BAHÁ'I-
BRIEFE
BLÄTTER FÜR
WELTRELIGION UND
WELTBEWUSSTSEIN
AUS DEM INHALT:
Selig ist der Mensch ...
Der sozialökonomische Imperativ
Die Bedeutung der Weltwirtschaft
Buchbesprechungen
HEFT 33 JULI 1968
- Sprich:
- Stirb in deinem Zorn, o Volk der Uneinigkeit!
- Er, vor dessen Erkenntnis nichts verborgen ist,
- über dessen Kommen das Antlitz des Wissens
- in Freude erstrahlte
- und durch den das Reich der Worte geschmückt
- wurde - Er ist in der Tat erschienen.
- Jeder, der sich Gott,
- dem König der Religionen, nähert,
- macht Fortschritte.
- Er bewirkte, daß sich die Sitzenden erhoben
- und die Ruhenden zum Berg der Zuversicht eilten.
- Dies ist der Tag,
- den Gott zu einer Gnade für die Frommen machte,
- zu einem Strafgericht über die Gottlosen,
- zum Segen für die Vorwärtsschreitenden
- und zum Zorn für die, welche leugnen
- und sich hinwegkehren.
- Wahrlich, Er ist mit Macht
- aus der Gegenwart Gottes hervorgegangen
- und hat geoffenbart,
- was weder im Himmel noch auf Erden
- seinesgleichen hat.
- Bahá’u’lláh
- (Tablet Ishráqát)
Selig ist der Mensch...[Bearbeiten]
Die Sprache Bahá’u’lláhs fordert zur Vollendung
Zu den wesentlichsten Aussagen in der Bahá’í-Religion muß
unzweifelhaft jene gezählt werden, daß — entgegen
theologisch-konfessioneller Lehren — göttliche Offenbarung kein
einmaliger Vorgang in der Geschichte der Menschheit ist. Nicht
der „eingeborene Sohn“, wie ihn das Christentum in der Person
Jesus verkörpert sieht, ist göttlicher Heilskünder
und -bringer alleine; göttliche Manifestation ist ein in Zyklen
sich wiederholendes Phänomen, bestimmt, menschliche Erkenntniskraft
zu steigern und der Welt neue, zukunftweisende geistige
Impulse zu vermitteln, ohne die keinerlei Fortschritt denkbar wäre.
Diese von Bahá’u’lláh klar formulierte „fortschreitende Gottesoffenbarung“ schließt somit auch jede Art von Ausschließlichkeitsanspruch geschichtlich gewordener Offenbarungsreligionen aus. Kein Offenbarer hat einen solchen je postuliert; keiner von ihnen hat aber so deutlich wie Bahá’u’lláh auf den inneren Zusammenhang und das Eins-Sein dieser Manifestation hingewiesen. „Betrachte mit deinem inneren Auge die Kette der aufeinanderfolgenden Offenbarungen... Ich bezeuge vor Gott, daß jede dieser Manifestationen durch die Wirksamkeit des göttlichen Willens und Planes herabgesandt wurde, daß jede die Trägerin einer besonderen Botschaft war, daß jede mit einem göttlich geoffenbarten Buch betraut und beauftragt wurde, die Geheimnisse einer machtvollen Tafel zu enthüllen. Das Maß der Offenbarung, das jedem von Ihnen gleichgesetzt wurde, ist genau vorherbestimmt gewesen.“ (Ährenlese XXXI) Nur logisch ist deshalb Seine Warnung davor, irgendwelche Unterschiede zwischen den Offenbarern zu machen. „Wisse wahrlich“, so erklärt Bahá’u’lláh, „daß das Wesen aller Manifestationen Gottes ein und dasselbe ist. Ihre Einheit ist vollkommen. Gott, der Schöpfer, spricht: ‚Es besteht keinerlei Unterschied zwischen den Trägern Meiner Botschaft. Sie alle haben nur eine Absicht, Ihr Geheimnis ist das gleiche‘ ...Jeder wahre Offenbarer hat Seine Botschaft grundsätzlich als übereinstimmend mit der Offenbarung einer jeden Ihm vorangegangenen Manifestation angesehen.“ (Ährenlese XXXIV). Und: „Diese Grundsätze und Gesetze, diese festgefügten und mächtigen Glaubenssysteme gingen alle aus einer Quelle hervor und sind die Strahlen eines Lichtes. Wenn sie sich voneinander unterscheiden, so ist dies den wechselnden Erfordernissen der Zeitalter zuzuschreiben, in denen sie verkündet wurden.“ (Bahá’u’lláh in „Brief an den Sohn des Wolfes“, S. 28).
Dieser letzte Satz Bahá’u’lláhs macht deutlich, daß es der Wille
des Schöpfers ist, dem Menschen durch den Offenbarer von Zeitalter
zu Zeitalter ein sich steigerndes Maß an Erkenntnissen
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zuteil werden zu lassen, ganz im Einklang mit der Bestimmung des
Menschen, sich zu einem geistig hochqualifizierten, über der
niederen Kreatur stehenden Wesen, eben „zum Bilde Gottes“,
hinzuentwickeln. „Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es
jetzt nicht tragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit,
kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird
nicht aus sich selber reden, sondern was er hören wird, das wird
er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen.
Derselbe wird mich verherrlichen.“ Was anderes liegt in diesen Worten
Christi (Johannes 16, 12-14), als das eindeutige Bekenntnis zur
„fortschreitenden Gottesoffenbarung“, formuliert gemäß
den „Erfordernissen Seines Zeitalters“? Wie anders sind diese
Sätze zu verstehen denn als Hinweis auf „Den, der nach Mir
kommt“? Zu einer Zeit, da die Menschheit mehr „zu tragen“
imstande, ihre geistige Kapazität eine größere ist!
Gott hat nicht 1968 Jahre lang geschwiegen, wie Er es auch zuvor nicht getan hatte. Er hat durch Muhammad, das „Siegel der Propheten“, Seine Stimme machtvoll erhoben, Er hat sich in El Báb, dem Vorläufer Bahá’u’lláhs, und in diesem selbst manifestiert. Und Er hat, durch Bahá’u’lláh, Sein Wort in einer Sprache verkünden lassen, die packender, aufrüttelnder, klarer und präziser nicht sein könnte. Es ist die Zeit angebrochen, da „ich nicht mehr in Bildern mit euch reden werde, sondern euch frei heraus verkündigen werde von meinem Vater“ (Johannes 16, 25).
Wie kaum zuvor in der Geschichte fordert unser Zeitalter, daß wir Religion, Gottes unverfälschtes Wort, mehr als bloße Ansprache an Herz und Gemüt, gewissermaßen als den göttlichen „Wink mit dem Zaunpfahl“, verstehen. In unserer komplexen, mit den Mitteln der Selbstzerstörung ausgestatteten Welt gilt es, Gottes Wort zum zentralen Ausgangspunkt all unserer Überlegungen und Entscheidungen zu machen.
Selbst wer sich nur oberflächlich mit den Schriften Bahá’u’lláhs beschäftigt, dem wird rasch klar, um wieviel moderner, positiver, leistungs- und gemeinschaftsbezogener Seine Ausdrucksweise ist, entsprechend der Weiterentwicklung des menschlichen Bewußtseins. Und weit unmittelbarer richtet Er Sein Wort an uns. Wo Christus — Seiner Zeit gemäß — noch in Gleichnissen sprach, wo Er sich gewissermaßen mit dem Sprachschatz des „einfachen Mannes auf der Straße“ begnügen mußte, strömen die Worte Bahá’u’lláhs gleich einem Sturzbach auf die Menschheit nieder. Gewaltig, umfassend, beherrschend, dabei in jedem Satz von erhabener Schönheit; in die Zukunft weisend, anspornend, mahnend und doch sublim zugleich — das ist Seine Sprache, eine Sprache, die wohl an das Herz, „Meinen geheimen Aufbewahrungsort“, rührt, die aber zugleich herausfordert zur Tat, zur Vollendung.
Groß und vielfältig sind die Verheißungen, die Bahá’u’lláh
dem wahrhaft Gläubigen, dem Im-Glauben-Lebenden, macht.
Weit spannt Er den Bogen, wenn Er von den Wonnen, dem Wohl,
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dem Glück und der Seligkeit derer spricht, die sich Ihm nähern,
die an Ihn glauben, die „dem gehorchen, was von Seiten Gottes,
des urewigen Gebieters, verordnet worden ist“. Seine Seligpreisungen,
die wir in Fülle finden, reichen weit über jene Sätze hinaus, die
Christus in Seiner Bergpredigt vor den Jüngern gesprochen hatte.
Und es sind vor allem auch Verheißungen, die nicht allein auf das
jenseitige, das Leben nach dem Tode, gerichtet sind.
Nein, „selig“ ist der Mensch auch auf dieser Erde, der fest und
standhaft in dem von Gott erneut mit der Menschheit geschlossenen
Bund steht.
Die Redaktion der „Bahá’í-Briefe“ möchte ihre Leser in dieser Ausgabe, aber auch künftighin, mit einer Auswahl dieser Seligpreisungen und Verheißungen bekannt machen.
- Dieter Schubert
- **
Selig ist, wer sich aufgemacht hat hin zu Dir und eilte, um zum
Sonnenaufgang der Lichter Deines Antlitzes zu gelangen. Selig ist, wer sich mit
seiner ganzen Zuneigung zur Morgendämmerung Deiner Offenbarung und
zum Quell Deiner Erleuchtung hingewendet hat. Selig, wer auf Deinem
Pfade das verwendet, was Du ihm durch Deine Gnade und Gunst verliehen
hast. Selig, wer vertraute Zwiesprache mit Dir gehalten und sich.
freigemacht hat von aller Bindung an irgendeinen außer Dir.
Ich flehe zu Dir, o Du, Der Du der höchste Verordner bist, laß mich nicht von dem Windhauch ausgeschlossen sein, der in Deinen Tagen weht, in jenen Tagen, an welchen der liebliche Duft aus dem Gewande Deiner Gnade in allen Landen zu spüren ist. Halte mich auch nicht fern von Deinem größten Meere, in dem jeder Tropfen ausruft und spricht: „Selig ist, wer aus seinem Schlummer aufgeweckt worden ist durch den Odem Gottes, der aus der Quelle Seiner Gnade über alle jene unter Seinen Geschöpfen dahinwehte, die sich Ihm zugewandt hatten!“
Selig der Mensch, der Dich erkannt und die Süße Deines Duftes wahrgenommen hat, der sich Deinem Königreiche zugewendet und von jenen Dingen gekostet hat, die in ihm durch Deine Gnade und Gunst vollendet worden sind. Selig jener, der Deine höchste Erhabenheit anerkannt hat und den die Schleier, die die Völker von Dir abschlossen, nicht davon abhalten konnten, seine Augen Dir zuzuwenden, o Du, Der Du der König aller Ewigkeit bist und der Beleber jeglichen sterblichen Gebeins. Selig auch der, der in Deinen Tagen Deine süßen Düfte geatmet hat und von Deinen Äußerungen hingerissen wurde, Selig sei jeder Mensch, der sich zu Dir hinwendete, und wehe über ihn, der Dir den Rücken kehrte.
