Bahai Briefe/Heft 31/Text

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BAHÁ'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:


Bahá’í-Konferenzen in aller Welt

Die Proklamationszeit

Gehorsam und freier Wille

Ansprache von ‘Abdu’l-Bahá

Buchbesprechung


JANUAR 1968 HEFT 31


[Seite 776] [Seite 777]



Bereitwillig wird an diesem Tag jeder einsichtige Mensch zugeben, daß der Plan, den die Feder dieses Unterdrückten geoffenbart hat, die höchste belebende Kraft für den Fortschritt der Welt und die Erhöhung ihrer Völker darstellt. Erhebt euch, o Menschen, und entschließt euch durch die Macht der göttlichen Kraft, den Sieg über euer Selbst zu erringen, damit die ganze Menschheit aus ihrer Hörigkeit gegenüber den Götzen ihrer eitlen Einbildung erlöst werde — Götzen, die ihren erbärmlichen Anbetern großen Schaden zugefügt haben und für ihr Elend verantwortlich sind. Diese Trugbilder sind das Hindernis, das den Menschen in seinem Bemühen hemmt, auf dem Pfade der Vervollkommnung vorwärts zu schreiten. Wir hoffen, daß die Hand göttlicher Macht der Menschheit ihre Hilfe leihen und sie aus ihrem Zustand schmerzlicher Erniedrigung befreien möge.
Bahá’u’lláh


(„Sendschreiben über die Welt“, Ährenlese XLIII)



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Geistiger Adel[Bearbeiten]

Ansprache ‘Abdu’l-Bahás in New York am 15. Juni 1912


Ich habe Sie eine Weile warten lassen. Ich war sehr müde und bin eingenickt. Während Ich schlief, unterhielt Ich Mich mit Ihnen, wie wenn Ich mit lauter Stimme zu Ihnen spräche. Dann wachte Ich an Meiner eigenen Stimme auf, und dabei hatte Ich ein Wort — „Imtiyáz“ (Vornehmheit) — auf den Lippen. So will Ich über dieses Thema heute vormittag zu Ihnen sprechen.

Wenn wir die Welt des Seins betrachten, stellen wir fest, daß alle stofflichen Dinge ein gemeinsames Band haben; andererseits gibt es bestimmte Einzelheiten, in denen sie sich voneinander unterscheiden. Alle irdischen Gegenstände haben zum Beispiel körperliche Bindungen. Die Mineralien, Pflanzen und Tiere haben bestimmte Elementarkörperchen miteinander gemein. Außerdem haben sie jeweils einen bestimmten Platz in der Schöpfungsordnung. Dies ist das gemeinsame Band, die Kontaktstelle zwischen ihnen. Alle schreiten sie durch den Prozeß der Zusammensetzung und der Auflösung; das ist ein Naturgesetz, dem alle unterworfen sind. In der ganzen Schöpfung herrscht dieses Gesetz; es stellt ein Band der Gemeinschaft zwischen den erschaffenen Dingen her.

Aber gleichzeitig gibt es bestimmte unterschiedliche Wesenszüge bei diesen Dingen. So bestehen zwischen Mineral und Pflanze, zwischen Pflanze und Tier, zwischen Tier und Mensch Unterscheidungsmerkmale, die unverkennbar und bedeutsam sind. Desgleichen gibt es Unterschiede zwischen den Arten und Gruppen jedes Schöpfungsreiches. Wenn wir das Mineralreich im einzelnen betrachten, stellen wir nicht nur Ähnlichkeiten, sondern auch Unterschiede zwischen den Objekten fest. Manche sind unbewegliche Körper, manche sind hart und fest, manche haben die Kraft, sich auszudehnen und wieder zusammenzuziehen, manche sind flüssig, andere gasförmig, manche Erscheinungen haben ein Gewicht, andere, wie Feuer und Elektrizität, haben keines. So gibt es vielerlei Unterscheidungsmerkmale zwischen diesen elementaren Erscheinungen.

