Bahai Briefe/Heft 34/Text

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BAHÁ'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:


Bahá’u’lláh über die menschlichen Pflichten

Das Jahr der Menschenrechte

Konventionen genügen nicht

Die Aufgaben der Frau

Fotos aus der Bahá’í-Welt


HEFT 34 OKTOBER 1968

D 20155 F


[Seite 880] [Seite 881]



Alle Menschen wurden erschaffen,
eine fortschreitende Kultur
voranzutragen. Der Allmächtige
bezeugt Mir: Wie die Tiere auf dem
Felde zu handeln, ist des Menschen
unwürdig. Die Tugenden, die zu
seiner Würde passen, sind Geduld,
Erbarmen, Mitleid und Güte für
alle Menschen und Geschlechter der
Erde.
Bahá’u’lláh


(Ährenlese CIX)



[Seite 882]



Die menschlichen Pflichten[Bearbeiten]

Worte von Bahá’u’lláh


O Sohn des Menschen!

Wenn du Barmherzigkeit übtest, würdest du nicht deinen eigenen, sondern den Nutzen der Menschheit im Auge behalten. Wenn du Gerechtigkeit übtest, dann würdest du für andere nur wählen, was du auch für dich selbst wählst.

(Worte der Weisheit)
*


O Sohn des Geistes!

Gerechtigkeit ist in Meinen Augen das Kostbarste; wende dich nicht von ihr ab, wenn du nach Mir verlangst, und mißachte sie nicht, damit Ich dir vertrauen kann. Durch ihre Hilfe wirst du mit deinen eigenen Augen und nicht mit denen anderer sehen und durch die eigene Erkenntnis und nicht durch die deines Nächsten Wissen erlangen. Erwäge in deinem Herzen, wie du sein solltest. Wahrlich: Gerechtigkeit ist Meine Gabe an dich und das Zeichen Meiner Güte. Halte sie dir immer vor Augen.

(Verborgene Worte, arab. 2)
*


Wendet euch der Förderung des Wohlergehens und der Ruhe der Menschenkinder zu. Widmet euren Geist und Willen der Erziehung der Völker und Geschlechter der Erde, damit die Zwietracht, die sie spaltet, durch die Macht des Größten Namens von ihrem Angesicht getilgt und die ganze Menschheit zum Erhalter einer Ordnung und zu Bewohnern einer Stadt werde. Erleuchtet und heiligt eure Herzen. Laßt sie nicht durch die Dornen des Hasses und die Disteln der Bosheit entweiht werden. Ihr wohnt in einer Welt und seid durch das Wirken eines Willens erschaffen worden, Selig ist, wer sich mit allen Menschen im Geiste höchster Freundlichkeit und Liebe verbindet.

(Ährenlese CLVI)
*


O ihr einander bekämpfenden Völker und Geschlechter der Erde! Wendet euer Angesicht der Einheit zu und laßt den Glanz ihres Lichtes auf euch scheinen. Versammelt euch und beschließt um der Sache Gottes willen, all das auszurotten, was die Quelle des Streites unter euch ist... Die Völker der Welt, welcher Rasse oder Religion sie auch angehören mögen, leiten ihre Erkenntnis unzweifelhaft aus einer himmlischen Quelle her, und alle sind die Geschöpfe eines Gottes. Die Verschiedenheit ihrer Lebensordnungen muß den andersartigen Anforderungen und Bedürfnissen des Zeitalters zugeschrieben werden, in dem sie geoffenbart wurden. [Seite 883] Alle außer wenigen, die das Ergebnis menschlicher Verderbtheit sind, traten auf Gottes Geheiß in Erscheinung und sind ein Abglanz Seines Willens und Seiner Absicht. Erhebt euch, ausgestattet mit der Kraft des Glaubens, und reißt die Götzen eurer eitlen Einbildungen, die Zwietracht unter euch säten, in Stücke. Dies ist das erhabenste Wort, das das Mutterbuch auf euch herabgesandt und euch geoffenbart hat. Das bezeugt die Zunge der Größe aus ihrer Wohnung der Herrlichkeit.

(Ährenlese CXI)
*


Selig ist, wer seinen Bruder sich selbst vorzieht.

(Worte des Paradieses)
*


O Menschenkinder!

Wißt ihr, warum Wir euch alle aus dem gleichen Staube erschaffen haben? Damit sich keiner über den anderen erhebe. Erwägt immer im Herzen, wie ihr erschaffen wurdet. Da Wir euch alle aus dem gleichen Stoff erschufen, ziemt es euch, wie eine einzige Seele zu sein, in gleicher Weise zu wandeln, in gleicher Weise zu essen und im gleichen Lande zu wohnen, damit aus eurem innersten Wesen durch eure Taten und Handlungen die Zeichen der Einheit und das Wesen der Loslösung sichtbar werden. Dies ist Mein Rat an euch, o Kinder des Lichts. Beachtet diesen Rat wohl, damit ihr die heiligen Früchte vom Baume der höchsten Herrlichkeit erlanget.

(Verborgene Worte, arab. 68)
*


In dem Wunsche, die Vorbedingungen für den Frieden und die Ruhe der Welt und für den Fortschritt ihrer Völker zu offenbaren, hat das Erhabene Wesen geschrieben: Die Zeit muß kommen, da die gebieterische Notwendigkeit zur Abhaltung einer ausgedehnten und allumfassenden Versammlung der Menschen universal erkannt wird. Die Herrscher und Könige der Erde müssen ihr unbedingt beiwohnen und, an ihren Beratungen teilnehmend, solche Wege und Mittel erwägen, die den Grund zum Größten Weltfrieden unter den Menschen legen. Ein solcher Friede erfordert, um der Ruhe der Völker der Erde willen, daß die Großmächte sich zu völliger Versöhnung untereinander entschließen. Sollte ein König die Waffen gegen einen anderen ergreifen, so müssen sich alle vereint erheben und ihn daran hindern. Wenn dies geschieht, benötigen die Nationen der Welt nicht länger irgendeine Bewaffnung, es sei denn zur Wahrung der Sicherheit ihrer Reiche und der inneren Ordnung in ihren Gebieten. Das wird den Frieden und die Ruhe jedes Volkes, jeder Regierung und Nation verbürgen. Wir hoffen sehr, daß die Könige und Herrscher der Erde, die Spiegel des gnädigen und allmächtigen Namens Gottes, diese Stufe erreichen und die Menschheit vor dem Angriff der Gewaltherrschaft beschirmen mögen. ... Der Tag ist nahe, da alle Völker der Welt eine universale Sprache und eine gemeinsame Schrift annehmen werden. Wenn dies erreicht wird, ist es für jedermann, welche Stadt er auch bereisen mag, als betrete er sein eigenes Haus.

(Ährenlese CXVII)


[Seite 884]



Einer fortschreitenden Gesellschaft dienen[Bearbeiten]

Eine „Bahá’í-Erklärung der Menschenpflichten und Menschenrechte“


Das Jahr der Menschenrechte 1968, von der Vollversammlung der Vereinten Nationen in Erinnerung an die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vor zwanzig Jahren proklamiert, ist — bis jetzt — zum Jahr der Verschärfung des Vietnam-Krieges, des Hungersterbens in Biafra, der Attentate und Rassenunruhen in den Vereinigten Staaten, einer revolutionsartigen Streikwelle in Frankreich, der Verurteilung „widernatürlicher“ Familienplanung durch den Papst, des tragischen Geschehens in der Tschechoslowakei und weltweiter Studentenunruhen geworden. Es gärt in der Menschheit, und selbst dem oberflächlichen Beobachter wird klar, was Bahá’u’lláh schon vor hundert Jahren angekündigt hat: „Neues Leben regt sich in diesem Zeitalter in allen Völkern der Erde, und dennoch hat niemand seine Ursache entdeckt oder seine Triebkraft wahrgenommen“.
Vor diesem Hintergrund erhebt sich die „Bahá’í-Erklärung der Menschenpflichten und Menschenrechte“ als ein Dokument von brennender Aktualität. Jedes Wort dieses Manifests hat in den bald 22 Jahren, seitdem es der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen überreicht wurde, durch die sich überstürzenden Ereignisse an Aussagekraft zugenommen. Vor allem die Betonung der allgemeinen Menschenpflichten als Voraussetzung für die proklamierten Menschenrechte wird hier viel deutlicher, als es die pluralistische Weltorganisation in ihrer lockeren, machtlosen Struktur ausdrücken kann: Jedem einzelnen von uns ist die Achtung vor den Menschenrechten aller anderen ebenso sehr auferlegt, wie er selbst Anspruch auf die Verwirklichung seiner persönlichen und kollektiven Menschenrechte hat.
Wir bringen im folgenden eine Übersetzung der „Bahá’í-Erklärung“ von 1947, die bereits 1949 in der Zeitschrift „Sonne der Wahrheit“, 19. Jahrgang, Heft 3, in deutscher Sprache veröffentlicht wurde. Als beredter Ausdruck des Geistes, in dem sich die Bahá’í mit solchen grundsatzpolitischen Fragen befassen, mag die von der Interkontinentalen Bahá’í-Konferenz in Chikago im Oktober 1967 verabschiedete Erklärung „Die Menschenrechte sind göttliches Recht“ angesehen werden. Was die Einstellung der Bahá’í zu tagespolitischen Fragen angeht, verweisen wir unsere Leser auf die Stellungnahme des Universalen Hauses der Gerechtigkeit zum Thema „Religion und Politik“, die wir in Heft 32/ April 1968 unserer Zeitschrift, Seite 806 ff., wiedergegeben haben.
D. Red.


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I.

Die Quelle der Menschenrechte sind Eigenschaften, Tugenden und Kräfte, die Gott der Menschheit ohne Ansehen des Geschlechts, der Rasse, des Bekenntnisses und der Nation verliehen hat. Die Möglichkeiten dieser Gottesgaben auszuschöpfen, ist der Daseinszweck des Menschen.

Die Menschenrechte können dann in den gesellschaftlichen Verhältnissen Gestalt annehmen, wenn die Glieder der Gemeinschaft einsehen, daß die Gabe des Lebens und des Bewußtseins sie verpflichtet, Verantwortungen gegenüber Gott, der Gesellschaft und sich selbst zu übernehmen. Wechselseitige Anerkennung der Wahrheit durch die Glieder der Gemeinschaft, daß ihr Leben von ein und derselben Quelle ausgeht, ermöglicht ihnen, geordnete Beziehungen in einem gesellschaftlichen Organismus aufrechtzuerhalten.

Es ist nicht der gesellschaftliche Organismus, der die Grundrechte des Menschen schafft. Seine Aufgabe ist die des bevollmächtigten Treuhänders, der bei der Aufrechterhaltung derjenigen Beziehungen, welche die sittlichen Errungenschaften seiner Glieder darstellen, für die Gemeinschaft handelt und die geistige Einheit, welche die höchste wechselseitige Verpflichtung ist, pflegt und schützt.

