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BAHÁ'I-
BRIEFE
BLÄTTER FÜR
WELTRELIGION UND
WELTBEWUSSTSEIN
AUS DEM INHALT:
Religion und Politik
Auf dem Weg zur Harmonie der Einheit
Gottes Wort im Haus der Andacht
Interkontinentale Konferenzen in Wort und Bild
APRIL 1968 HEFT 32
D 20155 F
- Sprich: Dies ist der Tag,
- an dem der Sprecher des Berges Seinen Platz auf dem
- Thron der Offenbarung einnahm,
- an dem die Menschen vor Gott, dem Herrn der
- Geschöpfe, auferstanden.
- Dies ist der Tag, an dem die Erde Neues
- offenbarte und ihre Schätze entschleierte,
- an dem das Meer seine Perlen,
- der göttliche Lotosbaum seine Früchte,
- die Sonne ihren Glanz,
- die Monde ihr Licht,
- der Himmel seine Sterne,
- die »Stunde« ihre Zeichen,
- die Auferstehung ihre Erhabenheit,
- die Federn ihre Spuren
- und die Geister ihre Geheimnisse enthüllten.
- Selig ist, wer Ihn erkennt,
- und wehe denen, die Ihn leugnen
- und sich von Ihm abwenden!
- Bahá’u’lláh
- (Tablet Ishráqát)
Religion und Politik[Bearbeiten]
Eine Stellungnahme des Universalen Hauses der Gerechtigkeit
- Das Universale Haus der Gerechtigkeit, die international leitende Körperschaft des Bahá’í-Glaubens, hat den Nationalen Geistigen Räten der Bahá’í-Welt vor kurzem Auszüge aus einem Brief zur Verfügung gestellt, mit dem Fragen über das Verhältnis der Bahá’í zu den gesellschaftlichen und politischen Mächten der heutigen Welt beantwortet wurden. Seit Beginn des Bahá’í-Glaubens steht die Nichteinmischung der Bahá’í in das tagespolitische Geschehen und ihre Loyalität gegenüber jeder rechtmäßigen Regierung ebenso unumstößlich fest wie ihr Engagement für eine universale Lösung der heutigen Weltprobleme. Dennoch möchten wir nicht versäumen, diese umfassende Klarstellung zur Kenntnis aller unserer Leser zu bringen.
- D. Red.
... Wir versuchen gern, einige der Fragen zu klären, die Ihnen in den Beziehungen der Bahá’í zur Politik problematisch vorkommen. Es handelt sich hier um eine besonders bedeutsame Angelegenheit, gerade heutzutage, wo die allgemeine Weltlage so wirr ist. Die unüberlegte Handlung oder Äußerung einzelner Bahá’í in gewissen Ländern könnte dort oder anderswo zu schweren Rückschlägen für den Glauben, ja zum Verlust von Menschenleben unter den Mitgläubigen führen.
Insgesamt sollte die Haltung eines Bahá’í gegenüber den Problemen, Leiden und Verwirrungen anderer Menschen im Lichte der Zielsetzungen gesehen werden, die Gott in diesem Zeitalter für die Menschheit hegt, wie auch am Lichte der Vorgänge, die Er in Gang gesetzt hat, um diese Ziele zu erreichen.
Als Bahá’u’lláh im 19. Jahrhundert Seine Botschaft an die Welt verkündete, machte Er zur Genüge klar, daß der erste, unumgängliche Schritt auf dem Weg zu Frieden und Fortschritt der Menschheit ihre Vereinigung sei. „Die Wohlfahrt der Menschheit“, sagt Er, „ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, sofern nicht und ehe nicht ihre Einheit fest begründet wird“ (The World Order of Bahá’u’lláh, p. 203). Bis auf den heutigen Tag können Sie jedoch feststellen, daß die meisten Menschen einen entgegengesetzten Standpunkt einnehmen: Sie halten die Einheit für ein letztes, fast unerreichbares Ziel und konzentrieren sich darauf, zunächst alle anderen Leiden der Menschheit zu heilen. Wenn sie nur wüßten, daß alle diese anderen Leiden lediglich verschiedenartige Symptome und Nebenwirkungen der grundlegenden Krankheit — der Uneinigkeit — sind.
Bahá’u’lláh hat darüber hinaus erklärt, daß es für die Wiederbelebung
der Menschheit und die Heilung aller ihrer Leiden nur ein Mittel gebe:
Seinen Glauben. „Die Kraft des menschlichen Gottesglaubens ist in allen
[Seite 807]
Ländern im Schwinden begriffen. Nur noch Seine heilsame Arznei vermag
sie wiederherzustellen. Das ätzende Gift der Gottlosigkeit zerfrißt
das Mark der menschlichen Gesellschaft. Was anderes kann sie reinigen
und wiederbeleben als der Lebenstrank Seiner mächtigen Offenbarung?“
(Ährenlese XCIX). „Was der Herr als höchstes Mittel und mächtigstes
Werkzeug für die Heilung der ganzen Welt bestimmt hat, ist die Vereinigung
aller ihrer Völker in einer allumfassenden Sache, einem gemeinsamen
Glauben. Das kann nicht anders erreicht werden als durch die Kraft eines
erfahrenen, allgewaltigen und erleuchteten Arztes. Wahrlich, dies ist die
Wahrheit, und alles andere ist nichts als Irrtum“ (An die Volksvertreter
aller Länder, Tablet an Königin Victoria von England, Ährenlese CXX.)
Auf ähnliche Weise schrieb der Hüter: „Die Menschheit ist, ob wir sie im Lichte der persönlichen Lebensführung oder der Beziehungen zwischen organisierten Gemeinschaften und Nationen betrachten, leider zu weit abgeirrt, hat einen zu tiefen Niedergang erlitten, als daß sie allein durch die unbeholfenen Anstrengungen der besten ihrer anerkannten Herrscher und Staatsmänner — wie uneigennützig sie in ihren Beweggründen, wie konzertiert sie in ihrer Aktion, wie zähe sie in ihrem Eifer und wie ergeben sie gegenüber ihrer Sache auch sein mögen — erlöst werden könnte. Kein Plan, den die Berechnungen höchster staatsmännischer Kunst noch ersännen, kein Lehrgebäude, das die hervorragendsten Vertreter der Wirtschaftstheorie noch ausdächten, kein Grundsatz, den der glühendste Moralist noch aufimpfen wollte, können letztenendes ausreichende Grundlagen bieten, auf die die Zukunft einer verrückt gewordenen Welt gebaut werden kann.
„Kein Aufruf zu gegenseitiger Duldsamkeit, den die Weltweisen erheben mögen, wie zwingend und beharrlich er auch sei, kann die Leidenschaften dieser Welt beruhigen oder ihr helfen, ihre Lebenskraft zurückzugewinnen. Auch hat kein Gesamtplan rein organisatorischer Zusammenarbeit, auf welchem Gebiet menschlicher Tätigkeit er sich immer bewegt, wie geistreich er erdacht und wie umfassend er aufgefaßt wird, den gewünschten Erfolg, wenn es darum geht, die Grundursache des Übels zu beseitigen, das die heutige Gesellschaft so hart aus dem Gleichgewicht geworfen hat. Ja, ich wage zu behaupten, daß nicht einmal der eigentliche Vorgang des Ersinnens einer Maschinerie, wie sie für die politische und wirtschaftliche Vereinigung der Menschheit erforderlich ist — eine Grundforderung, die in letzter Zeit immer stärker vertreten wird — daß nicht einmal dieser Vorgang aus sich selbst heraus das Heilmittel gegen das Gift bieten könnte, welches fortgesetzt die Kraftreserven der entwickelten Völker und Nationen auszehrt.
„Was sonst, so können wir getrost behaupten, als die vorbehaltlose
Annahme des göttlichen Programms, das Bahá’u’lláh vor sechzig (heute vor
97) Jahren so machtvoll und doch so einfach verkündete, eines Programms,
das in seinen Wesenszügen Gottes Plan für die Vereinigung der Menschheit
in diesem Zeitalter beinhaltet, kann in Verbindung mit der unüberwindlichen
Gewißheit der sicheren Wirkung aller seiner Vorkehrungen
schließlich den Kräften innerer Auflösung widerstehen, die sich, wenn
ihnen kein Einhalt geboten wird, immer tiefer in den Lebensnerv
[Seite 808]
einer verzweifelten. Gesellschaft hineinfressen?“ (The World Order of
Bahá’u’lláh, pp. 33/34).
Shoghi Effendi erklärt uns, daß zwei große Prozesse in der Welt ablaufen: zum einen der große Plan Gottes, der sich, stürmisch fortschreitend, durch die Menschheit als Ganzes verwirklicht, die Barrieren gegen die Welteinheit niederreißt und die menschliche Gesellschaft im Feuer des Leides und der Erfahrung zu einem geeinten Organismus umschmiedet. Dieser Prozeß wird in der von Gott bestimmten Zeit den Geringeren Frieden, die politische Vereinigung der Welt, herbeiführen. Der zweite Vorgang, der diesem geeinten Organismus Leben einhaucht, wahre Einheit und Geistigkeit schafft und im Größten Frieden seinen Höhepunkt erreicht, ist die Aufgabe der Bahá’í, die vollbewußt, mit genauen Weisungen und unter fortgesetzter göttlicher Führung sich mühen, die Strukturen des Reiches Gottes auf Erden zu errichten, ihre Mitmenschen dazu aufzurufen und ihnen auf diese Weise ewiges Leben zu verleihen.
Die Verwirklichung des Größeren Planes Gottes geschieht auf geheimnisvollen Wegen, die Er allein zu führen weiß; aber der Kleinere Plan, den Er uns als unsere Rolle in Seinem großen Programm für die Erlösung anvertraut hat, ist klar beschrieben. Dieser Arbeit müssen wir unsere ganze Energie widmen; denn es gibt sonst niemanden, der sie für uns tut.
So existenznotwendig ist diese Aufgabe der Bahá’í, daß Bahá’u’lláh schrieb: „O Freunde! Vernachlässigt die Fähigkeiten nicht, mit denen ihr ausgestattet seid, noch versäumt eure hohe Bestimmung! Laßt eure Bemühungen nicht an den Hirngespinsten scheitern, die gewisse Seelen gesponnen haben! Ihr seid die Sterne am Himmel des Begreifens, der frische Wind, der bei Tagesanbruch weht, die lautlos quellenden Wasser, von denen alles Leben der Menschen abhängt, und die Buchstaben auf Seiner heiligen Rolle. Bemüht euch in äußerster Eintracht und im Geiste treuester Kameradschaft, das zu vollbringen, was dieser Tag Gottes erfordert!“ (Ährenlese XCVI).
