Sonne der Wahrheit/Jahrgang 14/Heft 11/Text
SONNE DER WAHRHEIT | ||
Organ der Bahá’í in Deutschland und Oesterreich | ||
HEFT 11 | 14. JAHRGANG | JANUAR 1935 |
Die Bahá’í-Lehre,[Bearbeiten]
die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.
Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.
Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.
Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.
Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“
Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.
Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.
Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.
SONNE DER WAHRHEIT Organ der Bahá’í in Deutschland und Österreich Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198 Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo Verwaltung: Paul Gollmer • Begründet von Alice Schwarz-Solivo Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark, im Ausland 2.– Reichsmark |
Heft 11 | Stuttgart, im Januar 1935 Sharaf – Ehre 91 |
14. Jahrgang |
Inhalt: Worte Bahá’u’lláh’s zur Befriedung der Welt. — Nabíl’s Erzählung: Mullá Ḥusayn’s Reise nach Ṭihrán (Schluß). — Göttliche Lebenskunst. — Was erwarten wir von der Religion?
O Sohn des Seins! Mit den Händen der Macht habe Ich dich geformt, und mit den Fingern der Kraft habe Ich dich erschaffen. In dich habe Ich das Wesen Meines Lichts gelegt, begnüge dich damit und ziehe es allem andern vor; denn Mein Werk ist vollkommen und Mein Gebot ist bindend. Stelle es nicht in Frage und zweifle nicht.
Verborgene Worte von Bahá’u’lláh.
Worte Bahá’u’lláh’s zur Befriedung der Welt[Bearbeiten]
Geschrieben um 1890
Ins Deutsche übertragen aus „L’Epître au Fils du Loup“, traduction française par Hippolyte Dreyfus, Librairie Honoré Champion, Paris, 1913, Seite 32—34
... Ich bitte und hoffe zu Gott (gerühmt sei Seine Herrlichkeit!), Er möge den Aufgangsorten
der Macht und Autorität und den Verkörperungen der Ehre und Herrschaft, d. h. den
Königen der Erde (Alláh stehe ihnen bei!) dazu verhelfen, den höchsten Frieden heranreifen zu
lassen: dieser ist die größte Ursache für die Ruhe der Völker. Die Herrscher der Welt (Alláh
erzeige ihnen Seine Gunst!) sollen sich alle gemeinsam an diesen Befehl halten, der das größte
Schutzmittel der Welt darstellt. Ich hoffe, daß sie den Menschen nach Kräften zu dem verhelfen
werden, was die Ursache der Ruhe ist. Sie werden ein großes Parlament ins Leben rufen
müssen, in dem die Könige oder die Minister anwesend sein werden, um das Gesetz der Einheit
und Einigkeit feierlich bekannt zu geben, um sich von den Waffen gegen den Frieden abzuwenden.
Und wenn ein König sich gegen einen anderen König erhebt, werden sich die
übrigen zwischen diesen beiden ins Mittel legen: dann wird von den Heeren, den Gewehren,
der Artillerie überflüssig, was das für die Aufrechterhaltung der Ordnung jedes Landes
notwendige Maß überschreitet. Und wenn die Könige zu diesem höchsten Gute gelangen, dann
werden sich alle Nationen in Ruhe und Freude ihren Angelegenheiten widmen, und die Klagen
und Jammerrufe der meisten Menschen werden aufhören. Wir bitten Gott, daß Er ihnen zu
dem verhelfe, was Er liebt und was Ihm gefällt. Wahrlich, Er ist der Herr des Thrones
und der Erde, der König des Anfangs und des Endes. Am besten und wichtigsten ist es, daß
in jenem Parlament die großen Könige selbst anwesend sind und beratschlagen; und jeder der
Könige, der sich dafür einsetzen wird, diesem Befehle Geltung zu verschaffen, wird von Gott
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aus der Herr der Könige sein. Das Glück nenne er sein eigen, und die Gnade ruhe auf ihm!
Jedesmal, wenn in diesen Ländern1) ein Trupp Soldaten daherkommt, zeigt sich allerorts furchtbare Angst: und dabei vermehren alle Staaten jährlich ihre Heere; denn die Kriegsminister sind in dieser Hinsicht unersättlich und sprechen nur von Zuwachs. Nach dem, was man berichtet, hat der persische Staat (Alláh stehe ihm bei!) ebenfalls die Absicht gehabt, seine Armee zu vermehren! Nach meiner Ansicht genügen heute hunderttausend gut organisierte und ausgerüstete Soldaten.
Hinsichtlich der Organisation des Heeres und seiner Ausbildung gibt es ein neues System, auf Grund dessen man mit hunderttausend Mann erreichen würde, was man mit zweimal soviel erreicht. Ebenso gibt es ein Mittel, um jene Furcht wenigstens im Ausmaß des Möglichen verschwinden zu lassen; es handelt sich um eine Einrichtung, der sich die Männer von Jugend auf widmen müssen2): das würde einen großen Unterschied zeitigen, denn alles, was jene Angst ausmerzen würde, würde den Mut steigern. Wenn der göttliche Wille mir Seine Hilfe leiht, wird zu diesem Punkt ein umfangreicher Kommentar aus der Feder der Erklärung fließen. Und vielleicht wird es sich auch geben, daß in der richtigen Handhabung3) der Wissenschaften und Künste das zum Vorschein kommt, was die Welt und die Nationen erneuern wird.
