Sonne der Wahrheit/Jahrgang 14/Heft 10/Text

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SONNE

DER

WAHRHEIT
 
Organ der Bahá’í in Deutschland und Oesterreich
 
HEFT 10 14. JAHRGANG DEZ. 1934
 



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Die Bahá’í-Lehre,[Bearbeiten]

die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.

Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.

Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.

Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.

Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“

Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.

Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.

Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.


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SONNE DER WAHRHEIT
Organ der Bahá’í in Deutschland und Österreich
Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198
Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo
Verwaltung: Paul Gollmer Begründet von Alice Schwarz-Solivo
Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark, im Ausland 2.– Reichsmark
Doppelheft 10 Stuttgart, im Dezember 1934
Masá’il — Fragen 91
14. Jahrgang

Inhalt: Religion und Lebensgestaltung. — Das Wort Gottes in seiner fortschreitenden Offenbarung. — Glauben und Wissen. — Worte Bahá’u’lláh’s. — Über die Sendung Bahá’u’lláh’s. — Der entscheidende Augenblick. — Religion und Kultur. — Bahá’í-Glaube und Christentum. — Unser Glaube an Christus.


Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängt. Es ist der Geist der Wirklichkeit und das Wasser des Lebens. Ihm verdanken alle Dinge ihr Dasein. Es offenbart sich immer nach der Fähigkeit und Farbe des Spiegels, durch den es widergespiegelt wird. Wird zum Beispiel sein Licht auf den Spiegel des Weisen geworfen, dann bringt es Weisheit zum Ausdruck; wird es von dem Geist des Künstlers widergespiegelt, so schafft es neue und schöne Künste; leuchtet es durch den Geist der Gelehrten, dann offenbart es Wissen und enthüllt Geheimnisse.

Alle Dinge der Welt erheben sich durch den Menschen und kommen durch ihn zum Vorschein. Durch ihn finden sie Leben und Entwicklung, und der Mensch ist in seinem geistigen Dasein von der Sonne des Wortes Gottes abhängig. Alle guten Namen und edlen Eigenschaften sind Ergebnisse des Wortes. Das Wort ist das Feuer Gottes, das in den Herzen der Menschen glüht und alles verbrennt, was nicht von Gott ist. Der Geist der Liebenden ist immer von diesem Feuer entflammt. Es ist das Wesen des Wassers, das sich in der Form des Feuers geoffenbart hat. Äußerlich ist es brennendes Feuer, innerlich dagegen ruhiges Licht. Dies ist das Wasser, das allen Dingen Leben gibt.

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Einheit in ihrem wahren Sinn bedeutet, daß Gott allein als die einzige Macht gedacht werden soll, die alle Dinge belebt und beherrscht, die ja nur Offenbarungen Seiner Schöpferkraft sind.

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Gott, einzig und allein, wohnt an Seinem eigenen Ort, welcher über Raum und Zeit, Erwähnung und Äußerung, Zeichen, Beschreibung und Erklärung, Höhe und Tiefe heilig ist.

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Die Quelle alles Wissens ist die Erkenntnis Gottes. Erhaben ist Sein Ruhm. Und diese Erkenntnis kann auf keine andere Weise erlangt werden als durch die Erkenntnis Seiner göttlichen Manifestation.


Aus „Worte der Weisheit” von Bahá’u’lláh.


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Religion und Lebensgestaltung[Bearbeiten]

Von Dr. Eugen Schmidt


Die uralte und immer neue Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens führt über die Philosophie zuletzt in den Bereich der Religion, weil der Mensch mit dem „Warum“ auf einen verstandesmäßig nicht mehr zu fassenden Zusammenhang seines Wesensgrundes mit einer Wirklichkeit stößt, die über menschlichen Begriffen und Vorstellungen steht: Gott. Die Wissenschaft untersucht das „Was“ im analytischen, kausal-dynamischen und neuerdings synthetischen oder Ganzheitssinne, während die Religion als das Grundverhältnis von Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf zu verstehen ist.

Der Mensch wird in seinem Handeln durch eine Reihe von Umständen, wie Rasse, Boden, Klima, Erziehung, Beruf, soziale Stellung u.v.a. mitbestimmt. Jede Tat entspricht aber immer einer entsprechenden Gesinnung, bedarf also nicht nur einer äußeren, sondern auch einer inneren Erklärung. Diese hebt darauf ab, ob und inwieweit der Mensch sich als Geschöpf in eine göttliche Ordnung verantwortlich und abhängig hineingestellt weiß. So erweist sich das Problem sinnvoller Lebensgestaltung als eine religiöse Frage, denn die letzten und tiefsten Richtkräfte menschlichen Denkens, Fühlens und Wollens kommen aus dem Schöpfungsurgrund, der göttlichen Wirklichkeit. Es ist das Bewußtwerden einer geheimnisvollen, unentrinnbaren, inneren Bindung und Verpflichtetheit, die im religiösen Erlebnis als „das Gefühl ergebener, freudiger Ruhe im Bewußtsein eines vollkommenen, abhängigen Geborgenseins“1) umschrieben werden kann. „Das Wesen der Liebe ist für den Menschen: sein Herz dem Geliebten (Gott) zuzuwenden, sich von allem andern, außer Ihm, loszumachen und nichts zu wünschen, außer dem, was sein Herr für ihn wünscht2)“ Der Weg zu wahrer und sinnvoller Lebensgestaltung leuchtet somit in der freien und bewußten Bejahung eines an den Willen Gottes gebundenen Handelns auf. Der Gedanke des Logos im philosophischen Sinne als planendes, ordnendes und schaffendes Lebensprinzip entspricht dem „Wort Gottes“, das der Sendung aller Manifestationen3) als Verkündigung des Willens Gottes zugrunde liegt. Das Wort Gottes ist „der Geist der Wirklichkeit und das Wasser des Lebens. Ihm verdanken alle Dinge ihr Dasein“4). Wir verstehen also unter Religion den höchsten Offenbarungsbereich des menschlichen Lebenssinnes aus der Verbundenheit mit der göttlichen Wirklichkeit heraus. Es ergibt sich ein zweifacher Gesichtspunkt im Hinblick auf die höchste Orientierung des menschlichen Lebens: die Religion wird einerseits zur tiefsten Erkenntnisquelle, zur Sinnerfassung des Lebens, andererseits zur innersten Tatkraft, zur Sinnerfüllung des Lebens. „Die Quelle alles Wissens ist die Erkenntnis Gottes. Erhaben ist Sein Ruhm, Und diese Erkenntnis kann auf keine andere Weise erlangt werden, als durch die Erkenntnis Seiner göttlichen Manifestation5).“ „Das Wesen der Religion ist, das anzuerkennen, was der Herr offenbarte, und zu befolgen, was Er in Seinem mächtigen Buch verordnet hat6).* Die Erkenntnis und innere Erfahrung der geoffenbarten göttlichen Wahrheit macht den Menschen frei und führt ihn zur eigentlichen Lebensbejahung, für die Christus verhieß: „Selig sind, die Gottes Willen tun.“

Die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens erfährt also in der Erkenntnis der göttlichen Wahrheit ihre letztgültige Antwort. Das Verstehen dieser ist aber an unser begrenztes Fassungsvermögen gebunden, wie es in dem Verhältnis des Geschöpfes zum Schöpfer zum Ausdruck kommt. Das Umschlossene kann das Umschließende nicht begreifen. Daher darf kein Gottesbegriff als absolut wahr genommen werden, denn „Gott, einzig und allein, wohnt an Seinem eigenen Ort, welcher über Raum und Zeit, Erwähnung und Äußerung, Zeichen, Beschreibung und Erklärung, Höhe und Tiefe, heilig ist7).“ Es ist müßig, über menschliche Gottesvorstellungen zu streiten, wenn wir wissen, daß die göttliche Wirklichkeit unser verstandliches Fassungsvermögen unendlich hoch übersteigt. So wenig wir den tiefsten Wesensgrund Gottes „begreifen“, können wir Seine Wege „verstehen“. „O du mit Staunen nach dem Horizont der Sache Blickender! Merke dir, daß das, was Gott wünscht, in Wirklichkeit niemals auf die von [Seite 75] den Dienern errichteten Schranken beschränkt ist. Wahrlich, Seine Wege sind nicht ihre Wege, es ist aber allen zur Pflicht gemacht, sich an Seinen allein richtigen Weg zu halten8)'.“

Hier liegt der Ansatzpunkt zum tieferen Verständnis der Sendung aller großen Religionskünder als Sprachrohr des göttlichen Willens, als Offenbarer des Wortes Gottes, im ewig gültigen Sinne des Wortes Christi: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Die Gottgesandten sind, wie es schon das Wort sagt, nicht Inkarnation (Verkörperung), sondern Manifestation (Äußerung) der verborgenen Wirklichkeit Gottes. Wenn die Gottheit symbolisch als die Sonne verstanden werden kann, gleicht die göttliche Manifestation dem vollkommenen reinen Spiegel, der die Sonne widerstrahlt. So konnte Christus sagen: „Und wer Mich siehet, der siehet Den, Der Mich gesandt hat9).“ „Er (Christus) war eine Erscheinung aller göttlichen Eigenschaften. In dieser Erscheinung wurde das Licht der Sonne der Wirklichkeit auf die Welt zurückgestrahlt. Durch diesen Spiegel wurde der Welt die Kraft und der Wille Gottes übermittelt. Die Sonne der Wirklichkeit wurde in Ihm widergespiegelt10).“

Wenn der Mensch um seine einzigartige Einordnung in eine über ihn hinausweisende Ganzheit (Familie, Volk, Menschheit, Kosmos) weiß, kann er nicht an den Willenskündern seines Schöpfers vorübergehen. Er wird vielmehr das Hochziel seiner Lebensführung im Dienst für das Reich Gottes erkennen, das die opferbereite Erfüllung Seines geoffenbarten Willens zur Voraussetzung hat. Der Dienst an Gott äußert sich im Dienst am Nächsten. Deshalb stellt Christus „das vornehmste Gebot“, Gott zu lieben, dem anderen Gebot gleich: „Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst"11). „Wisse, daß nichts in der Welt dich wirklich fördern kann, als Flehen und Rufen zu Gott, als Arbeit in Seinem Weinberg und Ihm in steter Dienstbereitschaft mit einem Herzen voller Liebe zu leben.“12)