Verherrlicht sei Dein Name, o mein Gott, denn Du hast den Tag geoffenbart,
der der König aller Tage ist, den Tag, welchen Du Deinen Auserkorenen und
Deinen Propheten auf Deinen höchst erhabenen Tafeln angekündigt, den Tag,
an dem Du den Glanz Deiner Herrlichkeit auf alles Erschaffene ausgegossen
hast. Groß ist die Glückseligkeit dessen, der sich Dir
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zuwandte, Deine Gegenwart erreichte und den Klang Deiner Stimme vernahm.
Hochgesegnet ist jener Mensch, der in seiner Liebe zu Dir, befreit von jeglicher Bindung an jedermann außer Dir, zum Horizonte Deiner Offenbarung eilte und diesen Kelch erreichte, der nach Deinem Willen alle Meere der Erde übertrifft.
- Aus: Gebete und Meditationen
- *
Es obliegt allen, jene Herrscher und Staatsoberhäupter zu unterstützen,
die mit dem Kleide der Gerechtigkeit und Unparteilichkeit geziert sind.
Selig sind die Herrscher und die Gelehrten in Bahá’í! Sie sind wahrlich
Meine Treuhänder unter Meinen Dienern und die Quellen Meiner Gebote
unter Meinem Volk. Auf ihnen ruhe Meine Herrlichkeit, Mein Erbarmen
und Meine Gnade, die die Welt umfaßt haben.
Selig ist, wer dem gehorcht, was von seiten Gottes, des urewigen Gebieters, verordnet worden ist.
- Aus: Buch des Bundes
- *
Ich weiß nicht, o mein Gott, von welcher Art das Feuer ist, das Du in
Deinem Lande entflammt hast. Erde kann seinen Glanz niemals verdunkeln,
noch kann Wasser seine Flammen löschen. Keines von allen Völkern
der Welt vermag seiner Gewalt zu widerstehen. Groß ist die Seligkeit für
den, der ihm nahe gekommen ist und sein Tosen gehört hat.
- Aus: Gebete und Meditationen
- *
Er, der nicht heiratete (Jesus Christus), fand wegen der Untaten der
Verräter keine Stätte, wo Er hätte wohnen und Sein Haupt zur Ruhe
legen können. Seine Heiligkeit liegt nicht in dem, was ihr glaubt und
euch einbildet, sondern in den Dingen, die auch Uns zugehören. Fragt,
damit ihr Seine Stufe erkennt, die über die leeren Vorstellungen aller
Völker auf Erden erhaben ist. Selig sind die Verständigen!
Er, der Vater ist gekommen, und der Sohn (Jesus Christus) im geheiligten Tal ruft aus: „Hier bin ich, hier bin ich, o Herr, mein Gott“, während der Sinai das Haus umkreist und der Brennende Busch laut ausruft: „Der Allgütige ist, auf den Wolken thronend, gekommen. Glückselig ist, wer sich ihm nähert, und wehe denen, die weit in der Ferne sind.“
Er, wahrlich, kam in Seiner größten Herrlichkeit in die Welt, und alles, was im Evangelium verkündet wurde, hat sich erfüllt. Das Land Syrien wurde durch die Fußspuren seines Herrn, des Herrn aller Menschen, geehrt, und Nord und Süd sind vom Wein Seiner Gegenwart trunken. Selig ist der Mensch, der den Duft des Barmherzigsten einatmet und sich dem Aufgangsort Seiner Schönheit an diesem strahlenden Morgen zuwendet.
Bei der Gerechtigkeit Gottes! Ihr werdet alle Dinge verkünden hören:
„Wahrlich, Er, der Eine Wahre, ist gekommen. Selig sind, die redlich
urteilen, und selig, die sich Ihm zuwenden!“
[Seite 838]
Wisse, daß der in Wahrheit ein Gebildeter ist, der Meine Offenbarung annimmt, vom Weltmeer Meines Wissens trinkt und sich in die Lüfte Meiner Liebe aufschwingt, der alles außer Mir von sich wirft und sich mit festem Griff an das hält, was vom Reiche Meines wunderbaren Wortes herabgesandt wurde. Er ist fürwahr wie das Auge für die Menschheit und wie der Geist des Lebens für den Körper der ganzen Schöpfung. Verherrlicht sei der Allbarmherzige, der ihn erleuchtete und ihn sich aufmachen ließ, dieser großen und mächtigen Sache zu dienen. Wahrlich, solch ein Mensch ist gesegnet von den Scharen der Höhe und den Bewohnern des Tabernakels der Größe, die Meinen versiegelten Wein trinken in Meinem Namen „der Allmächtige“, „der Allmachtvolle“.
Dies ist der Tag, an dem der Vogel des Wortes im Namen seines Herrn, des Gottes der Barmherzigkeit, sein Lied auf den Zweigen singt. Selig ist der Mensch, der auf den Schwingen der Sehnsucht Gott, dem Herrn am Tag des Gerichts, entgegenschwebt.
Dies ist der Tag, da nichts unter allen Dingen und kein Name unter allen Namen euch nützen kann, es sei denn durch diesen Namen, den Gott zur Manifestation Seiner Sache und zum Tagesanbruch Seiner erhabensten Benennungen gemacht hat für alle, die im Reich der Schöpfung sind. Selig ist der Mensch, der den Duft des Allbarmherzigen wahrgenommen hat und zu denen zählt, die standhaft sind.
Wahrlich, Er ist über allem in den Himmeln und auf Erden. Es gibt keinen Gott außer Ihm, dem Allmächtigen, dem Großen. Also haben Wir den Himmel Unseres Tablets mit den Sonnen Unserer Worte geschmückt. Selig ist der Mensch, der dazu gelangt und von ihnen erleuchtet wird, und wehe denen, die sich abwenden, Ihn verleugnen und fern von Ihm in der Irre schweifen. Preis sei Gott, dem Herrn der Welten.
Die Zweifler sind zugrunde gegangen, aber gut bestellt ist es um den, der sich — vom Lichte der Überzeugung geführt — zum Dämmerungsort der Gewißheit wandte. Gesegnet bist du, der du deinen Blick auf Mich richtest, um dieses Tablets willen, das für dich herniedergesandt wurde, ein Tablet, das den Seelen der Menschen Aufschwung gibt ... Bei Meinem Leben! Es ist ein Tor zur Gnade deines Herrn.
- Aus: „Brief an den Sohn des Wolfes“
- ——————————
- Die Reichen, Geachteten und Mächtigen müssen der Religion die größtmögliche Ehrfurcht entgegenbringen. Die Religion ist ein strahlendes Licht und eine starke Feste für den Schutz und die Ruhe der gesamten Menschheit; denn die Gottesfurcht gebietet den Menschen zu tun, was recht ist, und verbietet ihnen, was böse ist. Wenn das Licht der Religion verborgen bliebe, würden Aufruhr und Anarchie überhandnehmen, und die Sonne der Gerechtigkeit und Unparteilichkeit, des Friedens und der Ruhe könnte kein Licht geben.
- Jeder einsichtsvolle Mensch wird dem hier Gesagten zustimmen.
- Bahá’u’lláh
- ——————————
Der sozialökonomische Imperativ[Bearbeiten]
Grundgedanken zu einer neuen Wirtschaftsethik
von Peter Mühlschlegel
- Jedes Wirtschaftssubjekt ist verpflichtet, das Wohl der Gemeinschaft — möglichst umfassend als Menschheit verstanden — in seine Entscheidungen einzubeziehen, und zwar in dem Maße, wie seine Leistungsfähigkeit über die angemessene Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse hinauswächst.
Wir wollen diesen Satz bewußt als einen kategorischen Imperativ formulieren,
das heißt als einen Befehl, einen Grund-Satz, der eine bestimmte
Bewußtseinsstruktur, eine bestimmte Handlungsweise als objektiv notwendig
darstellt. Jeder kennt den kategorischen Imperativ der Sittlichkeit,
den Immanuel Kant formuliert hat: „Handle so, daß die Maxime deines
Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung
gelten könnte.“ Unser sozialökonomischer Imperativ ist die moderne,
entwicklungsbedingte, praxisbezogene, leistungsorientierte, auf die ganze
Menschheit ausgerichtete Anwendung dieses Grundsatzes, wie sie sich aus
der technisch-wissenschaftlichen Revolution, die sich seit Kant vollzogen
hat, notwendig ergibt.
Am deutlichsten wird dieser Imperativ von Bahá’u’lláh selbst formuliert: „Jedem einzelnen von euch ist es zur Pflicht gemacht, sich in irgend einem Beruf ... zu betätigen. Wir veranlaßten, daß die gewissenhafte Erfüllung eurer Berufspflichten dem Dienste Gottes, des Wahrhaftigen, gleichgeachtet wird ... Vergeudet eure Zeit nicht mit Müßiggang und Trägheit, sondern beschäftigt euch mit dem, was euch und anderen Nutzen bringt ... Der, welcher nur dasitzt und bettelt, wird von Gott am meisten verabscheut“ (12. „Frohe Botschaft“). „Beschäftige dich nicht mit deinen eigenen Angelegenheiten. Lenke deine Gedanken vielmehr auf das, was das Glück der Menschheit wiederherstellt und die Herzen und Seelen der Menschen heiligt... Es geziemt an diesem Tage jedem Menschen, sich an das zu halten, was das Wohl aller Nationen und gerechten Regierungen fördert und ihre Stufe erhöht. Durch jeden Vers, den die Feder des Höchsten offenbarte, sind die Tore der Liebe und Einigkeit geöffnet und weit vor dem Antlitz der Menschen aufgetan worden ...“ („Ährenlese“ XLIII).
Aber nicht nur Bahá’u’lláh, der sich als umfassender göttlicher Gesetzgeber
für einen neuen Entwicklungsabschnitt der Menschheitsgeschichte
versteht, auch jede andere Religion und Philosophie, die überhaupt noch
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Anspruch auf Geltung erheben kann, vertritt unseren sozialethischen
Grundsatz, der sich ja notwendig aus dem von Kant entwickelten Kategorischen
Imperativ ergibt. Wir müssen nur logisch bleiben; wir müssen die
Repressionen unserer negativen Lebenserfahrung überwinden, die vielen
falschen Eindrücke vom Zwang der Verhältnisse und von unserem eigenen
Unvermögen, sie zu ändern — dann enthüllt sich uns der Grundtatbestand
unserer umfassenden sozialen Verpflichtung als der stärkste schöpferische
Antrieb unseres Daseins, stärker als alle Hoffnung auf Reichtum, Macht
oder Prestige.
Wir sollten diesen sozialökonomischen Imperativ mit aller Entschiedenheit solchen seelenlosen Technokraten entgegenstellen, die dem Hirngespinst der „Wertfreiheit“ nachjagen und die Wirtschaftswissenschaften für nichts weiter als ein Instrument der Gewinnmaximierung eines Kapitalisten, eines Unternehmens, einer Gesellschaftsklasse oder einer nationalen Wirtschaftseinheit halten. Nichts, was sich mit dem Menschen und seinen sozialen Strukturen beschäftigt, ist wertfrei. Der Mensch hat die Freiheit der Entscheidung, ob er sein Denken und Handeln auf die Befriedigung tierhafter Triebe der Sättigung, Anhäufung und Geltung vor Artgenossen heftet oder ob er — über die zivilisatorische Veredelung dieser Triebe hinaus — umfassende Zielsetzungen in den Mittelpunkt seines Bewußtseins stellt und seine berechtigten Eigeninteressen harmonisch darin einbezieht. Diese Entscheidungsfreiheit sinnvoll zu nutzen — in jedem Lebensbereich, im Beruf so gut wie in der Familie oder der Gesellschaft — ist die zentrale Aufgabe allen menschlichen Daseins. Wo diese Sinngebung verloren ist, ist alles verloren; sie muß zuerst gefunden werden, ehe über die nackte Existenzsicherung hinaus irgendwelche Ziele erstrebt werden.