Desgleichen ist von der allerhöchsten Feder ein Wort geschrieben und in das rote Buch eingefügt worden, das eine beim Menschen verborgene Macht völlig zutage treten läßt: ja, es ist sogar, als ob es sie noch steigerte. Wir bitten Gott (Er sei gepriesen und verherrlicht!), Seinen Dienern zu dem zu verhelfen, was Er liebt und was Sein Wohlgefallen hat.
Am heutigen Tage kommen allseits die Feinde hervor, und das Feuer des Hasses ist entfacht. O Völker der Erde! Bei mir selbst und bei euch! Ich habe nie daran gedacht und denke nicht daran, zu befehlen; mein Wunsch ging und geht nur dahin, die Ursache der Streitigkeiten zwischen den Sekten der Welt und der Uneinigkeit der Nationen zu beseitigen, damit alle, glücklich und frei, ihren Zielen nachgehen können... .
1) Gemeint sind Persien und Türkei.
2) Wortlaut in französisch: C’est une organisation qu’il faut que les hommes pratiquent dès leur jeunesse.
3) Dans l’ordre des sciences et des arts.
Nabíl’s Erzählung[Bearbeiten]
Übersetzung aus „The Dawn-Breakers“, Nabíl’s Narrative of the early days of the Bahá’í Revelation, New York 1932
(Fortsetzung 4. Kapitel: Mullá Ḥusayn’s Reise nach Ṭihrán)
Von Iṣfáhán zog Mullá Ḥusayn weiter nach Káshán. Der Erste, der in dieser Stadt der
Gemeinschaft der Gläubigen beitrat, war ein gewisser Ḥájí Mirzá Jání, mit dem Zunamen
Par-Pá, ein angesehener Kaufmann. Unter den Freunden Mullá Ḥusayns war ein wohlbekannter
Theologe, Siyyid ‘Abdu’l-Báqí, ein Einwohner Kásháns und ein Mitglied der Gemeinschaft
der Shaykhi. Obgleich er mit Mullá Ḥusayn während seines Aufenthaltes in Najaf und
Karbilá eng befreundet gewesen war, fühlte sich der Siyyid doch außerstande, seine Stellung und
Führerschaft für die Botschaft, welche ihm sein Freund überbracht hatte, zu opfern.
In Qum angekommen, fand Mullá Ḥusayn die Menschen für seinen Ruf völlig unvorbereitet. Die Saat, die er unter ihnen säte, ging erst zu der Zeit auf, als Bahá’u’lláh nach Baghdád verbannt wurde. In jenen Tagen erst nahm ein Einwohner von Qum den Glauben an und reiste nach Baghdád, wo er Bahá’u’lláh traf. Er trank schließlich den Kelch des Märtyrertums auf Seinem Pfade.
Von Qum begab sich Mullá Ḥusayn geradeswegs nach Ṭihrán. Während seines Aufenthaltes in der Hauptstadt
lebte er in einem der Räume, welche zur Schule von Mirzá Ṣáliḥ gehörten,
noch bekannter als die Schule von Páy-i-Minár. Ḥájí Mirzá Muḥammad-i-Khurásání, der Führer
der Gemeinschaft der Shaykhivon Ṭihrán und zugleich ein Lehrer in dieser Anstalt,
wurde von Mullá Ḥusayn aufgesucht; jedoch entsprach er nicht dessen Einladung, die Botschaft
anzunehmen. „Wir hegten die Hoffnung“, sagte er zu Mullá Ḥusayn, „daß du dich nach dem
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Tode des Siyyid Káẓim bemühen würdest, im Dienste unserer Gemeinschaft zu arbeiten und
sie von der Verdunkelung, in welche sie gesunken ist, zu befreien. Du scheinst jedoch unsere
Sache verraten zu haben. Du hast unsere süßesten Hoffnungen zerschlagen. Solltest du weiterhin
diese verkehrte Lehre verbreiten, so wirst du schließlich die Überbleibsel der Shaykhi
in dieser Stadt vernichten.“ Mullá Ḥusayn versicherte ihm, daß er nicht die Absicht habe,
länger in Ṭihrán zu bleiben, und daß es in keiner Weise sein Ziel sei, die Lehre des
Shaykh Aḥmad und des Siyyid Káẓim zu erniedrigen und zu unterdrücken.