Daraus erhellt die Bedeutung der Religion als höchstes Kraft- und Führungsfeld für den Lebensweg des Menschen. Ihr Totalitätsanspruch besagt, daß das menschliche Handeln in sämtlichen Lebensbereichen von dem aufrichtigen Bestreben getragen sein soll, es auf den Willen Gottes auszurichten. Eine solche Haltung ergibt sich nur aus lauterstem Wollen und innerer Aufgeschlossenheit, aus der lebendigen Verbundenheit mit Gott, Der unsere Liebe fordert. „O Sohn des Seins! Liebe Mich, damit Ich dich liebe. Wenn du Mich nicht liebst, kann Meine Liebe niemals zu dir gelangen. Merke dir dies, o Diener13)!“ Gott stellt den Menschen durch Seine Manifestation vor eine innere Entscheidung, die für sein Leben geistig bestimmend wird. Religion ist aus höchstem Erkennen geborene Bereitschaft, seinen eigenen Willen in den göttlichen Willen unterzutauchen, worüber Bahá’u’lláh sagt: „Wenn du Mich liebst, dann wende dich ab von dir selbst; wenn du Mir wohlgefallen willst, dann siehe nicht auf das, was dir gefällt, damit du in Mir stirbst und Ich ewig in dir lebe.“

Dieses „Stirb und werde“ ist ein innerer Vorgang, ein Ergriffensein von Gott als unmittelbare Verhaftetheit und Gewißheit, in die der Mensch sein persönliches Schicksal einbezogen weiß. Religion ist daher mehr als Glaubens- und Werk-Gerechtigkeit, sie ist der Weg zur geistigen Vollendung des Menschen, welche Bahá’u’lláh tief bedeutsam mit einer Wanderung durch sieben Täler oder innere Wachstumsstufen vergleicht, an deren Anfang heißes Verlangen nach gottgebundener Lebensgestaltung stehen muß. Im siebenten Tal findet der Mensch die völlige Einswerdung mit Gott, der menschliche Wille ist in den Willen Gottes eingeschmolzen. Der Mensch wird inne, daß „Einheit in ihrem wahren Sinne bedeutet, daß Gott allein als die einzige Macht gedacht werden soll, die alle Dinge belebt und beherrscht, die ja nur Offenbarungen Seiner Schöpferkraft sind“14).

Dieser Weg des Menschen zu Gott wird durch Seine Willenskünder im „Worte Gottes“ und durch ihr Lebensvorbild nach einem geistigen Erziehungsplan immer wieder von neuem in Anpassung an das wachsende Fassungsvermögen der Menschen aufgezeigt. Wer diesen Weg zielkundig beschreiten will, muß sich aber vom Grundrhythmus des Lebens: Ein- und Ausatmen als Gebet und Dienst, beseelt fühlen. „Das Gebet ist der Schlüssel, mit dem die Tore des himmlischen Königreiches geöffnet werden15)." „An diesem Tag müssen die Menschen ihrem Gott mit Reinheit und Tugenden dienen. ...Manche [Seite 76] begnügen sich nur mit Worten, aber die Wahrheit der Worte wird durch Taten bezeugt und hängt von der Lebensführung ab. Taten offenbaren die Stufe des Menschen16).“ Wahre Lebensgestaltung ist in diesem tiefsten Sinne tatgewordene Religion, welche auf dem Fundament der Wahrheit ruht.

Die religiöse Ausdrucksfrömmigkeit (Kult, Ritus, Bekenntnis) tritt in ihrer Bedeutung gegenüber der sittlichen Tat zurück und findet in jedem Lebens- und Kulturraum andere Ausprägungen. Die Freiheit der Lebensgestaltung der Menschen und Völker findet letztlich nur in der Bindung an den göttlichen Willen ihre Begrenzung. Die Bejahung dieser Unterordnung unter den Willen des Schöpfers führt zur Heiligung des menschlichen Lebens.

Die Erziehungsmittel werden durch die Wachstumsstufen des Menschen bestimmt, wobei das Erziehungsziel schon vorgezeichnet ist. Grundsätzlich nicht anders verhält es sich mit der göttlichen Erziehung des Menschen. Gott sendet in großen Zeiträumen die Erzieher der Menschheit nach Maßgabe des menschlichen Erkenntnis- und Fassungsvermögens. Deshalb beruhen alle geschichtlichen Weltreligionen auf einer gemeinsamen geistigen Grundlage. Es wäre folglich überhaupt richtiger, nur von einer Religion zu sprechen, welche dem einigen und einzigen Gott entspricht. Lagarde spricht diese zwingende Folgerung folgendermaßen aus: „Wahrer Monotheismus ist die organische Vereinigung der sämtlichen Religionen17).“ Kant sagt dasselbe: „Es ist nur Eine (wahre) Religion, aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben.“

Bahá’u’lláh verkündet von neuem diese eine Religion und weist dem Menschen unserer Zeit den oben angedeuteten Weg zu sinnerfüllter, geheiligter Lebensgestaltung.


1) Driesch.

2) Aus „Worte der Weisheit“ Bahá’u’lláh’s, Stuttgart 1924, S. 62/63.

3) Offenbarer Gottes.

4) Aus „Worte der Weisheit" Bahá’u’lláh’s, S. 57.

5) ebenda, S. 64.

6) ebenda, S. 62.

7) ebenda, $. 60.

8) Frohe Botschaften. Tablet Ischrakat, Stuttgart 1921, S. 91.

9) Joh. 12, 45.

10) Worte ‘Abdu’l-Bahá’s, aus Notizen von Montfort Mills, „Sonne der Wahrheit", 2. Jg., S. 133.

11) Matth. 22, 37—39.

12) ‘Abdu’l-Bahá, „Sonne der Wahrheit" XIII, 4, S. 43.

13) Aus „Verborgene Worte“ Bahá’u’lláh’s, S. 7.

14) Aus „Worte der Weisheit" Bahá’u’lláh’s, S. 60.

15) Wort ‘Abdu’l-Bahá’s, Phelps, „‘Abdu’l Bahá Abbas Leben und Lehren“, 1922, S. 17.

16) Aus „Worte der Weisheit", S. 61/62.

17) Deutsche Schriften, München 1924, S. 252.



Das Wort Gottes in seiner fortschreitenden Offenbarung[Bearbeiten]

Von Dr. Hermann Grossmann

„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alles ist durch dasselbe entstanden, und ohne dasselbe ist auch nicht Eins entstanden, was entstanden ist. In ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen... Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit.“ In diesen bekannten Anfangsworten des Johannesevangeliums greift der Evangelist den Logosgedanken als den Ausdruck der in Gott ruhenden Schöpfung, jener Einheit von Plan, Wille und Tat, die in dem befehlenden „es werde“ Form gewinnt, auf und konzentriert ihn gleichsam auf die gewaltigste Erscheinung des formenden göttlichen Willens in der Manifestation.

Gott in seiner Wesenheit ist für den Menschen unfaßbar, unvorstellbar: „Gelobt sei Gott, der einzig ist in Seiner Größe, Macht und Schönheit, einzig in Seiner Herrlichkeit, Stärke und Majestät, und der zu heilig und zu hoch ist, um durch menschliches Nachdenken begriffen zu werden1).“ Und doch sagt Bahá’u’lláh: „Die Quelle alles Wissens ist die Erkenntnis Gottes2).“ Aber diese Erkenntnis ist keine Erkenntnis des Wesens, sondern eine Erkenntnis der Eigenschaften. „Wenn wir die Daseinswelt betrachten“, lehrt ‘Abdu’l-Bahá3), so erkennen wir, daß die wesentliche Wirklichkeit, die jeder gegebenen Erscheinung zu Grunde liegt, unbekannt ist. Erscheinungen oder Erschaffenes sind uns nur durch ihre Eigenschaften bekannt. Der Mensch nimmt bei den Dingen lediglich Offenbarungen, Eigenschaften wahr, während ihm deren Wesenheit oder Wirklichkeit verborgen bleibt. So nennen wir z. B. diesen Gegenstand eine Blume. Was verstehen wir unter diesem Namen und dieser Bezeichnung? Wir verstehen darunter, daß wir die Eigenschaften, die diesem Gebilde eigen sind, wahrnehmen können, aber die innere wesentliche Wirklichkeit oder Eigenart desselben bleibt uns unbekannt. Seine äußere Erscheinung und seine offenbarten Eigenschaften sind erkennbar, das innere Sein, die innenwohnende Wirklichkeit oder Wesenheit dagegen bleibt jenseits des Gesichtskreises und der Wahrnehmung unserer menschlichen Fähigkeiten.“

So sind es die Eigenschaften Gottes, auf die sich unser Erkenntnisstreben als Quelle alles Wissens beziehen muß, jener geoffenbarte Aspekt göttlichen Seins, das Form gewordene Logos-Wort. Aber auch in dieser Erkenntnis der Eigenschaften sind dem Menschen Grenzen gesetzt [Seite 77] durch die Unzulänglichkeit seines raumzeitlich begrenzten physischen Wesens. So ist das Zeugnis seiner Sinne Trugbildern unterworfen, die Vernunft mit allen ihren logischen Schlüssen hat zu einer Unzahl einander widersprechender Theorien geführt, Überlieferungen werden durch neue Erfahrungen ständig erschüttert und selbst die Intuition, jene wundersame Fähigkeit inneren Schauens, wird durch die Unsicherheit unseres Begreifens getrübt. Und doch können wir einen Weg finden, der uns durch die Wüste der Irrungen und Wirrnisse zur Stadt der reinen Erkenntnis geleitet: indem wir unseren Blick auf die großen Manifestationen als die klaren Spiegel des Offenbarungswillens Gottes in der Menschheit richten, denn „diese Erkenntnis (die Erkenntnis Gottes) kann auf keine andere Weise erlangt werden, als durch die Erkenntnis Seiner göttlichen Manifestation“4).

Indem die Manifestation uns das große Wissen um die Geheimnisse des Seins übermittelt, wird sie zugleich zum dynamischen Menschheitserzieher. Dreifach ist die Aufgabe dieser Erziehung: materiell, die rechte Entwicklung und Erhaltung des Körpers betreffend, menschlich, den Fortschritt der Zivilisation und die Ordnung der Gesellschaft betreffend, und geistig. Die geistige Erziehung aber ist „die Erziehung zum Königreich. Gottes. Durch sie erlangt der Mensch göttliche Eigenschaften, und sie ist die wahre Erziehung, denn in diesem Zustand tritt das Göttliche im Menschen in die Erscheinung, und so wird er zur Offenbarung der Worte: ‚lasset uns Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis‘. Dies ist das höchste Ziel für die Menschheit”5).