Klare Begriffe
Bestimmen wir zunächst die Begriffe, die wir zu unserem Grundsatz geformt haben. Der Ausdruck „Wirtschaftssubjekt“ umfaßt jeden Menschen in allen wirtschaftlich bedeutsamen Funktionen, als Produzent wie als Konsument, als Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, als Bezieher von Arbeitseinkommen oder Renten gleich welcher Art. Eingeschlossen sind aber auch alle juristischen Personen und ihre Träger: Kapitalgesellschaften, Verbände, Stiftungen und Gebietskörperschaften, von der Dorfgemeinde bis zum künftigen Weltstaat. „Jedes Wirtschaftssubjekt“ ist angesprochen: Unser Grundsatz gilt universell und ausnahmslos. Wir sprechen von „Wirtschaftssubjekten“, da die anderen Lebensbereiche — Wissenschaft, Erziehung, Kultur, Recht, Politik — teils größere Freiheit zu individueller Ausprägung gewähren, teils besonderen Normen unterliegen oder sozial-ethische Verpflichtungen in ihnen nur insoweit von Bedeutung sind, als sie sich wirtschaftlich auswirken.
„Jedes ‚Wirtschaftssubjekt‘ ist verpflichtet ...“: Unser Grundsatz drückt
eine allgemeine Pflicht aus, wie etwa der einleitende Paragraph der
Straßenverkehrsordnung, der jeden Verkehrsteilnehmer zur Rücksicht auf alle
anderen anhält. Diese Verpflichtung reicht von der obrigkeitlich erzwingbaren
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Einhaltung eines Minimums an Ordnung über die Loyalität gegen
allgemein anerkannte Usancen, die jedem ordentlichen Kaufmann und
jedem halbwegs erzogenen Menschen selbstverständlich ist, bis zu ethischen
Grundregeln, welche so weit sind, daß sie von sittlich reifen Menschen
nicht als Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfreiheit empfunden werden.
Der Vergleich zum Straßenverkehr ist sehr anschaulich, hier wie in anderen
Fragen gesellschaftlichen Wohlverhaltens: Selbst der rücksichtsloseste
Autofahrer denkt nicht daran, ständig auf der Gegenfahrbahn zu bleiben
oder quer über Äcker und Wiesen zu fahren, weil er weiß, daß dies gefährlich
und unzweckmäßig wäre und daß er so nicht weiterkäme. Sollte es
im Wirtschaftsleben grundsätzlich anders zugehen, nur weil die
administrative Ordnung der Weltwirtschaft noch nicht so weit
durchgebildet ist wie die Straßenverkehrsordnung?
„Gemeinschaft“ im Sinne unseres Grundsatzes ist jeder übergeordnete, über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinausreichende gesellschaftliche Zusammenhang. Diese Gemeinschaft soll „möglichst umfassend als Menschheit verstanden“ werden. Daß der Mensch ein „zoon politikon“ ist, ein Lebewesen, das sich nur in der Gemeinschaft sinnvoll entwickeln kann, wußte man schon in der Steinzeit. Aber in der ganzen Geschichte seither war der Gemeinschaftsbegriff begrenzt. Selbst die hochkultivierten alten Griechen unterschieden sich mit deutlicher Arroganz von den „Barbaren“ anderer Länder und den „Sklaven“ unter ihnen; selbst die umfassende Liebe des christlichen Bewußtseins konnte den Unterschied zu den „Heiden“ nie verwischen, zumal sich der Glaube an deren Bekehrbarkeit nach und nach verloren hat; selbst die klare, fast klassenlose Konzeption der Dar-ul-Islam, der Gemeinschaft der muslimischen Gläubigen, umschloß nie die ganze Erdbevölkerung. Die Vorstellung von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen ist kaum älter als zweihundert Jahre und wurde schon früh dem Götzendienst an den Idolen des 19. Jahrhunderts geopfert. Das umfassende Bewußtsein der Menschheit als einer einheitlichen Schicksals- und Entwicklungsgemeinschaft ist außerhalb der Bahá’í-Religion nur in Ansätzen und Bruchstücken zu finden.
Dabei müßte es jedem Menschen, der logisch und ökonomisch denken kann, von Tag zu Tag klarer werden, daß Teillösungen, wo auch immer, unglaubwürdig und unmöglich geworden sind. Wenn wir in Kategorien der Gemeinschaft denken, das heißt, wenn wir Probleme anpacken, die durch private Initiative allein nicht zu lösen sind — und selbst der verstockteste Liberale muß bekennen, daß jeder neue Tag mehr solche Probleme bringt — dann sind unsere Entscheidungen in dem Maße unproduktiv, wie sie exklusiv sind. Was nützt das stürmischste Wirtschaftswachstum, wenn man es durch Schutzzölle, Devisenzwangswirtschaft und Einwanderungsbeschränkung nach außen abstützen muß? Was nützen Reichtümer, von denen ein Löwenanteil für Rüstungen, zur Abschreckung der „armen Nachbarn“ ausgegeben werden muß?
Das „Wohl“ der Gemeinschaft ist nicht schwer zu bestimmen. Es gilt, in weltweitem Rahmen eine Sozialordnung zu schaffen, in der der Mangel nicht länger Bestimmungsfaktor menschlicher Entscheidungen ist. Was der
- (Fortsetzung Seite 843)
- Nationaltagung in Frankfurt
- Über 50 Delegierte aus allen deutschen Bahá’í-Gemeinden kamen am 25. und 26. Mai in Frankfurt zur 38. Nationaltagung zusammen. Im Mittelpunkt stand die Wahl des neuen Nationalen Geistigen Rates. Während der zwei Tage diskutierten die Abgeordneten die Aufgaben im neuen Bahá’í-Jahr, vor allem aber die weitere Proklamation der Bahá’í-Religion.
Mensch mit dieser ins Unermeßliche wachsenden Entscheidungsfreiheit anfängt — diese unendliche wichtige Frage muß von einer höheren Instanz als der Wirtschaftswissenschaft beantwortet werden.
Eine ausschlaggebende Rolle fällt dem Moment der Erziehung zu. Erziehung ist die einzig mögliche Hilfe zur Selbsthilfe. Noch drängender als die Frage, wie man ein heute anstehendes Problem löst, ist die Frage, wie man dafür sorgen kann, daß dieses Problem entweder nicht mehr auftaucht oder bei wiederholtem Auftauchen immer wieder gelöst wird.
Erziehung ist letztlich unmöglich ohne den Glauben an die Erziehbarkeit des Menschen und die Kultivierbarkeit der Welt. Dies setzt Bewußtseinsstrukturen voraus, wie sie die meisten herrschenden Ideologien in ihren verkrusteten Erscheinungsformen nicht beinhalten.
„Entscheidungen“ treffen wir in jeder Minute unseres bewußten Lebens. Wir haben dabei mehr Freiheit, als wir gemeinhin wahrhaben wollen. Die Verhältnisse, die Umstände, die „anderen“, die Vorgesetzten, die wir gern als bestimmende Faktoren vorschieben, sind gar nicht so ausschlaggebend wie unser freier Wille, zumal wenn es, wie häufig, um die Entscheidung zwischen Möglichkeiten geht, die nicht nur ethisch, sondern auch im Sinne unternehmerischen Weitblicks höher- oder minderwertig sind. Je stärker wir positive, gemeinschaftsfördernde Zielsetzungen verfolgen, desto leichter fällt es uns, Entscheidungen nicht nur zu treffen, sondern auch durchzusetzen.
„... einbeziehen“ bedeutet ein Integrieren, ein Harmonisieren im Streben nach dynamischem Gleichgewicht. Es wäre weltfremd zu erwarten, daß sich die Menschen von heute auf morgen, etwa durch ein Wunder göttlicher Gnade, aus rücksichtslosen Egoisten in selbstaufopfernde Idealisten verwandeln könnten. Selbstaufopferung ist schwerlich als eine kontinuierliche, lebenslängliche Übung denkbar; das schaffen höchstens Heilige. Wir sind, vor allem durch unser christliches Erbe, viel zu leicht versucht, in Grenzsituationen zu denken, wo dies gar nicht nötig ist. Bei vernünftigen, bewußt ihr Leben gestaltenden Menschen konkurrieren die persönlichen und gesellschaftlichen Ziele allenfalls im Katastrophenfall in solcher Weise, daß keine Kompromisse möglich sind. Nur in Ausnahmefällen gilt das alte, harte Wort, daß „Gemeinnutz vor Eigennutz“ zu gehen hat. Gerade in der Gegenüberstellung zu diesem klotzigen Leitgedanken verflossener Zeiten bewährt sich unser Grundsatz als ein flexibles Denkmodell für den täglichen Gebrauch.
„In dem Maße, wie...“ beginnen die Sätze, die in der Flut der Gegebenheiten
den Bewegungsablauf, die Entwicklung, die Ziele, den Farbfilm des
bunten Lebens anstelle der Schwarz-Weiß-Aufnahme einer eingebildeten
Realistik wiedergeben. In unserem Zeitalter sich überstürzender Umbrüche
und Fortschritte sollten wir viel mehr als bisher auf diesen Bewegungsablauf
sehen. Was sind die Realitäten der Realisten, wenn unberechenbare
Faktoren von heute auf morgen alles grundlegend ändern können, wie wir
es täglich erleben? Nicht nur in der Statistik passiert es immer wieder, daß
die Erhebungen und Wahrnehmungen hoffnungslos veraltet sind, bevor
wir sie ausgewertet haben, und daß sich der Trend einer Entwicklung
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grundlegend geändert hat, ehe wir unsere Schlußfolgerungen ziehen
können. Dies ist ein Grund von vielen, warum wir viel demütiger werden
müssen und uns eher an objektivierbaren, allgemeinverbindlichen Zielen
als an sogenannten Tatsachen ausrichten sollten.
Auch bei der Beurteilung der „Leistungsfähigkeit“ von Menschen oder Wirtschaftssubjekten sollten wir nicht so sehr die unbestreitbare Tatsache sehen, daß die Menschen verschieden sind, als vielmehr den Umstand, daß sich die Menschen verschieden stark entwickeln, und zwar nach Maßgabe nicht nur ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern vor allem ihrer Leitbilder und Bewußtseinsstrukturen. Daß die Menschen verschieden sind und es ihnen demzufolge nach ihrem eigenen Empfinden verschieden gut geht, ist die schlimmste Ursache der Ungerechtigkeit, vor allem des subjektiv empfundenen Unrechts in der Welt. Dieses Unrecht kann nur durch das Prinzip der Solidarität überwunden werden: dadurch, daß die Pflichten der Gemeinschaft gegenüber getreu unserem Grundsatz ins Verhältnis zur Leistungsfähigkeit gesetzt werden. Weil aber in aller Regel die Leistungsfähigsten zugleich auch die Mächtigsten sind, läßt sich dieses Prinzip nicht auf die Dauer politisch erzwingen, sondern nur von einer allgemeinverbindlichen Ethik her postulieren.