Kein gesellschaftlicher Organismus, welche Form er auch annimmt, hat die Macht, die menschlichen Grundrechte für solche Personen aufrechtzuerhalten, die ihre sittliche Pflicht verleugnen und die Gottesgaben preisgeben, durch die sich der Mensch vom Tier unterscheidet. Wenn politische und ökonomische Verhältnisse rechtlich definiert werden, aber sittlicher Werte und Einflüsse bar sind, entsprechen sie nicht den Grundrechten des Menschen, sondern lediglich den Machtmitteln der Parteipolitik. Nur sittliche Lebewesen können eine geordnete Gesellschaft aufrechterhalten.


II.

Die Gottesgabe, die jedem einzelnen Menschen verliehen ist, bindet ihn an die sich entwickelnde und heranreifende Menschheit. Die ganze menschliche Rasse ist dem Gesetz der fortschreitenden Entwicklung unterworfen, das weit über den menschlichen Willen hinaus wirkt. In keinem Zeitalter wiederholen sich die Zustände früherer Zeiten.

Die in der Zivilisation erkennbare Entwicklung ist das Ergebnis der geistigen Entwicklung, die sich durch die Menschheit vollzieht. In dem Maße, wie sich neue Eigenschaften entfalten, kann ein vergrößerter Bereich geordneter Beziehungen geschaffen werden, was Änderungen des gesellschaftlichen Aufbaus erforderlich macht.

Der moderne Nationalstaat entstand als ein Mittel zur Einigung verschiedenartiger Rassen und Völker. Er bedeutete einen Burgfrieden, der Gemeinschaften nahegebracht oder aufgezwungen wurde, die zuvor getrennt voneinander, in Unabhängigkeit und Feindschaft gelebt hatten. Geschichtlich betrachtet ist die Nation ein großer Sieg der Sittlichkeit, eine klar umgrenzte, wichtige Stufe des menschlichen Fortschritts. Sie hat die Lebensverhältnisse der Volksmassen angehoben, an die Stelle der Willkür einer Stammesherrschaft geschriebenes Verfassungsrecht gesetzt, [Seite 886] Erziehung und Wissen erweitert, die Auswirkungen sektiererischer Streitigkeiten gemildert und den gesellschaftlichen Lebensraum des Durchschnittsmenschen vergrößert. Sie schuf die Voraussetzungen für die Entwicklung der Naturwissenschaften, die Nutzbarmachung von Erfindungen und die Industrialisierung, die dem Menschen die Herrschaft über die Natur verleiht.

Die neuen Kräfte und Hilfsquellen, die die Nation ermöglichte, konnten nicht auf den nationalen Raum beschränkt bleiben; sie erzeugten einen Internationalismus, dessen Ursachen und dessen Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse keine Nation kontrollieren konnte. Der Nationalstaat hat die Grenzen seiner Entwicklungsfähigkeit als ein unabhängiges, selbstbestimmtes Gesellschaftsgebilde erreicht. Die Grenzenlosigkeit der Wissenschaft, die Weltwirtschaft und ein Weltbewußtsein als Spitzenreiter einer neuen, allumfassenden Bewegung geistiger Entwicklung legten den Grund einer Weltordnung. Als Selbstzweck aufgefaßt, ist der Nationalstaat zu einer Absage an die Einheit der Menschheit geworden, zur Quelle allgemeiner Zerrissenheit, den wahren Interessen seiner Bevölkerung entgegengesetzt. Aus den Tiefen der göttlichen Gnadengaben an den Menschen dringt ein Widerhall auf die Bekräftigung jener Einheit, die unserem Zeitalter seine Hauptantriebskraft und Richtung gibt. Die Gesellschaft befindet sich in einem Wandlungsprozeß; sie muß eine neue Ordnung zustandebringen, die auf die Ganzheit aller menschlichen Beziehungen gegründet ist.


III.

Die Grundrechte des Menschen wurden in der Vergangenheit von zahlreichen Völkern unter verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen in rechtliche Form gebracht: so das Bürgerrecht, als das Volk anstelle der Dynastie die Nation verkörperte; das Recht auf kodifiziertes Gesetz, als geschriebene Verfassungen das Gewohnheitsrecht und die Überlieferung ersetzten; das Recht auf die Unverletzlichkeit der Person und des Eigentums, als der Staat den sich befehdenden Interessentengruppen seinen Frieden aufzwingen konnte; das Recht auf freie Berufswahl und Freizügigkeit, als der einzelne Mensch nicht länger an die Scholle gebunden war. Eine Geschichte dieser Rechte könnte die wichtigsten sittlichen Errungenschaften des Menschengeschlechts in seinem unaufhörlichen Kampf um die Bildung einer dauerhaften Gesellschaftsordnung aufzeigen.


Bewährungsprobe für unseren Willen

Ein Recht ist jedoch nur dann gültig und wirksam, wenn hinter ihm eine unabhängige, souveräne Staatsgewalt steht. Unser ererbtes Rechtssystem ist in Frage gestellt, seitdem der Nationalstaat seine eigentliche Souveränität verloren hat. Um die Grundrechte der Vergangenheit wieder zur Geltung zu bringen und mit wichtigen neuen Rechten auf der Höhe unserer Zeit zu bleiben, brauchen wir eine Weltsouveränität. Die gesamte Rechtsauffassung hat sich gewandelt. Früher bedeutete ein Recht den Schutz gegen einen Übergriff; heute ist es die Verteilung von gesellschaftlichem Status unter der Menschheit. Zum ersten Mal in der [Seite 887] Geschichte menschlicher Erfahrung läßt sich heute das sittliche Gesetz und das gesellschaftliche Gesetz zu einer Einheit verschmelzen, wenn die Menschheit als Ganzes dem gleichen Recht unterworfen wird. Alles Umfassende ist geistige Wahrheit, alles Beschränkte und Parteiische ist menschliche Ansichtssache.

Das Recht und die Pflicht, in einer gesitteten Gesellschaft zu leben, ist zur Entscheidungsfrage, zur Bewährungsprobe für unseren Willen zu überleben geworden. Der moderne Daseinskampf, der sich die Nationen zum Werkzeug gemacht hat, ist kein Krieg der Völker oder der Herrscherhäuser, sondern ein Krieg der Wertordnungen. Diese Auseinandersetzung über Werte löst sich auf in einem Kampf zwischen denjenigen Menschen, die sich zu einer Menschheitsgemeinschaft und einem umfassenden Staatswesen vereinigen wollen und müssen, und jenen, die getrennt, verschiedenartig und selbstherrlich bleiben wollen und müssen. Der Nationalstaat ist in sich selbst zerrissen und in Kämpfe verwickelt, die das bewußte Verhalten der einzelnen Menschen mit Beschlag belegen. Aber in dem Maße, wie dieser Nationalstaat als ganzheitlicher Organismus handeln kann, wird er an der grundlegenden Wertentscheidung teilnehmen müssen. Kein Mensch und kein gesellschaftlicher Organismus kann seiner Bestimmung entgehen.

Die wahre Bestimmung des Nationalstaats ist es, die Brücke von der örtlichen Selbstverwaltung zur Welteinheit zu schlagen. Der Nationalstaat kann sein eigenständiges Erbe nur insofern bewahren und seine Aufgaben nur insoweit erfüllen, als er zur Errichtung einer Weltsouveränität beiträgt. Volk und Staat müssen als starke Pfeiler die neuen Einrichtungen tragen, welche den höchsten und endgültigen Ausdruck menschlicher Beziehungen in einer geordneten Gesellschaft darstellen. Wenn wir die Erfüllung der historischen Aufgabe, die unser Zeitalter an Völker und Staaten stellt — die Pflicht zur Vereinigung — hinauszögern, leisten wir subversiven Kräften Vorschub, die Verwirrung zur Waffe und Chaos zum Ziel haben.


IV.

Der Sinn dieser Erklärung ist nicht, alle wünschenswerten Menschenrechte aufzuzählen, sondern einen Zugang zum Wesen der Grundrechte zu eröffnen. Nach unserer Definition ist ein Menschenrecht der durch eine sittlich gefestigte, souveräne Gebietskörperschaft in gesellschaftsrechtliche Form gebrachte Ausdruck der göttlichen Gnadengaben für den Menschen. Ein Recht erhält erst dann gesellschaftliche Form, wenn es ein sittlicher Wert geworden ist, den die Glieder der Gemeinschaft als eine für die menschlichen Beziehungen notwendige Eigenschaft vertreten und verfechten.

Zu den menschlichen Grundrechten, die die neue Weltära kennzeichnen, gehören diejenigen, welche sich mit (1) dem Einzelmenschen, (2) der Familie, (3) der Rasse, (4) Arbeit und Vermögensbildung, (5) Erziehung, (6) Religionsausübung und (7) der Gesellschaftsordnung befassen.

(1) Der Mensch ist ebensosehr ein geistiges Wesen, wie er ein Mitglied der Gesellschaft ist. Seine Geistnatur drückt sich in sittlich gefestigten [Seite 888] Beziehungen innerhalb des gesamten Bereichs der Gemeinschaft aus; sie verkümmert in einem Zustand der Entfremdung und der Absonderung auf sich selbst, die Familie, die Rasse oder die Gesellschaftsschicht. Die Pflicht jedes einzelnen ist es, den Bedürfnissen einer fortschreitenden Gesellschaft zu dienen. Immer wenn die Gemeinschaft Forderungen an den einzelnen stellt, die der vorherrschenden sittlichen Norm zuwiderlaufen, oder wenn sie es duldet, daß nichtöffentliche Mächte solche Forderungen dem einzelnen auferlegen, befindet sich diese Gemeinschaft in der Gefahr der Zersetzung; denn das Sittengesetz gilt auch für alle großen und kleinen Einrichtungen und Gemeinschaften.

Es muß die Gewähr für eine gleichmäßige Norm an Menschenrechten geboten sein; den Einzelmenschen müssen gleiche Möglichkeiten geboten sein. Mannigfaltigkeit, nicht Einförmigkeit ist der Grundzug einer organischen Gesellschaftsordnung. Da ein Mangel an Möglichkeiten, verbunden mit Repressionen und entwürdigenden Lebensbedingungen, Menschenmassen entstehen ließ, die unfähig sind, ihre bürgerlichen Pflichten zu erfüllen, sind diese Menschen dem Gewissen aller übrigen als Treubesitz auferlegt: Alle müssen dazu beitragen, die Unwissenden zu erziehen, die Unreifen zu entwickeln und die Kranken zu heilen.


Die Rechte der modernen Gemeinschaft

(2) Wenn der Mensch die geistige Grundeinheit des Menschengeschlechts ist, ist die Familie die unverletzliche, göttlich geschaffene gesellschaftliche Grundeinheit. Dem Recht auf Selbstbehauptung des einzelnen ist das Recht der Familie gleichzusetzen, sich unter Bedingungen zu erhalten, die für Leib, Seele und Geist zuträglich sind. Während das mündige Einzelwesen die politische Einheit ist, stellt die Familie die wirtschaftliche Einheit dar; ihr Einkommen schafft die Grundlage des Familienlebens und der Wohlfahrt.