- ———————————————
- Wir bitten die Könige und Führer des Volkes, sich als Offenbarer der göttlichen Macht zu bemühen, daß die Uneinigkeit unter den Menschen verschwinde und die Welt mit dem Licht der Eintracht erleuchtet werde. Alle müssen sich an das halten, was von der Erhabenen Feder geoffenbart wurde, und müssen es verwirklichen. Der eine wahre Gott und alle Atome des Weltalls bezeugen, daß Wir in den Briefen und Tablets durch die Erhabene Feder nur offenbarten, was zur Erhöhung, Hebung, Erziehung, zum Schutz und Fortschritt der Menschheit führt. Wir bitten Gott, daß Er Seine Diener stärken möge.
- Bahá’u’lláh
- (Tablet Ishráqát)
- ———————————————
Weil die Liebe zu den Mitmenschen und der Schmerz über ihre traurige Lage zum Lebensinhalt jedes wahren Bahá’í gehören, drängt es uns fortgesetzt, zu tun, was wir können, um ihnen zu helfen. Es ist von überragender Bedeutung, daß wir uns so verhalten, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet; denn unsere Taten müssen dasselbe zum Ausdruck bringen, was unsere Worte besagen. Aber dieses Mitleid für unseren Nächsten darf uns nicht dazu verleiten, unsere Energien auf Kanäle zu verteilen, die letztlich in Fehlschlägen auslaufen und uns die wichtigste, grundlegende Arbeit vernachlässigen lassen. Es gibt Hunderttausende von Wohltätern der Menschheit, die ihr Leben ganz für Hilfswerke und caritative Zwecke einsetzen, aber es gibt viel zu wenige, die diejenige Arbeit tun, die Gott vor allem anderen getan haben will: die geistige Erweckung und Wiederbelebung der Menschheit.
Oft ist es ein fehlgeleitetes Empfinden, wir könnten unseren Mitmenschen durch irgendwelche Tätigkeiten außerhalb unserer Glaubensgemeinschaft besser helfen, das uns Bahá’í dazu verführt, der Politik nachzugehen. Dies ist eine gefährliche Selbsttäuschung, wie es Shoghi Effendi durch seinen Sekretär zum Ausdruck brachte: „Wir Bahá’í müssen uns mit der Tatsache abfinden, daß sich die Gesellschaft so rasch zersetzt, daß Moralbegriffe, die noch vor einem halben Jahrhundert klar dastanden, heute hoffnungslos verwirrt und, was noch schlimmer ist, mit widerstreitenden politischen Interessen innig vermengt sind. Deshalb müssen die Bahá’í ihre ganze Kraft in die Kanäle des Aufbaus der Bahá’í-Gemeinschaft und ihrer Verwaltungsordnung lenken. Auf keine andere Weise können sie die Welt gegenwärtig verändern oder ihr helfen. Wenn sie sich in die Streitfragen einmischen, in denen sich die Regierungen der Welt bekämpfen, werden sie verloren sein; aber wenn sie das Bahá’í-Modell aufbauen, können sie es als ein Heilmittel darreichen, wenn alles andere versagt haben wird (BN/USA Nr. 241, p. 14). „... Wir müssen unser Bahá’í-System aufbauen und den unvollkommenen Systemen dieser Welt ihren Lauf lassen. Wir können sie nicht ändern, indem wir uns hineinverwickeln; ganz im Gegenteil, sie würden uns vernichten“ (BN/USA Nr. 215, p. l)...
Der Schlüssel zum wahren Verständnis dieser Grundsätze scheint uns in den folgenden Worten Bahá’u’lláhs zu liegen: „O Volk Gottes! Beschäftige dich nicht mit deinen eigenen Angelegenheiten. Lenke deine Gedanken vielmehr auf das, was das Glück der Menschheit wiederherstellt und die Herzen und Seelen der Menschen heiligt. Das kann am besten durch reine und heilige Taten, durch ein Leben der Tugend und durch gutes Betragen vollbracht werden. Mutiges Handeln wird den Sieg dieser Sache sichern, und eine fromme Wesenshaltung wird ihre Kraft verstärken. Folge der Rechtlichkeit, o Volk Bahás! Dies ist das Gebot, das euch dieser Unterdrückte gegeben hat, und die erlesene Wahl Seines unumschränkten Willens für jeden von euch“ (Sendschreiben über die Welt, Ährenlese XLIII).
- Mit liebevollen Bahá’í-Grüßen
- DAS UNIVERSALE HAUS DER GERECHTIGKEIT
Zur Ehre Gottes[Bearbeiten]
Das Haus der Andacht in Langenhain: Symbol der Einheit
- Seit alters hat der Mensch Orte geschaffen, an denen er Gott anbetete und verehrte. Juden, Hindu, Buddhisten, Christen, Moslem versammelten und finden sich in Synagogen, Tempeln, Kathedralen, Moscheen und anderen Gebetshäusern zum Lobpreis ihres Schöpfers. In vielen Erdteilen sind die Bahá’í dabei, Häuser der Andacht zu bauen, die in einer Welt, in der es keine Trennung mehr geben darf, als Symbol der Einheit dienen sollen, als Symbol für eine geeinte, friedliche Welt, eine Stätte der Ausstrahlung göttlichen Lichtes. Die Bahá’í-Religion kennt keine Riten und formstarren Gottesdienste; es gibt in ihr keine Berufs-Geistlichen. Im Andachtsraum werden keine Predigten und keine Vorträge gehalten; ohne Auslegung wird das Wort Gottes nach heiligen Texten aller Offenbarungsreligionen gelesen. Das erste europäische Haus der Andacht haben die Bahá’í in Langenhain im Taunus errichtet. Jeden Sonntagnachmittag um 15 Uhr haben die Besucher Gelegenheit, hier an einer Andacht teilzunehmen. Um unseren Lesern ein Beispiel davon zu vermitteln, in welcher Form ein solcher Gottesdienst stattfindet, veröffentlichen wir nachstehend die vollständige Text-Ordnung einer der Andachten in Langenhain.
O Du Herr des Sichtbaren und des Unsichtbaren, Du Erleuchter der
ganzen Schöpfung! Ich flehe zu Dir, laß nach allen Richtungen hin die
Zeichen Deiner tausendfachen Segnungen und die Merkmale Deiner Güte
offenbar werden, damit ich mit hinreißender Begeisterung Deine
wundersamen Kräfte preise, o Du Barmherziger, durch Deine Namen alles
Erschaffene aufrüttele und das Feuer Deines Lobpreises mitten unter
Deinen Geschöpfen so hell anfache, daß die ganze Welt mit dem Glanze
Deiner heiligen Sache entflammt wird.
Verhülle nicht, o mein Herr, was in Deinem Namen ausgebreitet wurde, und lösche die Lampe nicht, die Dein eigenes Feuer entzündete. Halte das herabströmende Wasser nicht auf — das Wasser, welches das Leben selbst ist und in dessen Murmeln man die wundersamen Melodien hören kann, die Dich loben und verherrlichen. Verweigere Deinen Dienern auch nicht den süßen Duft des Hauches, der durch Deine Liebe ausgesandt wurde.
Du siehst die ruhelosen Wellen, o Du mein Allherrlicher, mein Geliebter, die meine Liebe und meine Sehnsucht nach Dir in meinem Herzen aufrühren. Ich flehe zu Dir bei den Zeichen Deiner Erhabenheit und den sichtbaren Beweisen Deiner höchsten Macht, bezwinge Deine Geschöpfe durch diesen Namen, den Du zum König aller Namen im Reiche Deiner Schöpfung gemacht hast. Mächtig bist Du zu herrschen, wie es Dir gefällt. Es gibt keinen Gott außer Dir, dem Allherrlichen, dem Allgütigen.
[Seite 811]
Und weiter verordne Du für jeden, der sich Dir zugewandt hat, was
ihn in Deiner heiligen Sache so sehr festigen wird, daß weder die
nutzlosen Vorstellungen der Treulosen unter Deinen Geschöpfen noch das
leere Geschwätz der Eigensinnigen unter Deinen Dienern ihn von Dir
auszuschließen vermögen. Du bist wahrlich der Helfer in der Not, der
Allmächtige, der Machtvollste.
- (Gebete und Meditationen, Bahá’u’lláh, Nr. 47)
Mit Recht erfreuet sich an Deinem Ruhme die Welt und ist Dir
ehrfurchtvoll ergeben; die Rakshas flieh’n entsetzt nach allen Seiten, die
Sel’gen Scharen all vor Dir sich neigen. Und warum sollten sie sich Dir
nicht beugen, dem ersten Schöpfer, würd’ger selbst als Brahman? Du
Götterherr, Endloser, Weltenwohnstatt, Du bist der Ew’ge, Höchste, Sein
und Nichtsein! Du bist der erste Gott, der alte Urgeist, Du bis der höchste
Schatz des ganzen Weltalls, Wisser und Wissenswürd’ges, höchste Stätte,
Du hast das All gespannt, Endlosgestalt’ger. Wind, Feuer, Yama, Varuna,
der Mond auch, Prajâpati bist Du, und erster Ahnherr; Verehrung Dir,
Verehrung tausendmale, und mehr noch, mehr, Verehrung Dir, Verehrung!
Verehrung Dir im Angesicht, im Rücken, von allen Seiten Ehre Dir,
Du Alles! Unendlich mannhaft, unermeßlich kraftvoll, vollendest Du
das All und bist Selbst Alles.
- (Bhagavad Gita, Elfter Gesang, Verse 36—40)
- *
Der Herr ist König und herrlich geschmückt; der Herr ist geschmückt und hat ein Reich angefangen, soweit die Welt ist, und zugerichtet, daß es bleiben soll.
Von Anbeginn steht Dein Stuhl fest; Du bist ewig.
Herr, die Wasserströme erheben sich, die Wasserströme erheben ihr Brausen, die Wasserströme heben empor die Wellen.
Die Wasserwogen im Meer sind groß und brausen mächtig; der Herr aber ist noch größer in der Höhe.
Dein Wort ist eine rechte Lehre. Heiligkeit ist die Zierde Deines Hauses, o Herr, ewiglich.
