in den Bereich des Sichtbaren.
(Fortsetzung folgt.)
Bahá’i-Glaube[Bearbeiten]
Aus den Reden 'Abdu'l-Bahá’s in Paris, 1911
Die Wirklichkeit des Menschen ist sein Denken, nicht sein stofflicher Körper. Die Gedankenmächte
und die tierischen Kräfte sind Partner. Obschon der Mensch ein Teil der tierischen
Schöpfung ist, so besitzt er doch eine Gedankenmacht, die höher ist als diejenige aller
erschaffenen Wesen.
Wenn sich die Gedanken eines Menschen ständig zu himmlischen Dingen erheben, so wird er geheiligt, sind sie aber abwärts gerichtet und beschränken sie sich auf die Dinge dieser Welt, so wird er immer materieller werden, bis er schließlich auf eine Stufe gelangt, die nicht viel höher ist als die des Tieres.
Im Alten Testament lesen wir: Gott sprach: „lasset Uns Menschen machen, ein Bild, das Uns gleich sei“, Christus sprach: „Ich bin im Vater und der Vater ist in Mir.“ Im Koran heißt es: „Der Mensch ist Mein Geheimnis und Ich bin sein Geheimnis.“ Bahá’u’lláh schreibt: „Dein Herz ist Meine Heimat, reinige es, mach es bereit, damit Ich kommen und in ihm wohnen kann. Nach deinem Geist verlangt Mich sehnlichst, reinige ihn, damit Ich zu ihm kommen kann.“
Diese heiligen Worte zeigen uns alle, daß der Mensch nach Gottes Ebenbild erschaffen ist, dennoch ist das Wesen Gottes dem menschlichen Geiste unfaßbar, denn der menschliche Verstand kann dieses unendliche Geheimnis niemals ergründen. Gott umfaßt alles, Ihn dagegen vermag nichts zu umschließen. Das, was alles umfaßt, ist höher als das, was umfaßt wird. Das Ganze ist größer als jeder seiner Teile.
Die Dinge, die vom Menschen begriffen werden, können nicht außerhalb seiner Denkfähigkeit liegen, daher ist es für das menschliche Herz unmöglich, das Wesen der Erhabenheit Gottes zu begreifen. Unsere Einbildung kann sich nur das ausmalen, was sie hervorzubringen im Stande ist.
Was wir uns einbilden ist nicht die Wirklichkeit Gottes. Er, der Unfaßbare, der Unausdenkliche, steht weit über der höchsten Vorstellung des Menschen.
Die göttliche Wirklichkeit ist unausdenkbar, grenzenlos, ewig, unsterblich und unsichtbar. Die erschaffene Welt ist an die Naturgesetze gebunden, sie ist endlich und vergänglich.
Es bedarf einer Vermittelung, um zwei Enden zusammenzubringen. Reichtum und Armut, Fülle
und Not: ohne vermittelnde Macht vermöchte zwischen diesen Gegensätzen keine Beziehung
zu bestehen. So können wir sagen, daß es einen Mittler zwischen Gott und den Menschen geben
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muß, und dieser ist nichts anderes als der göttliche Geist, der die erschaffene Welt in
Verbindung bringt mit dem „Unausdenklichen“, der göttlichen Wirklichkeit.
Der göttliche Geist ist das Licht der Sonne der Wahrheit, das durch seine unendliche Macht allen Menschen Leben und Erleuchtung bringt, alle Seelen mit dem göttlichen Glanz überflutet und die Segnungen der Barmherzigkeit Gottes der ganzen Welt übermittelt.
Es war der göttliche Geist, der die Menschen durch die Vermittlung der Boten Gottes die geistigen Tugenden lehrte und sie befähigte, ewiges Leben zu erlangen.
Die Macht des göttlichen Geistes kommt in den göttlichen Offenbarern der Wahrheit am stärksten zum Ausdruck. Durch die Macht des Geistes schien die göttliche Herrlichkeit vom Osten zum Westen, und durch den gleichen Geist werden die göttlichen Tugenden der Menschheit offenbar.