Die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der modernen Gemeinschaft gibt der Familie eine neue und stärkere Verbindung mit den Kräften, die die sittliche Entwicklung bewirken.

(3) Die Mitglieder der nationalen Gemeinschaft sind in vielen Ländern aus rassischen Gruppen zusammengesetzt, die auf verschiedenen Entwicklungsstufen stehen. Die Lebensbedingungen, die in der Vergangenheit zu besonderen rassischen Gruppierungen und Charakteristiken führten, werden nach und nach schwächer. Den Rechten der Rasse sind die Rechte und Bedürfnisse der modernen Gemeinschaft überlegen. Rassische Vorrechte können nur aufgegeben werden, wenn an ihre Stelle die Rassengleichheit in der Teilhabe an den höheren Rechten und Vergünstigungen tritt, wie sie eine vielrassige Gesellschaft mit sich bringt.

(4) Die Arbeit, die der einzelne in Gewerbe, Kunst oder freiem Beruf leistet, ist der Wesenskern seiner Lebensentfaltung und nicht nur die Quelle seines Unterhalts. Arbeit, die im Geist des Dienens verrichtet wird, kann heute als Gottesdienst angesehen werden. Die Arbeitspflicht ist ihrem Wesen nach eine sittliche Pflicht, die nicht durch Reichtum [Seite 889] aufgehoben wird. Die Gemeinschaft hat keinerlei Verpflichtung gegenüber denen, die arbeiten können, sich aber weigern, es zu tun.

Der Anspruch auf Lebensunterhalt gründet sich auf Arbeit. Darüber hinaus hat der Arbeiter Anspruch auf einen Anteil am Gewinn des Unternehmens.

Vermögen bildet sich durch die Koordination vielfältiger, auf den Einsatz von Kapitalgütern und Rohstoffen gerichteter Arbeitsleistungen. Eine gesunde Wirtschaft befaßt sich mit dem Gesamtprozeß in der Mannigfaltigkeit seiner menschlichen Beziehungen und sucht nicht den Vorgang auf bestimmte Gruppenvorteile auszurichten, ob es sich nun um das Eigentum, die Unternehmensführung, das technische Know-how, das handwerkliche Können oder den Verbrauch handelt. Vermögen ist zum Teil Recht des einzelnen, zum Teil Recht der Gemeinschaft. Unter den Bedingungen internationalen Wettbewerbs entsteht verzweifelte soziale Not, wenn keine gerechte Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Vermögen gemacht werden kann. Wahrer Rechtssinn und echte Gesellschaftsphilosophie erwarten die Bildung weltweiter Einrichtungen und die Vorherrschaft weltweiten Denkens.

Die Aberkennung des Rechts und der Macht der Nationen, Kriege zu führen, stellt den ersten Schritt auf dem Weg zu allseitiger Vermögensbildung und gesunder Wirtschaftsführung dar. Ohne Weltwirtschaft wird das Menschengeschlecht die Früchte der Zivilisation nicht ernten.

(5) Die Wurzeln der Erziehung liegen in den Gaben Gottes an den Menschen; zu allen Zeiten waren die Propheten die umfassenden Erzieher der Menschheit.

Ziel der Erziehung ist, dem einzelnen Menschen die Herrschaft über sich, selbst, eine schöpferische Beziehung zur Gesellschaft und die Erkenntnis seines Platzes im Weltganzen zu verleihen. Die Erziehung befaßt sich mit dem ganzen Menschen, mit seinem Verstand, seinen Gefühlsregungen und seiner Willensbildung. Die jetzt noch bestehende Unterscheidung zwischen schöngeistiger, wissenschaftlicher, technischer, politischer und religiöser Bildung erzeugt unvollständige und unausgeglichene Persönlichkeiten. Falsch erzogene Menschen erleben jede schwerere Gesellschaftskrise von verschiedenen Blickwinkeln aus in solcher Weise, daß jeder seine parteiische Auffassung rechtfertigt.

Die Erziehung dauert das ganze Leben an. Unwissenheit in Dingen, die Erwachsene angehen, ist schlimmer, wenngleich schwieriger wahrnehmbar als Unwissenheit bei Kindern. Das Menschenrecht auf Erziehung ist das Recht, sich in den Gesamtprozeß kultureller Aufwärtsentwicklung einzuschalten. Schulformen, die erstarrte Einstellungen und Gefühlsschablonen erzeugen, können nicht mehr als erzieherisch gelten.

(6) Das Menschenrecht auf Religions- oder Gewissensfreiheit ist und bleibt nur eine zwangsweise gesetzliche Schutzmaßnahme für verschiedenartigste Religionsgemeinschaften, die ihre besonderen Glaubenssysteme ausüben und verkünden können, bis dem einzelnen Menschen ein ausreichendes Maß an geistiger Erkenntnis gewährt wird, damit er zu [Seite 890] seiner eigenen, gereiften und unabhängigen Entscheidung über das Wesen des Glaubens gelangt.

Seitdem es wissenschaftlich erwiesen ist, daß es sich bei dem Drang zur Anbetung um einen allgemein-menschlichen Wesenszug handelt, der mit einer unendlichen Zahl von mehr oder weniger zeitgebundenen Andachtsübungen, Sittengesetzen und Gesellschaftsformen verknüpft ist, besteht kein wesentlicher Grund mehr, warum dieser Instinkt nicht in der Loyalität gegenüber der Menschheit und in der Hingabe an die Sache der Welteinheit erneut bekräftigt werden könnte. Der Gott der Menschheit kann nicht länger als völkische Kraftquelle, als Selbstbehauptungswille einer Nation oder gar als konfessionelles Geschenk der persönlichen Erlösung dargestellt werden. Die reine Offenbarung Gottes wurde der Menschheit von Zeitalter zu Zeitalter durch Seine Propheten und Boten geschenkt. Zweitrangige und begrenzende Religionsformeln verlängern die Gesinnungskrise der Gegenwart, die den einzelnen Menschen für die Verheißung eines neuen Weltzeitalters blind macht.

Weltordnung ist nichts anderes als die administrative Ausprägung der Brüderlichkeit, und des Menschen Recht auf gesellschaftliche Ordnung kann nicht von seinem Recht auf eine Weltreligion getrennt werden.

(7) Jedes Zeitalter hat seine besondere Aufgabe. Die Bildung einer Weltordnung ist eine Pflicht, die der heutigen Menschheit auferlegt ist.

Weltordnung ist heute gesetzlich möglich, gesellschaftlich unumgänglich und göttlich befohlen. Das Prinzip der Föderation hat schon früher unabhängige Gemeinschaften vereinigt, die nach Rasse, Sprache, Religion und Bevölkerungszahl voneinander abwichen. Die Nationen können einen gerechten Ausdruck für ihre angemessenen Ansprüche und Bedürfnisse finden, wenn sie in einer übernationalen Körperschaft ihrer Größe entsprechend vertreten sind. So lange das Weltbürgerrecht nicht als gesellschaftliche Norm garantiert ist, werden die in der Vergangenheit entwickelten menschlichen Rechte und Freiheiten durch die Zerrüttung der modernen Gesellschaft untergraben.


Errichtung eines Weltgemeinwesens

Bis zur Schaffung einer übernationalen Ordnung haben die bestehenden Regierungen das Recht, von ihren Bürgern bei allen Regierungsgeschäften und Entscheidungen Treue und Gehorsam zu verlangen. Ausgenommen hiervon ist eine Einmischung in den Glauben des einzelnen Menschen an Gott und seine Propheten.

Das hier bekräftigte Ordnungsdenken setzt die Errichtung eines Weltgemeinwesens voraus, das alle Nationen, Rassen, Bekenntnisse und Gesellschaftsklassen vereinigt und die Autonomie seiner Mitgliedstaaten wie auch die persönliche Freiheit und Initiative jedes einzelnen Menschen verbürgt. Dieses Weltgemeinwesen sollte aus einer Weltlegislative bestehen, die als Treuhänderin der ganzen Menschheit wirkt und diejenigen Gesetze erläßt, die notwendig sind, um das Zusammenleben aller [Seite 891] Völker und Rassen zu regeln, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihre Beziehungen in geordnete Bahnen zu lenken. Eine Weltexekutive sollte, gestützt auf eine internationale Streitmacht, die Gesetze und Entscheidungen der Weltlegislative durchführen und die organische Einheit des ganzen Gemeinwesens sichern. Bei allen Streitfragen sollte ein Weltgerichtshof das höchste, allgemeingültige Urteil fällen.

„Die Erde ist nur ein Land und die Menschheit ihre Bürgerschaft“ (Bahá’u’lláh 1869).

Der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen im Februar 1947 namens der Bahá’í-Weltgemeinschaft vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í der Vereinigten Staaten von Amerika vorgelegt.



Menschenrechte sind gottgegebene Rechte[Bearbeiten]

Zum Jahr der Menschenrechte 1968

Aus Anlaß der weltweiten Jahrhundertfeiern des Aufrufs von Bahá’u’lláh an die Herrscher der Welt fanden im Oktober 1967 sechs interkontinentale Bahá’í-Konferenzen in Frankfurt, Kampala, Neu Delhi, Sydney, Panama und Chikago statt. Die in Chikago versammelten Bahá’í begrüßten mit der nachfolgenden Erklärung, daß das Jahr 1968 von den Vereinten Nationen zum Jahr der Menschenrechte bestimmt worden war. Obwohl das Dokument bis zu einem gewissen Grad von den gesellschaftlichen Verhältnissen Nordamerikas ausgeht, gibt es in seiner umfassenden Grundlegung allen gutwilligen Menschen Anregungen und praktische Entscheidungsmodelle.
D. Red.


DIE GRÖSSTE AUFGABE für unser Zeitalter ist die Anerkennung der Einheit der Menschheit. Schmerzlich, aber unvermeidlich ist die Erweiterung des Bewußtseins der Zugehörigkeit jedes Menschen über seine völkische, rassische, religiöse, nationale, kulturelle und wirtschaftliche Gruppe hinaus zu einer umfassenderen Einbeziehung der ganzen Menschheit; diese Bewußtseinserweiterung ist die zentrale Revolution unserer Zeit. Sie betrifft jeden von uns, denn sie verlangt Änderungen an der bislang provinziellen Einstellung und Verhaltensweise aller Menschen in der Welt. Aus der Erkenntnis, daß alle Menschen einer einzigen Familie unter einem einzigen Gott angehören, ergibt sich die Pflicht, sich gegenseitig zu achten und in jeder Weise zu unterstützen.

[Seite 892] DIE PROPHETEN GOTTES haben die einzigartige Natur der menschlichen Persönlichkeit und ihres Rechts auf ein erfülltes Leben betont. Die Menschenrechte sind demnach keine Ausschließlichkeitsrechte einzelner weniger, die nach der gesetzgeberischen Entscheidung menschlicher Institutionen aus dem Weltganzen herausgelöst werden könnten. Wir glauben vielmehr, daß die Menschenrechte von Gott gegeben und demzufolge unverletzlich sind.