- (93. Psalm)
Singet dem Herrn ein neues Lied; singet dem Herrn, alle Welt! Singet
dem Herrn und lobet Seinen Namen; verkündet von Tag zu Tag Sein
Heil! Erzählet unter den Heiden Seine Ehre, unter allen Völkern Seine
Wunder! Denn der Herr ist groß und hoch zu loben, wunderbar über alle
Götter. Denn alle Götter der Völker sind Götzen; aber der Herr hat den
Himmel gemacht. Es stehet herrlich und prächtig vor Ihm und gehet gewaltig
und löblich zu in Seinem Heiligtum. Ihr Völker, bringet her dem
Herrn, bringet her dem Herrn Ehre und Macht! Bringet her dem Herrn
die Ehre Seines Namens; bringet Geschenke und kommt in Seine Vorhöfe!
[Seite 812]
Betet an den Herrn in heiligem Schmuck; es fürchte Ihn alle Welt!
Saget unter den Heiden, daß der Herr König sei und habe Sein Reich,
soweit die Welt ist, bereitet, daß es bleiben soll, und richtet die Völker
recht. Der Himmel freue sich, und die Erde sei fröhlich; das Meer brause
und was darinnen ist; das Feld sei fröhlich und alles, was darauf ist; und
lasset rühmen alle Bäume im Walde vor dem Herrn; denn er kommt,
denn er kommt, zu richten das Erdreich. Er wird den Erdboden richten
mit Gerechtigkeit und die Völker mit Seiner Wahrheit.
- (96. Psalm)
Singet dem Herrn ein neues Lied; denn er tut Wunder. Er siegt mit
seiner Rechten und mit seinem heiligen Arm.
Der Herr läßt Sein Heil verkündigen; vor den Völkern läßt er Seine Gerechtigkeit offenbaren.
Er gedenkt an seine Gnade und Wahrheit dem Hause Israel; aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes.
Jauchzet dem Herrn, alle Welt; singet, rühmet und lobet! Lobet den Herrn mit Harfen, mit Harfen und Psalmen!
Mit Drommeten und Posaunen jauchzet vor dem Herrn, dem König! Das Meer brause und was darinnen ist, der Erdboden und die darauf wohnen.
Die Wasserströme frohlocken, und alle Berge seien fröhlich vor dem Herrn; denn er kommt, das Erdreich zu richten. Er wird den Erdboden richten mit Gerechtigkeit und die Völker mit Recht.
- (98. Psalm)
- *
Darum sollt ihr also beten:
Unser Vater in dem Himmel! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel. Unser täglich Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
- (Matthäus 6, Verse 9—13)
- *
Im Namen Gottes, des Allbarmherzigen. Bei der Sonne und ihrem Strahlenglanz und bei dem Mond, welcher ihr folgt, und bei dem Tage, wenn er sie in ihrer Pracht zeigt, und bei der Nacht, die sie bedeckt, und bei dem Himmel und dem, welcher ihn baute, und bei der Erde und dem, welcher sie ausbreitete, bei der Seele und dem, welcher sie bildete und ihr die Neigung zur Schlechtigkeit und Frömmigkeit eingegeben hat, glückselig ist der, welcher sie läutert; elend aber der, welcher sie unter Sünden begräbt.
- (Qur’an, Sure 91, Verse 1—11)
- *
Die göttliche Frühlingszeit ist angebrochen, o erhabenste Feder, denn
das Fest des Allbarmherzigen naht mit Eile. Spute dich und verherrliche
vor der ganzen Schöpfung den Namen Gottes und preise Seinen Ruhm
[Seite 813]
- Blick in das Haus der Andacht in Langenhain während eines Gottesdienstes.
derart, daß alles Erschaffene wiederbelebt und erneuert werde. Sprich und zögere nicht. Die Sonne der Glückseligkeit leuchtet über dem Horizont Unseres Namens, der Selige, da das Reich des Namens Gottes mit der Zier der Namen Deines Herrn, Der die Himmel erschaffen hat, geschmückt ward. Erhebe dich vor den Völkern der Erde, wappne dich mit der Macht dieses Größten Namens und gehöre nicht zu den Zögernden.
Mich dünkt, du verharrst und zögerst, mit der Niederschrift Meines Tablets fortzufahren. Hat der Glanz des göttlichen Angesichts dich verwirrt oder das leere Gerede der Eigensinnigen dich mit Kummer erfüllt und deine Bewegung gehindert? Sei achtsam, damit dich nichts hindere, die Größe dieses Tages zu preisen, des Tages, an dem die Hand der Erhabenheit und Macht das Siegel des Weines der Vereinigung erbrochen und alle gerufen hat, die in den Himmeln und auf Erden sind. Willst du zögern, da der Windhauch, der Gottes Tag verkündet, schon über dich geweht hat, oder gehörst du zu denen, die wie durch einen Schleier von Ihm getrennt sind?
Keinem Schleier, o Herr aller Namen und Schöpfer der Himmel, habe
ich gestattet, mich von der Erkenntnis der Herrlichkeiten Deines Tages zu
trennen, des Tages, der die Lampe der Führung für die ganze Welt und
das Zeichen des Urewigen Tages für alle ist, die in ihm leben. Ich schweige
wegen der Schleier, die die Augen Deiner Geschöpfe gegen Dich blind
gemacht haben, und mein Schweigen entspringt den Hemmnissen, die Dein
[Seite 814]
Volk gehindert haben, Deine Wahrheit zu erkennen. Du weißt, was in mir
ist, ich jedoch weiß nicht, was in Dir ist. Du bist der Allwissende, der
Allunterrichtete. Bei Deinem Namen, der über allen anderen Namen steht!
Sollte Dein übermächtiger und allbezwingender Befehl mich jemals erreichen,
so wird er mir Macht verleihen, durch Dein erhabenstes Wort,
das ich durch Deine Zunge der Macht in Deinem Reich der Herrlichkeit
äußern hörte, die Seelen aller Menschen neu zu beleben. Er würde mich
befähigen, die Offenbarung Deines strahlenden Antlitzes zu verkünden,
wodurch das, was vor den Augen der Menschen verborgen war, in Deinem
Namen, der Klare, der höchste Beschirmer, der Selbstbestehende,
kundgemacht wurde. Kannst du, o Feder, an diesem Tage einen anderen
als Mich entdecken? Was ist aus den Namen und ihrem Reich geworden?
Wohin ist alles Erschaffene — Sichtbares und Unsichtbares — entschwunden?
Was ist mit den verborgenen Geheimnissen des Alls und seinen
Offenbarungen geschehen? Sieh, die ganze Schöpfung ist vergangen!
Nichts ist geblieben außer Meinem Antlitz, dem Bleibenden, dem
Strahlenden, dem Allherrlichen.
Dies ist der Tag, an dem nichts außer dem Glanz des Lichtes wahrgenommen werden kann, das vom Angesicht deines Herrn, des Gnädigen, des Gütigsten, ausgeht. Wahrlich, Wir haben kraft Unserer unwiderstehlichen und allunterwerfenden Herrschaft jede Seele vergehen lassen und danach, als Zeichen Unserer Gnade für die Menschen, eine neue Schöpfung ins Leben gerufen. Ich bin fürwahr der Allgütige, der Tag der Tage.
Dies ist der Tag, an dem die Welt des Unsichtbaren ausruft: „Groß ist deine Seligkeit, o Erde, denn du wurdest zum Schemel deines Gottes gemacht und zum Sitz Seines mächtigen Thrones auserkoren.“ Das Reich der Herrlichkeit verkündet: „Könnte doch mein Leben ein Opfer für dich sein, denn Er, der Geliebte des Allerbarmers, hat auf dir durch die Macht Seines Namens Seine Herrschaft errichtet, die allem Vergangenen und Künftigen verheißen ist. Dies ist der Tag, da jeder süße Duft seine Gabe aus dem Wohlgeruch Meines Kleides zieht, eines Kleides, das seinen Duft über die ganze Schöpfung verströmt. Dies ist der Tag, da sich die rauschenden Wasser ewigen Lebens aus dem Willen des Allbarmherzigen ergossen haben. Eilt, um euch mit Herz und Seele daraus satt zu trinken, o Scharen der Höhe!
Sprich: Er ist die Offenbarung des Unerkennbaren, des Unsichtbarsten alles Unsichtbaren, vermöchtet ihr doch zu begreifen! Er ist es, Der den verborgenen und verwahrten Edelstein offen vor euch hinlegt, wolltet ihr ihn doch suchen! Er ist der Geliebte von allem, was vergangen und künftig ist, wolltet ihr doch Herz und Hoffnung auf Ihn richten!
- (Bahá’u’lláh, Ährenlese XIV)
O Freunde! Es geziemt euch, eure Seelen zu erfrischen und zu beleben
durch die gnädigen Gunstbeweise, die in dieser göttlichen und herzbewegenden
Frühlingszeit über euch ausgegossen werden. Die Sonne Seiner
hohen Herrlichkeit hat ihren Glanz über euch ergossen, und die Wolken
Seiner grenzenlosen Gnade haben euch überschattet. Wie groß ist der
Lohn dessen, der sich nicht einer so großen Wohltat beraubt noch
[Seite 815]
versäumt hat, die Schönheit seines Meistgeliebten in diesem, Seinem neuen
Gewande, zu erkennen. Wacht über euch, denn der Böse liegt auf der
Lauer, bereit, euch zu überlisten. Rüstet euch gegen seine verruchten
Anschläge und, geführt vom Lichte des Namens des allsehenden Gottes,
entflieht der Dunkelheit, die euch umgibt. Laßt euren Blick weltumfassend
sein, anstatt ihn auf euer Selbst zu beschränken. Der Böse ist es,
der den Aufstieg hemmt und den geistigen Fortschritt der Menschenkinder aufhält.
- (Bahá’u’lláh, Ährenlese XLIII)
O Meine Diener! Erfrischt und belebt eure Seelen mit den huldvollen
Gnadengaben, mit denen euch diese göttliche, herzerquickende Frühlingszeit
überschüttet. Die Sonne Seiner erhabenen Herrlichkeit leuchtet über
euch, und die Wolken Seiner grenzenlosen Huld spenden euch Schatten.
Wie groß ist der Lohn für den, der diese hohe Gnade nicht verscherzt,
sondern die Schönheit seines Innigstgeliebten auch in Seinem neuen
Gewande erkannt hat!
Sprich: O Volk! Die Lampe Gottes brennt. Hüte dich, ihr Licht mit den grimmigen Winden des Ungehorsams zu verlöschen! Jetzt ist es Zeit, dich aufzumachen und deinen Gott zu verherrlichen. Strebe nicht nach leiblichem Behagen und bewahre dein Herz rein und fleckenlos! Der Böse lauert, dich zu überlisten. Rüste dich gegen seine tückischen Anschläge und befreie dich, vom leuchtenden Namen des einen, wahren Gottes geleitet, aus der Dunkelheit, die dich umfängt! Richte deine Gedanken auf den Vielgeliebten und nicht auf dich!