Während seines Aufenthaltes in Ṭihrán verließ Mullá Ḥusayn täglich in aller Frühe sein Zimmer, um erst eine Stunde nach Sonnenuntergang zurückzukehren. Bei seiner Rückkehr betrat er still und allein sein Zimmer, schloß die Tür hinter sich zu, und blieb in seiner Zelle bis zum nächsten Tage. Mírzá Músá, Áqáy-i-Kalím, der Bruder Bahá’u’lláh’s, erzählte mir folgendes: „Ich hörte Mullá Muḥammad-i-Mu’allim, aus Núr gebürtig, in der Provinz Mázindarán, welcher ein begeisterter Bewunderer von Shaykh Aḥmad und Siyyid Kázim war, folgende Geschichte erzählen: ‚In jenen Tagen war ich als ein bevorzugter Schüler von Ḥájí Mirzá Muḥammad bekannt und lebte in derselben Schule, in welcher er lehrte. Unsere Zimmer stießen aneinander und wir waren sehr befreundet. Eines Tages, als er sich mit Mullá Ḥusayn unterhielt, hörte ich ihr Gespräch von Anfang bis zu Ende, und fühlte mich durch den Eifer, die Geläufigkeit und die Gelehrsamkeit dieses fremden Jünglings sehr bewegt. Ich war erstaunt über die ausweichenden Antworten, die Anmaßung und das verächtliche Benehmen Ḥájí Mirzá Muḥammad’s. An diesem Tage fühlte ich mich von der Anmut dieses Jünglings stark angezogen und verwarf das unziemliche Betragen meines Lehrers gegen ihn. Ich verbarg jedoch mein Gefühl und gab an, von seinen Aussprachen mit Mullá Ḥusayn nichts zu wissen. Von leidenschaftlicher Sehnsucht erfüllt, letzteren zu treffen, wagte ich, in der Mitternachtsstunde ihn zu besuchen. Er erwartete mich nicht; doch ich klopfte an seine Tür und fand ihn wachend bei seiner Lampe sitzen. Er empfing mich herzlich und sprach mit mir äußerst höflich und zartfühlend.
Ich öffnete ihm mein Herz und, als ich zu ihm redete, flossen die Tränen, die ich nicht
unterdrücken konnte, aus meinen Augen. „Nun kann ich den Sinn sehen“, sagte er, „warum ich
diesen Platz zum Aufenthalt erwählt habe. Dein Lehrer hat diese Botschaft verschmäht und
zurückgewiesen und ihren Gründer mißachtet. Meine Hoffnung ist nun, daß sein Schüler,
anders als der Lehrer, die Wahrheit erkennen möge. Wie ist dein Name, und in welcher Stadt
bist du zu Hause?“ „Mein Name“, erwiderte ich, „ist Mullá Muḥammad und mein Zuname Mu'allim.
Meine Heimat ist Núr in der Provinz Mázindarán.“ „Sage mir“, fuhr Mullá Ḥusayn fort,
„lebt heute in der Familie des verstorbenen Mírzá Buzurg-i-Núri, welcher durch seinen
Charakter, seine Liebenswürdigkeit und seine künstlerischen und intellektuellen Bestrebungen
bekannt war, einer, welcher sich fähig erwiesen hat, die hohen Überlieferungen dieses
erlauchten Hauses aufrecht zu erhalten?“ „Ja“, erwiderte ich, „unter seinen Söhnen, die jetzt
leben, hat einer Sich durch dieselben Charakterzüge, die Seinem Vater eigen waren, ausgezeichnet.
Durch Sein tugendhaftes Leben, Sein hohes Streben, Seine liebevolle Güte und Freigebigkeit hat
Er Sich als edler Sproß eines edlen Vaters erwiesen.“ „Womit beschäftigt Er sich?“
frug er mich. „Er erfreut die Trostlosen und ernährt die Hungrigen“, antwortete ich. „Welchen
Rang, welche Stellung nimmt Er ein?“ „Er hat keine“, sagte ich, „außer daß Er sich mit den
Armen und Fremden befreundet.“ „Wie ist Sein Name?“ „Ḥusayn-'Ali.“ „In welcher Schreibweise
Seines Vaters zeichnet Er sich aus?“ „Seine Lieblingsschrift ist das Shikastih-nasta'liq.“
„Wie verbringt Er seine Zeit?“ „Er durchstreift die Wälder und erfreut sich an den Schönheiten
des Landes.“ „Wie alt ist Er?“ „Achtundzwanzig.“ Der Eifer, mit welchem Mullá Ḥusayn mich
ausfrug, und das Gefühl der Wonne, womit er jede Einzelheit, die ich ihm gab, willkommen
hieß, verwunderte mich sehr. Sich mir zuwendend mit einem Gesichte, das von Zufriedenheit
und Freude strahlte, frug er mich noch einmal: „Ich nehme an, daß du ihm häufig begegnest?“
„Ich besuche häufig Sein Heim“, antwortete ich. „Würdest du“, sagte er, „in Seine Hand ein
Vertrauenspfand von mir überbringen?“ „Sicherlich“, war meine Antwort. Da reichte er mir
eine Rolle, in ein Stück Tuch gehüllt, und bat mich, Ihm dieselbe den nächsten Tag bei
Sonnenaufgang zu überreichen. „Sollte Er geruhen, mir zu antworten“, fügte er hinzu, „würdest
du so gütig sein, mich mit Seiner Antwort bekannt
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zu machen?“ Ich empfing die Rolle von ihm und bei Tagesanbruch erhob ich mich, seinen Wunsch
auszuführen.