„Die heiligen Manifestationen“, so lehrt uns ‘Abdu’l-Bahá weiter6), „sind die Mittelpunkte des Lichtes der Wirklichkeit, der Quellen der Geheimnisse und der Gaben der Liebe. Ihr Licht wird widergespiegelt in den Herzen und Gedanken der Menschen, sie gießen ewige Gnade über den Geist der Menschheit aus, sie geben der Welt geistiges Leben und leuchten mit dem Licht der Wirklichkeit und wahren Bedeutung. Die Erleuchtung der Gedankenwelt rührt von diesen Mittelpunkten des Lichtes und Quellen der Geheimnisse her. Ohne die Gaben ihres Glanzes und ohne die Unterweisungen dieser heiligen Wesen wurde die Seelen- und Gedankenwelt in undurchdringliche Finsternis gehüllt sein. Ohne die unwiderleglichen Lehren dieser Quellen der Geheimnisse würde die Menschheit zum Weideplatz tierischer Gelüste und Eigenschaften werden. Das Dasein aller Dinge wäre unwirklich und kein wahres Leben vorhanden. Wenn es daher im Evangelium heißt: ‚im Anfang war das Wort‘, so bedeutet das, daß das Wort zur Ursache des Lebens wurde.“

Wie ein Frühlingskeimen geht es durch die wintermüde Welt, sobald die Strahlen der göttlichen Sonne durch die Manifestation auf die Erde fallen, sie erwärmen die Herzen der Menschen und wecken neues geistiges Leben in ihnen. Und in der Tat ist dieses Bild mehr als nur ein Vergleich. Es ist ein Ausdruck des großen „es werde“, das sich in allen Teilen der Schöpfung gleich offenbart. „Betrachtet den Einfluß der Sonne auf die irdischen Wesen“, sagt ‘Abdu’l-Bahá, „die Wunder und herrlichen Ergebnisse, die durch ihre Nähe und Ferne, durch ihren Aufgang und Untergang offenbar werden. Die eine Jahreszeit ist der Herbst, die andere der Frühling, wieder eine der Sommer oder der Winter... So scheint auch die heilige Manifestation Gottes, die Sonne, in dem Reich Seiner Schöpfung, auf die Welten des Geistes, der Gedanken, der Herzen und ruft einen geistigen Frühling und neues Leben hervor, wir sehen die Macht der herrlichen Frühlingszeit, und wunderbare Segnungen treten zutage7).“

Bedenken wir, daß sich die geistige Entwicklung der Menschheit über Jahrtausende und aber Tausende von Jahren erstreckt, so wird uns klar, daß das große Erziehungswerk nicht Sache eines einmaligen Impulses gewesen sein kann, daß vielmehr Stück um Stück erarbeitet werden muß, daß gleichsam jede Lektion erst von den Schülern gelernt und begriffen sein muß, ehe sich daran die nächste Lektion zu reihen vermag. Dabei wird in jedem geistigen Frühling die neue Lektion mit großer Kraft an die Menschheit herangetragen, wird von ihr zunächst in großen Zügen aufgenommen, um im weiteren Verlauf in den Einzelheiten und Feinheiten studiert und erkannt zu werden. So entfaltet sich die Lehre in den Herzen und im Begreifen der Völker bis zu einem gewissen Wirkungsgrade, indessen Mißverstehen, Eigenliebe und Beharren der Menschen allmählich wieder von der Kraft [Seite 78] nehmen. In der Erfüllung gewisser Aufgaben erschöpft sich schließlich ihr Impuls, es wird Herbst und Winter in der Welt der Herzen, bis ein neuer Impuls mit neuen, weiter gesteckten Aufgaben nachfolgt. Damit wird die Auswirkung des göttlichen Wortes durch die Manifestation zu einer Entwicklung in Zyklen, die wie die Bahnen der Gestirne am Himmel verlaufen, jeder Zyklus ein in sich geschlossener Kreis und doch wieder alle Teile von einem größeren Kreis, ein spiralförmiges Hinaufschrauben zu immer größerer Vollkommenheit. „So hat auch jede der göttlichen Manifestationen einen Zyklus, und solange dieser Zyklus dauert, gelten ihre Gesetze und Gebote. Ist ihr Zyklus durch das Erscheinen einer neuen Manifestation vollendet, so beginnt ein neuer Zyklus. So haben die Zyklen ihren Anfang, ihr Ende und ihre Wiedererneuerung, bis ein universaler Zyklus in der Welt vollendet ist und wichtige und große Ereignisse eintreten, die jede Spur und jeden Bericht der Vergangenheit völlig verwischen. Dann beginnt in der Welt ein neuer universaler Zyklus, denn dieses Weltall hat keinen Anfang... Ein universaler Zyklus bedeutet also in dieser Welt eine lange Zeitdauer und unzählige und unberechenbare Perioden und Epochen. In einem solchen Zyklus erscheinen die göttlichen Manifestationen im Reiche des Sichtbaren mit ihrem Glanz, bis eine große und universale Manifestation die Welt zum Mittelpunkte ihres Lichts macht. Ihr Erscheinen verursacht, daß die Welt zur Reife gelangt, und ihr Zyklus ist im Ausmaß sehr groß. Unter ihrem Schatten werden sich dann andere Manifestationen erheben, die je nach den Bedürfnissen der Zeit gewisse Gebote in bezug auf materielle Dinge und Angelegenheiten erneuern. Sie werden dabei aber immer unter dem Schatten der universalen Manifestation bleiben. Wir leben in dem Zyklus, der mit Adam begonnen hat, und seine universale Manifestation ist Bahá’u’lláh8).“

Es liegt nicht an der Manifestation, wenn ihr Werk immer wieder neu aufgenommen und weitergeführt werden muß. Nicht Mängel in ihrer Lehre sind es, aus denen das menschliche Mißverstehen entspringt, alle die großen Offenbarer des Wortes Gottes sitzen vielmehr auf dem Throne der Reinheit und fehllosen Erkenntnis. „Die Stufe der Manifestation ist so erhaben, daß in ihr weder Irrtum noch Sünde gefunden noch von solchen gesprochen werden kann9).“ Aber der Weg der Menschheit zur geistigen Vervollkommnung ist ein unendlich langer. Dabei war immer wieder eines der größten Hindernisse, daß sich die Völker auf die Stufe ihrer eigenen Erkenntnis des göttlichen Wortes festgelegt und so selber eine Binde um ihre Augen gelegt haben, wodurch ihnen der Blick für die neue Manifestation getrübt wurde. „Die Religion“, sagt ‘Abdu’l-Bahá10), „hat zwei Hauptteile, den geistigen Teil und den praktischen Teil. Der geistige Teil verändert sich niemals. Alle Manifestationen Gottes und seine Propheten lehrten die gleiche Wahrheit und gaben das gleiche geistige Gesetz. Sie lehrten alle das gleiche Sittengesetz. Es gibt keine Spaltung der Wahrheit. Die geistige Sonne hat viele Strahlen herabgesandt, um den menschlichen Geist zu erleuchten, ihr Licht aber ist immer das gleiche. In dem praktischen Teil der Religion sind den Menschen äußere Formen und Bräuche sowie Anhaltspunkte für die Bestrafung gewisser Verbrechen und Vergehen gegeben. Dies ist die materielle Seite des Gesetzes. Sie schafft die Sitten und Gebräuche der Völker... Die praktischen Regeln müssen in ihrer Anwendung nach den Bedürfnissen der Zeit (durch die Manifestationen) verändert werden, während das geistige Gesetz nie eine Änderung erfährt. Der geistige Teil der Religionen ist der größere und wichtigere: er bleibt für alle Zeiten gleich und ändert sich niemals, er ist der gleiche gestern, heute und in Ewigkeit, wie er im Anfang war, so ist er auch jetzt, und er wird immer so bleiben.“

Heute stehen wir im Aufgang der universalen Manifestation, und sie lehrt uns alles das klar erkennen, was bisher den Menschen zum Hindernis auf dem Weg der Erkenntnis geworden. So legt sie die volle Verantwortung auf uns, im Gehorsam gegen ihr Gebot und im sorgfältigen Studium ihrer Lehre zur reinen Anschauung der Wahrheit zu kommen. „O Sohn des Wortes! Wende Mir dein Gesicht zu und entsage allem außer Mir, denn Meine Hoheit ist beständig und Meine Herrschaft geht nicht unter. Würdest du etwas anderes suchen als Mich, würdest du fehlgehen, selbst wenn du das Weltall immer und ewig durchsuchen würdest11).“ Groß aber klingt in der Symphonie des neuen Aufgangs die [Seite 79] herrliche Verheißung: „Dies ist ein neuer Zyklus menschlicher Macht. Alle Horizonte der Welt sind erleuchtet, und die Welt wird in der Tat wie ein Garten und Paradies werden12).“


1) Bahá’u’lláh: Tablet Ischrakat.

2) „Worte der Weisheit“.

3) Promulgation of Universal Peace, 10. Nov. 1912, VIII.

4) Bahá’u’lláh: „Worte der Weisheit“.

5) ‘Abdu’l-Bahá: Beantwortete Fragen, Kap. 3.

6) desgl., Kap. 42.

7) Beantwortete Fragen, Kap. 42.

8) Beantwortete Fragen, Kap. 41.

9) Bahá’u’lláh: Tablet Ischrakat.

10) Ansprachen in Paris, Kap. 43.

11) Bahá’u’lláh: Verborgene Worte, arab. Nr. 15.

12) ‘Abdu’l-Bahá: Bahá’í-Perlen, S. 16.



Glauben und Wissen[Bearbeiten]

Von Dr. Adelbert Mühlschlegel


Der heutige Mensch hat sich im allgemeinen damit abgefunden, daß Glauben und Wissen zwei ganz verschiedene Kategorien des menschlichen Seelenlebens seien, die einander nicht ins Gehege kommen sollten. Jenes möge für das Seelenheil sorgen, dieses für Verstand und Zivilisation. Eine große Zahl gegenwärtiger Mißstände wurzelt in diesem weitverbreiteten Irrtum.