ALLE MENSCHEN jeglichen Geschlechts, jeder Rasse, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Religion oder Einkommensklasse sind Geschöpfe Gottes; sie sind alle gleich in ihrem geistigen Wesen und an Menschenwürde. Jedwede Handlung, die irgendjemanden in seinen Menschenrechten beeinträchtigt oder sonstwie beschränkt, verletzt die Würde des Betroffenen und steht im Gegensatz zu den göttlichen Lehren.

BEEINTRÄCHTIGUNGEN ODER UNGERECHTFERTIGTE BESCHRÄNKUNGEN einzelner Menschen, unter welchem Vorwand auch immer, vergiften unsere Beziehungen und schaffen damit Konflikte, die unsere Kultur zu zerstören drohen. Dies ist zweifellos die schlimmste Krankheit, die unser Zeitalter befallen hat. Die dynamischen Errungenschaften einer wahrhaft organischen, zur Einheit verschmolzenen, von allen vorurteilsbeladenen Einstellungen befreiten Gesellschaft bleiben uns auf diese Weise vorenthalten. Gesellschaftliche Repression und erzwungene Entwürdigung haben Menschenmassen geschaffen, die unfähig sind, ihren bürgerlichen Aufgaben nachzukommen, und deshalb weder zum Fortschritt der Kultur beitragen noch deren Vorteile genießen können.

GLEICHE CHANCEN zur Entwicklung ihrer besonderen Fähigkeiten sind das Recht aller Menschen. Mannigfaltigkeit und nicht Einförmigkeit ist ein Grundzug der fortschrittlichen Gesellschaft. Es muß deshalb auf der ganzen Welt eine einheitliche Norm von Menschenrechten gewahrt sein.

*

Auf der Grundlage dieser Überzeugungen anerkennt die nordamerikanische Bahá’í-Gemeinde die besondere Bedeutung der folgenden Maßnahmen der Vereinten Nationen:

  • die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als gemeinsamen Erfolgsmaßstab für alle Völker und Nationen und
  • die Erklärung über die Beseitigung aller Formen von rassischer Diskriminierung als erneute Bestätigung des Grundsatzes, daß alle Menschen in ihrer Würde und ihren Rechten gleich sind.

Wir bekräftigen unsere Unterstützung für die Bündnisse, die sich von der Erklärung der Menschenrechte herleiten. Alle derartigen Bündnisse oder Abkommen, die diese Erklärungen im einzelnen ausarbeiten und Rechtsgrundlagen für internationale Abmachungen zu bieten suchen, sind als bedeutsame Marksteine weltweiten Fortschritts zu betrachten.

[Seite 893]Besonders begrüßen wir die Konventionen der Vereinten Nationen über den Völkermord, die Beseitigung aller Formen von rassischer Diskriminierung, die Sklaverei, die Zwangsarbeit, die politischen Rechte der Frau, über Diskriminierungen bei der Beschäftigung von Arbeitnehmern und im Berufsleben sowie über Diskriminierungen im Erziehungswesen, da diese Übereinkommen wichtige rechtliche Hilfsmittel für die Schaffung von Gleichberechtigung und Sicherheit für alle Menschen darstellen.

Die nordamerikanischen Bahá’í-Gemeinden bekennen sich zur Konvention der Vereinten Nationen über die Beseitigung religiöser Intoleranz, die es den Menschen auf der ganzen Welt möglich machen wird, ihre Menschenrechte ohne Benachteiligung wegen ihrer Religion oder Überzeugung zu genießen.

Die nordamerikanischen Bahá’í-Gemeinden unterstützen die Schaffung des vorgeschlagenen Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Menschenrechte als einen wichtigen und weitreichenden Schritt auf dem Weg zur Verwirklichung der Vorkehrungen über die Menschenrechte, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommen.

1968 werden die nordamerikanischen Bahá’í-Gemeinden in Würdigung des Internationalen Jahres der Menschenrechte

  • ein Büro für das Menschenrechtsjahr 1968 errichten, das die Verwirklichung der Menschenrechte in Nordamerika und der übrigen Welt fördert,
  • Informationen zur Bekämpfung von Mißverständnissen und abergläubischen Vorstellungen in der Rassenfrage verbreiten,
  • Arbeitstagungen über Menschenrechtsfragen in zwanzig führenden nordamerikanischen Städten sowie einem kanadischen Indianerreservat veranstalten,
  • eine Arbeitstagung über Menschenrechte für ganz Nordamerika abhalten,
  • einen Preis für bedeutende Leistungen auf dem Gebiet der Menschenrechte stiften, der am 10. Dezember 1968, dem Menschenrechtstag, verliehen werden wird.


Die Bahá’í-Gemeinden von Alaska, Kanada, den Hawai-Inseln und den Vereinigten Staaten.


[Seite 894]




BAHA'I RELIGION


RUND


UM


den

Globus


[Seite 895]












Die Fotos sind den US-Bahá’í-News entnommen
(Erläuterungen nächste Seite).












[Seite 896]



Die Menschenrechte und wir[Bearbeiten]

Mit Konventionen allein ist es nicht getan


Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist eine Erklärung, die Grundsätze aufstellt, ein Maßstab für die Errungenschaften aller Völker und Nationen. Sie ist ihrem Wesen nach ein ethisches Dokument; sie hat keine Macht, die Nationen an die Einhaltung ihrer Prinzipien zu binden. Noch steht keine Gesetzeskraft hinter dieser Allgemeinen Erklärung.

Eines der großen Probleme, denen sich die Verfasser der Charta der Vereinten Nationen bei der Gründungskonferenz 1945 in San Francisco gegenübersahen, war die Frage, wie sie den Wünschen und Hoffnungen der Völker der Welt auf eine erneute Bestätigung des Glaubens an die menschlichen Grundrechte und an die Würde und den Wert der menschlichen Person angemessenen Ausdruck verleihen könnten. Aus diesem Grund beginnt die UN-Charta mit den Worten: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen, entschlossen . . .“. Wenngleich man wußte, daß nur die Regierungen die Verpflichtungen der Charta übernehmen konnten, erschien es nötig klarzumachen, daß die Vereinten Nationen auch dem „Volk“ zugehörten. Deshalb liegt der Ursprung der Menschenrechtserklärung im Artikel 1 der UN-Charta, der als einen der Zwecke der Vereinten Nationen “3. die Förderung und Ermutigung der Achtung vor den Menschenrechten und grundlegenden Freiheiten für alle ohne Ansehen der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion...“ angibt.

Bei der ersten Sitzung des 1945 in London ins Leben gerufenen Wirtschafts- und Sozialrates wurde eine vorbereitende Gruppe für die Menschenrechtskommission ernannt. Diese Menschenrechtskommission setzte sich zunächst aus je einem Vertreter von 18 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen zusammen. Die erste Aufgabe der Kommission war Anfang 1947 die Vorbereitung einer internationalen „Bill of rights“, die eine Erklärung, ein oder mehrere Abkommen und ausführende Maßnahmen



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Einen Querschnitt...
...durch die Arbeit der Bahá’í in aller Welt vermitteln unsere Fotos auf den vorangegangenen Seiten. Auf der linken Seite oben zeigen wir einen Teil der Informationstafel, die bei der Basler „Muba“-Messe aufgestellt war. Darunter erkennt man den indischen Erziehungsminister Dr. Sen, dem eine Ausgabe des Buches „Die Verkündigung von Bahá’u’lláh“ überreicht wird. Am Fuß der linken Seite einige Teilnehmer der Ridvan-Feier in Saigon, Südvietnam. Auf der rechten Seite oben sieht man die berühmte Sängerin Leontyne Price, der anläßlich eines Konzerts in Washington ebenfalls ein „Proklamations“-Buch überreicht worden ist. Daneben Kinder einer Bahá’í-Schule in Nicaragua. Darunter stellen sich Kinder und Erwachsene des ersten Bahá’í-Kinderlagers in Panama dem Fotografen.



[Seite 897] umfassen sollte. Vertreterin der Vereinigten Staaten und erste Vorsitzende der Kommission war Frau Eleanor Roosevelt.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde von der Kommission fertiggestellt und von der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 ohne Gegenstimme verabschiedet. Sie wurde als einer der Haupterfolge in der Frühzeit der Vereinten Nationen angesehen. Sie ist „allgemein“, weil sie auf die ganze Menschheit Anwendung finden soll. Auf der ganzen Welt hat sie tiefgreifende Einflüsse ausgeübt. Viele Länder, die seit der Gründung der Vereinten Nationen selbständig wurden, haben Teile der Allgemeinen Erklärung in ihre Verfassungen eingefügt; auf diese Weise wurden die Bestimmungen der Erklärung natürlich in solchen Ländern gesetzlich bindend. Beispiele hierfür sind Indien, Japan sowie zahlreiche afrikanische Länder. Großen Einfluß übte die Erklärung auf die öffentliche Weltmeinung und auf die nationale Gesetz- und Verfassungsgebung in allen Erdteilen aus.


Konventionen über die Menschenrechte

Konventionen und Bündnisse dienen der Durchführung der Allgemeinen Erklärung; sie haben von Haus aus keine Gesetzeskraft. Als internationale Verträge verpflichten sie nur diejenigen Nationen, die sie ratifizieren, rechtswirksam. Sie enthalten zahlreiche Vorschriften für eine periodische Berichterstattung der Vertragsstaaten über die Maßnahmen, die zur Erfüllung der Grundsätze getroffen wurden.

Die Menschenrechtskonventionen befassen sich mit einzelnen Menschenrechten im besonderen. Zum Beispiel verbietet eine im Juni 1957 verabschiedete Konvention die Zwangsarbeit als Mittel politischer Gewaltanwendung oder als Strafe dafür, daß jemand politische Ansichten hegt oder vertritt, die dem etablierten politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen System ideologisch entgegenstehen. Ferner ist Zwangsarbeit verboten als Mittel zur Mobilisierung und Verwendung von Arbeitskräften für Zwecke der wirtschaftlichen Entwicklung, als Maßnahme der Arbeitsdisziplin, als Strafe für die Teilnahme an Streiks oder als Mittel der rassischen, sozialen, nationalen oder religiösen Diskriminierung.

Eine Konvention über Sklaverei, die 1956 als Ergänzung eines 1926 in Genf getroffenen Sklavereiabkommens verabschiedet wurde, verlangt die Abschaffung der Schuldhaft (für säumige Zahlungspflichtige), der Leibeigenschaft, der unfreiwilligen Eheschließung, des Verkaufs von Bräuten, der Übertragung von Witwen als Erbgut, der Ausbeutung von Kindern sowie die Unterbindung jeglichen Sklavenhandels.

Eine Konvention über die Beseitigung aller Formen von rassischer Diskriminierung, die im Dezember 1965 angenommen wurde, verbietet die Apartheidspolitik und jegliche Art der Diskriminierung oder Trennung auf Grund der Rasse, der Farbe oder des völkischen Ursprungs. Diese Konvention sieht einen achtzehnköpfigen Ausschuß für die Überwachung ihrer Durchführung vor.