„ ‚Als ich mich dem Hause Bahá’u’lláh’s näherte, erkannte ich Seinen Bruder Mírzá Músá, welcher am Tore stand, und teilte ihm den Zweck meines Besuches mit. Er ging in das Haus und erschien sofort wieder mit der Botschaft des Willkommens. Ich wurde in Seine Gegenwart geführt und überreichte die Rolle Mírzá Músá, welcher sie vor Bahá’u’lláh hinlegte. Er bat uns beide, Platz zu nehmen. Die Rolle entfaltend überblickte Er ihren Inhalt und begann, uns laut einige Seiten daraus vorzulesen. Entzückt saß ich da, wie ich dem Klange Seiner Stimme und der Süßigkeit ihrer Melodie lauschte. Als Er eine Seite der Rolle gelesen hatte, wandte Er sich an Seinen Bruder und sagte: „Músá, was sagst du dazu? Wahrlich, Ich sage, wer an den Qur’án glaubt und seine göttliche Quelle anerkennt, und dann noch zögert, und wäre es auch nur für einen Augenblick, zuzugeben, daß diese seelenbewegenden Worte mit derselben neuschöpferischen Kraft ausgestattet sind, der hat sicherlich in seinem Urteil geirrt und ist weit abseits geraten vom Pfade der Gerechtigkeit.“ Mehr sprach Er nicht. Mich aus Seiner Gegenwart entlassend, trug Er mir auf, Mullá Ḥusayn von Ihm eine Gabe1), einen Laib russischen Zucker und ein Päckchen Tee, mit dem Ausdruck Seiner hohen Hochachtung und Liebe zu überbringen.
„‚Ich erhob mich und freuderfüllt eilte ich zurück zu Mullá Ḥusayn, und überbrachte ihm die Gabe und Botschaft Bahá’u’lláh’s. Mit welcher Freude, welchem Jubel empfing er sie von mir! Worte können das Maß seiner Erregung nicht beschreiben. Er erhob sich und mit gebeugtem Haupt empfing er die Gabe aus meiner Hand, und küßte sie innig. Dann nahm er mich in seine Arme, küßte meine Augen und sagte: „Mein inniggeliebter Freund! Ich bete, daß, so wie du mein Herz erfreut hast, Gott Dir ewige Glückseligkeit gewähren und dein Herz mit unvergänglicher Freude erfüllen möge.“ Ich war erstaunt über das Benehmen Mullá Ḥusayns. Was konnte, so dachte ich bei mir selbst, das Wesen des Bandes sein, das diese beiden Seelen miteinander vereinigte? Was konnte in ihren Herzen eine so glühende Freundschaft entzündet haben? Wie konnte Mullá Ḥusayn, in dessen Augen königlicher Glanz und Aufwand nichtiger Tand war, bei dem Anblick einer so unscheinbaren Gabe aus der Hand Bahá’u’lláh’s, eine solche Freude an den Tag legen. Ich war verwundert bei diesem Gedanken und konnte das Geheimnis nicht entwirren.
„‚Nach einigen Tagen zog Mullá Ḥusayn weiter gen Khurásán. Beim Abschied sagte er: „Sprich zu keinem über das, was du gehört und gesehen hast. Bewahre es als ein Geheimnis in deiner Brust. Verbreite nicht Seinen Namen, denn die, so Seine Stufe beneiden, werden sich erheben, um Ihm zu schaden. In den Augenblicken der Gebetsversenkung bitte den Allmächtigen, daß er Ihn beschütze, damit durch Ihn die Niedergetretenen erhoben, die Armen bereichert und die Gefallenen erlöst werden. Das Geheimnis dieser Dinge ist vor unseren Augen verborgen. Unser ist die Pflicht, den Ruf des neuen Tages zu erheben und die göttliche Botschaft allen Menschen zu verkünden. Viele Seelen in dieser Stadt werden ihr Blut auf diesem Pfade vergießen. Dieses Blut wird den Baum Gottes bewässern und wird die Ursache sein, daß er aufblüht und die ganze Menschheit überschattet“.‘“
(Schluß des 4. Kapitels)
1) Tee und diese Art Zucker waren damals in Persien äußerst rar. Beides war als
Geschenk nur in den höheren Bevölkerungsschichten gebräuchlich.
Göttliche Lebenskunst[Bearbeiten]
Aus den Schriften ‘Abdu’l-Bahá's (Fortsetzung)
Zusammengestellt von Mary M. Rabb (New York, Brentanos Publishers)
Übersetzung aus dem Englischen
7. Kapitel: Die Macht des Heiligen Geistes (Fortsetzung)
Jedesmal, wenn der Heilige Geist erscheint, wird die Welt erneut und ein neuer Zyklus
gegründet. Der Körper der Menschenwelt legt ein neues Gewand an. Man kann dies mit dem
Frühling vergleichen: immer, wenn er kommt, wechselt die Welt ihren Zustand. Durch den
Eintritt der Frühlingszeit wird die dunkle Erde,
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wird Feld und Heide grün und blühend, und Blüten und duftende Kräuter aller Art sprießen
hervor. Die Bäume erhalten neues Leben, neue Früchte werden erscheinen; ein neuer
Zyklus ist gegründet.
Das Erscheinen des Heiligen Geistes ist dem zu vergleichen. Wann immer er erscheint, erneuert er die Welt der Menschheit und schenkt den menschlichen Wirklichkeiten neuen Geist: er kleidet die Welt des Daseins in ein herrliches Gewand, zerstreut das Dunkel der Unwissenheit und verursacht das Aufleuchten des Lichtes der Vollkommenheit.
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Es gibt eine wunderbare Macht und Stärke, die dem menschlichen Geiste eigen ist, aber sie muß bestätigt werden durch den Heiligen Geist... Wird sie durch die Gnadenfülle des Heiligen Geistes unterstützt, dann wird sie große Kraft ausstrahlen, Wirklichkeiten entdecken und Geheimnisse erfahren. Richte all dein Trachten nach dem Heiligen Geist, und rufe jeden Menschen zum Trachten nach ihm. Dann wirst du wunderbare Zeichen schauen ...