Manche Zeiträume der Weltgeschichte — so z. B. in Ägypten, Babylonien, Peru — zeigten eine mindestens formale Einheit von Religion und Wissenschaft, den Verkörperungen von Glauben und Wissen. Auch in Europa war im „finsteren Mittelalter“, zur Zeit der gelehrten Mönche, dies bis zu einem gewissen Grade der Fall. Da aber die Kirche sich später zu sehr vom Lebenskern der Religion entfernte und das wissenschaftliche Forschen nicht zu seinem Recht kommen ließ, machte sich um den Beginn der „Neuzeit“ die Wissenschaft frei. Wohl war ihr beispielloser Aufschwung die nächste Folge. Aber beide Teile, zu wenig in höherer geistiger Einheit verankert, entwickelten sich immer mehr auseinander. So kann man heute sehen, daß die Wissenschaft auf der einen Seite es zwar verstanden hat, Millionen von Menschen vor Siechtum und Tod zu retten und Milliardenwerte aus der Natur zu gewinnen, auf der anderen Seite aber Mordinstrumente erfindet und herstellt, die im Kriegsfall eben wieder Menschenmillionen und Milliardenwerte vernichten sollen. Dieser paradoxe Zustand rührt daher, daß die Menschheit den Zusammenhang mit der Religion nicht in dem Maße hat, daß deren erzieherischer Einfluß auf die Entwicklung des menschlichen Charakters mit der Eroberung der Naturmächte und deren Versuchungen und Gefahren Schritt gehalten hätte. Die heutigen Religionsformen aber sind alt, kirchlich erstarrt und traditionsbeschwert geworden; sie werden die verlorenen Menschenseelen nicht mehr zurückgewinnen.

Da diese Sachlage ein Vergrößerungsbild der Zerrissenheit und Gleichgültigkeit des Einzelmenschen ist, so wollen wir unsere Betrachtungen auch vom Einzelmenschen ausgehen lassen:

‘Abdu’l-Bahá erklärt1) — dies in wesentlicher Übereinstimmung mit den Grundwahrheiten älterer Weltanschauungssysteme (indische Philosophien, Neuplatonismus usw.), die in Abwandlungen und Ergänzungen sich immer wiederholen (Theosophie, Anthroposophie) —, daß sich das Geistige in fünf Stufen im Kosmos offenbart: als Pflanzengeist, Tiergeist; Menschengeist oder vernünftige Seele, himmlischer Geist oder Geist des Glaubens und Heiliger Geist. Der Menschenkörper bringt die beiden unteren Stufen zum Ausdruck; das hat er mit dem Tiere gemein. Dazu ist er jedoch, im Unterschied zum Tier, mit dem Menschengeist oder der vernünftigen Seele begabt: er hat ein klares Ichbewußtsein und kann logisch und abstrakt denken. Diese Fähigkeiten hat jeder gesunde Mensch, wenn auch freilich in sehr verschiedenem Grade. Mit ihrer Hilfe kann der Mensch die Naturgesetze erforschen und sich dienstbar machen; besonders mit ihrer Hilfe hat die Menschheit ihr Wissen gesammelt und viele Äußerlichkeiten unserer Zivilisation aufgebaut. Aber auch ein Egoist, ja sogar ein Verbrecher, hat mehr oder weniger diese Fähigkeiten. Das Höhere, Göttliche im Menschen ist damit noch nicht erklärt: der Himmlische Geist.

Bei den meisten Menschen sind dessen Kräfte erst wenig entwickelt. Sie können sich z. B. als mahnende Stimme des Gewissens zeigen, oft im Konflikt mit selbstsüchtigem Denken, sie können uns als das Gefühl der Dankbarkeit, des Mitleides begegnen, als künstlerisches Erlebnis, als selbstlose Liebe, als geistiges Erkennen, als religiöses Ergriffensein. Der Sinn der Religion ist es, den Menschen zur Entwicklung dieser Kräfte des Himmlischen Geistes zu erziehen. Bei den ganz wenigen Großen, wo dies vollendet erscheint, beginnen dann die noch höheren und ganz andersartigen Kräfte der fünften Geistesstufe, des Heiligen Geistes, offenbar zu werden. [Seite 80]

Auf dem Höhenweg, den der Wanderer beschreitet, bedarf es vor allem einer gläubigen Haltung. „Glaube“ heißt aber natürlich nicht bloßes Für-wahr-halten — ein platter Begriff, der uns oft begegnet —, sondern er bedeutet die sittliche Tat, die Selbstüberwindung in jedem Augenblick, wo das niedere Selbst, d. h. das Körperliche oder das egoistische Denken oder Fühlen, mit der Stimme des Gewissens oder mit der Forderung der religiösen Lehre in Widerspruch tritt. Dies führt zur „Gerechtigkeit“ und diese zur Erkenntnis. Damit ersteht vor unserem Auge die wichtigste Brücke vom Glauben zum Wissen. Bahá’u’lláh sagt:

„O Sohn des Geistes! Die Gerechtigkeit ist in Meinen Augen von allem andern das Köstlichste. Wenn du nach Mir verlangst, dann wende dich nicht von ihr ab und vernachlässige sie nicht, damit Ich dir Mein Vertrauen schenke. Mit Hilfe der Gerechtigkeit wirst du, mit deinen eigenen Augen und nicht mit den Augen anderer sehen; du wirst alles mit deinem eigenen Verständnis erkennen und nicht mit dem deines Nebenmenschen. Erwäge in deinem Herzen, wie du sein solltest. Wahrlich, die Gerechtigkeit ist Meine Gabe für dich; sie ist das Zeichen Meiner liebevollen Güte zu dir; deshalb halte sie dir stets vor Augen.“ 2)

Auch ‘Abdu’l-Bahá betont wiederholt, daß die Entwicklung seelischer Tugenden auf dem Wege zur Erkenntnis wesentlicher ist als das spekulative Denken; denn die von niederen Einflüssen gereinigte Seele steht intuitiv der Wahrheit näher als das logische Denken mit seiner beschränkten Zahl von Begriffen. Die beiden wichtigsten Hilfsmittel in diesem Streben sind Gebet und Arbeit. Jenes erschließt uns höhere Kräfte und öffnet uns für deren Wirken, diese führt uns zur Erde zurück, lehrt uns Selbstüberwindung und schenkt uns Erkenntnis und die Frucht guter Taten. Askese dagegen wird von der Bahá’í-Lehre abgelehnt. In ihr ist oft eine verfeinerte Art von Egoismus verborgen und ihre Ergebnisse sind meist mit anderweitigen Nachteilen teuer erkauft.

Nun werden viele fragen: ist es nicht ein Unterdrücken der Vernunft, wenn ich in einem Konflikt deren Stimme ganz der Lehre der Religion unterordne? — Der Bahá’í-Glaube fordert in zwei seiner zwölf Prinzipien das selbständige Suchen nach Wahrheit und das Ringen um die Vereinigung von Vernunft und Glauben in unserer Seele. Es ist ein Kennzeichen menschlicher Entwicklung, daß häufig das Wissen dem Glauben oder der Glaube dem Wissen vorauseilt. Der erstere Fall verursacht selten Konflikte; es ist nicht schwer, zu glauben, was man weiß. Im zweiten Falle aber kann man am besten das Verhältnis des Menschen zu seiner Glaubenslehre vergleichen mit dem des Seereisenden zum Kapitän des Schiffes oder mit dem des Kranken zum Arzt. Wir begeben uns bewußt, aus freiem Willen und auf eigene Verantwortung in seine Hand; dann aber verlangt es unser Vertrauen, unser Vorteil und unsere Pflicht, sich nach seinen Anordnungen zu richten. Und darüber hinaus dürfen wir es als unsere Aufgabe ansehen, uns über den Sinn der uns betreffenden Verordnungen klar zu werden. Würde der Gläubige dies unterlassen, so könnte dies bald in leichtzufriedenen, engstirnigen Sektenglauben oder in kopfscheuen Fanatismus ausarten.

Wie sich etwa das Kind den Eltern gegenüber verhält, so sollte sich nach dem bekannten Christusworte der reife Mensch der religiösen Offenbarung gegenüber verhalten. In beiden Fällen hängt der Fortschritt ab: von dem geistigen Einfluß des Erziehers, von der gläubigen Offenheit des Geführten, von dessen Willen zur gehorsamen Tat und von seinem selbständigen Bemühen, das gläubig Angenommene begreifen zu lernen.

Übertragen wir diese hier für den Einzelmenschen gewonnenen Gesichtspunkte auf die Menschheit als Ganzes, so kommen wir zu folgendem Schlusse: Der Einfluß der Religion muß ein starker und ungetrübter sein. Die Menschheit muß wieder gläubiger werden, um sich den religiösen Kräften nicht zu verschließen. Die Menschheit muß nach den religiösen Lehren leben. Darum muß eine Weltordnung erstehen, die es den Menschen ermöglicht, ihre Erkenntnis und ihr Wissen nur zum Besten der Mitmenschen zu gebrauchen. Die Wissenschaft darf nur die Ziele verfolgen, die der ganzen Menschheit nützen. Die Menschen sollen dies nicht aus einem Zwang heraus tun, sondern aus freiem Willen und aus einer Erkenntnis, die mit dem Glaubensbekenntnis eins geworden sind.

Die Bahá’í-Offenbarung ist berufen, dieses hohe Ziel zu verwirklichen: sie ist ein unermeßlicher, neuer geistiger Impuls, der gereinigt ist von kirchlichem und traditionellem Beiwerk. Sie lehrt den Kern aller religiösen Wahrheiten in einer Darstellungsform, die für nachträgliche dogmatische Verengungen keinen Raum läßt und vernunftgerecht dem heutigen Menschen entspricht. Sie gibt in ihren Prinzipien die Richtlinien für eine neue Weltordnung, die das Haus für eine neue, edlere Menschheit sein soll. Sie fordert einen Glauben der Tat. Sie zeigt den Weg zur Überinstimmung von Glauben und Wissen.


1) „Beantwortete Fragen“, Kap. 36.

2) „Verborgene Worte“ I, 2.


[Seite 81]


Worte Bahá’u’lláh’s1)[Bearbeiten]

Jetzt gilt es, dich mit dem Wasser der Loslösung zu reinigen, das den Fluten der allerhöchsten Feder2) entströmt ist, und aus Liebe zu Gott über das nachzusinnen, was erschienen ist oder auch ehedem und seither geoffenbart ward; hernach wirst du deinerseits so sehr als möglich daran arbeiten, mit Hilfe von Weisheit und Erklärung das Feuer der Feindschaft und des Hasses zu löschen, das auf dem Herzensgrund der Scharen der Welt heimlich brennt.