„Die angemessene Befriedigung der eigenen Bedürfnisse“ läßt so viele Ausdeutungen zu, wie es Menschen gibt. Es geht hier um die Prinzipien des Maßhaltens und der Rücksichtnahme. Überwunden werden muß die Einstellung, im Gebrauch materieller Güter eine selbständige Sinngebung für das menschliche Leben zu sehen — eine Einstellung, die in den westlichen Industrieländern durch verantwortungslose Massenmedien und schrankenlose Werbung künstlich hochgezüchtet wird. Die primitivste Form des Prestigedenkens ist die weitverbreitete Meinung, es „den anderen“ nachtun oder sich vor „den anderen“ hervortun zu müssen, durch immer neue Blüten übersteigerter Konsumkultur. Wir müssen so weit kommen, daß es uns überhaupt keinen Spaß macht, mehr als den nachweislich angemessenen Lebensaufwand zu entfalten, weil unser Gewissen uns an Milliarden Mitmenschen erinnert, denen das Nötigste zum Leben und vor allem die Erziehung zu einer höheren Form des Menschentums fehlt. Jede Einstellung, die uns einreden will, das Elend in der Welt ginge uns nichts an, ist geistiger Atavismus.
Selbstverantwortliche Anwendung
Der Spätkapitalismus, das System der sogenannten freien oder auch
sozialen Marktwirtschaft geht von der Vorstellung aus, das höchste Ziel
privatwirtschaftlichen Handelns sei die Gewinnmaximierung. Das ist richtig
und falsch zugleich. Richtig ist das Bestreben, Leistungen in Zahlen
auszudrücken, und in einem hohen Maße lassen sich Erfolgszahlen nicht
anders als durch Gewinne darlegen. Verständlich ist auch das menschliche
Bedürfnis, für erbrachte Leistungen Anerkennung zu finden; gleichwohl
sollte man sich gerade in christlichen Kreisen immer vor Augen halten, wie
weit man sich damit von der Ethik des Evangeliums entfernt (vgl. Matthäus
6, 1 ff.). Falsch ist es aber, das Prinzip der Gewinnmaximierung isoliert
zu betrachten, die Kamera unseres Bewußtseins sozusagen nur in
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Naheinstellung darauf zu richten und höhere, objektivere, verfeinerte Ziele
außer acht zu lassen.
Objektiv gesehen ist der Sinn wirtschaftlicher Tätigkeit nicht die egoistische Nutzensmaximierung jedes einzelnen Beteiligten, wobei irgendwelche eingebildeten oder tatsächlichen Naturgesetze dafür sorgen, daß ein Ausgleich herbeigeführt wird und daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Sinn und Ziel der Wirtschaft ist objektiv die Bereitstellung von Mitteln zur Befriedigung angemessener Bedürfnisse, subjektiv aber etwas weit Höheres.
Im Reiche der Wirtschaftswissenschaften ist die Frage nach den Motiven des wirtschaftenden Menschen, der sozialökonomischen Gruppierungen und der privat- und weltwirtschaftlichen Machtblöcke gleichsam ein schmaler Trampelpfad, der in völlig unterentwickelte Gebiete führt. Bis heute ist die Wirtschaftswissenschaft alles in allem krasses 19. Jahrhundert geblieben, weil sie von der Fiktion ausgeht, der Mensch strebe nur nach Nutzensmaximierung. Diese Fiktion setzt auf dem niedersten Niveau sozialen Verhaltens an; folgerichtig drückt sie das tatsächliche Verhalten auf dieses niederste Niveau herab, wenn sie praktischen Entscheidungsmodellen zugrundegelegt wird.
Tatsächlich wird bereits auf einer vergleichsweise tiefen Ebene der Bewußtseinsentwicklung das Ziel der Nutzensmaximierung zu einem umfassenderen Streben nach Selbstverwirklichung verfeinert. Dem vorkapitalistischen Handwerker war es selbstverständlich, daß das Werk seiner Hände nicht nur Mittel zum Broterwerb, auch nicht allein Dienst am Nächsten oder der Gemeinschaft war; er betrachtete dieses Werk zugleich als eine Emanation seines Menschentums, ein stoffgewordenes Stück seiner Persönlichkeit. Gewiß ist es heute nur wenigen möglich, solche geistig-stofflichen Beziehungen zu ihrer Arbeit herzustellen. Aber wir brauchen das nicht als den „Fluch“ der modernen Technik zu betrachten: Sie hat eine Fülle neuer Motive in den Bereich des Möglichen gerückt, angefangen von den weltweit verbreiterten sozialen Beziehungen bis hin zu einer umfassenden Interpretation geistiger Prinzipien, wie sie ohne die Technik gar nicht möglich wäre. Wer hat sich zum Beispiel schon die Mühe gemacht, über das Grundgesetz der Wirtschaft zu philosophieren, das ökonomische Prinzip, daß mit einem gegebenen Aufwand die höchstmögliche Leistung oder eine vorgegebene Leistung mit dem geringstmöglichen Aufwand erreicht werden soll? Ökonomie ist ein Stück Gerechtigkeit, und Gerechtigkeit ist „in den Augen Gottes das Kostbarste“ ... Wer ist überhaupt noch in der Lage, religiöse Prinzipien abstrakt zu Ende zu denken? Was für ein ungeheuerer geistiger Reichtum liegt darin, daß wir etwa den erstarrten und verzerrten Eigentumsbegriff des Spätkapitalismus zu einem Bewußtsein der Treuhandschaft umformen, wie es sich aus unserem sozialökonomischen Imperativ notwendig ergibt!
Der praktischen Verwirklichung unseres Grundsatzes sind keine Grenzen
gesetzt, wenn wir, wie angedeutet, das Ziel der Nutzensmaximierung vor
dem Hintergrund unserer Selbstverwirklichung und unsere Selbstverwirklichung
im Rahmen des umfassendsten Wirtschaftszieles, der Schaffung
einer weltweiten Wohlstandsgesellschaft, sehen. Natürlich muß der
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geeignete administrative Unterbau geschaffen werden. Natürlich müssen
steuerliche Vergünstigungen, Public-Relations-Nutzeffekte und andere
Anreize geschaffen werden. Warum ist unser deutsches Stiftungswesen so
unterentwickelt? Ist es nötig, daß Kapitalgesellschaften in Schwierigkeiten
mit Staatsbürgschaften unterstützt werden, ohne daß sie sozialpolitische
Gegenleistungen erbringen? Warum wird die Breitenstreuung des Eigentums
an den Produktionsmitteln nicht steuerlich stärker gefördert?
Eine organische Weltwirtschaftsgesellschaft kann nur auf dem Humus des guten Willens möglichst vieler Wirtschaftssubjekte heranwachsen, und dieser gute Wille muß sich in der täglichen praktischen Befolgung unseres sozialökonomischen Imperativs erweisen. Man braucht kein Prophet zu sein um vorauszusagen, daß der Frieden der Welt erst dann gesichert sein wird, wenn unser Grundsatz fest im Bewußtsein der führenden Wirtschaftssubjekte verankert ist.
- ——————————
- Im April wurde in Haifa/Israel zum zweiten Mal das Universale Haus der Gerechtigkeit, die höchste gesetzgebende Körperschaft der Bahá’í-Weltgemeinde, von den Mitgliedern sämtlicher Nationaler Geistiger Räte der Bahá’í in der Welt gewählt. Unser Bild zeigt (von links): H. Borrah Kavelin, Hushmand Fatheázam, ’Ali Nakhjaváni, David Hofman, Amoz Gibson, David Ruhe, Charles Wolcott, Ian Semple, Hugh Chance.
Alle Kinder werden Schuhe haben[Bearbeiten]
Die Bedeutung der Weltwirtschaft
- von Mary Fish
Heute wie vor Jahrhunderten leben Millionen Menschen in Armut. In
den überfüllten Städten aller Erdteile, in New York, Tokio, Buenos Aires
und Kairo, auf dem flachen Land in Kolumbien, China und Indien
verbringen viele ihre Tage in dem zermürbenden Verlangen nach Nahrung
und Obdach. Und doch müßte dies nicht sein. Wir haben allen Grund zu
hoffen, daß die Kinder unserer Kinder in einer andersartigen Welt leben
werden, einer Welt, die Unterernährung als Todesursache aus ihren
Bevölkerungsstatistiken gestrichen hat.
In den kommenden Jahrhunderten werden die Menschen größer sein als wir und eine andere Hautfarbe haben. Die Medizin wird Ersatzteile verwenden und neue Herzen für alte einsetzen. Reisende werden für einen Flug um unseren Planeten so viel Zeit benötigen wie heute für die Fahrt zum Flughafen. Elektronengehirne, die jedes Kind programmieren lernt, werden die schwierigsten Bankverrechnungen regulieren. Gewiß werden manche Familien wohlhabender sein als andere, aber für alle wird es Bücher geben, und alle Kinder werden Schuhe haben. Man kann bereits sehen, wie sich das Rahmenwerk der Wirtschaft von morgen aus dem Tagesgeschehen von heute entwickelt. Die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts halten die verwandelte Welt des einundzwanzigsten und zweiundzwanzigsten Jahrhunderts in Händen, eine Welt mit landwirtschaftlichen und industriellen Grundlagen, die es möglich machen, die Armut abzuschaffen.
An dieser Stelle sollten wir uns genauer überlegen, was die Wirtschaftswissenschaftler wirklich meinen, wenn sie so ganz von der Notwendigkeit des wirtschaftlichen Wachstums und der Entwicklung durchdrungen zu sein scheinen. Ein Volkswirt wird oft mißverstanden, wenn er über beängstigend niedrige Prokopfeinkommen und Rückschläge bei den Zuwachsraten spricht. Sicherlich glaubt er daran, daß der Wohlstand aller Menschen weit über das Existenzminimum hinausgehoben werden sollte, daß die Leute nicht arm zu sein bräuchten. Aber ich habe noch nie einen Wirtschaftler kennengelernt, der an die Produktion von mehr Autos, besseren Straßen, größeren Schwimmbädern und mehr Schuhen als an einen Selbstzweck geglaubt hätte. Der Volkswirt geht vielmehr davon aus, daß der Mensch mit mehr Gütern besser, mindestens aber nicht schlechter dran ist; wenn aus Armut Schönheit oder geistige Größe erwächst, dann geschieht dies nicht wegen, sondern trotz der Armut.