Auch im Pflanzenreich nehmen wir Unterschiede zwischen den unzähligen Arten und Gruppen wahr. Jede hat ihre eigene Form und Farbe, ihren eigenen Duft. Im Tierreich herrscht dasselbe Gesetz; wir können viele Verschiedenheiten der Form, Farbe und Lebensweise feststellen. Das gleiche gilt für das Menschenreich. Vom Standpunkt der Farbe her gibt es Weiße und Schwarze, Gelbe und Rote. Unter dem Gesichtspunkt der äußeren Erscheinung gibt es große Unterschiede und Eigentümlichkeiten zwischen den Rassen. Die Asiaten, Afrikaner und Amerikaner haben ein verschiedenartiges Erscheinungsbild; die Menschen des Nordens und des Südens sind dem Typ und den Merkmalen nach sehr [Seite 779] unterschiedlich. Unter dem Blickwinkel der Wirtschaft und der Lebensführung sehen wir eine Vielzahl von Verschiedenartigkeiten. Manche sind arm, andere reich; manche sind gelehrt, andere unwissend; manche sind geduldig und gelassen, andere unwillig und leicht erregt; manche lieben die Gerechtigkeit, andere üben Unrecht und Unterdrückung aus; manche sind demütig, andere arrogant. Kurz, es gibt viele Unterscheidungsmerkmale unter der Menschheit.

Ich wünsche, daß auch Sie sich von anderen Menschen unterscheiden. Die Bahá’í müssen sich vor der übrigen Menschheit auszeichnen. Aber ihre Vornehmheit darf nicht vom Wohlstand abhängen — daß sie reicher werden sollten als andere Menschen. Ich wünsche Ihnen keine finanzielle Vornehmheit. Was Ich von Ihnen wünsche, ist keine Berühmtheit der bekannten Art, auf wissenschaftlichem, kaufmännischem oder industriellem Gebiet. Für Sie wünsche Ich geistige Vornehmheit, das heißt, Sie müssen durch Ihre Tugenden hervortreten und berühmt werden. In der Liebe zu Gott müssen Sie sich von allen anderen unterscheiden. Sie müssen sich hervortun durch Ihre Liebe zur Menschheit, durch Einheit und Eintracht, durch Liebe und Gerechtigkeit. In kurzen Worten, Sie müssen für alle Tugenden der Menschenwelt bekannt werden: für Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, für Gerechtigkeitssinn und Treue, für Festigkeit und Standhaftigkeit, für menschenfreundliche Werke und für den Dienst an der Menschheit, für die Liebe zu jedem menschlichen Wesen, für Einheit und Einklang mit allen Mitmenschen, dafür, daß Sie Vorurteile beseitigen und den Weltfrieden fördern. Schließlich müssen Sie dafür bekannt werden, daß Sie himmlische Erleuchtung und den Segen Gottes erlangen. Diese Vornehmheit wünsche Ich für Sie. Dies muß das Unterscheidungsmerkmal für Sie sein.


Aus „The Promulgation of Universal Peace“, Vol. I., Chicago 1922/1943, S. 184 f.



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Durch die Bewegung Unserer Feder der Herrlichkeit haben Wir auf Befehl des allmächtigen Verordners neues Leben in jede menschliche Hülle gehaucht und in jedes Wort frische Kraft geflößt. Alles Erschaffene verkündet die Beweise dieser weltweiten Erneuerung. Dies ist die größte und froheste Botschaft, die der Menschheit durch die Feder dieses Unterdrückten übermittelt wurde. Warum fürchtet ihr euch daher, o Meine Geliebten? Wer könnte euch erschrecken?
Bahá’u’lláh
(„Sendschreiben über die Welt“, Ährenlese XLIII)
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Die Proklamationszeit[Bearbeiten]

Eine neue Phase in der Bahá’í-Tätigkeit


Neben den sechs interkontinentalen Konferenzen Anfang Oktober 1967 in Neu Delhi, Kampala, Frankfurt, Chikago, Panama und Sydney war der erste Höhepunkt der Proklamationszeit, daß eine Zusammenstellung der Botschaften Bahá’u’lláhs an die Herrscher Seiner Zeit 140 heutigen Staatsoberhäuptern in Ost und West übergeben wurde.

„Die Verkündigung Bahá’u’lláhs an die Könige und Herrscher der Welt“, Bahá’í-Verlag, Frankfurt/Main 1967 (132 Seiten, Ln. DM 7.20) — lautet die deutsche Übersetzung.