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. . Der menschliche Körper braucht materielle Kraft, aber der Geist bedarf des Heiligen Geistes. Gäbe es nicht den Schutz des Heiligen Geistes, so würde die Menschheit ausgelöscht werden. Jesus Christus sagte: „Lasset die Toten ihre Toten begraben.“ Dieses Wort bedeutet: „Was vom Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was vom Geiste geboren ist, ist Geist“, und es wird offenbar, daß der menschliche Geist tot ist, wenn er nicht vom Heiligen Geiste beschützt wird. Es ist klar, daß der menschliche Geist die Wiedererweckung durch den Heiligen Geist braucht; ohne ihn kann der Mensch, wenn er auch noch so große materielle Fortschritte macht, doch keine volle und wahrhafte Weiterentwicklung finden.
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Erleuchtet die Macht des Heiligen Geistes die Intelligenz des Menschen, so wird dieser befähigt, Mittel zu entdecken, welche zahlreiche Naturgesetze seinem Willen beugen. Er fliegt durch die Luft, fährt über das Meer und bewegt sich sogar unter Wasser... Der Heilige Geist wird dem Menschen größere Kräfte geben als diese, wenn er nur nach den geistigen Dingen streben wird und sich bemüht, sein Herz auf die göttliche unendliche Liebe abzustimmen.
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Der menschliche Geist ist eine Macht, welche die Wirklichkeit der Dinge erfaßt. Alles was du siehst, wie Künste, Erfindungen, Forschungen und Entdeckungen, waren einmal im Bereich des Unsichtbaren und waren verborgene Materie. Aber der menschliche Geist entdeckte solche verborgenen Geheimnisse und brachte sie aus dem Bereich des Unbekannten in die sichtbare Welt. Zum Beispiel die Dampfkraft, die Photographie, der Phonograph, die Telegraphie und mathematische Probleme waren alle einmal verborgene Mysterien und unbekannte Geheimnisse. Aber der menschliche Geist entdeckte solche unsichtbare Mysterien und brachte sie von der verborgenen in die sichtbare Welt. Folglich ist es klar, daß der menschliche Geist eine begreifende Kraft ist und die Wirklichkeiten der Dinge prüft und die verborgenen Geheimnisse im Bereich der physischen Welt entdeckt. Aber der göttliche Geist entdeckt göttliche Wirklichkeiten und kosmische Mysterien im Reiche der göttlichen Welt. Ich hoffe, du mögest den göttlichen Geist erlangen, die Mysterien der göttlichen Welt entdecken und die Geheimnisse der physischen Welt verstehen.
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Es gibt verschiedene Arten von Licht. Zunächst ist da das sichtbare Licht der Sonne, mit dessen Hilfe wir die Schönheit der Welt um uns wahrnehmen können. Ohne dieses Licht könnten wir nichts sehen. Wenn es nun auch die Wirkung dieses Lichtes ist, die Dinge sichtbar zu machen, so kann es uns doch nicht die Sehkraft geben oder die Kraft zu erkennen, was ihre verschiedenen Reize sein mögen; denn dieses Licht hat keine Intelligenz, kein Bewußtsein.
Es ist das Licht des Verstandes, welches uns Wissen und Verstehen schenkt, und ohne dieses
Licht wären die körperlichen Augen nutzlos. Das Licht des Verstandes ist vom göttlichen
Licht geboren. Das Licht des Verstandes befähigt uns, alles Dasein zu verstehen und nutzbar
zu machen. Aber allein das göttliche Licht kann uns Sehkraft geben für die unsichtbaren
Dinge, und uns befähigen, Wahrheiten zu erkennen, welche für die Welt noch tausend Jahre
verborgen sind. Es war das göttliche Licht, welches die Propheten befähigte, Auf zweitausend
Jahre vorauszuschauen, was kommen wird. Und heute sehen wir die Verwirklichung ihrer
Gesichte. Dies ist also das Licht, nach dem wir streben und suchen sollten; denn es ist größer
als alles andere.
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Durch die Hilfe dieses strahlenden Lichtes wurden alle geistigen Auslegungen der Heiligen Schriften klar, die verborgenen Dinge von Gottes Weltall offenbar, und wir wurden befähigt, die göttlichen Vorsehungen für den Menschen zu begreifen.
(Fortsetzung folgt.)
Was erwarten wir von der Religion?[Bearbeiten]
Von Stanwood Cobb
Entnommen und ins Deutsche übertragen aus „The Bahá’í Magazine“, Band 22, Heft 10
- „Der Sinn der Religion ist die Erwerbung lobenswerter Tugenden, die Besserung der Moral, geistige Entwicklung der Menschheit, wahres Leben und göttliche Gaben. Religion ist als das belebende Element im Staatskörper gedacht“.
- ‘Abdu'l-Bahá.
Heutigen Tages ist ein Rennen hierhin und dorthin und ein oft verzweifeltes Suchen nach Wahrheit — wie vor Zeitaltern vorausgesagt ist, daß es kommen werde. Es ist ein Abfall von der Religion, und dieses Aufgeben einstmaliger geistiger Wegweiser entwickelte sich nicht allein aus dem Individualismus unseres Zeitalters heraus, sondern entspringt der Tatsache, daß die religiösen Einrichtungen den gegenwärtigen geistigen Nöten der Menschheit nicht mehr entsprechen.