Wachstum der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bedeutet viel mehr als
zusätzliche Schuhe oder Nahrungsmittel. Es befähigt den Menschen, sich
Zeit zu kaufen, um Herz und Gemüt zu erziehen. Lassen Sie mich zu
[Seite 848]
erklären versuchen, worum es mir geht: Vor wenig mehr als hundert Jahren
schuftete ein Arbeiter in den Vereinigten Staaten sechzig Stunden in der
Woche und bekam einen Lohn von 42 Cents die Stunde; heute arbeitet er
gewöhnlich vierzig Stunden in der Woche und bekommt in der Stunde
etwa drei Dollar. Man hat sich in den Vereinigten Staaten eine neue
Technologie und die dazugehörige Maschinerie nutzbar gemacht; man war in
der Lage, das Produkt je Arbeitsstunde zu vergrößern. Historisch gesehen
haben wir die Wahlentscheidung getroffen, uns einen Teil dieses
Produktivitätszuwachses in Form von mehr und besseren Gütern, den anderen
Teil in Form von weniger Arbeitsstunden anzueignen. Mit fortschreitendem
wirtschaftlichem Wachstum ist der Mensch in der Lage, sich Zeit zu
kaufen, um sich nicht nur als ein stoffliches Wesen, sondern als Geist und
Seele zu begreifen. Die Zeit zu kaufen, die es dem Menschen ermöglicht,
mit dem eigentlichen Geschäft des Lebens voranzukommen, ist
selbstverständlich einer der wichtigsten Gründe für wirtschaftliches
Wachstum und Entwicklung.
Heute wie in der Vergangenheit müssen die Menschen Not und Armut gewärtigen. Es hat bisher noch nie genug Nahrung und Obdach für alle gegeben. Der Wirtschaftler ist deshalb immer von der Voraussetzung ausgegangen, daß die Hilfsquellen, die für die Herstellung von Nahrungsmitteln und anderen Gütern zur Verfügung stehen, knapp oder beschränkt sind. Das heißt, wir haben nur eine bestimmte Menge Öl, Kohle oder Eisenerz. Aber langsam ändern sich diese Zukunftsaussichten. Heute hat die Welt nur einen bestimmten Bestand an Hilfsquellen, eine feste Menge bebaubaren Landes, aber morgen wird sich die Fähigkeit der Erde, aus dem Meer wie aus dem Festland Nahrungsmittel und andere Dinge hervorzubringen, die die Menschen benötigen und haben möchten, entscheidend wandeln. Die geologischen und landwirtschaftlichen Durchbrüche von heute werden die Hilfsquellen bestimmen, die für die Produktion von morgen bereitstehen. So wird die Zuwachsrate der wissenschaftlichen Entwicklung das Maß bestimmen, in dem wir neue Hilfsquellen benutzen können.
Ein Beispiel wird mir helfen, den entscheidenden Punkt zu verdeutlichen: Als die Amerikaner westwärts zogen, ließen sie das meiste von dem fruchtbaren Boden des Mittelwestens ungenutzt liegen, weil der schwere Humus dieses Gebietes an ihren grobschlächtigen Eisenpflügen kleben blieb. Später wurde ein stahlarmierter Pflug hergestellt, und nun nahm man auch das Land in Besitz, an dem man früher vorbeigezogen war; denn der neue Pflug machte dieses Land kultivierbar. So verhält es sich auch mit anderen Hilfsquellen, und dies bringt mich zu der allgemeinen Folgerung, daß historisch gesehen alle wirtschaftlichen Hilfsquellen nur vorübergehend knapp waren oder sind. Mit diesem Konzept können wir heute erstmals die Abschaffung der Armut auf der ganzen Welt ins Auge fassen.
Keynes, Galbraith und der Überfluß
Es ist somit keineswegs verwunderlich, daß wir im
wirtschaftswissenschaftlichen Schrifttum des zwanzigsten
Jahrhunderts Anspielungen auf
[Seite 849]
eine künftige Welt der Fülle finden. Zum Beispiel ist in die Schriften
von John Maynard Keynes und John Kenneth Galbraith der Glaube
hineinverwoben, daß schließlich eine Welt wirtschaftlichen Überflusses
anbrechen wird. Wenngleich die zeitliche Bestimmung durch Lord Keynes
von derjenigen des Professors Galbraith abweicht, sind die Grundgedanken
zum Thema weitgehend dieselben. Keynes legt seinen Glauben an eine
Zukunft der Fülle im Vorwort zu seinen „Essays in Persuasion“ deutlich
dar. Er schreibt, er habe „die feste Überzeugung, daß das Wirtschaftsproblem,
wie man es kurzgefaßt nennen kann, das Problem des Mangels
und der Armut, des wirtschaftlichen Kampfes zwischen Klassen und Nationen,
nichts weiter als eine gräßliche Gedankenverwirrung, eine vorübergehende
und unnötige Gedankenverwirrung ist.“ Lord Keynes fährt fort,
daß er trotz aller seiner Unglücksprophezeiungen dennoch die Hoffnung
und den Glauben habe, daß der Tag nicht mehr ferne sei, an dem das
Wirtschaftsproblem den Platz im Hintergrund belege, auf den es gehöre,
und daß die Arena des Herzens und des Geistes von unseren wirklichen
Problemen eingenommen, oder besser: wieder eingenommen werde — den
Problemen des Lebens und der menschlichen Beziehungen, des Schöpferischen,
des Verhaltens und der Religion. Darüber hinaus glaubt Keynes,
„die westliche Welt hätte bereits die Hilfsquellen und die Technik — wenn
wir nur die Organisation schaffen könnten, sie zu gebrauchen —, die in
der Lage wären, das Wirtschaftsproblem, welches heute unsere sittlichen
und materiellen Kräfte voll beansprucht, auf eine zweitrangige Bedeutung
zurückzuschrauben“. Kurz gesagt, er deutet an, daß wir die Mittel haben,
um die Armut abzuschaffen, wir seien bis jetzt nur noch nicht fähig, unsere
Angelegenheiten so in Ordnung zu bringen, daß wir dieses Ziel erreichen
können.
Gehen wir weiter zu Professor Galbraiths Bemerkungen. Da er die Ansicht vertritt, wir seien nicht nur unfähig, mit wirtschaftlichem Überfluß richtig umzugehen, sondern bemerkten nicht einmal, daß uns dieser Überfluß Probleme aufgibt, wendet sich Galbraith mit aller Entschiedenheit an die westliche Welt des Überflusses. Im letzten Absatz seines Buches „Die Überfluß-Gesellschaft“ gebraucht er dafür die folgenden oft zitierten Worte: „Ein leeres Zimmer einzurichten, ist eine gute Sache. Es fortgesetzt mit Möbeln vollzustopfen, bis sich die Balken biegen, ist etwas ganz anderes. Hätten wir das Problem der Produktion von Gütern nicht gelöst, müßte der Mensch sich weiterhin mit seinem ältesten, schlimmsten Unglück abfinden. Wenn wir aber nicht sehen könnten, daß wir dieses Problem gelöst haben, wenn wir jetzt nicht zur nächsten Aufgabe fortschritten, wäre dies genau so tragisch.“ So glaubt auch Professor Galbraith, daß die westliche Welt die Schallmauer des Mangels durchbrochen hat. Er ist zutiefst besorgt über die Art und Weise, wie wir unsere Wahlentscheidungen bei der Verwendung unseres Reichtums treffen. Ihm geht es um die Frage, ob man bessere Schulen in Alabama oder modische Neonheckleuchten an Straßenkreuzern baut.
In den vorstehenden Zitaten befassen sich Keynes und Galbraith
vornehmlich mit den Wirtschaftsproblemen der westlichen, der sogenannten
[Seite 850]
entwickelten oder reifen Volkswirtschaften. Was sagt ein Wirtschaftler,
der sich seit langem mit der grauenhaften Armut in den Entwicklungsländern
auseinandersetzt, über die künftige Wirtschaftsgesellschaft? V.K.R.V. Rao,
ein indischer Volkswirt, glaubt an eine Zukunft wirtschaftlicher
Fülle und nennt sie eine wirtschaftliche Utopie, aber er führt aus, daß eine
solche Wirtschaftsgesellschaft geplant werden muß und wird. Im „Indian
Economic Review“ (Vol. V, Nr. 3) schreibt er über die Wirtschaftswelt von
morgen: „Meine Antwort ist klar und kategorisch. Ich glaube an eine
wirtschaftliche Utopie; ich weiß, daß sie verwirklicht werden kann, aber sie
wird nicht auf natürlichem Wege zustande kommen ... Wenn die Menschheit die
wirtschaftliche Utopie erreichen soll, setzt dies die umsichtige,
planvolle Aktion der gesamten Menschenrasse voraus. Diese Aktion umfaßt
selbstverständlich sowohl die unterentwickelte wie die entwickelte Welt,
die noch nicht gestarteten wie die reifen Volkswirtschaften.“
Ob wir unseren Ausgangspunkt bei Lord Keynes suchen, einem britischen Wirtschaftswissenschaftler, der sich gründlich mit der Depression der dreißiger Jahre befaßte, oder bei Professor Galbraith, einem Wirtschaftshistoriker, der die Art und Weise in Frage stellt, wie wir in den Vereinigten Staaten die Entscheidung über den Einsatz unseres Überflusses treffen, oder aber bei Professor Rao, einem indischen Nationalökonomen, der täglich den circulus vitiosus der Armut seines Landes vor Augen hat — die Antwort scheint so ziemlich dieselbe zu sein. Wahrscheinlich deshalb, weil sich noch innerhalb des zwanzigsten Jahrhunderts die Umrisse einer Wirtschaftswelt abzeichnen, in der alle Kinder Schuhe haben werden. Die westlichen Volkswirtschaften haben heute nicht nur wirtschaftlichen Überfluß, sondern auch das Potential für immer größere Massen der Produktion. Die erstaunlichen Entwicklungen bei der landwirtschaftlichen Erzeugung, verbunden mit der enorm gesteigerten industriellen Produktivität, macht es zum ersten Mal in der Geschichte möglich, die Abschaffung der Weltarmut anzuvisieren. Aber die Feststellung, die Menschheit habe das Produktionspotential, um die Armut aus der Welt zu schaffen, ist etwas ganz anderes als die Feststellung, die westliche Gesellschaft werde ihre Angelegenheiten so regeln, daß eine Wirtschaftsgesellschaft des Überflusses zustandekommt. Das zweite geht ein bißchen weiter am Kern der Sache vorbei. Die Art und Weise, wie die Welt von morgen ihre wirtschaftlichen Kräfte einsetzt, hängt mit dem zusammen, was jeden Tag in unserem Land und zwischen den Nationen passiert.
Die technische Revolution ...
Lassen Sie uns einige der Kräfte betrachten, die von Wissenschaft und
Technik ausgelöst worden sind und die unheilvoll am Himmel des zwanzigsten
Jahrhunderts donnern — Kräfte, die der Menschheit einerseits eine
Welt ohne Armut bieten, andererseits die Welt, in der wir jetzt leben,
drastisch verändern. Obwohl diese Kräfte unentwirrbar miteinander verflochten
sind, können wir zwei Entwicklungsketten herauslösen, die unser
Leben grundlegend wandeln: erstens die Erfindung solch mörderischer
Waffen, die den Menschen zu der Einsicht zwingen, daß der Krieg als Ausweg
[Seite 851]
zur Lösung internationaler Konflikte nicht länger möglich ist; zweitens
die Revolution im Nachrichten- und Transportwesen, die unseren Planeten
zu einer physikalischen Einheit werden ließ.