Eine Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermords, verabschiedet im Dezember 1948, legt dar, daß gewisse [Seite 898] Handlungen ein Verbrechen nach dem Völkerrecht darstellen und strafbar sind, wenn sie von der Absicht begleitet sind, eine nationale, völkische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten.

Andere Abkommen behandeln die Diskriminierung bei Beschäftigungsverhältnissen und im Berufsleben sowie die Diskriminierung im Erziehungswesen.

Alle Konventionen bedürfen der Ratifizierung durch die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, um in deren Gebieten Rechtskraft zu erlangen. So haben 70 Mitgliedsstaaten die Völkermord-Konvention ratifiziert, während sie in den Vereinigten Staaten von Amerika seit Juni 1949 im Senat aufgehalten wurde. Obwohl die USA von Anbeginn an Vorkämpfer der Menschenrechte waren, konnte dort aus innenpolitischen Gründen noch keine einzige der Menschenrechtskonventionen angenommen werden. Das ursprünglich für das Menschenrechtsjahr 1968 gesteckte Ziel, daß wenigstens die grundlegenden Menschenrechtskenventionen von allen UN-Mitgliedstaaten ratifiziert sein sollten, dürfte sich nicht verwirklichen lassen. Am Rande sei bemerkt, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht Mitglied der Vereinten Nationen ist, sich aber in ihrer rechtsstaatlichen Verfassung den Menschenrechten und Zielen der Weltorganisation verpflichtet fühlt.


Internationale Bündnisse über die Menschenrechte

Nach 18 Jahren ins einzelne gehender, mühsamer Verhandlungen in zahlreichen Gremien der Vereinten Nationen wurde endgültiges Einvernehmen über zwei umfassende Menschenrechtsverträge oder -bündnisse erzielt. Diese beiden Bündnisse nahm die Vollversammlung am 16. Dezember 1966 an. In ihrer Verbindung miteinander bringen sie die Rechte und Freiheiten der Allgemeinen Erklärung von 1948 in Gesetzesform; Staaten, weiche die Bündnisse formell annehmen, d. h. ratifizieren, verpflichten sich gesetzlich, ihre Vorkehrungen einzuhalten. Das eine Bündnis behandelt die bürgerlichen und politischen, das andere die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte des Menschen. Die Unterteilung besteht vorwiegend aus praktischen Gründen: nicht etwa deshalb, weil gewisse Rechte für wichtiger als andere gelten, sondern weil die Maßnahmen für die Durchführung und Beurkundung ihrem Wesen nach verschieden gestaltet werden müssen. Der praktische Unterschied zwischen bürgerlichen und politischen Freiheiten auf der einen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten auf der anderen Seite liegt in erster Linie im Tempo, mit dem sie durchgeführt werden können.

Ein Staat, der das Internationale Bündnis über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert, verpflichtet sich, sein Volk unverzüglich durch Gesetz gegen grausame, unmenschliche oder entwürdigende Behandlung zu schützen.

Ein Staat, der das Internationale Bündnis über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ratifiziert, anerkennt seine Verpflichtung, bessere Lebensbedingungen für sein Volk zu schaffen. Er anerkennt das Recht [Seite 899] jedes Bürgers auf Arbeit, gerechten Lohn, soziale Sicherheit, einen angemessenen Lebensstandard, auf Freiheit vor Hunger, auf Gesundheit und Erziehung. Heute sind dies lediglich Wunschvorstellungen; sie können nur fortschreitend verwirklicht werden, entsprechend den Verhältnissen jedes Landes.

Die Regierungen der Vertragsstaaten verpflichten sich, dem Wirtschafts- und Sozialrat zu berichten, in welchem Umfang sie diese verschiedenen Rechte für ihre Staatsbürger verwirklichen können. Nach Erhalt dieser Berichte ist der Wirtschafts- und Sozialrat gehalten, die Lage in den einzelnen Ländern zu prüfen. Er kann über gewisse internationale Hilfsmaßnahmen beschließen, um den Ländern in ihren Bemühungen zu helfen.

Die Bündnisse werden drei Monate, nachdem sie von 35 Staaten ratifiziert worden sind, in Kraft treten.

Der Weltfrieden ist in erster Linie eine Frage der Verwirklichung der Grundrechte des Menschen. In einer Seiner Ansprachen in Amerika führte ‘Abdu’l-Bahá aus: „Gott ist unparteiisch; Er macht keinen Unterschied der Person. Für alle hat Er vorgesorgt. Die Ernte reift für jeden heran. Der Regen ergießt sich auf jeden, und die Sonnenhitze wärmt nach Seinem Willen einen jeden. Deshalb sollte die ganze Menschheit das höchste Glück genießen, die größte Bequemlichkeit, die vollkommenste Wohlfahrt.“

(nach einem Arbeitspapier des Bahá’í-Komitees für die Vereinten Nationen, Oktober 1967)


Die Pflicht, unsere Rechte zu fördern

Die erste Pflicht jedes einzelnen Bürgers hinsichtlich der Menschenrechte erscheint so einfach und selbstverständlich, daß viele von uns sie vergessen: Wir müssen kennen und verstehen lernen, welches unsere Menschenrechte sind, so daß wir, wenn sie verletzt werden, dies als eine Verletzung erkennen. Wenn zum Beispiel ein offensichtlich begabter Jugendlicher nicht das Gymnasium und die Hochschule besuchen kann, weil es ihm an finanziellen Mitteln fehlt, dann kann es sein, daß unsere Reaktion lediglich in sanftmütigem Mitleid besteht. Wenn wir jedoch erkennen, daß diese Situation im Widerspruch zu dem Grundsatz steht, daß höhere Erziehung allen in gleicher Weise nach Verdienst und Leistung zugänglich sein muß, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte proklamiert wurde, können wir die Lage ernsthafter ins Auge fassen und versuchen, Abhilfe zu schaffen.

Sobald wir unsere Rechte verstanden haben, ist unsere nächste Pflicht, sie zu fördern — für andere so gut wie für uns selbst. Diese Pflicht beginnt bei den Menschen um uns her; denn in unserer örtlichen Gemeinde haben wir den meisten Einfluß. Wenn wir dort selbständig und im Einvernehmen mit anderen innerhalb privater Organisationen tätig sind, können wir Verletzungen der Menschenrechte abhelfen und die Achtung vor diesen [Seite 900] Rechten in unserer Heimat fördern. Jeder von uns kann danach streben, daß unser eigenes Land der übrigen Welt ein gutes Beispiel gibt. Und wir können von den Erfahrungen anderer lernen, indem wir uns darüber informieren, was andere Länder tun, um die Menschenrechte für ihre Völker voranzutreiben.

Über unsere Verantwortlichkeit gegenüber unserer örtlichen Gemeinde und unserer Nation hinaus haben wir die Pflicht, uns selbst und andere darüber zu informieren, was die Vereinten Nationen für die Menschenrechte tun. Wir können über dieses Thema mit unserer Familie, unseren Freunden und Bekannten diskutieren. Wir können die Schulen ermutigen, die Menschenrechte im Unterricht zu behandeln. Wir können Zeitungen und Zeitschriften anregen, über diesen Gegenstand zu schreiben. Wir können Redner zu Vorträgen vor den örtlichen Vereinen und anderen Gruppen, deren Mitglieder wir sind, einladen. Wir können unsere Regierung auffordern, die internationalen Menschenrechts-Konventionen zu ratifizieren. Wir können mit Spenden zu denjenigen Programmen der Vereinten Nationen beitragen, die auf die Förderung der Menschenrechte zielen, z. B. der UN-Kinderfonds, der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, das UN-Hilfs- und Arbeitsbüro für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, der UN-Treuhandfonds für Südafrika. Und jede dieser Anregungen kann zu noch größeren Erfolgen geführt werden, wenn wir in einer der Nicht-Regierungs-Organisationen mitarbeiten.

(aus der Schrift „The United Nations and the Human Person, Questions and Answers on Human Rights“, UN-Veröffentlichung OPI/285)
*


Die Bahá’í-Weltgemeinschaft ist als „Nicht-Regierungs-Organisation“ bei den Vereinten Nationen akkreditiert. Neben dem Bahá’í-Schrifttum, das sich mit jedem Satz um die geistigen Grundlagen der Menschenrechte bemüht, sei auf folgende UN-Veröffentlichungen hingewiesen:

“The United Nations and Human Rights“, UN Publication, Sales No. 67. 1. 29.
„Universal Declaration of Human Rights“, OPI/15.
„International Covenants on Human Rights“, OPI/246.
„International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination“, OP1/213,
„International Year for Human Rights Newsletter“.

In Deutschland befassen sich mit den Vereinten Nationen und ihren Zielsetzungen:

Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, 53 Bonn, Simrockstraße 23.
Deutsche UNESCO-Kommission, 5 Köln, Komödienstraße 40.
D. Red.


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Die Aufgabe der Frau - heute und morgen[Bearbeiten]

Gleichberechtigung bringt auch mehr Rechte und Pflichten


Wir Menschen des 20. Jahrhunderts leben in einer Zeit des Umbruchs, der Umwälzung, der Umwertung der bisher gültigen Werte, des nahezu atemberaubenden Fortschritts in Forschung und Technik; kurz gesagt, in einer außergewöhnlichen Zeit. Wir leben an der Schwelle eines neuen Zeitalters, eines neuen Äons, in einer der bedeutendsten Epochen der Geschichte der Menschheit. Dies stellen viele unserer Zeitgenossen fest, ohne die eigentliche Ursache dieser Wende zu erkennen. „Ein neues Leben regt sich in diesem Zeitalter in allen Völkern der Erde“, so verkündet Bahá’u’lláh, „und dennoch hat niemand seine Ursache entdeckt oder seine Triebkraft wahrgenommen. 1)

Mit dem Heraufdämmern eines neuen Zeitalters hat auch eine wesentliche Veränderung in der Stellung der Frau und ihren Aufgaben in der Gesellschaft begonnen. Ja, der Beitrag ihrer Mitgestaltung für dieses neue Zeitalter ist von weittragender Bedeutung, die wir heute nur erahnen können. Nach dem durch Bahá’u’lláh geoffenbarten Willen Gottes werden alle Menschen dieser Erde gleichgestellt und gleichberechtigt, ungeachtet ihrer Rasse, Klasse, Nation oder ihres Geschlechts, um sich zu einer befriedeten, gerechten und harmonischen Einheit zusammenzuschließen.