Durch Sendschreiben und Offenbarungsschriften habe Ich nur die Erkenntnis Gottes vermitteln, die Menschen zu Freundschaft und Einigkeit führen wollen. Und nun, sieh hin: man hat das Gebot Gottes zur Ursache und zum Vorwand für Haß und Uneinigkeit werden lassen. Welcher Kummer und welcher Schmerz, daß die meisten Menschen an dem festhalten und sich an das klammern, was von ihnen selbst stammt, und dem gegenüber, was von Gott kommt, achtlos und verblendet sind!

Sprich:

„Mein Gott, mein Gott, ziere mein Haupt mit der Krone der Gerechtigkeit und meinen Leib mit dem Schmucke der Rechtlichkeit. Wahrlich, Du bist der König der Gaben und Wohltaten!“

Gerechtigkeit und Rechtlichkeit sind zwei Hüter zum Schutze der Menschen; und sie sind durch diese beiden machtvollen und geheiligten Worte erschienen, die die Welt in rechter Verfassung erhalten und die Völker schützen. In eines der Sendschreiben sind diese Worte aus der Feder des Unterdrückten3) geflossen:

„Gott — verherrlicht sei Seine Herrlichkeit! — ist in Menschengestalt gekommen, um die Juwele der Bedeutungen zu offenbaren, das heißt, daß Er in den Trägern des Aufgangs Seines Befehls4) und in den Schatzkammern der Perlen Seines Wissens5) erschienen ist; denn Er — verherrlicht sei Er! — ist der Unsichtbare, der Verborgene, den Blicken Entzogene!“

Erwäge, was der Barmherzige im Furqán6) geoffenbart hat:

"Die Augen sehen Ihn nicht, aber Er, Er sieht die Augen; Er ist der Gnädige, der Wohlunterrichtete!“

Am heutigen Tage bestehen Religion und Gesetz Gottes darin, daß man den verschiedenen Religionen und unterschiedlichen Richtungen keine Gründe und Vorwände zu Haß liefert. Also lauten die gebieterischen und dauerhaften Grundsätze, Richtlinien und Vorschriften, die von dem alleinigen Lehrer her erschienen sind und in der Morgenröte der Einheit erstrahlen. Die Unterschiede wurden durch die Zustände der Zeiten, der Zeitspannen, der Zeiträume und der Zeitalter bedingt.

O Völker Bahá’s7), mögt ihr gründlich vorbereitet sein für das mühevolle Werk der Verdrängung und Ausmerzung der religiösen Mißhelligkeiten und Auseinandersetzungen unter den Völkern der Welt; und erhebt euch für diese große und wichtige Sache aus Liebe zu Gott und den Menschen! Religiöse Feindschaft und Haß stellen ein Feuer dar, das die Welt verzehrt, und seine Löschung wird zum Schwierigsten gehören, wenn nicht die Hand der göttlichen Macht’ die Menschen von diesem fürchterlichen Unheil erlöst. Ihr seht, wie in den Kriegen, die zwischen zwei Ländern wüteten, beide Parteien immer ihren Besitz und ihr Leben geopfert haben! Wie viele Ortschaften gab es, die jetzt nicht mehr sind!

Einer Lampe für die Nische der Erklärung gleicht jenes Wort8):

„O Völker der Welt! Ihr seid alle die Früchte eines einzigen Baumes und die Grashalme desselben Parks; reicht euch die Hand in vollkommenster Liebe, Einigkeit, Freundschaft und Eintracht!*

Ich schwöre bei der Sonne der Wahrheit, daß das Licht der Eintracht den Horizont erhellt und erleuchtet! Gott war und ist Zeuge für das, was Ich sage. Bemüht euch, jene herrliche und erhabene Stufe zu erlangen, die in der Betreuung und Beschützung der Menschheit liegt. Dieses Ziel ist der Herrscher unter den Zielen, und dieses Werk ist der König der Werke. Solange jedoch die Sonne der Gerechtigkeit die düsteren Wolken der Tyrannei nicht durchbrochen hat, wird jene Stufe schwerlich zum Vorschein kommen. [Seite 82] Die düsteren Wolken aber sind die Ausgeburten von Mutmaßungen und Einbildungen!

Wir bitten Gott — Er sei gepriesen und verberrlicht! —, Er möge allen Menschen helfen, zur Gerechtigkeit und Rechtlichkeit zu gelangen, und möge ihnen die Fähigkeit verleihen, Ihn anzurufen und Ihm sich zuzuwenden. Er ist Der, Der hört und antwortet!


1) Ins Deutsche übertragen aus L’Epître au Fils du Loup, traduit par Hippolyte Dreyfus, S. 11—14 und S. 36.

2) Der Feder Bahá’u’lláh’s.

3) Bahá’u’lláh.

4) Den Gottgesandten.

5) Den großen Weisen.

6) Gleichbedeutend mit Qur’án, dem Offenbarungsbuch Muhammad’s. .

7) Gemeint sind die Anhänger Bahá’u’lláh’s.

8) Einer der Hauptleitsätze der Bahá’í-Lehre.



Über die Sendung Bahá’u’lláh’s[Bearbeiten]

Entnommen und ins Deutsche übertragen aus „The Dispensation of Bahá’u’lláh“ von Shoghi Effendi1), Bahá’í-Publishing Committee, New York 1934

„Ihr Anhänger des Evangeliums“, mit diesem Rufe wendet sich Bahá’u’lláh an die gesamte Christenheit, „schauet hin, die Tore des Himmels sind weit geöffnet. Er, Der zum Himmel aufgefahren, ist nun gekommen. Höret auf Seine Stimme, die laut über Länder und Meere hinschallt und alle Menschheit mit dem Anbruch dieser Offenbarung bekannt macht, einer Offenbarung, durch deren Wirken die Zunge der Erhabenheit verkündet: ‚Seht, die heilige Verheißung hat sich erfüllt, denn Er, der Verheißene, ist gekommen!“ „Die Stimme des Menschensohnes ruft laut aus dem geheiligten Tal: ‚Hier bin ich, hier bin ich, o mein Gott!‘, während aus dem brennenden Bush der Schrei erschallt: ‚Seht, der Ersehnte der Welt ist geoffenbart in Seiner erhabenen Herrlichkeit!‘ Der Vater ist gekommen. Was euch verheißen ward im Königreich Gottes, das ist erfüllt. Dies ist das Wort, das der Sohn verhüllte, als Er zu denen um Ihn sprach, daß sie es ‚heute noch nicht tragen‘ könnten. ... Wahrlich, der Geist der Wahrheit ist gekommen, euch in alle Wahrheit zu leiten. .... Er ist der Eine, Der den Sohn verherrlichte und Seine Sache erhöhte...“ „Der Tröster, Dessen Kommen alle Schriften verheißen haben, ist nun da, damit Er euch alle Erkenntnis und Weisheit offenbare. Suchet Ihn auf dem ganzen Erdenrund; vielleicht möget ihr Ihn finden.“

„Rufe aus gen Zion, O Karmel“, schreibt Bahá’u’lláh, „und verkünde die frohen Botschaften: ‚Er, Der sterblichen Augen verborgen war, ist gekommen. Seine allbesiegende Herrschaft ist offenbar; Sein alles umstrahlender Glanz ist enthüllt... Eilet hin und umschreitet die Stadt Gottes, die vom Himmel herabgekommen ist — die himmlische Kaaba, welche die Lieblinge Gottes in Anbetung umkreist haben, die Reinen im Herzen und die Gefährten der erhabensten Engel‘“ „Ich bin der Eine“, so bestätigt Bahá’u’lláh in anderem Zusammenhang, „Den die Zunge Jesajas gepriesen, der Eine, mit Dessen Namen die Thora und das Evangelium geschmückt waren.“ „Die Herrlichkeit des Sinai ist geeilt, den Morgenanbruch dieser Offenbarung zu umkreisen, indessen aus den Höhen des Königreichs die Stimme des Sohnes Gottes vernommen wurde, die verkündete: ‚Regt euch, ihr Stolzen auf Erden, und eilet zu Ihm.‘ Der Karmel ist an diesem Tage in sehnsuchtsvoller Anbetung nach Seinem Hofe geeilt, während aus dem Herzen Zions der Schrei aufsteigt: ‚Die Verheißung aller Zeitalter ist jetzt erfüllt. Was in der heiligen Schrift Gottes, des Geliebten, des Höchsten, verkündet ward, ist offenbart worden.“ „Hijáz ist neu belebt durch den Odem, der die Botschaft der freudvollen Vereinigung ankündigt. ‚Gelobt seist Du‘, so hören Wir es rufen, ‚o mein Herr, Du Höchster. Ich war tot durch meine Trennung von Dir; der Odem, der mit dem Dufte Deiner Gegenwart erfüllt war, hat mich zum Leben zurückgebracht. Glücklich ist, wer sich Dir zuwendet, und wehe dem, der in die Irre geht2).“

Das System vorausschauend, das die unwiderstehliche Macht Seines Gesetzes in einem späteren Zeitalter zu entfalten bestimmt ist, schreibt Er:

„Das Gleichgewicht der Welt ist aus den Angeln gehoben durch den erschütternden Einfluß dieser größten, dieser neuen Weltordnung. Das herkömmliche Leben der Menschheit ist durch die Wirkung dieses einzigartigen, dieses wundervollen Systems aufgewühlt worden, wie es noch kein sterbliches Auge jemals bezeugen durfte.“ „Die Hand der Allmacht hat Ihre Offen- barung auf eine unangreifbare, eine dauernde Grundlage gestellt. Stürme menschlichen Streits sind machtlos, ihre Grundfeste zu untergraben, noch werden des Menschen wunderliche Gedanken ihrem Aufbau Schaden tun können. .. [Seite 83]

Nichts ist in Meinem Tempel zu sehen als der Tempel Gottes, und in Meiner Schönheit ist nur Seine Schönheit zu erblicken, in Meinem Wesen nur Sein Wesen und in Meinem Selbst nur Sein Selbst und in Meinem Tun nur Sein Tun und in Meiner Demut nur Seine Demut und in Meiner Feder nur Seine Feder, die des Mächtigen, des Allgepriesenen. Es lebt nichts in Meiner Seele als die Wahrheit und in Mir kann nichts erblickt werden als Gott.“ „Der Heilige Geist selbst ist erzeugt worden durch das Walten eines einzigen Buchstabens, den dieser Größte Geist geoffenbart hat; wenn ihr doch zu denen gehörtet, die das erfassen3).“ ...