Sprich: O ihr, die ihr euch verirrt und den Weg verloren habt! Der göttliche Bote, Der nur die Wahrheit spricht, hat euch das Kommen des Innigstgeliebten angekündigt. Seht, Er ist nun da! Warum seid ihr niedergeschlagen und mutlos? Warum seid ihr verzagt, wenn der Reine und Verborgene enthüllt in eurer Mitte erschienen ist? Er, der Anfang und das Ende, die Ruhe und Bewegung, ist jetzt euren Augen sichtbar. Seht, wie sich heute der Beginn im Ende widerspiegelt, wie Bewegung aus Ruhe entstanden ist! Diese Bewegung ist den starken Kräften entsprungen, welche die Worte des Allmächtigen in der ganzen Schöpfung ausgelöst haben. Wen ihre belebende Kraft erweckt hat, wird den Drang verspüren, zum Hofe des Geliebten zu kommen, und wer sie verscherzt hat, wird in hoffnungsloser Verzweiflung versinken. Wahrhaft weise ist, wen die Welt und alles, was in ihr ist, nicht gehindert hat, dieses Tageslicht zu erkennen, und wer sich durch das Geschwätz der Menschen nicht vom Wege der Rechtschaffenheit abbringen läßt. Wer aber im wundervollen Morgenglanz dieser Offenbarung nicht von ihrem herzerquickenden Odem belebt wurde, gleicht in der Tat einem Toten. Ein Gefangener ist der, der den höchsten Befreier nicht erkannt, sondern seine elende, hilflose Seele in die Fesseln der Begierden hat schlagen lassen,
O Meine Diener! Wer von diesem Quell gekostet hat, hat das ewige
Leben erlangt, und wer daraus nicht trinken wollte, gleicht einem Toten.
Sprich: O ihr Missetäter! Die Begierde hat euch daran gehindert, der
süßen Stimme des Allgenügenden zu lauschen. Reinigt eure Herzen, damit
[Seite 816]
euch Sein göttliches Geheimnis bekannt werde! Betrachtet Ihn, wie Er
sichtbar und strahlend wie die Sonne in ihrer ganzen Pracht leuchtet!
- (Bahá’u’lláh, Ährenlese LXXXV)
- *
Gib mir aus dem duftenden Strom Deiner Ewigkeit zu trinken, o mein Gott, und lasse mich von den Früchten des Baumes Deines Wesens kosten, o meine Hoffnung! Gestatte mir, tief aus den kristallklaren Quellen Deiner Liebe zu schlürfen, o meine Herrlichkeit, und lasse mich im Schatten Deiner ewigen Vorsehung wohnen, o mein Licht! Befähige mich, die Auen Deiner Nähe in Deiner Gegenwart zu durchstreifen, o mein Geliebter, und setze mich zur Rechten des Thrones Deines Erbarmens, o meine Sehnsucht! Lasse einen Hauch von den duftenden Winden Deiner Freude über mich wehen, o mein Ziel, und gewähre mir Zutritt zu den Höhen des Paradieses Deiner Wirklichkeit, o mein Angebeteter! Lasse mich den Melodien der Taube Deiner Einheit lauschen, o Strahlender, und belebe mich durch den Geist Deiner Kraft und Macht, o mein Versorger! Mache mich standhaft im Geiste Deiner Liebe, o mein Helfer, und meine Schritte fest auf dem Pfade Deines Wohlgefallens, o mein Schöpfer! Lasse mich im Garten Deiner Unsterblichkeit immerdar vor Deinem Angesicht bleiben, o Du, der Du barmherzig zu mir bist, und lasse mich stehen am Throne Deiner Herrlichkeit, o Du, der Du mein Besitzer bist! Erhebe mich in den Himmel Deiner Güte, o mein Beleber, und geleite mich zur Sonne Deiner Führung, o Du, der Du mich anziehst! Lasse mich bei den Offenbarungen Deines unsichtbaren Geistes zugegen sein, Du, der Du mein Ursprung und meine höchste Sehnsucht bist, und lasse mich zurückkehren zum innersten Wesen des Duftes Deiner Schönheit, die Du enthüllen willst, o Du, der Du mein Gott bist!
Du hast die Macht, zu tun, was Dir beliebt. Du bist wahrlich der Erhabenste, der Allherrliche, der Allhöchste.
- (Gebet von Bahá’u’lláh)
Von Alaska bis Feuerland...[Bearbeiten]
Weitere Berichte von den interkontinentalen Konferenzen
Mit dem Beginn der Proklamationszeit im vergangenen Herbst ist die
internationale Bahá’í-Tätigkeit in eine neue Phase eingetreten. Wie wir
schon in Heft Nummer 31 der „Bahá’í-Briefe“ (Januar 1968) berichteten,
standen am Beginn dieser Proklamationsperiode sechs interkontinentale
Konferenzen, die im Oktober 1967 in Neu Delhi, Kampala, Frankfurt,
Chicago, Panama City und Sydney stattgefunden hatten. Über die Konferenzen
auf dem indischen Subkontinent, im Herzen von Afrika und in Europa
haben wir unsere Leser gleichfalls in der letzten Ausgabe der „Bahá’í-Briefe“
informiert. Auf den nächsten Seiten geben wir einen kurzen Überblick über die
anderen drei Konferenzen.
- (Fortsetzung Seite 818)
- Der eigenwillige Entwurf des Hauses der Andacht von Panama.
- Inmitten von Indianern, Mittel- und Südamerikanern: die Vertreter des Bahá’í-Weltzentrums bei der Konferenz in Panama, Rúhiyyih Khanum und Jalàl Khazeh (Mitte vorn).
[Seite 818]
Im Mittelpunkt der Konferenz von Panama City stand die Grundsteinlegung
für das erste Haus der Andacht in Mittel- und Südamerika. Dieser
feierliche Akt wurde ausgeführt von ‘Amatu’l-Bahá Rúhiyyih Khanum,
der Witwe des Hüters des Bahá’í-Glaubens, Shoghi Effendi. Als Vertreterin
des Weltzentrums der Bahá’í in Haifa/Israel betonte sie unter anderem,
der Hüter habe früher selbst erklärt, Panama werde das erste Land
Mittelamerikas sein, in dem ein Haus der Andacht errichtet wird. Dieser
Tempel, so sagte Rúhiyyih Khanum, stehe allen Menschen offen, nicht
nur den Bahá’í. Der eigenwillige Entwurf stammt von dem englischen
Architekten Peter Tillotson, der selbst kein Bahá’í ist. Schon zu Beginn
der Konferenz hatte Rúhiyyih Khanum die rund 660 Anwesenden, unter
ihnen etwa 240 Indianer der verschiedensten Stämme, in einer kurzen
Ansprache auf die Bedeutung dieser ersten interkontinentalen Konferenz
in Lateinamerika aufmerksam gemacht. Sie erwähnte ‘Abdu’l-Bahás
Worte, der gesagt hatte, von den eingeborenen Völkern Nord-, Mittel- und
Südamerikas werde, sobald sie die Offenbarung Bahá’u’lláhs angenommen
hätten, eine ähnliche Kraft ausgehen wie von den arabischen
Stämmen, nachdem diese die Offenbarung Muhammads akzeptiert
gehabt hatten. Während der Konferenz, an der die Vertreter von
23 Nationalen Geistigen Räten teilnahmen, wurden die Aufgaben
der kommenden
- Hier ein Bild aus Indien: Übergabe des Proklamationsbuches durch eine Bahá’í-Delegation an den indischen Präsidenten, Dr. Zakir Hussain (Mitte).
- Bereit, den Glauben in die Welt hinaus zu tragen: ein Teil der „Pioniere“, die sich im Verlauf der Konferenz in Chicago/Wilmette gemeldet haben.
Jahre besprochen und entsprechende Beschlüsse gefaßt. Erfreulich ist,
daß für den Bau des Hauses der Andacht über 80 000 Dollar gespendet
worden sind. Die lokale Presse würdigte die Konferenz in zahlreichen
Berichten. Auch das Fernsehen und der Rundfunk berichteten über das
Ereignis.
An der Konferenz in Chicago/Wilmette, USA, nahmen etwa 3000 Bahá’í teil. Das Schwergewicht wurde — selbstverständlich — ebenfalls auf die Bedeutung der weltweiten Lehrarbeit gelegt. Glenford Mitchell,
- Vor dem Haus der Andacht in Sydney versammeln sich hier die Teilnehmer der interkontinentalen Konferenz.
- (Fotos entnommen aus „Bahá’í-News“, USA)
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Vorsitzender des US-Lehrkomitees, betonte unter anderem, es sei heute die
Aufgabe der gesamten Bahá’í-Weltgemeinde, die Botschaft von
Bahá’u’lláh „in die hintersten Winkel der Erde“ zu tragen. Der Sekretär
des Nationalen Geistigen Rates der USA, Dr. David Ruhe, zählte die
unmittelbar bevorstehenden Ziele auf: die Übergabe des Buches „Die
Verkündigung Bahá’u’lláhs an die Könige und Herrscher der Welt“ an
Präsident Johnson (ist inzwischen geschehen), den Versand einer Broschüre
an 10 000 Führungskräfte in den Vereinigten Staaten, Mitwirkung an dem
von den Vereinten Nationen 1968 proklamierten „Jahr der Menschenrechte“.
Der Vertreter des Nationalen Geistigen Rates von Kanada teilte
mit, man werde 10000 Geistlichen Informationsmaterial über den
Glauben zusenden; 34 religiöse Organisationen bekämen die
Proklamationsschrift. Ähnliche Schritte werden auch in Alaska unternommen.
Eine Reihe wertvoller Vorträge und Darlegungen, ein sehr gut besuchter
öffentlicher Vortrag in Chicago und nicht zuletzt die Tatsache, daß 216
Gläubige sich bereit fanden, das Wort Bahá’u’lláhs hinaus zu tragen in die
Gebiete, für die die Nationalen Geistigen Räte der USA und Canadas
verantwortlich sind, ließ diese Konferenz zu einem unvergeßlichen
Erlebnis werden.
- *
Zu Beginn der Konferenz in Sydney gab der Oberbürgermeister dieser Stadt einen Empfang, über den Presse und Fernsehen berichteten. Die Teilnehmer waren aus Australien und dem gesamten pazifischen Raum nach Sydney gekommen. Im Verlaufe der Diskussionen wurde klar, daß die Lehrarbeit in diesem Teil der Erde durch die großen Entfernungen und die verhältnismäßig geringe Zahl von Bahá’í-Lehrern besonders erschwert wird. An der Andacht im Tempel von Sydney nahmen über 400 Menschen teil. Kernpunkt aller Beratungen war auch bei dieser Konferenz die Verbreitung der Bahá’í-Lehre.