Wir wenden uns bei dem gestellten Thema der viel erörterten Gleichberechtigung von Mann und Frau zu. Es seien Worte aus einer Rede von ‘Abdu’l-Bahá vorangestellt, die er in London im Jahre 1913 in einer Versammlung der Frauenliga für Frieden und Freiheit gehalten hat. „Die Menschheit gleicht einem Vogel mit seinen zwei Schwingen: die eine ist das männliche, die andere das weibliche Geschlecht. Sofern nicht beide Schwingen stark sind und durch eine gemeinsame Kraft bewegt werden, kann sich der Vogel nicht himmelwärts schwingen. Dem Geiste dieses Zeitalters entsprechend müssen die Frauen Fortschritte machen und ihre Aufgaben in allen Zweigen des Lebens erfüllen, um den Männern gleich zu werden. Sie müssen auf die gleiche Höhe gelangen wie die Männer, und sich gleicher Rechte erfreuen. Dies ist mein inbrünstiges Gebet und einer der Hauptgrundsätze von Bahá’u’lláh.“ 2)

Dieser Hauptgrundsatz findet u. a. auch Ausdruck in einem Gebet, worin es heißt: „... Verordne für mich und für jene, die mir lieb sind, für meine Verwandten, Männer und Frauen gleicherweise, was in dieser und der kommenden Welt gut für uns ist...“ 3)

Um von der Zukunft zu sprechen, ist es erforderlich, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Es ist eine geschichtliche Tatsache, daß die Frau durch die beherrschende Vormachtstellung des Mannes mehr oder weniger in allen Ländern der Erde ein abhängiges, unterdrücktes, zurückgezogenes, einflußarmes Leben über lange Zeitläufe hin führen mußte und auch zu führen gewillt war.

„Es gab nicht ursprünglich freie Frauen, die von den Männern unterworfen wurden. Die Frau erschien als das ANDERE.“ Dies stellt Simone [Seite 902] de Beauvoir in ihrem Buch „Das andere Geschlecht“ u. a. fest. In diesem Zusammenhang sei auch auf das 30. Kapitel „Adam und Eva“ in „Beantwortete Fragen“ von ‘Abdu’l-Bahá hingewiesen, in welchem erklärt wird, „daß die Verse des Alten Testaments zahlreiche Bedeutungen haben, göttliche Geheimnisse enthalten und wunderbaren Erklärungen offen stehen. Eine dieser Erklärungen besagt, daß mit Adam sein Geist und mit Eva seine Seele gemeint ist.“ Es erhebt sich die Frage, ob die späte geistige Entfaltung des weiblichen Menschen im Schöpfungsplane gelegen hat? Wer weiß es zu sagen! Jedenfalls ist für das neue Zeitalter ein grandioser, göttlich bestimmter Entwicklungsplan durch Bahá’u’lláh verkündet worden, in den auch die Entfaltung der Frau in besonderer Weise einbezogen ist, Wir stehen am Anfang dieser umfassenden, umwälzenden Entwicklung, von der Bahá’u’lláh spricht: „Das Gleichgewicht der Welt ist durch den schwingenden Einfluß dieser größten, dieser neuen Weltordnung umgestoßen worden. Das geordnete Leben der Menschheit ist durch die Wirkung dieses einzigartigen, dieses wunderbaren Systems, dessengleichen sterbliche Augen nie bezeugt haben, umgewälzt worden.“ 4)

Die Tradition hat sich in der Stellung der Frau als eine beherrschende Macht erwiesen. „Die Tatsache, welche die gegenwärtige Situation der Frau bestimmt, ist das hartnäckige Überleben der ältesten Traditionen in einer neuen Zivilisation." (Nach Beauvoir) Von einzelnen herausragenden Frauengestalten im Laufe der Geschichte abgesehen, waren viele Kräfte und Fähigkeiten des weiblichen Teiles der Menschheit, auch von ihm selbst unerkannt, unentwickelt geblieben. In ihrem Wirken war die Frau in die engen Schranken von Haus und Hof, den kleinen Kreis der Familie, verwiesen.


Die Frau im Aufbruch

Das in der christlichen Religion von Paulus geprägte Wort „Die Frau aber sei untertan dem Mann“ wird in unserer Zeit durch die mächtige Verordnung von Bahá’u’lláh „Mann und Frau haben gleiche Rechte“ gleichsam außer Kraft gesetzt, in Verbindung mit der wesentlichen Voraussetzung einer gleich guten Erziehung beider Geschlechter.

Das Christentum wie auch die anderen Religionen haben nicht wenig zur Unterdrückung der Frau beigetragen. Die Stellung der Frau in allen christlichen Ländern fußt nicht auf dem, was Christus sagte, sondern auf der Auffassung des Apostels Paulus. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist nun von Bahá’u’lláh selbst ausdrücklich niedergelegt, so daß eine Abänderung Seiner göttlichen Anordnung unmöglich ist!

In allen Bereichen des menschlichen Lebens begann in der Mitte des letzten Jahrhunderts — mit dem Anbruch des neuen Zeitalters — eine tiefgreifende Veränderung einzusetzen. Unübersehbar war dabei eine Emanzipationsbewegung unter den Frauen festzustellen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt auf, wie allmählich und dann mit zunehmender Kraft diese Bewegung an geschichtlichen Daten erkennbar einsetzte. Die Frauen durchbrachen die ihnen bislang gesetzten Grenzen. Sie forderten Gleichberechtigung. Die sog. Frauenrechtlerinnen waren in der westlichen [Seite 903] Hemisphäre am Werk. Mögen wir auch heute über die Eigenart dieser Streiterinnen für ihr Recht manchmal ein Lächeln nicht unterdrücken können, es war eine historische Tat, von der aus die Gleichberechtigung und Entwicklung der Frauen um die letzte Jahrhundertwende ausgingen. Erinnern wir uns, daß zu jener Zeit die akademische Ausbildung der Frau fast noch unmöglich war. Es kann jenen Frauen als mutige „Heldentat“ angerechnet werden, die ihrem Wissensdrang trotz vieler Schwierigkeiten den Weg bahnten. Die Schweiz öffnete als erstes Land ihre Universitäten dem weiblichen Geschlecht schon im Jahre 1867.

Aus dem islamischen Kulturbereich, in welchem die Frauen nahezu ein Schattendasein hinter ihren Schleiern und den Mauern ihres Hauses führen mußten, ist uns die ergreifende Geschichte des Lebensweges von Tahirih bekannt. Sie war eine hochbegabte Frau, erkannte die Sendung des Báb, des Vorläufers von Bahá’u’lláh, wurde von Ihm zu dem Kreise der „18 Buchstaben des Lebendigen“ berufen (so nannte Er Seine ersten Jünger) und nahm als erste Frau in der Öffentlichkeit den Schleier von ihrem Angesicht. Entsetzen vieler Augenzeugen und ihre spätere Gefangennahme waren die Folgen. Sie starb den Märtyrertod, und ihre letzten Worte waren: „Ihr könnt mich töten, aber die Befreiung der Frauen könnt ihr nicht aufhalten!“ Welche Wahrheit hat sie ausgesprochen! Seitdem sind mehr als 100 Jahre vergangen. Der Blick in die Gegenwart zeigt zum Teil widerstreitende, ungeordnete, teilweise extremistische Kräfte und Strömungen in dieser noch nicht gemeisterten Situation der Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Hier muß auch kurz das Sexualproblem angesprochen werden, das im Leben der Geschlechter untereinander eine bedeutende Rolle spielt. Mir scheint hier ein Schwerpunkt der noch vielfach umstrittenen Folgerungen aus der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau zu liegen. Was zeigen z. T. die Filme? Dem weiblichen Geschlecht wird hier eine maßlose Freiheit eingeräumt, die sich andererseits aber doch als starke Abhängigkeit vom männlichen Geschlecht erweist. Moral und Sitte und natürliches, gesundes Maßhalten, was im besonderen von der Frau bestimmt werden sollte, erscheinen aufgehoben. Das Sexualleben von Mann und Frau wird oft unbekümmert um die ganzheitliche polare Einheit von Mann und Frau in ihrer physiologischen, seelischen und geistigen Struktur hochgespielt. „Unter den vielen Dingen, über die die Menschen heute die Kontrolle verloren haben, fällt besonders ihre Schwäche in sexuellen Dingen auf. Sie denken, daß die Befriedigung ihrer überentwickelten sexuellen Instinkte ihr unbedingtes Recht, ihr einziger Weg zum Glück und das größte Vergnügen ist, das das Leben ihnen bieten kann“, schreibt Ruhiyyih Rabbani 5).

Die Bewältigung dieses allzulange tabuierten, in Film, Literatur usw. heute aufgebauschten Problems, hängt weitgehend von der verantwortungsbewußten und sachkundigen Aufklärung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen ab. Schon zeichnen sich unter der heranwachsenden Jugend gesündere und natürlichere Ansichten und Zustände ab. Dies geht aus einem größeren Artikel6) hervor, in welchem Eberhard Stammler [Seite 904] unter der Überschrift „Das solide Sorgenkind“ auf Grund vielfacher Untersuchungs- und Befragungsergebnisse u.a. zu der Feststellung kommt, daß die Bindung an die Familie wieder stärker geworden ist, daß von einem hohen Prozentsatz unserer Mitmenschen die geforderte Berufsdisziplin bejaht wird und daß die engen Bindungen der jungen Erwachsenen in zunehmendem Maße dauerhafter werden und zur Ehe führen. „Es gibt zwei Forderungen“, so schreibt Ruhiyyih Rabbani, „die an das Gleichgewicht der Ehe gestellt werden müssen: die der Keuschheit und die der Kinder. Keuschheit — eine der seltensten aller Tugenden in der heutigen Welt — bedeutet, die eigenen, in ihrem Wesen so ganz vertraulichen und deinem Leben so viel Schönheit bietenden Geschlechtskräfte für den Menschen zu bewahren, dem sie zustehen: deinem Lebensgefährten, deinem Ehepartner, mit dem du Heim und Kinder und alles Frohe und Schwere des Lebens teilen willst...“ 7)


Die berufstätige Ehefrau

Auch auf dem Gebiet der Gleichberechtigung von Mann und Frau zeichnen sich mehr und mehr positive und in gute Bahnen gelenkte Kräfte ab. Wie auf allen Lebensgebieten, muß auch hier zu einer Mitte hingefunden werden, die der Würde des Menschen — vor allem geht es hier um die Frau — hinreichend gerecht wird.

So lesen wir in der Enzyklika „Pacem in terris“ von Papst Johannes XXIII. „Mann und Frau (haben in der Ehe) gleiche Rechte und Pflichten...“ (Nr. 15) Bezüglich der Frauen gilt, daß ihnen solche Arbeitsbedingungen zugestanden werden, die den Bedürfnissen und Pflichten der Ehefrauen und Mütter entsprechen.“ (Nr. 19) „Die Frau, die sich ihrer Menschenwürde heutzutage immer mehr bewußt wird, ist weit davon entfernt, sich als seelenlose Sache oder als bloßes Werkzeug einschätzen zu lassen...“ (Nr. 41) 8).

Simone de Beauvoir schrieb über die gegenwärtige Situation der Frau u. a. folgendes: „So ist heute die Frau zwischen ihren beruflichen Interessen und den Sorgen um ihre sexuelle Berufung gespalten. Es fällt ihr schwer, ihr Gleichgewicht zu finden. Wenn sie es dennoch herstellt, lebt sie in ständiger Spannung. . . Es ist der Grund für ihre Nervosität und die erhöhte Anfälligkeit, die man an ihr beobachtet. Die Frauen sind häufig an der Grenze ihrer Kraft... Die Situation hängt jedoch nicht vom Körper, sondern dieser von ihr ab...