Hinsichtlich des Wertes und der Autorität einer jeden Religion darf man wohl eine gewisse Prüfung anstellen. Vor allem müssen wir sogar die Frage aufwerfen: was soll uns die Religion? was soll sie in unser eigenes Leben tragen? und nachdem wir verstandesgemäß den Zweck festgestellt haben, den die Religion für uns erfüllen müßte, dann mögen wir mit einem solchen Maßstab den Anspruch einer jeden bestehenden Religion auf unsere Ergebenheit bemessen.
Das Erste und Wichtigste, was die Religion für den Einzelnen bringen muß, ist, ihm das Weltall klar zu machen. Dieses Weltall, inmitten dessen wir leben, uns bewegen und unser Dasein fristen, ist eine immer gegenwärtige Gewalt, der wir auf keine Weise entgehen können. Was haben wir davon zu denken? Wie weit geht unser Verständnis dafür und welche Stellung nehmen wir demgegenüber ein? Wenn wir es als eine Verkettung von zufälligen Kräften und Ereignissen ansehen, so ist das eine traurige Philosophie, auf die wir unser Leben aufbauen würden. Wir wären demnach offenbar Lebewesen in einem ungeregelten Chaos, denn inwieweit ist überhaupt Ordnung in einem All, welches nur das von Tag zu Tag beobachtete ist und das keine Gewähr für Beständigkeit, Dauer oder Segen bietet, insofern es das Schicksal des Einzelnen betrifft? In diesem Licht erscheint das Weltall Millionen von hochintelligenten Menschen heutigen Tages, die die alte Führung der Religion abgelegt haben.
Nun wäre die Religion, und wenn sie für den Einzelnen auch nichts weiter tun würde, der größte Segen, wenn sie ein Gefühl persönlicher Sicherheit inmitten einer ewig wechselnden Welt bieten könnte, wenn sie die Überzeugung eines geistigen Segens schenken könnte hinter den veränderlichen, kaleidoskopartigen Ereignissen, die das Dasein ausmachen. Das ist in Wirklichkeit, was jedermann sucht; und das Einzelleben kann niemals Glück, Ruhe und Zufriedenheit finden, es sei denn, daß es das Welträtsel in dieser Art gelöst hat. Jedoch eine derartige Lösung muß heutzutage vernunftgemäß und im Einklang mit der Wissenschaft sein. Die alten vermenschlichten Begriffe von Gott sind heute nicht mehr vorstellbar; die Religion muß uns eine Lehre über Gott geben, die vollkommen vernunftgemäß ist, die mit der Wissenschaft übereinstimmt und die doch zum Glauben an das Weltall und zu dem Gefühl des wesentlichen Wertes des Individuums gegenüber der rohen Gewalt eines materiellen Kosmos führt.
Zweitens: Die Religion, die das Weltall in Worten Gottes erklärt hat, sollte den Einzelnen
lehren, in welcher Beziehung er zu Gott und zum Weltall steht; sie sollte gewisse veränderliche
Gesetze offenbaren, welche die Bahn des Menschen ebenso regieren wie die der Atome,
ein Gehorchen, aus dem Glückseligkeit und Erfolg entspringt und das die feste Grundlage für
die Laufbahn des Einzelnen ist. Mit einem Wort: die Religion sollte uns lehren, auf die Felsen der
Dauer und nicht auf Flugsand zu bauen; sie sollte uns die Anwendung des Suchens, des Meditierens
und des Betens lehren als Mittel, sowohl uns selbst mit dem Weltall in Einklang zu
bringen, als auch Führung und Segen aus dem Weltall an uns zu ziehen, Sie sollte uns das
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Geheimnis Gottes erklären, soweit das dem menschlichen Begreifen und Erleben zugänglich gemacht
ist durch die Aufeinanderfolge von Manifestationen und Propheten, deren Wirken es ist, den
Unendlichen der beschränkten Fassungskraft des Menschen zu offenbaren und dem Menschen in
dieser größten aller Fragen — der Frage nach Gott — zur Seite zu stehen.
Drittens: Die Religion sollte dem Einzelnen dazu verhelfen, jene geistigen Merkmale, jene geistigen Eigenschaften zu erwerben, die zu einer geistigen Wiedergeburt führen. Dies ist eine der hauptsächlichsten Aufgaben der Religion. Hiermit steigt die Religion von der Zinne des Denkens herab in den Kampfplatz des Tuns. Es genügt nicht, einen Glauben an die Religion zu haben; dieser Glauben muß sich in Taten weiterbilden und der erste Schritt zur Tat ist die Läuterung und Veredlung unserer Eigenschaften, so daß wir uns von der Ebene des Tierischen auf die Ebene des Geistigen erheben, welche die Wirklichkeit des Menschen ist. 'Abdu'l-Bahá sagt: „Die Propheten kommen in diese Welt, um die Menschen zu führen und zu erziehen, damit die tierische Natur des Menschen verschwinde und die Göttlichkeit seiner Kräfte erwache.“
Viertens: Die Religion muß den Einzelnen leiten in seiner Beziehung zu seinen Mitmenschen. Dies ist sehr wichtig, denn wir können nicht auf abgeschiedenen Höhen des Entzückens verweilen. Wir können unsere Religion durch Sehnsucht und inneres Wachstum allein nicht besser erfüllen, als die Jünger Christi ihre Religion erfüllen konnten mit dem Andenken an die Verklärung Christi (welche Petrus, Jakobus und Johannes bezeugen durften) durch die Herstellung von Tabernakeln, wie es der begeisterte Petrus vorschlug — eines für Christus, eines für Moses und eines für Elias. Denn es war Christi und ihre Sendung, „herabzukommen vom Hügel, wo viel Volks ihn traf“.