- DS
Bahá’í in der Westminster-Abtei
Am Vorabend des „Tages der Menschenrechte“, am 9. Dezember vergangenen Jahres, fand in der Londoner Westminster-Abtei ein Gottesdienst statt, an dem Vertreter verschiedener Religionen als Sprecher teilnahmen. An dieser historischen Stätte sind dabei erstmals auch Worte von Bahá’u’lláh gehört worden. Es war ein feierlicher Augenblick, als der Dekan von Westminster den Vertreter der Bahá’í aufforderte, aus den Schriften des Begründers der Bahá’í-Religion zu lesen. „O ihr erwählten Volksvertreter aller Länder! Beratet miteinander und laßt euch nur das angelegen sein, was der Menschheit nützt...“, war einer der Sätze. Und: „O ihr einander bekämpfenden Völker und Geschlechter der Erde! Wendet euer Angesicht der Einheit zu und laßt den Glanz ihres Lichtes auf euch scheinen. Versammelt euch und beschließt um der Sache Gottes willen, all das auszurotten, was die Quelle des Streites unter euch ist. Alsdann wird der Glanz der erhabenen Leuchte die ganze Erde umhüllen....“ Vor rund 100 Jahren hat Bahá’u’lláh an Königin Viktoria, die in der Westminster-Abtei gekrönt worden ist, ein Sendschreiben gesandt.
Im Auftrag des Universalen Hauses der Gerechtigkeit ...
Wie wir in der letzten Ausgabe der „Bahá’í-Briefe“ ausführlich berichtet haben, haben im Herbst vergangenen Jahres sechs interkontinentale große Bahá’í-Konferenzen stattgefunden. Sie leiteten eine Zeit verstärkter Bemühungen ein, die durch Bahá’u’lláh neu auf die Erde gekommene göttliche Botschaft unter den Menschen zu verkünden. An jeder dieser Konferenzen nahm als Vertreter des Universalen Hauses der Gerechtigkeit in Haifa eine „Hand der Sache Gottes“ teil. Die sechs Repräsentanten aus dem Weltzentrum der Bahá’í stellen wir hier im Bild vor. Es sind (von links): ‘Ali Akbar Furutan, Abu’l-Qásim Faizi, Ugo Giachery, Amatu’l-Bahá Rúhiyyih Khánum, Paul E. Haney and Tarazu’lláh Samandari. Die Aufnahme entstand in Bahji, dem Ort, an dem Bahá’u’lláh Seine letzten Jahre verbracht hatte, ehe Er 1892 verschied. Im Anschluß an die erwähnten Konferenzen unternahmen die „Hände der Sache Gottes“ ausgedehnte Lehrreisen nach fast allen Teilen der Welt. Amatu’l-Bahá Rúhiyyih Khánum legte in Panama City den Grundstein für das dort entstehende „Haus der Andacht“.
Armaggedon - oder die Herrlichkeit Gottes[Bearbeiten]
Auf dem Weg zur Harmonie der Einheit / von Karl Schück
Es bedarf weniger eines lang-suchenden Blickes als des geistigen Mutes,
Geschautes in der rechten Perspektive zu sehen, um sich zu überzeugen,
daß die Entwicklung unserer heutigen Welt unaufhaltsam einer großen
Alternative entgegenrückt, von deren Ausgang die Zukunft der Menschheit
in unausdenkbare Zeiten hinaus abhängt. Vor Jahrhunderten hat der große
Augustinus in seinem Werk über die „göttliche Zivilisation“
den um uns her und im Menschen wirkenden Dualismus aufgezeigt, als er
von den beiden Städten sprach, die sich unvereinbar, grundverschiedenen
Wesens gegeneinanderstehen: Babylon und Jerusalem. Die
eine die Stadt der nehmenden, selbstsüchtigen Liebe, die andere die der
demütigen, schenkenden Liebe; da die Gottesleugnung, hier die
Gottesverehrung. Dann aber sprach er auch von einer dritten Stadt, die da
entstünde, wo man den Geist der einen Stadt in die andere hineintrüge. Und
in dieser dritten Stadt, so schloß er, lebten die Menschen so dahin. Irgendwie
glaubten sie wohl an Gott, ohne jedoch die Verpflichtung zu fühlen,
in diesem Glaubenssinn auch zu leben; man gebrauchte hochklingende
Worte von Tugend, Ehre und Würde, aber man fühlte sich nicht getrieben,
auch zu sein, auch ganz mit Taten auszufüllen, was man so überlaut
verkünde und als moralisches, allgemein gültiges Gesetz hinstelle. Diese
dritte Stadt — was ist sie anderes als die Stätte des Kompromisses, des
trägen Dahinlebens, der leeren Geste, des korrumpierten Geistes, der
zum Sklaven menschlicher Macht- und Vorteilssucht mißbraucht worden ist!
In dieser dritten Stadt hat die Menschheit mit ihrer Selbstzufriedenheit,
ihren Eitelkeiten, Ängsten und Sorgen dahingelebt, bis außerordentliche
Geschehnisse die Schleier des Selbstbetrugs zerrissen. Mit Donnerschlägen
kündete sich ein neues Zeitalter an. Schärfer denn je
hoben sich die Konturen der beiden Städte am Horizonte ab. Immer lauter
ließ sich die Forderung hören, sich ganz für die eine oder die andere
Stadt zu entscheiden. Noch zog man es vor, die Alternative nicht zu sehen,
nicht zu hören und sich in Kompromisse zu hüllen, die schwachen Schutz
gegen den heranbrausenden Sturm der Forderung Gottes, sich zu bekennen,
boten. Wir sind es gewohnt, die Dinge um uns her auf bequeme,
unverpflichtende Weise als politische Ereignisse oder soziologische
Erscheinungen zu deuten; wir denken nicht daran, daß sie vielleicht von
Kräften herbeigeführt sein könnten, die außerhalb des menschlichen Willens
liegen und der Vollstreckung eines Gesetzes dienen, das nicht von
Menschengeist geformt worden ist. Ein tieferer Zwang, den wir als
innere Geschichte bezeichnen wollen, hat seit über hundert
Jahren nach Vollendung einer gewissen Entwicklungsphase die ganze
Menschheit aufgerüttelt und schließlich die Realität der augustinischen
zwei Städte in unsere unmittelbare Nähe gerückt — so eindringlich,
[Seite 823]
fordernd, unausweichlich, daß wir die Zeit jener dritten Stadt der
Kompromisse ein für allemal als beendet ansehen müssen.
Wer die Schriften des jungen Karl Marx durchblättert, wird zu seinem Erstaunen hier und da auf Stellen stoßen, in denen in romantisch-schwärmerischer, dann wieder seherischer Weise vom Kommen eines neuen Menschen und einer neuen, nach geistigen Prinzipien handelnden Gesellschaft gesprochen wird. Zu jener Zeit saß Marx zu Füßen des Philosophen Friedrich Hegel, der als einer der ersten die Weitschau besaß, die Historie nicht mehr als einen bloßen Ablauf von Geschehnissen, als eine Chronik zu bezeichnen, in der der Mensch keine Möglichkeit besaß, eine höhere Geschichte anzustreben. Er war den Hierarchien von Fürstenhäusern und Kirchen botmäßig; er hatte deren Willen auszuführen; sein Leben war nicht sonderlich sinnvoll, sein Schicksal war, was ihm nach Gehorsamsleistungen blieb. Hegel sprach von einer Sinnhaftigkeit, einer Zielstrebigkeit der Geschichte, von einer geistigen Ursache, einer geistigen Perspektive, zu der sich alles hinbewege. Das war zu einer Zeit, als sich freiheitsliebende Menschen auf die Barrikaden stellten, um die tyrannischen Methoden eines degenerierten Zeitalters niederzukämpfen; als sich in Rußland die Leibeigenen aufzulehnen begannen; als in den Südstaaten der Neuen Welt — Amerika — die ersten Zeichen der Negersklavenbefreiung wahrzunehmen waren; als die Wissenschaft mit beispiellosem Mut ins Innere der Natur drang, um ihr Kräfte und Geheimnisse zu entreißen, als das Gefühl eines beispiellosen Umbruchs die Gemüter erfüllte. Es war eben die Zeit, als der geistige Kosmos von dem mit menschlichen Organen nicht faßbaren Ereignis einer Gottesoffenbarung erschüttert wurde und eine durch die heilige Gestalt des Báb getragene Revolution aus dem Willen Gottes den Auftakt zu einer neuen Menschheitsära schlug. Was sich im fernen Persien vollzog, was von da mit dem Feuerglanz einer in die Erde stürzenden Sonne durch die Lüfte zwischen Himmel und Erde zog und die in den Niederungen hinvegetierende Menschheit, die keinen Namen für dies Geheimnis fand, aus dem Morast der Kompromisse riß — das war es, was in Karl Marx ein merkwürdiges Ahnen weckte.
Was sollte der Mensch nun unter Geschichte verstehen? Welchen
Sinn konnte er darin sehen oder erfüllen, solange er nicht die
Freiheit der Selbstbestimmung besaß, solange es ihm verwehrt wurde, über die
Grenzen hinauszudenken, die ihm die kirchlichen Ordnungen gesetzt hatten?
Wohin sollte denn alles führen? Wenn seit bald zweitausend Jahren keine
durchgreifenden Änderungen erfolgt waren, die eine soziale Gerechtigkeit
näherbrachten und die feudalistischen, nationalistischen Kriege, denen
er sein Leben zu opfern hatte, ein für allemal beendeten; solange die
Beziehungen der Menschen untereinander nicht durch einen universalen
guten Willen auf brüderliche Weise umgestimmt waren — was für
Veränderungen wären dann zu erwarten, wohin sollte die
Geschichte führen, wenn nicht zu einem abstumpfenden Kreislauf
der Unabänderlichkeit? Wer mochte sich vor ihr aus Apathie und
Stumpfheit erheben? Wer wäre noch bereit und gestimmt, sich für
die aus dem Feuerwerk der Versprechungen fallenden Fünkchen zu
erwärmen, die hier und
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da als reformträchtige Ideen angepriesen wurden? Von den Großen der
Zeit hörte man solche Worte wie: Gott sei tot, Gott und seine Himmel
seien Kindermärchen aus fernen Zeiten, für die in diesem neuen Zeitalter
donnernder Maschinen und überfüllter Städte kein Platz mehr sei.