Diese Zusammenstellung wichtiger Texte vermittelt den Geist einer machtvollen Manifestation des göttlichen Willens in seiner ganzen Tragweite. In seinem Vorwort zitiert das Universale Haus der Gerechtigkeit die Warnung Bahá’u’lláhs: „Das Wohlergehen der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, sofern nicht und ehe nicht ihre Einheit fest begründet ist“ (S. 10) und fährt fort, daß diese Einheit zu verwirklichen Bahá’u’lláhs ausdrückliche Aufgabe und das Ziel aller Bahá’í-Tätigkeit ist.

Die ersten Aktionen im Rahmen der Proklamationstätigkeit sind inzwischen angelaufen oder sogar schon abgeschlossen worden. Überall auf der Welt, wo die Meinungsfreiheit gewährleistet ist, brandet eine Welle von Vorträgen und Kundgebungen, Lichtbilder- und Filmvorführungen, Ausstellungen und Konferenzen gegen die Indifferenz der öffentlichen Meinung an. In Westdeutschland wurde die Festausgabe der „BAHA’I-BRIEFE“ (Heft 30/Oktober 1967) den Rektoren und Lehrern sämtlicher 43000 Schulen zugestellt. Das Begleitschreiben des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Deutschland e.V. weist auf die Zerrissenheit des abendländischen Bewußtseins hin, die seit dem ausgehenden Mittelalter von keiner der herrschenden Institutionen mehr behoben werden konnte. Diesem Ungleichgewicht setze Bahá’u’lláh, wie andeutungsweise schon vor Ihm Muhammad, die Geschlossenheit einer universalen Kosmologie entgegen: die Einheit Gottes, fortschreitende Gottesoffenbarung, die Einheit der Menschheit als Ziel der gegenwärtigen Weltkrise. Seinen Anspruch, alle religiösen Sendungen der Vergangenheit durch Seine Offenbarung zu erfüllen, habe Er vor hundert Jahren in unmißverständlicher Weise den geistlichen und weltlichen Würdenträgern Seiner Zeit und durch sie der ganzen Menschheit dargelegt. Die Bahá’í betrachten es als ihre vornehmste Aufgabe, ihre Mitmenschen auf die Tragweite der Sendung Bahá’u’lláhs hinzuweisen.

Als Beispiel für ein weitreichendes und ausgedehntes nationales Proklamationsprogramm seien die Vorhaben der kanadischen Bahá’í erwähnt.

[Seite 781] Sie umfaßten eine Reihe von sehr erfolgreichen Präsentationen beim Generalgouverneur (dem Vertreter der britischen Krone), dem Ministerpräsidenten, den Unterstatthaltern und Premiers sämtlicher Provinzen und den Oberhäuptern von 34 religiösen Gemeinschaften in Kanada. Als nächstes werden diese Querverbindungen auf örtlicher Ebene bei Bürgermeistern, Amtsleuten und Häuptlingen der Indianer- und Eskimoreservate fortgesetzt.

Auf dem Postweg wurden 11000 Geistliche aller Bekenntnisse in einer Folge von vier Briefen, jeweils mit zwei Wochen Abstand, auf die Verkündigung Bahá’u’lláhs aufmerksam gemacht und eingeladen, Bahá’í-Literatur unentgeltlich anzufordern. In den Briefen werden Bahá’u’lláhs Sendschreiben kurz zitiert und auch erläutert: „Keine Gruppe der Gesellschaft ist sich des geistigen Dunkels, das sich heute auf die Menschheit senkt, stärker bewußt als Sie, die Geistlichen, denen sich nach wie vor tausende zuwenden, um Licht zu empfangen... Niemals zuvor ist Gott den Menschen mit solchen Beweisen gegenübergetreten, wie Er es heute vor unserer Generation in dieser finstersten Nacht tut. Alles, worum wir Sie bitten, ist, daß Sie diese Beweise mit der Loslösung und der Sorgfalt prüfen, die Ihnen Ihr Beruf unausweichlich auferlegt. ‚Wenn du Mich verleugnest, mit welchem Beweis kannst du dann die Wahrheit dessen vertreten, was du besitzest?... Urteile gerecht, ich beschwöre dich bei Gott!’ “