Der wahre Tempel, den der Einzelne bauen muß, ist der gutgestimmter Beziehungen zu seinen Mitmenschen, und dieses Gebäude kann nur errichtet werden auf der Grundlage von Liebe und Einigkeit. Daher muß die Religion das Mittel für eine Einigkeit unter den Menschen werden ohne Ansehen des Alters, der Klasse, der Geistesgaben, der Rasse oder des Glaubens. Sie muß alle Vorurteile abschaffen, welche die Menschen spalten und die Saat von Gegensatz und Mißklang werden. Religion muß sowohl in ihrer individuellen als organisierten Ausdrucksform das Mittel zur vollkommenen Eintracht sein. Ihre administrative Entwicklung muß alle Kunstgriffe der Politik, der Schleichwege und des Persönlichen abstoßen und eine Angelegenheit aufrichtiger und liebevoller Zusammenarbeit werden, die auf dem Grundsatz der Beratung beruht, frei von menschlichen Zielen und Zwecken und frei von Haft, wie ihn die Eigenliebe hervorbringt.
Fünftens: Die Religion sollte eine entschiedene Lehre über die Unsterblichkeit erteilen. Das menschliche Herz sehnt sich nach einem solchen Glauben auf Erden, wie ihn die Wissenschaft allein nicht übermitteln kann. Die Religion muß etwas Endgültiges zu bieten haben — eine zwingende Wahrheit, eine strahlende Botschaft für das nächste Leben. Diese Botschaft darf nicht nur eine Tröstung für jene sein, denen der Tod ihre Freunde entrissen hat; sie muß auch dem Einzelnen zeigen, wie er sein Leben auf dieser Erde einzurichten hat, um nach dem Tode der Unsterblichkeit würdig zu werden. Sie muß den Menschen lehren, wie er diese geistigen Eigenschaften erwirbt für ein glückliches Dasein auf höheren Ebenen des Lebens als jene, die wir auf dieser Erde kennen.
Sechstens: Die Religion sollte uns Trost und Erleuchtung in allem Leid und Unglück sein; sie soll aber kein schmerzstillendes Mittel sein, kein Lethetrank, der gleichgültig macht den Ereignissen des Schicksals gegenüber. Dies ist einer der Haupteinwände, die von Freidenkern der Religion gegenüber gemacht werden, daß diese die Sinne der Frommen derart einlulle, daß sie deren tätigen und wirklichen Widerstand den Schwierigkeiten und Hemmnissen des Lebens gegenüber schwächt.
Die wirkliche Kraft der Religion in Zeiten des Unglücks soll nicht nur Trost, sondern auch Mut,
Entschlossenheit und Schöpferkraft dem Menschen geben, so daß diese ihm aus seinen
Schwierigkeiten heraushelfen. Derart war die Tröstung, die der Psalmist in der Religion suchte
und auch fand. Und das wunderbarste Beispiel, das ich aus der ganzen Geschichte geistiger
Führung zu nennen weiß, wie sie eines Menschen zusammengebrochenes Glück rettete, findet sich
in der Erzählung im 50. Kapitel des ersten Buches Samuel. Hier lesen wir den denkwürdigen
Bericht, wie David in Ziklag den stärksten Wendepunkt und Schicksalsschlag seines Lebens
erlitt; es kam ein stürmisches Verhängnis über
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ihn und er überwand es durch die Kraft des Geistes, vereint mit der Kraft des Heerführers.
Siebtens: Die Religion sollte nicht nur in Zeiten des Unglücks und Leids Trösterin sein, sondern sie sollte auch in allen Zeiten zu der besten und höchsten Lebensgestaltung führen. Christus sagte: „Ich kam, damit ihr Leben habet und das in Überfluß habet!“ Eine der wichtigsten Augenscheinlichkeiten einer lebendigen Religion ist jene Freudigkeit, jene geistige Erhebung, die dem Leben eine „strahlende Ergebung“ verleiht. Es gehörte zur Gewohnheit 'Abdu'l-Bahá’s, jedermann, der in Seine Gegenwart kam, zu fragen: „Bist du glücklich?“ und ohne eine Antwort abzuwarten, fügte Er hinzu: „Sei glücklich!“ Und wer könnte sagen, daß dieser kurze Befehl nicht in Wirklichkeit eine große schöpferische Kraft besaß? „Sei glücklich!“ Ist dies nicht eine wesentliche Ermahnung aller großen Religionsstifter? Ist nicht dies der Hauptzweck ihrer aufopferungsvollen Sendung an die Menschheit?
Achtens: Religion muß außer mit den dargestellten Begriffen, Ermahnungen und Weisungen für das geistige Leben auch die göttliche Lebenskunst verkörpern in einer wirklich fleischgewordenen Form, d. h. sie muß die Persönlichkeit ihres Gründers als Beispiel erscheinen lassen, als Muster der Haltung, die sie lehrt. Das Leben der großen Stifter ist es letzten Endes, mehr noch als ihr Wort, was ihre Lehre die Menschenherzen hat durchdringen und zu einer dauernden Lebensführung werden lassen.