Man besaß ja den Schlüssel, der Natur ihre Geheimnisse zu entlocken.
Wer mochte da noch frommen Schauder vor ihren Mysterien empfinden,
wenn sie sich als praktisch nutzbare Energien demaskierten? Das neue,
das utilitaristische Zeitalter war gekommen. Mit der französischen
Revolution, ja zuvor noch, mit der Aufklärung hatte es eingesetzt. Das
war es: Gott existierte noch bestenfalls im Kirchendämmer. Man hatte das
Menschheitsevangelium von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einem
Manne zur Verbreitung anvertraut, der unter dem Namen Napoleon das
Vertrauen nutzte, um Kriege umherzutragen. Und doch! Das Wort
Menschheit war gefallen. Aus den Bereichen frommer Träume
war es emporgestiegen in die Welt des Bewußtseins. Ob es doch noch
einen Weg gab, dauerhaften Frieden unter allen Völkern zu begründen?
„Seid umschlungen, Millionen!“ intonierte Beethoven nach Schillers
Versen in seiner neunten Symphonie, Goethes Faust erblickte vor der
Erblindung im Tale eine von gemeinsamer Bestimmung gebundene Menschheit,
zwischen die sich keine willkürlichen Grenzen drängten. Im unabhängig
gewordenen Amerika proklamierte Thomas Jefferson eine Verfassung,
die mit ihren Grundthesen des Rechts auf Freiheit und Glück
als Vorläufer einer Menschheitsverfassung gelten durfte. Mit genialem
Blick nahm er auf, was vor ihm die Pilgerväter auf diesem neuen,
jungfräulichen Boden zu verwirklichen gedachten, einen Traum, den sie aus
der vorurteilsvollen Enge Europas herübergerettet hatten wie ein heiliges
Credo: die Errichtung eines Gottesstaates, der einmal über ihre engen
Bezirke hinaus die ganze Erde und alle Menschen vor dem einen Gott
umschließen sollte.
Eine seltsame Kraft
Der Geist war auf geheimnisvolle Weise aufgerufen. Und doch mißtraute
man ihm. Die seit Jahrhunderten angesammelte Erfahrung
des Mißbrauchs, der Entwürdigung und Willkür ließ keinen Glauben
aufkommen, daß der menschliche Geist, von Gottes Willen entzündet und
geführt, die totale Veränderung zu vollbringen vermöchte, Wie sollte
man diese Menschheit zusammenbringen? Wer wäre bereit, Dunkelhäutige,
Fremdgesichtige als Gleichberechtigte anzuerkennen, mit gleichen Ansprüchen
auf Mitbesitz — denn solche Rechte waren, so wußte man, doch nur den
weißhäutigen Menschen zugesprochen worden. Und dann geschah es, daß
das erste Dampfschiff auf den Wassern glitt, und daß die
erste Eisenbahn, ein dampfendes, ratterndes Ungeheuer, über die Erde
klapperte. Auf einmal zogen sich die Entfernungen zusammen, Der
Fremde jenseits der fernen Grenzen drang heran, man kam zu ihm. Man
mußte sehen, daß er weder des Teufels noch ein elendes Mißgeschöpf war.
Auf einmal konnte man Meere überqueren, Berge überwinden, Wüsten
durchfahren. Was in all den langen Zeitläuften die Fremdheit zwischen
den Völkern aufgerichtet und bewahrt, was Vorurteile vielerlei Art aus
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Unkenntnis oder Nichtkennenwollen gebildet hatte — jetzt, da die Grenzen
schrumpften, mußte man das allgemeine Menschheitsbild revidieren.
Mit unfaßbarer Geschwindigkeit vollzog sich die äußere, die geographische Annäherung. Auch Chinesen waren Menschen, auch Neger besaßen Kulturen, auch Inder knieten nieder in der Anbetung eines Gottes. Wo aber war die moralische Annäherung, die Freundschaft? Eine seltsame Kraft bewegte Ost und West zur Einswerdung hin. Wessen war sie? Des erfinderischen Menschen? Man erfuhr vom Wunder des Telegraphen. Wie seltsam! dachte man. Statt eine nüchterne Nachricht zu übermitteln, tickte er das wunderliche „Was hat Gott vollbracht!“ als erste Botschaft über den Ozean. Wie denn? Gott, ein Geistwesen — wenn es das noch gab — das in fernen Himmeln wohnte, habe Funken entzündet, die in bestimmten Rhythmen von Stadt zu Stadt, von Land zu Land springen und Botschaften mit blitzartiger Geschwindigkeit tragen konnten! Wie, es könnte das Werk eines Gottes sein, daß die Völker zueinanderrückten? Was bezweckte Er damit? Hatten Ihn denn die Menschen in ihren Nöten und Verzweiflungen und in ihrem Alleinsein bekümmert? Hatte Er sie nicht auf die Erde geworfen, sich selbst überlassen, während Er in seinen azuren Undurchsichtigkeiten blieb? Nein, riefen die Pietisten aus. Das ist kein Werk Gottes. Gott hat nichts mit Mechanik zu tun, die jener Frömmigkeit enträt. Das ist des Teufels Werk, Armaggedon. Der Untergang rückt heran. Der Teufel hat das menschliche Hirn inspiriert, Maschinen zu bauen und die Technik zu vergotten. Er ist es, der diesen verweichlichenden Komfort schenkt, dieses seelenlose Dasein mit leeren Freuden — denn er hat ihnen dafür die Seele genommen, das Herz abgeschnürt, nur eine Hülse gelassen, die sich menschenhaft bewegt und kein inneres Leben mehr trägt. Armaggedon! Die Eisensaat ist aufgegangen. Babylon ist aus der Tiefe emporgestiegen und hält seine Tore offen, durch welche die Menschen in dunklen Wellen hineinströmen. Das Jerusalem der Gottesfurcht ist zerfallen. Schaut sie doch an, diese gnadenlosen Städte, diese vom Ruß der Fabriken geschwärzten Himmel, diese geschändete Natur. Das Heilige liegt zertreten am Boden. Wie könnte Gott in solchem Werk zu finden sein?!
Das unüberbrückbare Schisma
Dichter und dichter rückte man zusammen. Aber es gab kein brüderliches
Umfangen. Was war schon der Nächste? Behinderte er nicht auf
dem Weg zum Erfolg, bei der Erreichung großer Ziele? Hatte sich etwas
an der schrecklichen Überzeugung geändert, daß der Mensch von Natur
ein schlechtes Geschöpf sei? Das sollte sich ändern? Ach, daß man doch
in dieser Gespaltenheit zwei Evangelien mit sich schleppen
mußte, zwischen denen kein Kompromiß zu finden war! Hier das Evangelium
Christi, das der Selbstlosigkeit und Bruderliebe und des Erbarmens — dort
die brutale Überzeugung, daß nur der Starke Recht habe, und daß der
Schwache oder gar der Demütige den Untergang verdiene. Aus solcher
Doppelmoral, solcher Doppelsichtigkeit sollte ein neuer Mensch
entstehen, eine neue moralische Gesellschaft erwachsen? Paläste des
Reichtums entstanden. In lichtlos engen Elendsvierteln drängten sich die von
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Gott und Natur entfremdeten Benachteiligten zusammen. Wenn einer
dieses unüberbrückbare Schisma erkannte, die Unvereinbarkeit der
Gegensätze, und sie in den Mittelpunkt seiner umwälzenden Philosophie
rückte, war es jener einstmals menschheitsgläubige Karl Marx. Die
Kirchen widersetzten sich jedem sozialen Fortschritt. Also hinweg mit ihnen,
Religion ist Opium fürs Volk. Und doch: Das Volk muß sich einen. Das war
es, was er empfand. In der Luft vibrierte eine geheimnisvolle, über alle
Länder sich breitende Messiaserwartung. Marxens überscharfer Intellekt
verspürte das Ungewöhnliche. Die unsägliche Gottesausstrahlung — im
fernen Persien vom Báb verkörpert, ins Menschliche übersetzt und jubelnd
verkündet — durchflutete den geistigen Kosmos, durchdrang
alles Geschöpfliche, hämmerte an die Verkrustung der Seelen. Marx in
seinem Grimm, in seiner zornigen Bitterkeit empfing zwar mit feinen
Antennen die Vibration des göttlichen Wortes, aber er wollte keinen
Gott in seine eigene Ordnung aufnehmen. „Proletarier der ganzen Welt,
vereinigt euch!“ verkündete 1848 sein kommunistisches Manifest, Die
Einheitsidee wurde wie zum Hohne Gottes pervertiert. Die Proletarier
hatten Front zu bilden gegen die Ausbeuter. Eine Pseudoreligion war
geschaffen, Wo ein Mensch gegen einen anderen gestellt wird, ist kein
Raum für Liebe. Die proletarische Religion wurde auf den Weg gesetzt,
und während seit Menschengedenken die Gottesreligionen gleichsam dem
Gang der Sonne folgend wie in einer mystischen Ordnung von Osten nach
Westen gedrungen waren, ging diese Pseudoreligion von Westen nach
dem Osten hin.
Religion! Armaggedon war auf dem Plan. Die menschlichen Sinne waren Gefangene der Begierden, und unersättliche Wünsche versklavten die Geschöpfe der Zivilisation, Man hatte gelernt, sich mit Besitz zu identifizieren. Wer wollte noch wahrhaben, was der mystische Dichter Angelus Silesius in seinem Cherubinischen Wandersmann gesungen hatte: „Das, was man liebt, in das wandelt man sich hinein“? Daß die Seele in diesem herangerafften Zuviel erstickte, ihre Träume irre Wege liefen, die Leidenschaft des Herzens vom Unkraut hochmütigen Mehr-Scheinen-Wollens umwuchert wurde, daß schreckliche Krankheiten sich tief in den Menschen einfraßen, die schließlich ein Siegmund Freud als Siechtum der Seele zu deuten verstand — wer mochte daran denken? An Gott glauben, der keine Wunder verrichtete, die Armen nicht speiste, die Vereinsamten nicht tröstete? Was für eine Religion? Einen Glauben, der zugleich höchstes, unverrückbares Wissen war, in die Wüste pflanzen, in der noch kaum ein Lächeln gedieh? Wer wollte diesen Glauben, wer unter den Stolzen und Mächtigen, die da wähnten, alles selbst schaffen, über alles selbst gebieten zu können und für ihren Fortschritt und ihr Glück keines Gottes zu bedürfen? Die Armen? Die Untertanen? Die Namenlosen? Sie sollten glauben? Wo? In den Kirchen, in denen gerade noch der Hauch frommer Hingabe war? Wer wollte noch an Christus glauben, den man jeden Tag ans Kreuz schlug, in dessen Namen man Kanonen segnete und Kriege als gottgefällige Werke heiligte?