Wenn man die beruflichen Ergebnisse der Frau beurteilt und von hier ausgehend Schlüsse auf ihre Zukunft ziehen will, darf man diese Zusammenhänge nicht aus dem Auge verlieren... Was im wesentlichen der heutigen Frau fehlt, um große Dinge zu vollbringen, ist das Selbstvergessen: Aber um sich selbst zu vergessen, muß man zunächst unbedingt sicher sein, daß man bereits zu sich selbst gefunden hat. Neu in der Welt der Männer aufgetaucht ..... ist die Frau noch zu sehr damit beschäftigt, sich selbst zu suchen. .. . Noch erschöpft die Frau ihren Mut in der Beseitigung der Spiegelungen und hält an der Schwelle der Wirklichkeit [Seite 905] erschrocken inne. Wir sind noch zu sehr mit der ersten Orientierung beschäftigt, um jenseits einer solchen Klarheit neues Dunkel durchdringen zu können. ... Um schöpferisch zu werden, genügt es nicht, sich zu bilden, das heißt in sein Leben Schauspiele und Bekanntschaften einzugliedern. Die Bildung muß durch die freie Bewegung einer Transzendenz erlangt werden. ... Große Männer sind groß, weil sie das Gewicht der Welt auf ihre Schultern genommen haben, es ist ihnen geglückt, sie neu zu schaffen. Das hat noch keine Frau getan, aber auch noch nicht tun können. Im Mann und nicht in der Frau hat sich bis jetzt der Mensch an sich verkörpern können. Keine Frau hat sich dazu für berechtigt gehalten. ... Die freie Frau wird eben erst geboren.“ Die Autorin beschließt ihr Buch mit dem schlichten Satz: „Die Zukunft steht weit offen“ was viele Möglichkeiten einbezieht, ohne daß man sich auf Voraussagen festlegt 9).

Die Stellung und Aufgabe der Frau im neuen Zeitalter ist durch Bahá’u’lláh in Seinen geoffenbarten Schriften hervorgehoben; ‘Abdu’l-Bahá hat sie wegweisend erklärt, Voraussetzung ist eine wissenschaftlich untermauerte, sozialethisch bestimmte und zukunftsweisende Erziehung, die vor allem für die Mädchen eine besondere Bedeutung hat, da sie die Mütter der nachfolgenden Generation sein werden. Der Schwerpunkt der Bestimmung der Frau wird auch in ferneren Zeiten in ihrer hohen Aufgabe als Mutter und Erzieherin liegen, in die sie mit immer besseren Voraussetzungen und Erkenntnissen hineinwachsen wird.

In früheren Zeiten war die Lebensaufgabe der Frau mit der Erziehung der Kinder und ihren Hausfrauenpflichten erfüllt. Sie hatte am öffentlichen Leben kaum Anteil und auf dessen Belange so gut wie keinen Einfluß. Doch schon seit Jahrzehnten werden die Frauen mehr und mehr in das vielschichtig gewordene Berufsleben, das vordem dem Manne vorbehalten war, einbezogen. Man kann sagen, daß das Maschinenzeitalter die Emanzipation der Frau förderte. Immer mehr neue Möglichkeiten eröffnen sich im Berufsleben für die Entfaltung der Fähigkeiten der Frau und werden von einer ständig wachsenden Zahl vor allem von der jungen Generation wahrgenommen. Die Statistik zeigt z. B., daß an 51 wissenschaftlichen Hochschulen sich zum Wintersemester 1966/67 157,4 Prozent mehr weibliche Studierende eingeschrieben haben als ein Jahr zuvor.


Im Dienst der ganzen Menschheit

Der Einsatz der Frau im öffentlichen Leben sollte vorwiegend in jenen Berufen angestrebt werden, die der Erziehung, der sozialen Hilfe, der Pflege, der Förderung und Erhaltung der Gesundheit dienen. Ihr besonderer Einsatz sollte überall, ungeachtet ihrer sonstigen Tätigkeiten, der Förderung und Erhaltung des Weltfriedens gewidmet sein. ‘Abdu’l-Bahá spricht davon, daß in der Frau die geistigen Eigenschaften der Liebe und des Dienens stärker angelegt sind und daß sie hierin ihren wertvollen Beitrag für den Frieden der Welt leisten kann. Die Frauen müssen sich mehr und mehr ihrer Fähigkeiten bewußt werden und gewillt und bestrebt sein, diese in den Dienst der ganzen Menschheit zu stellen.

[Seite 906] Ein schwieriges Problem für das zunehmende Berufsleben der Frauen ist die Überbeanspruchung, teils auch ungünstige Arbeitsbedingungen und -verhältnisse, die Gefahren und Schäden für ihre Gesundheit an Leib und Seele mit sich bringen können. Es werden ausgedehnte Untersuchungen über die Berufs- und Erwerbstätigkeit der Frau angestellt. So fand unter dem Titel „Versorgungsehe oder Beruf“ eine Untersuchung in den nordischen Ländern ihren Niederschlag, die in vielseitigen Zusammenhängen in einem über 500 Seiten umfassenden Buch veröffentlicht wurde 10).

Extreme und gemäßigte Richtungen werden hier beleuchtet. Vom Abbau der familiären Funktionen bis zur Grenze der Auflösung der Familie wird gesprochen, wo die kollektive Form der Kindererziehung Raum gefunden hat, bis zum gemäßigten, wo es heißt: Die Frau muß die Wahl zwischen Nur-Hausfrau und Berufsfrau haben. Man will drei Phasen im Leben der Frau gerecht werden: Berufszeit, dann die Ehe und die Erziehung der kleinen Kinder, dann, wenn diese größer werden, ein Doppelleben als Hausfrau und Berufstätige. Heranwachsende Mädchen müssen erfahren, daß die Mutterrolle nicht ihre einzige Lebensaufgabe ist, deshalb gute Grundausbildung und breitere Berufswahl. Verheiratete Frauen sollte man anregen und ermutigen, daß sie die Kenntnisse ihrer Berufsausbildung bewahren und den Kontakt mit ihrem Beruf aufrecht erhalten. So haben z. B. Programmiererinnen in Amerika sich in einer Vereinigung zusammengeschlossen, um in den Jahren, die der Erziehung ihrer Kinder gehören, in Heimarbeit die Verbindung und die Übung in ihrem Beruf zu erhalten. Der Arbeitsmarkt muß auf die Doppelrolle der Frau Rücksicht nehmen, z. B. durch Einrichtung von Teilzeitarbeit, Karenzurlaub bei Geburten, Weiterbildung und Umschulung für ältere Frauen. Auch die Hausfrauenstellung ist zu verbessern durch Ausbildung auf diesem Gebiet.

In unserer Zeit der Neugestaltung ist das Verhältnis zwischen den Ehepartnern einer Wandlung unterworfen. Die bestimmende Oberhand des Familienoberhauptes wird abgelöst durch häufige Beratung, auch mit den Kindern, über die zu treffenden familiären Entscheidungen. Wenn auch heute im Zeichen des Umbruchs die Ehe — die Zelle der Gemeinschaft und des Staates — einer schweren Krise ausgesetzt ist und sogar die absurde Idee ausgesprochen wurde, ob im Jahre 2000 die Ehe überhaupt noch bestehe, so wird sich diese gottgewollte Einrichtung bei der notwendigen Wandlung der Menschen wieder festigen und nach wie vor die Burg von Sitte und Moral im Einzel- und Gemeinschaftsleben sein. Hierbei hat gerade die Frau ihren entscheidenden Beitrag zu leisten. Sie muß den Mut aufbringen, selbständig zu denken und zu handeln und an der Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu arbeiten. Sie muß bestrebt sein, den Kreis ihres Wirkens für die Besserung der Lebensbedingungen der Gesellschaft zu erweitern. Ein geistiges Erwachen ist die Voraussetzung hierfür, ein Erwachen, in einer bewußten Lebenshaltung verstanden!

Wenn in früheren Zeiten, wie schon angeführt, einzelne Frauen durch ihre besonderen Leistungen hervortraten, so wird und muß es heute und [Seite 907] in künftiger Zeit eine Vielzahl sein, die ihre Kräfte und geistigen Fähigkeiten zu entwickeln vermag. Es sind hierfür schon viele Voraussetzungen geschaffen worden.

Auf der Internationalen Akademiker-Konferenz in Karlsruhe im August 1968, die im Zeichen der Menschenrechte und -pflichten als Richtmaß für eine neue Deutung geistiger, sittlicher und sozialer Werte stand, wurde im besonderen herausgestellt, daß es nicht nur um das Begreifen dieser Rechte sondern auch um deren Verwirklichung gehe, bei der die Bereitschaft und das Verantwortungsbewußtsein jedes einzelnen notwendig seien. Wege und Möglichkeiten wurden aufgezeigt: Freiheit der Religion, politische Rechte der Frau, gleiche Bildungschancen, Anteil der Frau an Wissenschaft und Technik, Ausbildung der Frau in den Entwicklungsländern, Bekämpfung des Analphabetentums, Recht auf Erholung, Beseitigung rassischer Diskriminierung, Menschenrechte in der öffentlichen Meinung, Recht auf angemessenen Lebensstandard und nicht zuletzt die Verantwortung der Wissenschaft für die Menschenrechte.

‘Abdu’l-Bahá hat, wie schon eingangs erwähnt, während Seiner Reisen in der westlichen Hemisphäre in den Jahren 1911—1913 des öfteren zu dem Thema der geistigen Entwicklung der Frau und ihrer Gleichberechtigung gesprochen. Diese Ansprachen zeigen die Stellung und Aufgabe der Frau heute und morgen auf. Zitate aus diesen Ansprachen mögen dies verdeutlichen.