Als die Völker noch mit vorindustriellen Eisenwaren ausgerüstet waren, konnten sie Kriege austragen, die nur begrenzte Wirkung hatten; wenn es viel war, tötete man dabei ein paar tausend Soldaten am Tag. Heute machen es die Atomwaffen möglich, unseren Planeten fast vollständig zu vernichten. Unter diesen Umständen fällt ein Weltkrieg als tragbare Lösung internationaler Probleme aus. Wenngleich hier und dort Kriege für kürzere oder längere Zeit ausbrechen können, ist ein totaler Krieg, wie er mehrere Male im zwanzigsten Jahrhundert vorkam, nicht länger durchführbar. Die Abschaffung des Krieges wird unermeßliche wirtschaftliche Folgen haben.
Heute geben die Nationen ungeheuere Mittel für Verteidigungszwecke aus, einschließlich der Ausbildungs- und Unterhaltskosten für Soldaten, der Kosten für Düsenflugzeuge und Flugzeugträger und des Forschungsaufwands für Wasserstoffbomben. Jedoch der größte Verlust vom wirtschaftspolitischen Standpunkt her ist die Ablenkung der fähigsten Arbeitskräfte aller Nationen von der Produktion von Nahrungsmitteln und anderen dringend benötigten Gütern zur Produktion von Krieg. Wenn die Völker die Kosten überflüssiger Aufrüstung nicht länger auf sich nehmen, werden sie in der Lage sein, ihre Verteidigungsetats auf die Nutzbarmachung der Kernfusion für industrielle Zwecke, auf den Bau besserer Schulen und Straßen, auf die Ausbildung von Wissenschaftlern, Schriftstellern und Technikern umzulenken. So gut die Völker ihre Kräfte für die Aufrüstung mobilisieren können, so gut können sie dies auch, um Wachstum und Entwicklung herbeizuführen. Ein Volk kann viele Arten von Kriegen führen — eine davon heißt „Kampf gegen die Armut“.
Es geht nicht mehr an, daß ein Volk oder eine Volksgruppe Hunger leidet, während andere nicht wissen, wohin mit dem Überfluß; dieser Zustand führt zum Krieg, der heute in der Vernichtung enden kann. Auch Professor Rao legt in dem zuvor zitierten Aufsatz die komplizierte Wechselbeziehung zwischen dem Krieg und dem wirtschaftlichen Wohlstand dar, wenn er schreibt: „In einer beständig vom Krieg bedrohten Welt kann sich unsere wirtschaftliche Utopie nicht wirklich entfalten, und wenn sie sich entfaltet, kann sie nicht von Dauer sein. Sollte es zum Krieg kommen, würde dies nicht nur das Ende unserer Wirtschaftsutopie bedeuten, sondern vielleicht gar das Ende des Menschen selbst. Die Drohung des Krieges aber wird fortbestehen, so lange es größere Gebiete mit unterentwickelten Ländern in der Welt gibt.“ Länder, die von Armut gezeichnet sind, werden immer Zielscheiben für das propagandistische Geschwätz angriffslustiger Nationen sein, und Diktatoren werden dort weiterhin ihre verarmten Untertanen zu „Befreiungskriegen“ aufputschen können, um sich mit Gewalt die reicheren Hilfsquellen der umliegenden Völker anzueignen.
Die Revolution des Verkehrs- und Nachrichtenwesens zwingt heute die
Völker und Nationen mit Überschallflugzeugen und Fernsehsatelliten zu
der langsam dämmernden Erkenntnis, daß niemand mehr isoliert leben
[Seite 852]
kann. Folgerichtig kann auch der Steinreiche nicht mehr Tür an Tür mit
dem Bettelarmen leben, und die wohlhabenden Nationen können nicht länger
mit den „Habenichts-Ländern“ koexistieren. Wir sind in einer bemerkenswert
kniffligen Situation: Die Völker können nicht länger in der bisher gewohnten
Weise miteinander kämpfen, weil die ganze Welt in die
Luft gehen könnte, noch können sie sich dagegen sperren, an dem verwickelten
Prozeß teilzunehmen, der auf unserem Planeten vor sich geht.
Die Nationen sind dementsprechend im Begriff, ihre Angelegenheiten
national und international neu zu ordnen.
...zwingt zum Umdenken
Ob wir daran glauben oder nicht, daß die wissenschaftlichen und technischen Durchbrüche dieses Jahrhunderts den Menschen zwingen, sein politisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches Verhalten zu ändern, steht überhaupt nicht zur Debatte. Die Welt, in der wir leben, ist im Begriff, sich in einen enorm leistungsfähigen, komplexen Organismus zu verwandeln. Kein Teil davon kann isoliert weiterbestehen, sei es eine Rasse oder eine Nation. Der Mensch wird gezwungen, sich bewußt zu werden, wie sehr er mit der Menschheit verbunden ist. Diese neue Dimension des menschlichen Bewußtseins zeigt sich deutlich in den politisch-wirtschaftlichen Programmen, die in den letzten Jahren entfaltet wurden.
Aus dem Sumpf des zwanzigsten Jahrhunderts ragen wirtschaftliche Werkzeuge, mit denen wir im nationalen Bereich und in weltweitem Rahmen Wachstum und Entwicklung vorantreiben können. Heute mühen sich die Wirtschaftswissenschaftler um die überwältigenden Probleme der Entwicklungsländer und die Probleme der größtmöglichen Beschäftigung, des Wachstums und der Preisstabilität, mit denen die ausgereiften Volkswirtschaften fertig werden müssen. Selbst in den Vereinigten Staaten als einem Land, das sich am privaten Unternehmertum ausrichtet, entwickelt man ein wirtschaftspolitisches Instrumentarium für die Überwachung der Konjunkturschwankungen, der Arbeitslosigkeit und des Volkseinkommens. Die westlichen Nationen einschließlich der Sowjetunion entwerfen neue Methoden, um eine Reihe von Programmen in „Habenichts-Ländern“ voranzutreiben. Vor allem aber entwickeln sich langsam die Institutionen, die eine Weltwirtschaft des Überflusses braucht: zum Beispiel die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Weltbank), der Internationale Währungsfonds und die vielen Vorschläge für eine Weltwährung.
So bauen wir an einem weltwirtschaftlichen System, in dem keiner mehr
Hunger leiden wird und in dem alle Schuhe haben, auch wenn einige mehr
und andere weniger besitzen. In den kommenden Jahrhunderten werden
verbrauchte Herzklappen durch neue ersetzt werden. Die Menschen werden
nicht nur um die Erde fliegen, sondern auch in den Raum hinaus. Mineralöl
aus tierischen Fossilien wird als überholt abgetan; stattdessen wird
Kernenergie für industrielle Zwecke verwendet. Und der Krieg wird nicht
länger als eine Lösung für irgendwelche Probleme betrachtet. Die Menschen
werden nicht länger materielle Güter ansammeln, um sich selbst
aufzuwerten, vielmehr wird der Entwicklungszustand ihrer Herzen, ihres
[Seite 853]
Gemüts, ihres Bewußtseins Maßstab des Erfolges sein — nicht der
Wohnkomfort ihrer Häuser oder die vielen Paare Schuhe, die sie besitzen, denn
diese sind keine Wertsymbole mehr in einer Welt, die wirtschaftlichen
Mangel überwunden hat. Aber wenn sie im Rückblick auf uns als ein
niedrig gesinntes, materialistisches Geschlecht herunterschauen, dann sollen
sie sich zugleich bewußt machen, wie sehr sie es der Technik, die wir
entwickelt haben, und den von uns entworfenen Maschinen verdanken, daß
sie sich die Zeit zum Nachdenken, zu geistigem Wachstum und zur
Entwicklung ihrer Herzen und Seelen kaufen können.
- ——————————
- aus „World Order, A Bahá’í Magazine“, Jahrgang 2, Nr. 2, Wilmette/Ill., Winter 1967
- Dr. Mary Fish promovierte an der Universität von Oklahoma, Sie ist außerordentliche Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Alabama und Mitglied des Forschungsstabs beim staatlichen Investitionsplan für die Appalachen von Alabama.
Von unserem Büchertisch[Bearbeiten]
Karl R. Popper, „Das Elend des Historizismus“, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1965, 132 Seiten, geb. DM 21.50.
„Dem Andenken ungezählter Männer, Frauen und Kinder aller Länder, aller Abstammungen, aller Überzeugungen, Opfer von nationalistischen und kommunistischen Formen des Irrglaubens an unerbittliche Gesetze eines weltgeschichtlichen Ablaufs“ widmet der als Methodiker der Sozialwissenschaften bekannte deutsch-englische Professor der Philosophie seine Kritik des Historizismus. Mit dem Titel seines Werks knüpft er an „Das Elend der Philosophie“ an, mit dem Karl Marx eine Schrift Proudhons, „Philosophie des Elends“, kritisiert hatte. Die Definition des Historizismus umfaßt — zunächst provisorisch — „jene Einstellung zu den Sozialwissenschaften, die annimmt, daß historische Voraussage deren Hauptziel bildet und daß sich dieses Ziel dadurch erreichen läßt, daß man die ‚Rhythmen’ oder ‚Patterns’, die ‚Gesetze’ oder ‚Trends’ entdeckt, die der geschichtlichen Entwicklung zugrundeliegen“ (S. 2). Die Kritik richtet sich aber nicht nur gegen Lehrgebäude wie diejenigen von Marx, Spengler oder Toynbee; sie trifft alle spirituellen und theistischen, ökonomischen, organologischen und naturalistischen Formen des Glaubens an einen bestimmten Verlauf und ein wißbares Ziel der Geschichte. Der Standpunkt, den Popper dabei einnimmt, ist ein „kritischer Rationalismus“ auf der Grundlage des „Prinzips einer dauernden Fehlerkorrektur“: die „Stückwerks“-Methode, politisch-soziale Nahziele anzustreben, ständig auf der Hut vor Fehlern zu sein und bewußt daraus zu lernen. „Alles andere ist Größenwahnsinn und Verantwortungslosigkeit; auch dann, wenn es von den besten Absichten geleitet ist“ (S. IX).
[Seite 854]
Popper klassifiziert die Methoden und Doktrinen des Historizismus in
„antinaturalistische“ und „pronaturalistische“ Lehrsätze, je nachdem, ob
von einem Gegensatz oder einer Übereinstimmung zwischen Sozial- und
Naturwissenschaften ausgegangen wird. Der Darstellung dieser Theorien
folgt die Kritik, deren sorgfältige Pointierung das Buch zu einer wichtigen
Arbeitsunterlage für den Sozialwissenschaftler macht. Mit Nachdruck
greift Popper die „ganzheitliche Betrachtungsweise“ (Holismus) und die
Theorien eines dem Weltgeschehen immanenten Fortschritts an. So sicher
die meisten Argumente gewisse Übertreibungen und unausgegorenen
Anschauungen treffen, so ist doch auch manches — „Die Idee einer
Bewegung der Gesellschaft... ist nichts als ein verworrenes holistisches
Hirngespinst“ (S. 90) — in einer Weise vorgetragen, die an diejenigen
Mediziner erinnert, welche vor 150 Jahren nach allen Regeln der Logik und
der Wissenschaft bewiesen, ein Mensch könnte unmöglich in einer Eisenbahn
mit zehnfacher Gehgeschwindigkeit fortbewegt werden, ohne die
schlimmsten körperlichen Schäden zu erleiden.
Die Fachwelt wird sich mit Poppers Analyse auseinanderzusetzen haben. Allgemein interessant ist, daß sich der Sinn der Geschichte, Fortschritt und Entwicklung ebensowenig wissenschaftlich „beweisen“ lassen wie die Existenz Gottes und andere Glaubenskategorien. Die Geschichte hat letztlich immer den Sinn, den wir ihr geben.