Wenn auch Bahá’u’lláh, ungeachtet der überwältigenden Wucht Seiner Offenbarung, als die Hauptgestalt dieser Manifestationen Gottes anzusehen ist, so kann Er doch niemals jener unsichtbaren Wirklichkeit, dem Wesen des Göttlichen selbst, gleichgesetzt werden. Dies ist eines der bedeutenden Bekenntnisse unseres Glaubens, ein Glaubensbekenntnis, das niemals verdunkelt werden darf und dessen Unantastbarkeit keiner der Nachfolger bloßstellen lassen darf.

Ebenso darf die Bahá’í-Offenbarung, die den Anspruch erhebt, der Höhepunkt eines prophetischen Zyklusses und die Erfüllung der Verheißung aller Zeiten zu sein, unter keinen Umständen versuchen, jene ersten und ewigen Leitsätze, welche die vorhergegangenen Religionen befehligen und ihnen zugrundeliegen, ungültig zu erklären. Die gottgewollte Autorität, die in jeder derselben ruht, anerkennt sie und erklärt sie als ihre festeste und letzte Grundlage. Sie betrachtet jene in keinem anderen Licht denn als verschiedene Stufen in der ewigen Geschichte und anhaltenden Entwicklung einer Religion, göttlich und unteilbar, von der sie selbst nur einen unlöslichen Teil darstellt. Sie sucht auch nicht, deren göttlichen Ursprung zu verdunkeln noch die gerne zugegebene Größe ihrer gewaltigen Werke zu verkleinern. Sie wird keinen Versuch stützen, der bezweckt, deren Charakter zu verdrehen oder die Wahrheit, die ihnen entströmt, als nichtig hinzustellen. Ihre (d.h. Bahá’í-) Lehren weichen nicht um Haaresbreite von den Wahrheiten ab, die jene enthalten, noch nimmt das Gewicht ihrer Sendung auch nur ein Jota oder ein Pünktchen von dem Einfluß weg, den jene ausüben, oder von der Treue, die sie einflößen. Weit davon entfernt, auf den Umsturz des geistigen Unterbaus der religiösen Systeme in der Welt hinzuzielen, ist es ihre erklärte, ihre unerschütterliche Absicht, deren Grundlagen zu erweitern, ihre Grundmauern neu aufzurichten, ihre Ziele miteinander in Übereinstimmung zu bringen, ihr Leben neu zu stärken, ihre Einheit zu beweisen, die ursprüngliche Reinheit ihrer Lehren wiederherzustellen, ihre Aufgaben einander zuzuordnen und zu der Verwirklichung ihrer höchsten Bestrebungen beizutragen4).


1) Der „Hüter" des Bahá’í-Glaubens.

2) S. 12/13.

3) S. 17.

4) S. 22.



Der entscheidende Augenblick[Bearbeiten]

Entnommen und ins Deutsche übertragen aus „Bahá’í Magazine“, Vol. 25, Nr. 3, Juni 1934


Folgender Rat von Shoghi Effendi, der von seinem Sekretär an einen amerikanischen Bahá’í gerichtet ist, beweist in auffälliger Weise, daß in den Lehren Bahá’u’lláh’s für die heutige Zeit die einzige Lösung der Weltprobleme liegt.

Alle geistigen und sozialen Bewegungen, die in der Welt bestehen — und zweifellos gibt es deren viele —, tragen einen Schimmer von göttlicher Wahrheit in sich. Schon ihr Dasein an sich zeigt uns, daß sie den Mensch etwas zu bieten und gewisse Zwecke zu erfüllen haben. Was aber die Welt in einem solchen kritischen Zeitpunkt ihrer Geschichte nötig hat, ist nicht nur ein Linderungsmittel. Sie bedarf einer Bewegung, die tief in ihre geistige und soziale Krankheit eingreift und eine vollständige, grundlegende Wandlung mit sich bringt — eine Wandlung, in deren Reichweite eine soziale sowohl als auch geistige Reform des Menschen liegt. Eine solche Bewegung kann aber nur durch einen Gesandten Gottes eingeleitet werden, der von Ihm für diesen besonderen Zweck geoffenbart ist. In ähnlich kritischen Zeiten, wie sie in die Menschengeschichte der Vergangenheit eingekerbt sind, ist ein Zoroaster, ein Moses, ein Christus und ein Muhammad erschienen. Und an diesem Tage, so erklären die Bahá’í, ist Bahá’u’lláh geoffenbart worden. [Seite 84]

Genau wie vor alters die Propheten verfolgt und ihre Sendung verspottet wurde, ist die Botschaft Bahá’u’lláh’s verspottet worden als ein ganz unanwendbarer Idealismus. Schon in früher Jugend wurde Er in Ketten gelegt, des Landes verwiesen und verfolgt. Und was sehen wir heutigen Tages — noch nicht einmal 40 Jahre nach Seinem Tode? Die Prinzipien, die Er vertrat, sind die einzige Lösung für die angewandte Politik, und die geistigen Wahrheiten, die Er verkündete, sind schreiende Notwendigkeit für den Menschen und gerade das, was er zu seiner sittlichen und geistigen Entwicklung benötigt.

Er verlangt nicht von uns, daß wir Ihm blindlings folgen. Wie Er in einem Seiner Sendschreiben sagt, hat Gott dem Menschen den Verstand geschenkt, daß er ihn als Fackellicht gebrauche und daß dieser ihn zur Wahrheit führe. Leset Seine Worte, denkt über Seine Lehren nach und ermeßt ihren Wert im Lichte der zeitgemäßen Probleme — und die Wahrheit wird euch sicher geoffenbart werden.



Religion und Kultur[Bearbeiten]

Von Helen Pilkington Bishop

„Alle Dinge der Welt erheben sich durch den Menschen und kommen durch ihn zum Vorschein. Durch ihn finden sie Leben und Entwickelung, und der Mensch ist bezüglich seines geistigen Daseins von der Sonne des Wortes Gottes abhängig.“
Bahá’u’lláh.


Die Nachdenklichen beklagen die Armut der gegenwärtigen Religion und seufzen im Hinblick auf deren Alter und herannahenden Tod. In früheren Zeiten, so berichten die romantischen Geschichtsschreiber, hat die Religion des Menschen Blick erweitert, neue Tatkraft erzeugt und das Leben mit den Idealen von Künsten und Gesetzen geschmückt. Erinnern wir uns, wie die Sache Christi den sittlichen Verfall im römischen Kaiserreich aufhielt und den Pulsschlag belebte, der die Kraft des Staates wiederherstellen sollte. Die klare Probe auf die Lebenskraft ist die Jugend und Reife einer Offenbarung, — und das Christentum überlebte diese noch mehr denn 1000 Jahre seither.

Einstweilen sind drei Manifestationen Gottes erschienen und ihre Sendungen sind unlösliche Teile eines göttlichen Planes. Zu wenig wird im Westen die Auferstehung der Völker Arabiens durch den Propheten Muhammad verstanden und der Adel und die Seelengröße des Islam in den Tagen seiner Reife, als er von Spanien bis Indien blühte. In der Mitte des letzten Jahrhunderts erweckte der Báb Persien aus einem Dauerschlaf, überschüttete es mit einer Reihe von Reformen und machte Seine gemarterten Helden zu Vorbildern, denen künftige Geschlechter nacheifern werden. Die darauffolgende Manifestation Bahá’u’lláh ist die Quelle des Glaubens, der in der ganzen Welt daran arbeitet, die Reinheit der Religion wiederherzustellen und die Einheit der Menschheit zu verwirklichen.

Das allgemeine Erkennen Bahá’u’lláh’s wird durch die ungeheuerliche Verwirrung vereitelt, welche platte Gemüter verschlingt und sie in Gleichgültigkeit und Unglauben festhält. Es herrscht gänzliche Unfähigkeit, zwischen Religion und den in ihrem Namen geschehenen Verwirrungen zu unterscheiden. Theologen geben öffentliche Erklärungen, aber solche entstammen nicht dem Logos oder Wort Gottes. Denn dieses wird durch den Propheten verkündet und ist die Quelle der Wirklichkeit. Es ist ganz klar: der „Wanderer“ muß geradewegs zum Propheten gehen und seine Gottesoffenbarung zum Maßstab der Erkenntnis nehmen, welche ewiges Leben bringt. Diese Vorschrift ist von Bahá’u’lláh in den ersten Sätzen des „Buches der Gewißheit“ eingeschärft.1)

Glaube an Gott, an die Mittlerschaft des Prophetentums und an die Wirklichkeit des Menschen — das ist den offenbarten Religionen gemeinsam. Diese grundlegenden Wahrheiten, ergänzt durch die unveräußerlichen Eigenschaften der Reinheit und Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit und Liebe, bilden das, was durch alle Religionen zieht. Die unwesentlicheren Lehren wie materielle Gesetze sind aus der Zeit heraus geboren — und sie sterben mit der Zeit.

Bahá’u’lláh versöhnt alle Religionen auf der Grundlage der wesentlichen Wahrheiten. Die lebendigen Eigenschaften streut Er verschwenderisch auf das Ödland des Daseins und bringt Fruchtbarkeit zutage. Wenn die Religion bei diesem Werke versagt, wenn sie Engherzigkeit [Seite 85]Religion und Kultur

und Frömmelei und daraus Sekten und Hader ausbreitet, so ist eine solche Religion ihrem Hauptmerkmal abtrünnig geworden: der Liebe, welche Einheit schafft. Daher schreibt Bahá’u’lláh in einem Brief an den Sohn des fanatischen Shaykh Báqir, des unbarmherzigen Verfolgers der Anhänger der neuen Offenbarung:

„Der Sinn jeder göttlichen Offenbarung ist die Erkenntnis Gottes und die Förderung von Freundschaft und Einklang unter den Menschen. Doch sieh, wie heutzutage das Gesetz Gottes zur Ursache der Verderbnis und des Hasses gemacht wurde! Viele, ach, haben sich an ihre eigenen Wege gehalten und haben den Weg Gottes vergessen und nicht bedacht... O Volk von Bahá! Gürte deine Lenden mit Eifer, auf daß vielleicht sektenhafte Sattheit und Hader beseitigt, nein, völlig verbannt werden vom Antlitz der Erde“2)

Gottlosigkeit und sittlicher Ungehorsam machen das Bewußtsein öde und kennzeichnen einen Zeitraum des Zerfalls. Wenn der Geist der Religion zur Form wird, dann ist seine Kraft vergeben. Das ist Zivilisation, eine seelenlose Form, die überladen ist mit Weltmüdigkeit, sittlicher Verkehrtheit und auseinanderlaufenden Richtungen. All dies spiegelt sich in den Künsten von heute wieder, die am Verlust des „großen Stils“ leiden und des Ausdrucks voll verkörperter Schönheit und Bedeutung ermangeln.