Alle Gottesoffenbarer kamen mit der gleichen Absicht, sie alle waren bestrebt, die Menschen auf den Weg der Tugend zu führen. Dennoch streiten wir als ihre Diener noch immer untereinander. Warum? Warum lieben wir nicht einander, warum leben wir nicht in Einigkeit miteinander?
Weil wir unsere Augen verschlossen haben gegenüber dem allen Religionen gemeinsamen Grundsatz, daß es nur einen Gott gibt, daß Er unser aller Vater ist, daß wir alle in das Meer Seiner Gnade getaucht, und durch Seine liebevolle Sorgfalt beschirmt und beschützt sind. Die herrliche Sonne der Wahrheit scheint für alle gleich, das Wasser der Barmherzigkeit ist allen Seinen Kindern gegeben.
Der Tag ist gekommen, an dem sich alle Religionen der Welt vereinigen werden, denn im Grunde sind wir schon einig. Es liegt kein Bedürfnis für Spaltungen vor, denn wir erkennen, daß es nur die äußeren Formen sind, die sie trennen.
Ein Mensch mag zur höchsten Stufe des materiellen Fortschritts gelangen, ohne das Licht der Wahrheit aber verkümmert und verhungert seine Seele. Ein anderer besitzt vielleicht kein materielles Gut, er steht unter Umständen auf der tiefsten sozialen Stufe, nachdem er aber die Wärme der Sonne der Wahrheit empfangen hat, ist seine Seele groß und sein geistiges Verständnis erleuchtet.
Die geistigen Vollkommenheiten sind des Menschen angeborenes Recht, sie stehen ihm allein zu und niemandem sonst in der ganzen Schöpfung. Der Mensch ist in Wirklichkeit ein geistiges Wesen, und er kann nur dann glücklich sein, wenn er im Geistigen lebt.
Laßt euch durch körperliche Dinge nicht das himmlische Licht des Glückes verdunkeln, damit ihr durch die göttliche Gnade mit den Kindern Gottes in das ewige Königreich einziehen möget.
(Fortsetzung folgt.)
Kursberichte der Eßlinger Bahá’i-Sommerwochen 1933 und 1934[Bearbeiten]
Um das Ergebnis der Eßlinger Studien- und Lehrwochen weiteren Kreisen von Freunden und Interessenten zugänglich zu machen und um auch den Teilnehmern Gelegenheit zu geben, durch nochmaliges Durcharbeiten der Kurs- und Vortragsthemen das Gewonnene zu vertiefen, bringt der Lehrausschuß des NGR zusammengefaßte Darstellungen der während der Sommerwochen behandelten Stoffe als Broschüren heraus.
Die erste Veröffentlichung dieser Sammlung liegt bereits vor und umfaßt unter dem Leitthema Lebensgestaltung die drei Kurse der Sommerwoche 1933: „Das Leben und ich“, „Das Leben und mein Nächster", „Das Leben und Gott“. Das geschmackvolle Heft ist zum Preise von RM. —.30 zuzüglich Zustellungskosten von der Verlagsabteilung zu beziehen.
Es eignet sich im besonderen Maße zur Einführung in die Gedankenwelt des Bahá'i-Glaubens, wobei der Leser die häufigen Quellennachweise als Anregung zu weiterem Studium sehr begrüßen wird.
Die zweite Folge der Kursberichte, die in Vorbereitung ist, wird die Themen der diesjährigen Bahá’i-Sommerwoche zum Gegenstand haben. Aus diesem Grunde sieht die Schriftleitung von einer Veröffentlichung in der „Sonne der Wahrheit" ab. Eine Berichterstattung erfolgt in der nächsten Nummer der Bahá’i-Nachrichten. Außerdem hoffen wir, in einer der nächsten Nummern der „Sonne der Wahrheit“ eine Schilderung der Eindrücke auf dieser so überaus erlebnis- und anregungsreichen Tagung bringen zu können.