Damit kommen wir zu dem Vorwurf, der Popper gemacht werden muß. Wenn er Fehlerquellen an historisierenden Lehrmeinungen aufzeigt, erwirbt er sich Verdienste, selbst in den Augen derer, die sich um eine Deutung der geschichtlichen Abläufe bemühen und ihre eigenen Methoden vervollkommnen wollen. Wenn er aber die lapidare Grundthese aufstellt, daß „die Lehre von der geschichtlichen Notwendigkeit der reinste Aberglaube ist und bleibt“ (S. VII), schüttet er das Kind mit dem Bade aus. So sehr der Mensch nach dem Sinn seines Lebens fragt und fragen muß, wenn er Mensch sein und bleiben will, so sehr muß er sich auch um die geistige Existenzgrundlage der Spezies Mensch bemühen, und dies bedeutet, nach dem Sinn der Geschichte zu forschen. Natürlich übersteigt dies — heute noch — den Bereich der exakten Wissenschaft, aber muß es deshalb gleich unwissenschaftlich und abergläubisch sein?
Was Popper bekämpft, sind die Auswüchse der Lehre von der geschichtlichen Notwendigkeit: die These von einer absoluten Zwangsläufigkeit, die den individuellen und sozial organisierten freien Willen des Menschen völlig negiert oder eng begrenzt, und die Rechtfertigung der verschiedensten Formen der Gewaltanwendung aus der Geschichte heraus. Wir wissen, daß die Politik ganzer Staatengruppen von solchen Theorien geprägt ist. So zerstörerisch und zersetzend diese „falschen Götter“ sich heute auswirken, fragt es sich doch, ob ihnen mit methodologischen Argumenten nachhaltig beizukommen ist und ob man den Historizismus durch einen Ahistorizismus überwinden kann. Genügt es, die Götzen zu zertrümmern, ohne sie durch neue, größere historische Glaubensinhalte zu ersetzen? Genügt eine „Stückwerks-Technologie“ des sozialen Fortschritts, die sich ohne klares Konzept von Korrektur zu Korrektur vorantastet?
[Seite 855]
Popper stellt selbst fest, daß ein solches „,Herumbasteln’ nicht dem
politischen Temperament vieler ‚Aktivisten’ entspricht“ (S. 54). Aber er
stellt sich nicht die Frage, warum diese „Aktivisten“ mit seiner Theorie,
man könne nur aus Fehlern lernen, nicht zufrieden sind. Begriffe wie
Leitbild, Idee, Erziehung und dergleichen kommen nicht einmal im Index
seines Buches vor. Die Möglichkeit eines religiösen Historismus läßt er
völlig außer Betracht. Gerade hier wären aber doch die in Jahrtausenden
gewachsenen „historizistischen“ Zielvorstellungen zu prüfen, die als die
Idee des Reiches Gottes nicht in ein irreales Jenseits hineinprojiziert,
sondern „auf Erden wie im Himmel“ allen Menschen guten Willens als
Aufgabe vorgesetzt sind.
Auch die Bibel entwickelt eine „Stückwerks-Technologie“ des gesellschaftlichen Fortschritts. Sie tritt in einer der schönsten Stellen des Neuen Testaments mit aller Deutlichkeit zutage (1. Kor. 13, 9—13):
- „Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Da ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, ich dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind; als ich aber ein Mann geworden, tat ich das kindhafte Wesen ab.
- Denn wir schauen jetzt wie durch einen Spiegel in rätselhaftem Bilde, dann aber von Angesicht zu Angesicht; jetzt ist Stückwerk mein Erkennen, dann aber werde ich erkennen, so wie auch ich erkannt bin. Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; am größten aber unter ihnen ist die Liebe.“
Wirklichen Zugang zum Wesen der sozialen Erscheinungen werden die Gesellschaftswissenschaften — Soziologie, Ökonomie, Jurisprudenz, Historie — erst dann gewinnen, wenn sie die Offenbarung Gottes als ein fortschreitendes Geschehen erkennen, das nicht nur die persönliche Entfaltung gläubiger Seelen bewirkt, sondern die normative Basis für die Entwicklung einer Weltgemeinschaft aller Menschen im Sinne der Realisierung eines göttlichen Heilsplans im Gang der Weltgeschichte bietet. Was in Jahrtausenden vor allem durch Moses, Christus und Muhammad vorbereitet worden ist, liegt heute in der Fülle der Offenbarung Bahá’u’lláhs als Charta einer neuen Weltordnung vor uns ausgebreitet. Hauptaufgabe der soziologischen Forschung ist es, dieses Heilsgeschehen kritisch-rational zu erfassen und historisch zu verifizieren.
- Peter Mühlschlegel
- *
„World Order. A Bahá’i Magazine“
Bereits 1910 hatten die Bahá’í der Vereinigten Staaten von Amerika eine
Zeitschrift gegründet, die sie „Bahá’í News“ nannten. Als „Star of the
West“ gewann diese Veröffentlichung an Bedeutung. 1922 wurde sie in
„The Bahá’í Magazine“, 1935 in „World Order“ umbenannt. Die Konzentration
auf die Pioniertätigkeit, d. h. die Verbreitung des Glaubens
Bahá’u’lláhs über die ganze Erde, veranlaßte den Nationalen Geistigen Rat
der Bahá’í der U.S.A. Anfang der fünfziger Jahre, die Herausgabe der
[Seite 856]
Zeitschrift einzustellen und dafür die „Bahá’í News“, das interne
illustrierte Mitteilungsblatt, auszubauen.
Im Herbst 1966 ist „World Order“ als Vierteljahresschrift wiedererstanden. Sie verfolgt die Absicht, „denkende Menschen in ihrer Suche nach Bindegliedern zwischen modernem Leben und zeitgenössischer religiöser ' Lehre und Philosophie anzuregen und zu inspirieren“. Dabei wendet sie sich an die breite Öffentlichkeit so sehr wie an die Bahá’í und befaßt sich mit „Fragen des internationalen Friedens, der Weltregierung, der Vereinten Nationen, einer weltweiten Gesetzgebung und der Menschenrechte so gut wie mit Religionsvergleichen, Wissenschaften, Literatur und Kunst.“
Die ersten Hefte im repräsentativen Lexikonformat brachten neben vielen anderen Beiträgen Aufsätze über soziologische Probleme und Kindererziehung, eine Einführung in die Bahá’í-Lehren und Auszüge aus den Berichten des russischen Gesandten in Teheran an seine Regierung über die Bábí-Verfolgungen zwischen 1848 und 1856. Einen Höhepunkt bildete das Winterheft 1967, dem wir den Aufsatz „Alle Kinder werden Schuhe haben“ von Frau Prof. Dr. Mary Fish entnommen haben. Diesem Heft ist ein Aufruf zu weltweitem Denken von Lester B. Pearson, bis vor kurzem Ministerpräsident von Kanada, vorangestellt; es steht im Zeichen der Proklamation Bahá’u’lláhs an die Herrscher Seiner Zeit und leitet über zu Erziehungsfragen im Sinne der Heranbildung neuer sozialer Strukturen. „Die unerwarteten Wirkungen der Religion auf Ihre Persönlichkeit“ ist eine religionssoziologische Untersuchung von Dr. James J. Keene überschrieben: Keene hatte in einer umfangreichen Repräsentativerhebung die Bewußtseinsstrukturen von sorgfältig ausgewählten typischen Katholiken, Protestanten, Juden und Bahá’í erfaßt und kommt dabei zu verblüffenden Ergebnissen.
Anforderungen von Probeheften und Bestellungen sind zu richten an „World Order“, 112 Linden Avenue, Wilmette, Ill. 60091, USA. Den Bestellungen ist ein Scheck über US $4.— pro Jahresabonnement beizufügen.
- pmh.
- *
Rudolf Dreikurs/Vicki Soltz: „Kinder fordern uns heraus“. Deutsch von Erik Blumenthal. Ernst-Klett-Verlag, Stuttgart, 331 Seiten, Leinen DM 19.50.
- „Diese Elternbibel gehört in jede Familie. Am simplen alltäglichen kleinen Konfliktfall, der sich in der Häufung jedoch katastrophal auszuwirken pflegt, hängt der Verfasser unkomplizierte, leichtdurchschaubare Lösungen auf, die jedermann bei einiger gelehriger Selbstkenntnis und Selbsterziehung nachvollziehen kann. Für jeden, der Kinder zu erziehen oder unerzogene in seiner Umgebung zu ertragen hat!“
(DIE BÜCHERKOMMENTARE, Freiburg)
Ich würde das Buch nicht „eine Elternbibel“ nennen, obwohl es zweifellos
in vielen Familien eine große Hilfe zur Lösung der vielen kleinen
Alltagsprobleme bedeutete. Das Problem der Kindererziehung wird immer
[Seite 857]
schwieriger und komplizierter. Die Autorin, Vicki Soltz, bringt die
Probleme sozusagen auf einen gemeinsamen Nenner und macht sie klar und
verständlich: Wir leben in einer neuen Zeit, und es ist die Diskrepanz
zwischen der neuen Lebensweise und den veralteten Erziehungsmethoden, die
die Probleme heraufbeschwören. Weil jedoch soviel Widersprüchliches
über „neue Erziehungsmethoden“ geschrieben wird, beginnen die Eltern
und Erzieher mit Zweifeln und Vorurteilen an jegliche neue Erziehungsmethode
heranzugehen. Dabei ist eine der wichtigsten Forderungen unserer Zeit,
Vorurteile abzulegen. Das Buch „Kinder fordern uns heraus“ bemüht sich,
gerade das zu tun. Es ist ein Buch, das Eltern erziehen will!
Es will sie anleiten, die Probleme ihrer Kinder zu lösen.
Vicki Soltz erklärt nicht lang. Anhand unzähliger Alltagsbeispiele beweist sie, wieso die alte Methode der Autorität, des Zwanges, der Überlegenheit des „Stärkeren“ nicht mehr in unsere neue Zeit der „Demokratie“ paßt, sondern elend versagt.
Manches Mal erscheinen die vielen Beispiele fast überflüssig, sie sind so einleuchtend, so klar und selbstverständlich — bis man plötzlich in unmittelbarer Nähe, oft bei seinen eigenen „fortschrittlichen“ und „aufgeklärten“ Freunden, bei Verwandten, in der Bahn, in einer Festversarnmlung dieselben Schwächen, dasselbe Nachgeben, dasselbe Reden statt des Handelns wahrnimmt, wie von Frau Dr. Soltz so meisterhaft geschildert. Ihre Lösungen der Probleme sind so logisch und klar, daß man sich oft wundert, daß sie überhaupt in Worte gefaßt werden müssen. Doch für Väter, Mütter, Erzieher — und sind wir nicht alle, die mit Kindern in Berührung kommen und sie beeinflussen, „Erzieher“? — sind sie wertvolle Spiegelbilder von Reaktionen, die wir oft nicht selber wahrnehmen.