Noch mehr: in der Auflösung sind auch die sozialen Einrichtungen als Folge der Entartung der treuen Gesinnung und des Dahinschwindens von Redlichkeit und Vertrauenswürdigkeit mit inbegriffen. Eine lebendige Religion hegt und pflegt die Gefühle; daher besteht ein unlöslicher Zusammenhang zwischen der Religion und den Pflichten der Familie, dem Staate und der Gesellschaft gegenüber. Mit hellseherischer Kraft sagte Bahá’u’lláh die gegenwärtige Weltkrise voraus und sandte Seine Warnung aus:

„Wenn die Pfeiler der Religion ins Wanken geraten, so ist die Macht der Narren, ihre Dreistigkeit und Anmaßung herangewachsen. Alles, was die erhabene Stufe der Religion erniedrigt, wird sicher den Leichtsinn der Gottlosen anwachsen lassen, und dies kann zuletzt nur zu Chaos und Verwirrung führen. — Leiht Uns Gehör, o ihr Einsichtsvollen! Und ihr, die ihr es merkt, gebt acht!"3)

Und Er sprach:

„Wahrlich, Hader und Aufruhr ziemen sich nicht für das Volk Gottes. Meidet böse Worte und wandelt auf den Wegen der Heiligkeit, des Verzichtes und der Zufriedenheit!“4)

Und wiederum hat Er gesagt:

„Religion ist das höchste Werkzeug für die Ordnung der Welt und die Ruhe aller Geschöpfe des Daseins.“5)

Diese Aussprüche und tausend andere mehr beweisen die Herabkunft des Heiligen Geistes mit der Gabe der Offenbarung. Wiederum, und nun in diesem Zeitalter, wird das Bewußtsein umgewandelt durch die Schöpferkraft des Logos. Die Worte Bahá’u’lláh’s sind die schöpferische Urform für die Gemüter jener, die sie erfassen. Die erste Frucht Seiner Sendung ist Sein ältester Sohn, ‘Abdu’l-Bahá, der durch Sein vollkommenes Leben und Seinen bezwingenden Geist alle andern, die da sind und sein werden, weit hinter sich läßt. 'Abdu'l-Bahá ist das Geheimnis Gottes. Sein ist eine einzigartige Stufe, welche Menschlichkeit und Göttlichkeit in einer Schönheit vereint, die der Welt Betrachtung und Verehrung fordern darf.

Die herkömmliche religiöse Haltung muß angesichts neuer Werte eine Belastungsprobe bestehen, einfach deshalb, weil sie des Verstehens ermangelt, daß auch die Religion keine Ausnahme im Entwicklungsgesetz macht. Gott hat ein Weltall erschaffen, worin das Wachstum in Zyklen wiederkehrt: die geologischen Schichten, welche die periodische Veränderung der Erde beweisen; der Lebensablauf des Einzelmenschen in Kindheit, Jugend, Reife und Alter; die Wiederkehr der Jahreszeiten mit dem Frühling nach dem Winter — dies erhellt den rhythmischen Lauf der Natur und des Menschenlebens. Noch mehr: der menschliche Geist ist Ebbe und Flut unterworfen; und in Zyklen wächst auch die sittliche und geistige Entwicklung der Rasse heran. Göttliche Offenbarung muß ununterbrochen und fortschreitend sein, wenn der Mensch seine Menschlichkeit vervollkommnen soll.

Die Offenbarung für diesen Zyklus bringt neue Urbilder des Denkens und der Haltung: Sitten, Gesetze, Künste und Einrichtungen hängen davon ab. Die Sache Gottes gibt den Antrieb und die Tatkraft, um eine Weltkultur zu bilden. Die göttlichen Manifestationen des Báb und Bahá’u’lláh erfüllen die Gesichte der Propheten und Dichter: „Der Welt großes Zeitalter beginnt aufs neue“. ‘Abdu’l-Bahá hat eine Welt neuer Sinndeutungen in ausführlichen Worten hinterlassen, die sorgfältige Beachtung verdienen. Die Warnung des Propheten aber heißt:

„Wahrlich, an diesem Tage wird, wer nicht den Schleier seiner eitlen Vorstellungen zerreißt, die Stimme Gottes nicht zu hören vermögen. Wohl denen, die mit Hilfe von Gottes Kraft die Götzen ihrer Einbildungen zerschlagen haben und, die Ohren Seinem Ruf geöffnet, vom Tode auferstanden sind“.6)


1) Verdeutscht in Fortsetzungen erschienen in der „Sonne der Wahrheit" Jahrgang X, Heft 2 ff.

2) Zitiert aus „Bahá’í-World“, Bd. 1 (1925—26), S. 35/36.

3) Zitiert aus „Bahá’í-World“, Bd. 1 (1925—26), S. 35/36.

4) ebenda, S. 43.

5) Zitiert nach „The Bahá’í Magazine“, Bd. 25, Heft 7, S. 199.

6) Zitiert nach „Bahá’í-World“ Bd. I, S. 43. (Auszüge aus Sendschreiben Bahá’u’lláh’s.)


[Seite 86]



Bahá’í-Glaube und Christentum[Bearbeiten]

Ein Beispiel für die Einheit der Religion

Von Dr. Eugen Schmidt


Wie an anderer Stelle in diesem Heft ausgeführt1), haben alle Offenbarungsreligionen eine gemeinsame geistige Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden2)“ Diese fundamentale Erkenntnis läßt sich am besten durch eine vergleichende Betrachtung angeblich verschiedener Religionen erhärten. In unserem Kulturkreis liegt es nahe, den Sendungsgehalt Bahá’u’lláh’s mit dem uns überkommenen Christentum zu vergleichen. Wenn wir den Gedanken der gleichen geistigen Grundlage der geschichtlichen Religionen an den Anfang unserer Untersuchung stellen, so nehmen wir das Ergebnis derselben bewußt vorweg, um den vergleichenden Blick auf das Wesentliche und nicht auf das dem geschichtlichen Wandel Unterworfene im religiösen Geschehen zu richten.

Die von uns hier angestrebte vergleichende Betrachtungsweise geht nämlich von dem zweifachen, entscheidenden Gesichtspunkt aus, daß jeder Religion einerseits ein geistig-zeitloser, andererseits ein zeit- und entwicklungsgeschichtlich bestimmter Gehalt zugrundeliegt. Der erstere besteht in dem in den Heiligen Schriften niedergelegten „Wort Gottes“, das seinem Wesen nach nicht veralten oder erstarren kann, der letztere umfaßt die äußeren Gesetze und Gebote, welche immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf die Lebensformen der Menschen und Völker entsprachen und deshalb durch jede neue Gottesoffenbarung eine Änderung, Erweiterung, Ergänzung und Fortfübrung erfahren. Wenn man deshalb von Wachstums- und Verfallsbedingungen der Religionen spricht, so können darunter nur ihre äußeren Formen (Religionsübung, „Gesetze“, soziale Normen, institutionelle Einrichtungen usw.) und nicht ihr geistiger, unwandelbarer Gehalt verstanden werden. Allerdings zeigt ein religionsgeschichtlicher Rückblick, daß der Verfall oder die Erstarrung religiöser Formen (Dogmatismus, Orthodoxie, Ausschließlichkeitsanspruch) in einer Verschüttung und menschlichen Entstellung der göttlichen Lehren begründet sind. Man kennt die verhängnisvolle, so irrtümliche Verlagerung des Absolutheitsanspruches einer Offenbarungsreligion auf deren geschichtliche Daten und Formen. Hier liegt auch der tiefere Grund für die wiederholte Erneuerungsbedürftigkeit der Religion im Sinne einer Reinigung von wesensfremden Einflüssen und menschlichen Zutaten, einer neuen lebendigen Offenlegung ihres geistigen Wahrheitsgehalts, die auch eine Ersetzung und den Umbau überholter Einrichtungen nach zeitangemessenen Grundsätzen erheischt.

Nur aus solchen Gedankengängen heraus können wir glauben und verstehen, daß, wie ‘Abdu’l-Bahá sagt, die Grundlagen des Christentums und der Religion Bahá’u’lláh’s die gleichen sind. Erforschen wir unvoreingenommen genug das Wesen der Lehren und des Lebens Bahá’u’lláh’s und Christi, so können wir uns der vorerwähnten Einsicht nicht verschließen.

Christus kam, um im engeren Sinne die mosaische Gesetzesreligion aus ihrer starren Umklammerung zu befreien und in eine lebendige Gesinnungs- und Tatreligion überzuführen, und um im weiteren Sinne allen Völkern der Welt den Weg zurück zu Gott aufzuzeigen, der über die Nächstenliebe führt und die Einheit Gottes zum Ausgangs- und Endpunkt hat. Seine Sendung war ein urgewaltiger Ruf zur Selbstüberwindung und völligen Einordnung des Menschen in den Willen Gottes. Er erneuerte die goldene Lebensregel aller vorausgegangenen Gottgesandten: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten3).“ Er stellte mit bezwingender Macht das hohe Ziel des Menschen in ein neues bis in den äußersten Westen dringendes Licht: „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen4).“* Die Erfüllung dieses Gebotes hat die innere Wiedergeburt des Menschen im Sinne der Bergpredigt Christi zur Voraussetzung. Die Verwirklichung des Reiches Gottes kündet Christus als den Vollzug des Willens Gottes an. „Es werden nicht alle, die zu [Seite 87] mir sagen: Herr, Herr! in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel5)." Nicht der Glauben um des Glaubens willen und nicht das Werk um des Werkes willen ist der Inbegriff der Sendung Christi, sondern die unzertrennliche Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe, welche den Menschen innerlich wandelt und zur Gotteskindschaft führt.