Wer hat da noch ein Ohr, aus der fernen Welt des Ostens die gewaltige
Stimme dessen zu hören, der unter dem Namen Bahá’u’lláh ausgesandt
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war, Gottes Willen zu erfüllen, den Gottesfunken im Menschen zu neuem
Glühen zu bringen und die Kräfte zu lösen, welche auf den Weg zur
Vollkommenheit führen, Vollkommenheit in der Harmonie der Einheit aller
mit allen? Wenn Könige über die göttlichen Befehle und Warnungen
spotteten, wie sollten da ihre Untertanen glauben, Gott wäre, wie der
zweite Jeremias sagte, wirklich der Herr der Geschichte, und Sein Wille
geschähe, und alles stünde unter Seinem Befehl? Liebe sollte auf einmal
mehr vermögen als erprobte Gewalt und neue Waffen? Und überhaupt — was
sollte all das Bemühen um den Menschen? War er nicht mißraten,
schlecht, unfähig, Frieden zu halten, für den er — ein Wolf unter
Wölfen — keinerlei Voraussetzung besaß? Hatte man’s nicht aus der Heiligen
Schrift gelernt, daß dem Menschen der Fluch der Erbsünde innewohnte?
Hört nicht hin auf jene verführerische Stimme aus dem gefährlich
aufstrahlenden Osten! flüsterte der Widerpart in die Seelen. Nichts
und niemand wird den Menschen verändern...
Ost gegen West
Und wieder gingen Kriege über die Erde, bis die große Revolution ihre Feuer ausspie. Und plötzlich — wie über Nacht — geschah es, daß die Welt des Menschen in die Realität jener beiden widersätzlichen Städte gerissen wurde. Seltsam! Wo zuvor noch viele Völker gegen viele kämpften, gab es jetzt nur noch zwei Blöcke, die man als Ost und West abstempelte. Ost gegen West. War man in den Zustand der letzten Agonie geraten? Ging diese kompromißlose Konfrontation tatsächlich dem voran, was endlich den großen Frieden, die gottgewollte Einigung der Menschheit bringen sollte?
Atombomben waren gefallen. Sie waren des Menschen eigene Geschöpfe. Sie waren Armaggedons Herausforderung an das Evangelium der Liebe. Die Himmel der Angst verdüsterten sich. Eines Tages würden wohl die Wasserstoff-, die Kobaltbomben fallen und alles Leben vernichten. Wirklich? Würde Gott nicht eingreifen, der es doch keiner armseligen Menschenkreatur erlauben würde, in das einzugreifen, was einzig und allein von Seinem Willen bestimmt war?
Ost gegen West. Man nannte es die Unvereinbarkeit von Ideologien.
Von Ideen sprach man nicht mehr. Was für Ideologien? Selbstgerecht und
verachtungsvoll blickte der Westen auf die andere Welt jenseits der
Mauer. Man war überzeugt, im Recht zu sein, heilige Güter zu schützen,
moralisch zu handeln. Wir aber haben Glauben! rief man aus. Man
brauchte ja nur die Zahl der Kirchen in die Waagschale zu legen! Was
blieb da für die anderen, die sich dem Atheismus verschrieben
hatten? Hieß es nicht bei ihnen, Religion sei Opium fürs Volk? Haben sie
nicht Gott abgeschafft und die Kirchen als Warenlager benutzt? Was ist
schon ihr Gott als der seelenverschlingende, menschenentwürdigende
Staat, in dem der einzelne kaum mehr sein darf als eine ameisenhafte,
biologische Funktion, Wirklich? Ist der Glaube abgedrosselt jenseits der
Mauer? Wie kann ein Mensch ein von Gott entzündetes Feuer niedertreten?
Bleibt nicht unter dem Schutz des Hochmuts, der intellektuellen
[Seite 828]
Prahlerei und der Verlästerung des Ewigen doch noch das unauslöschbare
Fünkchen bestehen? Wie, wenn sich nun ein Wind erhöbe und brächte es
zum Lohen? Vielleicht erinnert man sich in diesem Zusammenhang jener
bedeutsamen Worte, die der seherische russische Dichter Dostojewski in
seinem Roman „Der Idiot“ über die Religiosität seiner Landsleute sagte:
„Man nehme dem Russen jeden Glauben und gebe ihm Atheismus dafür,
so wird er so stark an den Atheismus glauben, daß er eine
neue Religion gewonnen hat.“ Wenn man nur etwas hat, um daran glauben
zu können. Heißt es nicht Gott, dann heißt es äußerer Fortschritt
oder Macht.
Trotzdem wuchs mit dem Zweifel die Sehnsucht nach wahrem Glauben, trotzdem war man bereit, sich vor einem Gott zu neigen, sich in seinen Gnadenmantel zu hüllen, der Liebe verhieß, Gerechtigkeit und menschliche Würde. Denn tief eingeboren in der menschlichen Seele, von keiner Grausamkeit, von keinem Terror zu entwurzeln, lebt — und sei’s verborgen — das feine Gefühl für Gerechtigkeit und Menschenliebe; da ist auch der Glaube, daß der Mitmensch kein Widersacher, kein Feind, kein Bösewicht sei. Etwas im Menschen greift zu dieser Wahrheit hin, möchte den Nächsten umarmen, wäre da nicht der Schatten der anderen Stadt, die Angst vor Verrat und Demütigung. So mißtraut ein Mensch dem anderen, und es entsteht eine Kettenreaktion von Ängsten und Feindschaft, an deren Ende nichts Geringeres zu finden ist als jene entsetzliche Bombe des Unheils, Armaggedon, der Untergang der Liebe in einer vergewaltigten Welt.
Wird es so bleiben, daß der Unglaube fortbestehen muß? Was bliebe denn? Ist nicht alles dem Gesetz der Wandlung unterworfen? Panta rhei, nannten es die Griechen. Alles fließt. Es gibt nur eine Konstante: die göttliche Absolutheit. „Wir haben Christus noch nicht gehabt,“ sagt Dostojewski in den „Dämonen“, „aber wenn wir ihn einmal haben werden, wird es ein ganz anderer Christus sein, als ihn der Westen kennt.“
Wie denn, wenn der Osten sich unserer Herausforderung erwehren und
uns fragen wollte: Und ihr? Wo ist euer Glaube? Was glaubt ihr in jener
anderen Stadt? Ist sie wirklich von Gott und in Gott? Steht Religion im
Mittelpunkt eures Lebens und eurer Interessen? Habt ihr, die ihr mit den
Evangelien zwei Jahrtausende lang die schrecklichsten Kriege geführt
habt, — habt ihr eine wahrhaft christliche Gesellschaft, ihr, die ihr den
Erfolg zur Religion, die Tüchtigkeit zur höchsten Moral erhoben habt?
Ist euer Christentum nicht in aberhundert einander befeindende Sekten
gespalten? Sind euch Demut, wahre Nächstenliebe und Ehrfurcht vor Gott
die obersten Tugenden? Seid nicht auch ihr stolz auf euren Atheismus?
Was werft ihr ihn uns vor? Ihr im Westen nennt uns Materialisten.
Selbstgerecht verdammt ihr unseren Materialismus. Und ihr? Versinkt ihr
nicht bis zum Hals in eurer Anbetung und Überschätzung materieller
Werte? Was ist euch noch Größe? Daß einer moralisch bedeutend, geistig
integer sei? Identifiziert ihr nicht den Besitzenden mit seiner irgendwie
errungenen Habe? Bewundert ihr nicht den Reichen, als sei sein Besitz ein
innerer Wert? Ihr klagt uns an, daß wir eure Auffassung von Freiheit
nicht dulden, Freiheit, des Menschen höchstes Gut, das er, wie die
Geschichte lehrt, wenig genutzt hat, um sich zu einem größeren Menschen
[Seite 829]
zu bilden. Was ist uns Freiheit? Fragt doch die Menschen in China und
anderen Ländern des Ostens, was sie darunter verstehen! Sie werden
euch verständnislos anblicken, und trotzdem rüstet ihr Armeen, um
diesen Menschen anderer Denkungsart eure Freiheit aufzuzwingen.
Freiheit — daß jeder tun und sagen kann, was er gerade mag... daß er auf
Kosten des Nebenmenschen skrupellos seine Ziele verfolgt, zynisch
niedertritt, was ihn dabei behindert? Freiheit?
Der Wegbereiter des neuen Zeitalters
Über dem Hin und Her von Meinungen, die zwischen den beiden feindseligen Lagern dahinlärmen, vernimmt das innere Ohr des gottzugewandten Menschen jene gewaltige Stimme, die der große Gefangene, der Künder Gottes, der Wegbereiter des neuen Zeitalters in die Welt schickte: „Ich habe meine Freiheit hingegeben, damit die Welt frei werde. Wahre Freiheit besteht in der Unterwerfung des Menschen unter Meine Gebote. Würden die Menschen das befolgen, was Wir aus dem Himmel der Offenbarung auf sie herniedersandten, so würden sie sicherlich vollkommene Freiheit erringen. Die Freiheit, die euch nützt, findet ihr nur in vollkommener Dienstbarkeit unter Gott, der Ewigen Wahrheit. Wer ihre Süße gekostet hat, wird es verschmähen, sie gegen die Herrschaft der Erde und der Himmel einzutauschen.“ Also ist Freiheit die höchste Form der Selbstunterwerfung unter den Willen Gottes. Was ist der Wille Gottes? Wie können wir ihn erkennen?
Die Bahá’í wissen um den Sinn des Neuen Zeitalters, in dem die Heere
in Ost und West bis zu den Zähnen gewappnet ihre Missionsidee über
Leichen und durch zerstörte Städte zu tragen bereit sind. Sie wissen, daß
Gott in Wahrheit der Herr der Geschichte ist. Das Samenkorn des Grases
trägt die Vollkommenheit eines Grashalms; die kleine Eichel enthält, wie
‘Abdu’l-Bahá erklärt, die Majestät eines zwanzig Meter hohen Eichbaums,
der wieder Blätter und wieder Früchte hervorbringt, die wiederum Bäume
sein und Früchte tragen werden, wahre Abbilder eines ewigen Gedanken.