Ein typisches Beispiel:
Donald, sechs Jahre alt, und Pit, vier Jahre alt, kamen zusammen mit dem Hund mit schmutzigen Füßen in die Küche, „O“, schrie die Mutter, „gerade habe ich den Küchenboden sauber gemacht. Was glaubt ihr denn, was ich bin? Schaut, was ihr getan habt! Wie oft muß ich euch noch sagen, die Füße abzuputzen, ehe ihr ins Haus kommt? Setzt euch jetzt dorthin und zieht eure Schuhe aus. Jetzt kann ich wieder von vorne anfangen!“ Die Mutter warf die Schuhe vor die Tür, um sie später zu putzen, und wischte den Boden wieder auf. Die Kinder rannten auf ihren Strümpfen herum.
Stellungnahme: Die Kinder tun, was sie wollen, während die Mutter die Folgen auf sich nimmt, sich mißbrauchen läßt und durch Schelten bestraft. Die Mutter sollte damit aufhören, Worte als Waffen zu benützen, und müßte den Kindern den Schrubber in die Hand drücken. Sie kann damit logische Folgen eintreten lassen. Wie kann sie kochen, solange die Küche so schmutzig ist?
Oder Beispiel Nr. 20:
„Lilli, ich sagte, du könntest diese Woche nicht mit Jo ins Kino gehen,
weil du das letztemal zu spät heimgekommen bist.“ Mutter sprach ruhig
mit ihrer Neunjährigen. Die Augen des Mädchens füllten sich mit Tränen.
[Seite 858]
Sie wandte sich ab, ohne mit Erklärungen zu kommen. Die Mutter hatte
ein scheußliches Gefühl. Lilli war so sehr getroffen. „Was wird denn diese
Woche gespielt?“ „Das spielt ja keine Rolle, Mutti, wenn ich nicht gehen
darf“, antwortete sie mit Tränen in ihrer Stimme. „Ich glaube, du sagtest
mir, es laufe ein Film von Disney?“ „Ja!“ Die Mutter überlegte. „Wenn
ich dich diesmal gehen lasse, wirst du dann gleich heimkommen?“ Immer
noch voll Tränen antwortete Lilli: „Ja, Mutti!“ „Gut, wenn du aber nicht
zeitig heimkommst, laß ich dich nächstesmal nicht gehen, gleichgültig, was
gespielt wird! Verstehst du?“ „Ja, Mutti!“
Stellungnahme: Lilli hat den Wert der „Wasserkraft“ erkannt und rief Mitleid hervor, um das zu bekommen, was sie wollte. Die Mutter fiel darauf herein. Sie hatte nicht den Mut, „nein“ zu sagen, und war inkonsequent. Die Mutter sollte sich durch Lillis Tränen und ihre gekränkte Niedergeschlagenheit nicht beeindrucken lassen. Wenn Lilli sich nicht an die getroffene Vereinbarung hält, zeitig heimzukommen, ist die logische Folge, daß sie das nächstemal nicht gehen kann. Die Mutter kann fest bleiben und Ordnung aufrechterhalten.
Ein Kind räumt sein Zimmer nicht auf. Die Mutter sagt: „Gut, du kriegst kein Eis heute Nachmittag.“ Daß dies eine unlogische Strafe ist, wird jedem klar sein. Aber wie oft passiert es!
Ein Kind ißt sein Gemüse nicht auf. Die Mutter sagt: „Dann bekommst du keinen Nachtisch.“ Das ist eine logische Strafe.
Die meisten „neuen Prinzipien der Erziehung von Kindern“ in diesem Buch kann man vollauf unterschreiben.
- Z.B.: das Kind ermutigen,
- natürliche und logische Folgen anwenden,
- fest sein, ohne zu beherrschen,
- sich Zeit mit Kindern nehmen,
- handeln, nicht reden,
- die Unabhängigkeit fördern,
- sich nicht auf einen Machtkampf einlassen.
Ausgezeichnet ist die Schlußidee, einen Familienrat zu bilden. Dadurch scheiden automatisch viele Erziehungsprobleme aus.
Ja, es ist entschieden ein Buch, das man Freunden, die Kinder haben, in die Hand drücken sollte. Und keinem würde es schaden, wenn er selber ein bißchen darin rumschnüffelte — um vielleicht gar seine eigene Karikatur irgendwo zu entdecken. ...
Etwas, was man vielleicht beanstanden könnte, ist das Übergewicht,
das die Autorin auf den Machtkampf als Ursache der meisten Erziehungsprobleme
legt. Wir wissen, daß Ungezogenheit bei Kindern meist auf einen
Geltungstrieb zurückzuführen ist, und daß tatsächlich das Kind die
Aufmerksamkeit der Eltern oder betreffenden Erzieher erheischt. Aber
sind verärgerte Aufmerksamkeit, Prügel und Bestrafung wirklich eine
[Seite 859]
„Befriedigung“ für das Kind, nur weil es den Machtkampf gewonnen hat?
In meiner langjährigen Erfahrung als Heimleiterin und Hausmutter, als
Mutter und Großmutter habe ich gefunden, daß es viel eher Liebe und
Geborgenheit sind, die das Kind ersehnt. Und wo es sich irgendwie darin
bedroht fühlt, entartet das normale, gesunde, natürliche, gottgewollte
Benehmen des Kindes, und Probleme stellen sich ein. Elterliche Wärme und
ihr gutes Beispiel sind immer die wichtigsten Faktoren jeglicher Erziehung.
Und alle die logischen Folgen, die konsequente Behandlung, die
natürlichen Strafen dürfen nie kalte Berechnung sein, sondern müssen
durchglüht sein von der elterlichen Liebe.
- Etty Graeffe, Locarno
- *
Gerhard Rosenkranz: „Der christliche Glaube angesichts der Weltreligionen“, Sammlung Dalp Band 100, Francke Verlag, München/Bern 1967, Ln. DM 15.80
Die unüberschaubare Fülle populärwissenschaftlicher Abhandlungen über die Begegnung der Religionen hat mit diesem Buch einen markanten theologischen Akzent erhalten. Wo Visser’t Hooft der „jüngsten synkretistischen Welle“ das Paradox eines „christlichen Universalismus“ entgegenstellt1), holt Rosenkranz, als Professor für Missionswissenschaft und ökumenische Theologie aus der Marburger Schule hervorgegangen, zu einer umfassenden Analyse der „existentiellen Konfrontation“ des christlichen Glaubens mit den Weltreligionen aus. Dies geschieht durch eine eingehende Darstellung der Religionen in der Sicht des christlichen Glaubens, historisch aufgebaut vom Neuen Testament bis zur Theologie des 20. Jahrhunderts. Aber beim Neuen Testament ist, wie üblich, viel von Paulus und wenig von Jesus die Rede, bei Luther ist „des Türken Alkoran ... ein faules, schändliches Buch“ (S. 159), und den Bemühungen Friedrich Heilers um „die letzte und tiefste Einheit aller Religionen .., die man nicht künstlich herzustellen, sondern nur aus der Tiefe emporzuheben braucht“ (S. 187), glaubt Rosenkranz „eine ‚Intoleranz‘ des Evangeliums“ (S. 189) entgegenstellen zu müssen: „Sätze wie ‚Gott ist Liebe‘, ‚Die Liebe ist ein göttliches Werk‘ mit den Folgerungen, die für den Menschen daraus gezogen werden, sind nun einmal nicht ‚universal-religiös, allgemein-menschlich‘, sondern ‚christlich‘. Sie bleiben es auch dort, wo sich Religionen heute durch Übernahme einer christlichen Liebesethik modernisieren“ (S. 188). Ein Glück für die Menschheit, daß die Weltreligionen das wenigstens tun dürfen und daß es kein Patent auf die christliche Erfindung der Liebe gibt!
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- Wäre diese Sendung abzuleugnen, welche Sache auf Erden wäre dann der Darlegung wert oder verdiente, anerkannt zu werden?... Sprich: Sterbet in eurem Zorn! Wahrlich, Er kam mit einer Sache, die keiner leugnen kann, der mit Gesicht, Gehör, Scharfsinn, Gerechtigkeit und Unparteilichkeit ausgestattet ist. Dies bezeugt die Feder des Urewigen in dieser Zeit des deutlichen Beweises.
- Bahá’u’lláh
- (Tablet Ishráqát)
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[Seite 860]
Die Auffassung, wir hätten ja alle denselben Gott und alle Religionen
seien „gleich“, ist „ein aus plattester Aufklärung zurückgebliebenes
Armutszeugnis religiöser Indifferenz“ (S. 37). So ist es nicht verwunderlich,
daß Rosenkranz die Bahá’í-Religion (S. 45, 101), die er von seinen
wiederholten Studien her2) besser kennen sollte, mit gewissen
synkretistischen Bewegungen auf eine Stufe stellt: „Keine von ihnen, wie
sehr sie ihre universale Bestimmung herausstellt, ist davon frei, sich selbst
geradezu mit irritierender Naivität als Mitte und Maß des von ihr vertretenen
Universalismus zu betrachten“ (S. 102). Sich mit dem Anspruch, den Lehren und
Gesetzen Bahá’u’lláhs sachlich zu befassen, hält er nicht für nötig.
Wer bisher im Zweifel war, hat in diesem Buch den Nachweis, daß religiöse Einheit vom Christentum her unmöglich ist; sie ist allenfalls durch „die Weltvollendung im zweiten Kommen Christi“ denkbar, die Rosenkranz als die höchste christliche Hoffnung darstellt (S. 251). Die Frage ist, wann die christliche Theologie aufhören wird, diese Wiederkunft dogmatisch zu präjudizieren, wann die Christen sich wirklich auf die Suche nach dieser Wiederkunft begeben, indem sie sich „freimachen von allem trübenden Staub erworbenen Wissens“3) und vor allem das Gemeinsame, Sinnvolle anstelle des Andersartigen, Zufallsbedingten zu ihrem Maßstab machen. Dann werden sie in allen Religionen ein wesentliches Verheißungsmoment entdecken, das Rosenkranz fast völlig verschweigt: In allen Religionen sind diese Wiederkunftserwartungen lebendig; sie sind der dynamische Impuls, der die Weltgeschichte zur Heilsgeschichte macht. Kann man glauben und hoffen, Gott werde den Christen eine Sonderausführung von Jüngstem Gericht und Auferstehung bereiten und alle Andersgläubigen ins Unrecht setzen?
- P. M.
- 1) W. A. Visser’t Hooft, „Kein anderer Name. Synkretismus oder christlicher Universalismus?“, Basel 1965, vgl. Rezension in „BAHA’I-BRIEFE“, Jan. 1967/Heft 27, S. 689 ff.
- 2) Gerhard Rosenkranz, „Die Bahá’í, ein Kapitel neuzeitlicher Religionsgeschichte*, Lebendige Wissenschaft, Heft 11, Kreuz-Verlag, Stuttgart 1949; vgl. „Betrachtungen“ von O. G. in „Sonne der Wahrheit“, 19. Jahrgang 1949, S. 155 ff.
- Dgl., „Die Bahá’í. Eine junge ‚Weltreligion‘ faßt in Deutschland Fuß“, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3. 5. 58; vgl. Kritik von Dr. U. Schaefer, „Die Bahá’í-Religion im Spiegel christlicher Betrachtung“, hgg. vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland e. V., Frankfurt 1960.
- 3) Bahá’u’lláh, „Das Buch der Gewißheit“ (Kitáb-i-Iqán), Frankfurt/Main 1958, S. 118.
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