„In der Vergangenheit wurde die Welt durch Gewalt regiert, und der Mann herrschte über die Frau, weil er sowohl in körperlicher als auch in geistiger Hinsicht kräftigere und mehr zum Angriff neigende Eigenschaften besitzt. Aber die Zunge der Waage senkt sich schon; die Gewalt verliert ihre Vorherrschaft, und geistige Regsamkeit, Intuition und die geistigen Eigenschaften der Liebe und des Dienens, in denen die Frau stark ist, gewinnen an Einfluß. Daher wird das neue Zeitalter ein weniger männliches Zeitalter sein und mehr von den weiblichen Idealen durchdrungen sein oder, um mich genauer auszudrücken, es wird ein Zeitalter sein, in dem die männlichen und weiblichen Elemente der Zivilisation besser ausgeglichen sein werden. ... Die Frauen müssen fortschrittlich gesinnt sein, und ihre Kenntnisse müssen sich zur Vervollkommnung der Menschheit auf Wissenschaft, Literatur und Geschichte erstrecken. Binnen kurzem werden sie zu ihrem Rechte kommen. ... Ich hoffe, daß ihr Frauen in allen Phasen des Lebens Fortschritte macht...“ 11)

Aus einer Ansprache ‘Abdu’l-Bahás am 14. November 1911 in Paris: „Das weibliche Geschlecht wird als niedriger stehend betrachtet und es werden ihm keine gleichen Rechte und Vorrechte gestattet. Dieser Zustand ist keine Folge der Natur, sondern der Erziehung. In der göttlichen Schöpfung gibt es keine derartige Unterscheidung... Wenn die Frauen die gleichen Vorzüge der Erziehung genießen wie die Männer, so wird das Ergebnis zeigen, daß sich beide gleicherweise zur Bildung eignen... Ist die Mutter gebildet, so werden auch ihre Kinder gut unterrichtet werden... Es ist daher klar, daß die zukünftige Generation von den Müttern von heute abhängt. Ist das nicht eine wesentliche Verantwortung [Seite 908] für die Frau? Bedarf sie da nicht jeder nur möglichen Förderung, um für eine solche Aufgabe gerüstet zu sein? ... In Europa haben die Frauen größere Fortschritte gemacht als im Osten, aber es bleibt noch viel zu tun... Ich hoffe, daß sowohl die Frauen des Ostens, als auch ihre westlichen Schwestern rasche Fortschritte machen, bis die Menschheit vervollkommnet ist... Die Frauen müssen größte Anstrengungen machen, um geistige Kraft zu erwerben und die Tugenden der Weisheit und Heiligung zu vermehren, bis es ihrer Erleuchtung und ihrem Streben gelingt, die Einheit der Menschheit zu verwirklichen 12).“

Diese Ansprache schließt mit dem verpflichtenden Aufruf ab: „Sie (die Frauen) müssen mit glühender Begeisterung arbeiten, um die Lehre Bahá’u’lláhs unter die Völker zu tragen, damit das strahlende Licht göttlicher Güte die Seelen aller Nationen der Erde umgebe.“

Besondere Anerkennung zollte ‘Abdu’l-Bahá den Frauen des Westens, die sich aufgemacht hatten, die göttliche Botschaft Bahá’u’lláhs weiterzutragen. „Zu den Wundern, die diese heilige Sendung kennzeichnen, gehört dieses, daß die Frauen größere Kühnheit als die Männer bewiesen haben, nachdem sie dem Glauben beigetreten waren 13)."

Zur Verwirklichung der Prinzipien der Bahá’í-Religion dürfen keine gewaltsamen Maßnahmen ergriffen werden, so auch nicht bei der Heraufführung des Prinzips der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Die Befolgung der Gesetze Gottes bringt den größten Segen für die Entwicklung der ganzen Menschheit. „Die Gesetze Gottes“, so spricht Bahá’u’lláh, „sind keine Auflagen des Willens noch der Macht oder des Beliebens, sondern Ergebnisse der Wahrheit, der Vernunft und der Gerechtigkeit.“

Alle Voraussagen für die Entwicklung der Menschheit, hier insbesondere im Hinblick auf das weibliche Geschlecht, sind aus göttlicher Feder niedergelegt und künden ein neues Zeitalter an. Dieses Zeitalter wird, wie schon gesagt, entscheidend von der Gleichberechtigung aller Menschen — hier im besonderen von Mann und Frau — mitbestimmt werden.

So sehen wir die Zukunft in einem helleren Licht leuchten, dank der heilbringenden Kraft und Macht der Sendung von Bahá’u’lláh. Dieses Licht der göttlichen Führung kann durch die gegenwärtigen, oftmals bedrückenden Zerfallserscheinungen der bisherigen Gesellschafts- und Völkerordnungen, vor allem auch im Zusammenleben der Geschlechter, nicht verdunkelt werden. Wir leben in einer Übergangszeit, in der Geburtsstunde eines neuen Zeitalters.

Erna Schmidt


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1) Shoghi Effendi, Entfaltung einer neuen Weltzivilisation S. 52
2) Esslemont, Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter S. 223/24
3) Bahá’í- Gebete, Oxford, 1948, S. 2
4) Shoghi Effendi, Entfaltung S. 4
5) Ruhiyyih Rabbani, Dein Leben, Deine Wahl, S. 70
6) Stuttgarter Zeitung vom 20. Mai 1967
7) R. Rabbani, s. 5) S. 76
8) Ein Gott — Eine Welt, Sonderdruck aus Bahá’í-Briefe, Heft 23, S. 10
9) Simone Beauvoir, Das andere Geschlecht (rororo 99) S. 142, 144, 146, 147, 148
10) „Kvinnors liv och arbete“ Herausgeber: Studienfördundet Närigsliv och Samhälle 1962, Stockholm
11) Esslemont, Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter S. 226/227
12) Pariser Ansprachen S. 129/130
13) Shoghi Effendi, Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit S. 83


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In memoriam: Hermann Grossmann[Bearbeiten]

Anfang Juli 1968 hat die Bahá’í-Weltgemeinschaft von Hermann Grossmann, einem ihrer großen Vorkämpfer in Europa, Abschied genommen. Er war einer der wenigen, denen es gegeben war, schon in den frühen zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts die Bedeutung der Offenbarung Bahá’u’lláhs nicht nur intuitiv mit reinem Herzen und gutem Willen zu erahnen, sondern von der Geschichtsphilosophie, der Wirtschafts- und der Gesellschaftswissenschaft her in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen, so weit dies in unseren verworrenen Zeiten schon möglich ist. Als Redner und Lehrer, in mehreren Büchern und zahllosen Aufsätzen, als Systematiker, Sammler und Kommentator hat er sich unermüdlich, mit sicherem Gefühl für das Wesentliche und in treuer Ergebenheit für Shoghi Effendi, den Hüter des Bahá’í-Glaubens, vor allem den Kernfragen des neuen Menschheitsbewußtseins zugewandt: der Idee der fortschreitenden Gottesoffenbarung als dem Schlüssel zum Gang der Geschichte, dem Bündnisgedanken als dem normativen, grundgesetzgebenden Prinzip des Religiösen, das nunmehr in der Fülle des neuen Wortes Gottes die Charta einer weltumspannenden Ordnung vor uns ausbreitet.

Die Weite seines Geburtslandes Argentinien und die Schrecken des Ersten Weltkriegs, seine ersten wissenschaftlichen Studien und die bohrende Frage nach dem Sinn der gesellschaftlichen Entwicklung bereiteten Hermann Grossmann darauf vor, daß er schon 1919 in Leipzig sich spontan zur Bahá’í-Religion bekennen konnte. Sofort stellte er sich in den Dienst der Verbreitung dieser neuen Ideen, ein ganzes reich erfülltes Leben lang. Große Ergebenheit, Treue, Güte und Gläubigkeit strahlten von ihm aus; er trug in seinem Herzen eine tief empfundene Liebe zur Menschheit als Ganzem im Lichte der göttlich bestimmten Einheit aller Rassen, Völker, Nationen und Kontinente unserer so klein gewordenen Erde. Hermann Grossmann war ein starker Pfeiler der deutschen Bahá’í-Gemeinde und [Seite 910] blieb zielbewußt und zuversichtlich durch alle Heimsuchungen unseres Volkes hindurch, immer dessen gewiß, daß Gott tut, was Er will.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erging 1951 an ihn der Ruf Shoghi Effendis, als „Hand der Sache Gottes“ seine Kenntnisse und Fähigkeiten, seine Opferbereitschaft und Hingabe in den weltweiten Dienst der Verbreitung der Botschaft Bahá’u’lláhs zu stellen. Zwischen 1958 und 1962 unternahm er mit seiner Frau eine Reihe von Lehrreisen nach Südamerika, wobei er vor allem der einheimischen Bevölkerung, den Indios, die freudige Kunde von Bahá’u’lláh als dem Einiger und Erlöser des Menschengeschlechts brachte und die Herzen seiner Zuhörer gewann. Die vielen Unbilden des Reisens setzten seiner Gesundheit schwer zu; dennoch ließ er erst davon ab, als seine Ärzte darauf bestanden.

Die Bahá’í der ganzen Welt werden Hermann Grossmann als ein leuchtendes Vorbild in ihren Herzen bewahren.

E. Sch. / P.M.
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Wenn auch dieser Abschied so kurz ist, gemessen an der Ewigkeit, er ist nicht ohne ein heimliches Wehgefühl. Wie kurz ist doch alles hier auf Erden! Durch Zeitliches muß unsere Seele wandern, um dem Ewigen entgegenzureifen.


Die Seele, die zu ihrem Vater strebt,
dem Herrn und Schöpfer aller, die hier wohnen.
erkennt, wenn sie dem Dienst des Guten lebt,
so manche eigene, alte Illusionen.
Denn dem nur, der sich klar zum Licht erhebt,
erschließt die Bahn sich zu den höheren Zonen.
Da muß, um sich zum Echten durchzuringen,
der Mensch noch Abschied sagen vielen Dingen.


Und so von liebevoller Hand geleitet,
wird ihm bewußt, was nichtig und was groß,
und immer herrlicher des Staubs entkleidet,
schaut er der flüchtigen Dinge ewigen Schoß.
Und wie sein Blick sich in der Reinheit weitet,
wird auch sein Wesen rein und makellos
und steigt, beflügelt mit der Liebe Schwingen,
zu ewigen, erhabenen Himmelsringen.


(aus den Abschiedsworten von Adelbert Mühlschlegel)


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Die Palermo-Konferenz...[Bearbeiten]

... vereinte vom 23. bis 25. August über 2300 Bahá’í aus 67 Ländern in der sizilianischen Hafenstadt. Eskimos und Afrikaner, Europäer und Asiaten, Amerikaner und Australier gedachten der vor einhundert Jahren, im August 1868, von Bahá’u’lláh auf Seinem Verbannungsweg ins Heilige Land unternommenen Reise durch das Mittelmeer nach Akká. Sie hörten gleichzeitig die ermutigenden Berichte aus allen Teilen der Erde über den Erfolg der Verkündigung des Bahá’í-Glaubens. Dr. Ugo Giachery gab als Vertreter des Universalen Hauses der Gerechtigkeit einen Überblick: 81 Nationale Geistige Räte arbeiten zurzeit als wichtige Pfeiler der Bahá’í-Verwaltungsordnung; 6000 örtliche Geistige Räte sind Keimzellen für die Ausbreitung des Glaubens. Im Bahá’í-Glauben




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haben sich schon die Angehörigen von über einhundert Rassen und Stämmen gefunden, Bahá’í-Literatur ist in rund 400 Sprachen übersetzt. Unsere Bilder auf den Seiten 891 und 892 zeigen Ausschnitte aus der Konferenz, die in der Fiera del Mediterraneo, einer Kongreßhalle, stattfand und trotz vieler Schwierigkeiten hervorragend organisiert war. Nach der Konferenz reisten viele Teilnehmer zur Jahrhundertfeier von Bahá’u’lláhs Ankunft in Akká nach Haifa weiter.