Wenn wir von diesem Standort aus die vielen scheinbar oft nicht aussöhnbaren christlichen Bekenntnisformen näher besehen, müssen wir, wenn wir ehrlich genug sind, feststellen, daß die mannigfachen Spaltungsgründe nicht in der Sendung und Lehre Christi als solcher, sondern in menschlichen Deutungs- und Meinungsverschiedenheiten ihre tiefste Wurzel haben. Wie könnte es anders sein, wenn die Religion die höchste und erhabenste Ausdrucksform der Einheit und Einzigkeit Gottes ist, gegenüber der alle menschlichen Lehrsätze nur relative und an ihr gemessene Bedeutung beanspruchen können. Gerade aber die beklagenswerten Spaltungen in der cristlichen Ära verschütteten den Goldgrund der Worte Christi, verschalten den geistigen Kern Seines Auftrags so sehr, daß es eines gewaltigen Erneuerungsimpulses von höchster Warte bedarf, um seinen Wahrheitsgehalt wieder offenzulegen und ihn zur bestimmenden Lebensmacht unserer Zeit aufbrechen zu lassen. Unter diesem Gesichtspunkt müssen wir versuchen, in die Bedeutung und das Wesen der Sendung Bahá’u’lláh’s einzudringen.

Bahá’u’lláh bringt keine „neue“ Religion, sondern führt alle geschichtlichen Religionen und so auch das Christentum auf die gemeinsame geistige Grundlage, das „Wort Gottes“ zurück. „An diesem Tag muß der, welcher das Licht der Sonne der Wahrheit sucht, seinen Geist von den Überlieferungen der Vergangenheit frei machen; er muß sein Haupt mit der Krone der Trennung und seinen Tempel (Körper) mit dem Kleid der Tugend schmücken. Dann wird er zu dem Ozean der Einheit und Einzigkeit Gottes gelangen6)." So fordert Bahá’u’lláh wie Christus die Befolgung der Gebote Gottes als tatgewordenen lebendigen Glauben. Durch Ihn wird das Gesetz der Liebe neu aufgerichtet und den heutigen Erfordernissen entsprechend erweitert: „Das erhabene Wort für Harmonie und Liebe ist: Alle sind von Gott. Dies erhabene Wort gleicht dem Wasser, welches das in den Herzen verborgene Feuer des Hasses und der Erbitterung löscht. Durch dies einzige Wort werden die verschiedenen Religionen zu dem Licht der Einheit gelangen7).“ Als das Charakteristische der Sendung Bahá’u’lláh’s ist ihre Universalität, Erneuerung und Erfüllung aller Religionen in neuer, einzigartiger Synthese von persönlicher und sozialer Lebensgestaltung auf den Fundamenten von Liebe und Gerechtigkeit hervorzuheben. „Durch das Erscheinen Christi wurden "die göttlichen Lehren in Übereinstimmung mit der Kindheitsstufe der menschlichen Rasse gegeben. Die Lehren Bahá’u’lláh’s haben dieselben grundlegenden Prinzipien, tragen jedoch dem Reifezustand der Menschheit und den Erfordernissen dieses Zeitalters Rechnung“ (‘Abdu’l-Bahá). Wer Bahá’u’lláh’s Worte verstehen lernt, dem wird das Christentum in neuer Herrlichkeit und Tiefe erschlossen. Die Feststellung der völligen Übereinstimmung der geistigen Grundlagen der Offenbarungen Christi und Bahá’u’lláh’s schafft aus tiefem Erleben heraus den Boden für die entscheidende Einsicht, daß die Manifestationen Gottes, aus gleicher Quelle schöpfend, eine geistige Einheit darstellen, in welcher die tiefste Bedeutung des Wiederkunftsgedankens zu suchen ist. Was Shoghi Effendi in bezug auf den Anspruch der Sendung Bahá’u’lláh’s und ‘Abdu’l-Bahá’s gegenüber den geschichtlichen Weltreligionen sagt, gilt nicht zuletzt auch bei einem Vergleich Ihres göttlichen Auftrags mit dem Christentum: „Ihre Lehren8) weichen nicht um Haaresbreite von den Wahrheiten ab, die jene enthalten, noch nimmt das Gewicht ihrer Sendung auch nur ein Jota oder ein Pünktchen von dem Einfluß weg, den jene ausüben, oder von der Treue, die sie einflößen. Weit davon entfernt, auf den Umsturz des geistigen Unterbaus der religiösen Systeme in der Welt hinzuzielen, ist es ihre erklärte, ihre unerschütterliche Absicht, deren Grundlagen zu erweitern, ihre Grundmauern neu aufzurichten, ihre Ziele miteinander in Übereinstimmung zu bringen, ihr Leben neu zu stärken, ihre Einheit zu beweisen, die ursprüngliche Reinheit ihrer Lehren wieder herzustellen, ihre Aufgaben einander zuzuordnen und zu der Verwirklichung ihrer höchsten Bestrebungen beizutragen9).“

Das oben Gesagte ließe sich vielfach durch die Beleuchtung der christlichen Lehren, Dogmen [Seite 88] und Sakramente im Lichte des Bahá’í-Glaubens nachweisen, wozu aber hier der Raum fehlt. Jedenfalls wird jeder Aufgeschlossene in den Schriften Bahá’u’lláh’s und 'Abdu'l-Bahá’s und in ihrem Lebensbeispiel eine neue Bestätigung, Vertiefung und entwicklungsgemäße Erweiterung der Botschaft Christi als nottuende religiöse Erneuerung des menschlichen Lebens finden.


1) Siehe S.76.

2) Ein Wort ‘Abdu'l-Bahá’s, Bahá’í-Perlen, Stuttgart 1922, S.4

3) Matth. 7, 12.

4) Matth. 6, 33.

5) ebenda, 21.

6) Aus „Worte der Weisheit", S. 60.

7) Bahá’u’lláh, in Chase „Die Bahá’í-Offenbarung“, Stuttgart 1925, S. 144.

8) D.h. die Bahá’í-Lehren.

9) Ins Deutsche übertragen aus „The Dispensation of Bahá’u’lláh“, New York 1934, S. 22.



Unser Glaube an Christus[Bearbeiten]

Worte ‘Abdu’l-Bahá’s1)

Ins Deutsche übertragen aus „’Abdu’l-Bahá on Divine Philosophy“, New York 1918


„Unser Glaube an Christus entspricht genau dem, was in dem Neuen Testament berichtet ist; wir suchen uns jedoch dies klar zu machen und sprechen nicht wörtlich oder in einer Weise darüber, die nur blinden Glauben zur Grundlage hat. Z. B. wird im Evangelium Johannis berichtet: „Im Anfang war das Wort, das Wort war bei Gott und das Wort war Gott“. Die Mehrzahl der Christen nehmen diese Worte buchstäblich, wir geben ihnen jedoch eine logische Erklärung, so daß niemand Gelegenheit finden kann, sie zu verwerfen.

Die Christen haben diese Darstellung des „Wortes“ zur Grundlage der Dreieinigkeit gemacht; demgegenüber erklären Philosophen, daß die Dreieinigkeit hinsichtlich der Identität der Göttlichkeit unmöglich ist.

Wir erklären diese Frage wie folgt: Unter dem „Wort“ verstehen wir, daß die Schöpfung mit ihren unendlichen Formen Buchstaben gleicht und daß die individuellen Glieder der Menschheit in ähnlicher Weise mit Buchstaben zu vergleichen sind. Ein Buchstabe einzeln hat keinen Sinn, keine unabhängige Bedeutung, aber die Stufe Christi ist die Stufe des Wortes. Das ist der Grund, warum wir sagen: Christus ist das „Wort“ — in seiner vollen Bedeutung. Die Allergießung des Göttlichen ist in Christus offenbar. Es ist offensichtlich, daß die Entwicklung anderer Seelen eine annähernde oder nur ein Teil des Ganzen ist, die Vollkommenheiten des Christus sind jedoch umfassend oder das Ganze. Die Wirklichkeit Christi ist ein zusammenfassender Mittelpunkt aller unabhängigen Tugenden und unendlichen Bedeutungen. Z. B. verbreitet diese Lampe Licht und der Mond erleuchtet die Nacht durch seine silberigen Strahlen, aber keines dieser Lichter ist selbsterschaffen.

Seine Heiligkeit der Christus ist gleichsam wie die Sonne; sein Licht geht aus seiner eigenen Wesenseinheit hervor. Er empfing es nicht von einer anderen Person — darum geben wir ihm den allesumfassenden Namen des „Wortes“; damit meinen wir die alles in sich begreifende Wirklichkeit und den Verwahrungsort der unendlichen göttlichen Kennzeichen. Dieses „Wort“ hat einen Beginn in seiner Verherrlichung, aber nicht einen zeitlichen Anfang. Z. B sagen wir, diese Person hat den Vorrang gegenüber allem. Dieser Vorrang kommt ihm durch seine Stufe und Ehre zu, welche er jetzt im Leben einnimmt, ist aber nicht ein zeitlicher Vorrang. In Wirklichkeit hat das „Wort“ weder Anfang noch Ende. Die Buchstaben des „Wortes“ sind jene Eigenschaften, welche in Christus erschienen, und nicht sein physischer Körper. Diese Attribute waren von Gott — gleich den Strahlen der Sonne, die in einem klaren Spiegel widergespiegelt werden. Die Strahlen, das Licht und die Hitze der Sonne sind ihre Eigenschaften, welche in dem Spiegel offenbar geworden sind. Es ist augenscheinlich, daß diese Eigenschaften immer bei Gott waren, auch zu dieser Zeit waren sie bei ihm, so daß sie von ihm unzertrennbar sind, weil die Göttlichkeit nicht der Teilung unterworfen ist. Teilung ist ein Zeichen von Unvollkommenheit und Gott ist der Vollkommene.

Es ist klar, daß die Attribute des Göttlichen mit dem Wesen gleich sind und zugleich bestehen. Auf dieser Stufe ist uneingeschränkte Einheit. Dies ist in Kürze die Erläuterung der Stufe Christi.“


1) Diese Worte stellen die Antwort ‘Abdu’l-Bahá’s auf eine an ihn in einem theologischen Seminar in Paris gestellte Frage über die Bedeutung Christi dar (17. Februar 1913).



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