In der „Sonne der Wahrheit“ finden nur solche Manuskripte Veröffentlichung, bezüglich deren Weiterverbreitung keine Vorbehalte gemacht werden. — Alle auf den Inhalt der Zeitschrift bezüglichen Anfragen, ferner schriftliche Beiträge wie auch alle die Schriftleitung betreffenden Zuschriften sind an Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart W, Reinsburgstraße 198, zu senden. — Bestellungen von Abonnements, Büchern und Broschüren sind an die Verlagsabteilung des Nationalen Geistigen Rats der Bahá’í in Deutschland und Österreich e. V., Stuttgart, Alexanderstr. 3 (Nebengebäude) zu richten. — Alle Zahlungen sind zu leisten an den Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland und Österreich e. V., Stuttgart, Alexanderstraße 3 (dessen Postscheckkonto Nr. 19340 Amt Stuttgart). — Alle Rechte vorbehalten. Copyright by Verlagsabteilung des Nationalen Geistigen Rats der Bahá’í in Deutschland und Österreich e. V., Stuttgart. — Druck von J. Fink, Hofbuchdruckerei, Stuttgart.
Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland und Oesterreich e. V., Stuttgart
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Von unserer Verlagsabteilung können bezogen werden:
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Bahá’u’lláh
Verborgene Worte.. Worte der Weisheit und Gebete. Geschrieben während seiner Verbannung in Bagdad 1857/58 . . . kart. —.80
gebunden 1.--
Frohe Botschaften. Worte des Paradieses, Tablet Tarasat (Schmuck), Tablet Taschalliat (Lichtstrahlen), Tablet Ischrakat (Glanz). Mahnrufe und Anweisungen an die Völker der Erde . . gebunden 2.00
Ganzleinen 2.50
Buch der Gewißheit oder Kitábu’l-Iqán. Eine Auseinandersetzung mit theologischen Fragen verschiedener Religionen, geschrieben in Bagdad um 1862. Ist fortsetzungsweise in den beiden Jahrgängen X und XI unserer Zeitschrift „Sonne der Wahrheit“ enthalten.
Jahrgang gebunden je 6.--
'Abdu'l-Bahá Abbas
Ansprachen in Paris. ‘Abdu’l-Bahá spricht hier über zahlreiche Fragen, nach deren Klärung die Völker der Erde suchen.
gebunden 2.--
Beantwortete Fragen. Erklärungen zu christlichen und islamischen Fragen, Behandlung allgemeiner weltanschaulicher Probleme . . . . . . Ganzleinen 2.50
Sendschreiben an die Haager Friedenskonferenz 1919 . . . . . --.20
Sonstiges
Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahá’i-Religion, Einführung in die Gedankenwelt der Bahá’i-Lehre von einem orientalischen Gelehrten. Von Mirza Abul Fazl . . . . . gebunden 2.--
Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter. ein Lehrbuch von Dr. J. E. Esslemont. Ganzleinen 2.50
'Abdu'l-Bahá Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps. . . . . .gebunden 2.--
Die Bahá’i-Offenbarung, ein Lehrbuch von Thornton Chase. . . . . . . kart. 2.--
Am Morgen einer neuen Zeit. Untersuchung der geistigen Ursachen der Weltkrise und Beleuchtung der letzthin einzigen Möglichkeit ihrer Überwindung durch die Bahá’i-Lehre. Von Dr. Hermann Großmann . . . . . kart. 1.80
Ganzleinen 2.50
Lebensgestaltung. Das Leben und ich. Das Leben und mein Nächster. Das Leben und Gott. Kursberichte der Eßlinger Bahá’í-Sommerwoche 1933 . . . -.30
Die Bahá’i-Weltanschauung. Eine kurze Einführung. Von Pauline Hartmann . . . . —.20
Das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahás ("The Passing of 'Abdu'l-Bahá") . . . -.30
Sonne der Wahrheit. Bahá'i-Monatszeitschrift.
- Jahrgang III - IX gebunden je 3.--
- Jahrgang X - XIII gebunden je 6.--