Wenn es ein unzerstörbares Gesetz ist, daß alles, was sein soll, auch das
sein muß, was es als Potential in sich enthält, als der Wille Gottes in
Seiner Schöpfung und die sichtbare Form des göttlichen Bewußtsein — wenn
dies ein allgemeines, ein universelles Gesetz ist, wie könnte der
Mensch, die höchste Form der göttlichen Schöpfung, außerhalb eines
solchen Gesetzes stehen? Was soll er denn werden, er, der mit freier
Entscheidung begabt ist, zu wählen zwischen dem, was im Sinne Gottes ist
und was gegen Seinen Willen verstößt? Wenn er die Entscheidung im
Sinne Gottes fällt, bedarf er einer Kraft, die all das übersteigt, was für
die Notwendigkeit des Tages erforderlich ist. Dieser Kraft schien er
verlustig gegangen zu sein. Sein Hochmut, sein Stolz gaben ihm den Wahn,
Gottes Anspruch auf ihn mißachten zu können. Gottes Geduld war lang,
und es kam der Tag, da Sein Langmut endete, nicht, um sich mit Wasserfluten
und Feuermeeren alles vernichtend über die Menschen zu ergießen und
auszulöschen, was vor Ihm zu höherem Leben bestimmt war.
Seine Geduld war Seine Liebe, und diese Liebe wurde Gestalt. Der diese
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Liebesströme in sich zu sammeln, auszustrahlen, weiterzugeben, in
Gesetze und Wegzeichen umzuwandeln bestimmt war, Bahá’u’lláh, war die
Güte Gottes in dieser Zeit der äußersten Entscheidung, und das Volk, das
Er rief, wurde ausgerüstet mit neuem Bewußtsein und neuer Liebe, um
das Werk Gottes zu vollbringen.
Ost und West, die unversöhnlichen Städte — liegen sie auf verschiedenen Landgebieten der Erde? oder sind sie nicht im Menschen selbst? Wächst und strahlt Jerusalem nicht durch unsere schenkende Liebe, erhebt sich nicht Babylon mit den Triumphen unserer Selbstsucht und Gottesmißachtung? Lange genug hat man in Augustins Dritter Stadt gelebt, in der dumpfen, hoffnungs- und glücklosen Stadt des Kompromisses. Diese Zeit ist vorbei, ein für allemal. Jetzt heißt es: entweder — oder. Entweder steh’ ich auf dieser Seite oder auf der anderen. Entweder ich glaube an Gott; dann glaube ich ganz und rücke den Glauben in die Mitte meines Daseins, veredle die Mittel, erhöhe die Zwecke, ein Bruder dem Bruder, diene dem anderen — oder ich verschreibe mich ganz dem anderen Lager, das seine Soldaten nicht zuletzt aus der Reihe derer rekrutiert, die nur halbherzig glauben, vorurteilsvoll denken, Mißtrauen säen und Gott verachten. Zwischen den beiden Welten gibt es keine Kompromisse. Das ist die Herausforderung Gottes. Die Entscheidung wird nicht von Politikern oder Diplomaten getroffen, sondern von uns selbst, und die Mauer der Trennung geht durch das eigene Herz.
Wer würde Ihn erkennen?
Wie soll man noch glauben? rufen manche in der Nacht der Ängste und der Verzweiflung. Von allen Seiten wird die Seele bedrängt. Kann es denn ein Wunder geben in dieser elektronikgläubigen Welt? Wie, wenn Er nun käme, Christus, wie Er’s versprochen, wieder käme in anderem Gewand, anderer Gestalt? Wer würde Ihn denn erkennen? Würden sich die Obrigkeiten nicht auf ihn stürzen als einen Unruhestifter? Würde man ihn nicht den Psychiatern überantworten, ihn als Kommunisten, als Schwarmgeist, als sonst etwas typisieren? Würde man ihn nicht — wie Dostojewskis Großinquisitor — in den Kerker werfen und ihn dann einem Henker überantworten? Man kann doch nicht die Wirtschaftsordnung ändern! Teilte man mit den Armen, hielte man die Räder still, die ganze Ordnung bräche ja zusammen — und wem wäre damit gedient? Würde man uns nicht verspotten, wenn wir uns zu Ihm bekennten? Und dann, was würde dann sein? Würde nach kurzer Zeit der Glorie nicht alles wie schon vor zwei Jahrtausenden bald zurückfallen ins Frühere? Ein neuer Glaube in einer Zeit von Überschallflugzeugen, Raumfahrern, Atommeilern und technischen Wundern?
Es sind die Ängstlichen, die solche Fragen stellen, die Feigen, die
Wankelmütigen, die lahmen Herzens sind. Über allen Zweifeln aber hat Gott
Seinen Himmel aufgetan. Wieder leuchtet der Regenbogen des erneuerten
Bündnisses, „Ich liebte den Menschen, darum erschuf Ich ihn...“
Eine ungeheuere Erneuerung durchflutet alles. Alle Atome „vibrieren und
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jubilieren“, wie Bahá’u’lláh sagt. Ein Strom unfaßbarer Kräfte durchdringt
die frühlingshaft belebte Schöpfung.
Seltsam, daß es erst zweihundert Jahre her sind, seitdem die ersten Sozialphilosophen wie Hobbes und Rousseau, später dann ein Marx und andere die Erkenntnis zu Papier brachten, es ginge nicht mehr um den Menschen als Einzelwesen; die Griechen hätten recht gehabt, wenn sie ihn als „zoon politikon“, als geselliges Lebewesen, ein Geschöpf unter und mit anderen, verstanden. Auf einmal erkannten die Menschen, daß die Gesellschaft ein Abbild des einzelnen sei, und wie der einzelne dächte, handelte und plante, so würde die Gesellschaft beschaffen sein. Früher hatten kirchliche und fürstliche Hierarchien dem einzelnen seinen Platz zugewiesen. Soziale Gerechtigkeit, die Synthese mosaischen Gesetzes und christlicher Liebe, wie Bahá’u’lláh sie als Fundament der neuen Ordnung verkündete —, wo wäre dergleichen denkbar gewesen? Eine neue Gesellschaft mußte geschaffen werden, Marx wählte die Gewalt, Bahá’u’lláh die Liebe. Gesellschaft ist eine Form der Ordnung. Ordnung ist ein kosmisches Gesetz. Sie ist die Harmonie zwischen den Gestirnen und allen geschöpflichen Welten. Sie ist der „logos“, den Johannes an den Anfang seines Evangeliums stellt. Also muß die Ordnung unter den Menschen derart sein, daß sie mit den größeren Ordnungen harmonisiert. Kein Mensch vermag sie zu begründen. Dazu bedarf es jener Kraft, die Gott Seiner Manifestation, Bahá’u’lláh, verlieh. Ein neuer Mensch ist vonnöten, mit neuer Würde, neuer Sicherheit, neuem Bewußtsein, das über die Grenzen aller Willkür dringt, ein Mensch, der sich nicht versteckt, wenn Gott ihn ruft wie damals Adam, sondern der strahlenden Angesichts sagt: Hier bin ich.
Ein neuer Glaube ist entstanden
Es ist eine Neugeburt, zu der Gott die Erde bereitet, die Wesen belebt, die Wege geebnet hat. Ein neuer Glaube ist entstanden, der die ganze Menschheit erfaßt und umschließt. Das Wunder hat sich vollzogen. Die Geschichte Gottes im Menschen hat einen ihrer Höhepunkte erreicht. Wer sich diesem Strom entgegenwerfen will, wird als gebrochener Strohhalm auf den Ufersteinen liegen bleiben. Mag man halbgeblendet vom Lichtglanz des Himmels sich in den kalten Schattenfalten des brechenden Armaggedon verborgen halten, mag das Geschrei der Spötter die sanfte, unüberhörbare Stimme des Offenbarers Gottes zu übertönen suchen, mögen sich alle Heere in Ost und West gegen Ihn verbünden — Seine Stimme ruft und ruft, und ‘wer sie wahrhaft hörte, der verschließt sich nicht mehr, der will nichts anderes sein als Werkzeug, Ihm zu dienen. Aus der Nacht der Verzweiflung, aus dem Frost der Vereinsamung, aus der Lauge der Bitterkeit empor, weit hinausragend über tödliche, trennende Mauern hat sich der unsterbliche Same des göttlichen Willens emporgerungen, ist emporgewachsen zum Baume, in dessen Gezweig, wie es im „Tablet an Ahmad“ heißt, die Nachtigall des Paradieses ihre Melodien ertönen läßt.
Und Armaggedon, jenes Phantom alttestamentarischer Drohung, hundertköpfig,
tausendarmig, das mit Feueratem über die Erde gehen sollte,
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Armaggedon, der sich vermessen dürfte, über Gottes Majestät zu spotten
um Seine Schöpfung zu verschlingen? Wer sollte es sein? Ein Teufel,
ein Urian, feueräugig und geschwänzt, Fürst einer schwefeldampfenden
Hölle? Eine Hölle? Wo wäre denn die zu finden, wenn nicht im Bereich
der Unliebe? Ein Satan? Wie könnte er bestehen, da doch alle Schöpfung
von Gott ist? Warum sollte Gott ein solches Unwesen gebildet haben?
Bedarf Er eines Schattens, damit Sein Licht heller scheine, oder eines
herausfordernden Narren, eines Widerstandes, um Seine Kraft zu üben?
Was ist dieser Armaggedon anderes als das Schattenwerk unserer Ängste,
das Machwerk unserer Feigheit vor Gott? — Was wäre er als jene andere
Stadt der Selbstsucht und der Gewalt, das Geschöpf unserer Süchte,
Vorurteile und Selbstüberschätzung?
Wird sich ein Unwetter zwischen den beiden Städten entladen? Wir, die wir gerufen sind, die wir uns entschieden haben, warten nicht. Wenn wir Mauern sehen, erblicken wir Arme, die zueinander greifen. Wo sich Trennendes erhebt, fühlen wir den Pulsschlag einer ungeheuren Sehnsucht aller zu allen hin. Nichts kann die Gewißheit der neuen Welt zerstören, denn der Glaube, das sind wir selbst, und wir wollen leben um der Liebe willen, die in uns ist, die Liebe, die, wie Dante singt, „die Sonne und die Gestirne bewegt“, wir wollen den Glauben leben, um Gottes und unserer Dankbarkeit willen. Die beiden Städte — wir sehen nur eine neue Stadt, welche nach Bahá’u’lláhs Äußerung das Wort Gottes ist. So, neugeboren, beglückt im heiligen Anschau’n, beseligt im Feuer gänzlicher Hingabe, werden wir, wie es schon Krischna lehrte, aussäen, ohne an die Ernte zu denken. Wir werden dienend und liebend in Bahá’u’lláhs Credo leben: „Die Erde ist nur ein Land, und die Menschen darin sind seine Bürger“.
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