Neuntens: Die Religion muß der Menschheit ein lebendiges Wort hinterlassen, eine Bibel, die für ganze Zeitalter nach dem Hingang des großen Lehrers eine Zuflucht sei. Dieses geoffenbarte Wort ist nicht nur ein Teil der religiösen Lehre: es ist verkörperte Weisheit, eine Macht, in Worten verdichtet und befähigt, die Lebensführung aufzurütteln. Somit hat das geoffenbarte Wort einer großen Religion ungeheure Macht und Einfluß auf das menschliche Leben: es hat es gehabt und wird es immer haben. Die Erzieher, die heute Material und Textbücher zur Charaktererziehung suchen, würden gut daran tun, sich darüber klar zu werden, daß das beste Mittel zur Charaktererziehung das geoffenbarte Wort Gottes ist. „Der Mensch muß dahin kommen, die Verordnungen Gottes zu kennen und zu erkennen“, so sagt 'Abdu'l-Bahá, „und er muß zu dem Punkte der sicheren Erkenntnis gelangen, daß die sittliche Entwicklung der Menschheit von der Religion abhängt.“
Zuguterletzt sollte die Religion ihren Anhängern eine große und vornehme Angelegenheit sein, dafür zu arbeiten. Diese Sache sollte derart sein, daß sie die tiefste Ergebenheit, die festeste Treue, die höchste Dienstbereitschaft und Opferwilligkeit ihren Anhängern auferlegt. Eine Religion, die in dieser Hinsicht fehlgeht, ist dieses Namens nicht wert. Hier ist es, wo der Einzelne über sich selbst hinauswächst, sich über die Beschränkungen der Persönlichkeit erhebt und ein Mitarbeiter an dem göttlichen Plane für die Menschheit wird. Es ist dies die höchste Erfüllung, die dem menschlichen Leben widerfahren kann.
Möge der Leser diese Kennzeichen der Religion im allgemeinen anwenden, und im besonderen möge er an diesen Grundsätzen die Ansprüche der Bahá’í-Bewegung prüfen, die Erfüllung der geistigen Bestrebungen und Nöte für die heutige Zeit darzustellen.
Der vorurteilslose Sucher nach Wahrheit sollte sich angesichts der Bahá’í-Offenbarung fragen, ob sie der erwählte geistige Träger für die Menschheit in ihrem gegenwärtigen Entwicklungszustand sei. Denn geistige Wahrheit, erklärt und ausgedrückt in einer zeitlebendigen Religion, muß sich immer der Fassungskraft des Menschen anpassen und seiner Entwicklungsstufe. 'Abdu'l-Bahá sagte: „Religion ist der äußere Ausdruck der göttlichen Wirklichkeit; deshalb muß sie lebendig, belebend, fortschreitend und fortschrittlich sein. Bleibt sie ohne Bewegung und rückständig, so ist sie ohne göttliches Leben — sie ist tot. Die göttlichen Einrichtungen sind fortwährend lebendig und entwicklungsfähig. Daher muß ihre Offenbarung fortschrittlich und andauernd sein. Alle Dinge sind einer Neubildung unterworfen. Dies ist ein Jahrhundert des Lebens und der Erneuerung.“
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Bahá’u’lláh
Verborgene Worte.. Worte der Weisheit und Gebete. Geschrieben während seiner Verbannung in Bagdad 1857/58 . . . kart. —.80
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Frohe Botschaften. Worte des Paradieses, Tablet Tarasat (Schmuck), Tablet Taschalliat (Lichtstrahlen), Tablet Ischrakat (Glanz). Mahnrufe und Anweisungen an die Völker der Erde . . gebunden 2.00
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Buch der Gewißheit oder Kitábu’l-Iqán. Eine Auseinandersetzung mit theologischen Fragen verschiedener Religionen, geschrieben in Bagdad um 1862. Ist fortsetzungsweise in den beiden Jahrgängen X und XI unserer Zeitschrift „Sonne der Wahrheit“ enthalten.
Jahrgang gebunden je 6.--
'Abdu'l-Bahá Abbas
Ansprachen in Paris. ‘Abdu’l-Bahá spricht hier über zahlreiche Fragen, nach deren Klärung die Völker der Erde suchen.
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Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahá’i-Religion, Einführung in die Gedankenwelt der Bahá’i-Lehre von einem orientalischen Gelehrten. Von Mirza Abul Fazl . . . . . gebunden 2.--
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'Abdu'l-Bahá Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps. . . . . .gebunden 2.--
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Lebensgestaltung. Das Leben und ich. Das Leben und mein Nächster. Das Leben und Gott. Kursberichte der Eßlinger Bahá’í-Sommerwoche 1933 . . . -.30
Die Bahá’i-Weltanschauung. Eine kurze Einführung. Von Pauline Hartmann . . . . —.20
Das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahás ("The Passing of 'Abdu'l-Bahá") . . . -.30
Sonne der Wahrheit. Bahá'i-Monatszeitschrift.
- Jahrgang III - IX gebunden je 3.--
- Jahrgang X - XIII gebunden je 6.--