Gleichzeitig mit dieser Briefaktion wurde in etwa 200 Zeitungen viermal eine Anzeige in Postkartengröße eingerückt: „Haben Sie von Bahá’u’lláh gehört?“ beginnt der Text, der mit den Worten schließt: „Mehrere Millionen Menschen sind nunmehr Seinem Ruf gefolgt. Die örtliche Geistlichkeit aller Glaubensrichtungen erhielt soeben ein Angebot auf die Botschaft Bahá’u’lláhs. Wir bitten Sie dringend, sich über diese Botschaft entweder bei Ihrem Geistlichen oder bei ..... zu erkundigen.“

Als weiteres Hauptelement der Proklamationsarbeit, die von geschulten Werbeleuten geleitet wird, haben die kanadischen Bahá’í den Inhalt des Buches „Der verheißene Tag ist gekommen“ von Shoghi Effendi in einer hervorragend aufgemachten Werbeschrift „Bahá’u’lláh: Sein Ruf an die Menschheit“ zusammengerafft, die breitgestreut ausgegeben und in zweiminütigen Werbesendungen wiederholt über 200 Radiostationen angeboten wird. Ergänzend fanden während der Briefaktion Versammlungen der offenen Tür in etwa 200 Proklamationszentren statt, bei denen abwechselnd der CBS-Film „Und Sein Name wird Einer sein“ und die Dia-Serie „Karmel, der Berg Gottes“ gezeigt wurden. Besondere Programme sind für die Indianer vorgesehen, die ‘Abdu’l-Bahá in Seinem „Göttlichen Plan“ für die Bahá’í-Lehrarbeit so sehr am Herzen lagen.

pmh


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Im Geiste der Gemeinschaft[Bearbeiten]

Die dritte europäische Bahá’í-Konferenz in Frankfurt


Konferenzen spiegeln den Geist einer Gemeinschaft. Sie machen deutlich, wie es hinter den Fassaden aussieht, was im Bewußtsein jedes Mitglieds vor sich geht. Hier zeigt es sich, ob die Auseinandersetzung zwischen Interessengruppen die gemeinsame Sache in Frage stellt, ob die Eigenständigkeit des Ganzen durch die stimulierte Kampfhaltung gegen außenstehende Mächte, Meinungen und Phantome wachgehalten werden muß oder ob das in der jeweiligen Gemeinschaft Spezifische als geistige Kraft so stark ist, daß es bei jedem Teilnehmer einen Eindruck hinterläßt, ein Gepräge, das ihn mit klaren Vorstellungen und mit gutem Willen erfüllt.

Sechs interkontinentale Bahá’í-Konferenzen fanden Anfang Oktober 1967 in Kampala, New Delhi, Sydney, Chikago, Panama und Frankfurt/M. statt. Ihr Anlaß war, wie Paul Haney, Hand der Sache Gottes, als Vertreter des Bahá’í-Weltzentrums zu Beginn der Frankfurter Konferenz ausführte, die hundertste Wiederkehr jener Tage, in denen Bahá’u’lláh Seine epochemachenden Sendschreiben an die Herrscher der Welt, vor allem die “Súriy-i-Mulúk“ (Tablet an die Könige), offenbarte. Auf der Grundlage Seines Anspruchs, der Verheißene aller alten Hochreligionen zu sein, stellte Er wie noch kein Prophet vor Ihm die Mächtigen Seiner Zeit ins Gericht, führte ihnen ihre Fehler vor Augen, ermahnte sie zur Umkehr und zur Konzentration auf diejenigen Erfordernisse einer umfassenden Entwicklungspolitik, die geradlinig zur Vereinigung der ganzen Menschheit unter der göttlichen Führung hinlenken. Erneut wurde bei der Konferenz deutlich, wie sehr das Fehlverhalten von wenigen kurzsichtigen Herrschern vor hundert Jahren die Schuld an der heutigen Weltkrise trägt, wie sich von dieser Sternstunde am Übergang zum letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts her geistige und politische Fehlentscheidungen in Anbetracht der technischen Revolution zu dem unentwirrbaren Knäuel verdichtet haben, in den die leidende Menschheit heute verstrickt ist,

Leider war das Echo auf die Pressekonferenz am Freitag, 6. Oktober 1967, nicht annähernd so nachhaltig wie gleichzeitig in Neu Delhi, wo sich der eigentlichen Bahá’í-Konferenz ein mehrtägiges, vom indischen Presseverband einberufenes Symposion über die Bedeutung der Presse für die geistige Erneuerung der breiten Volksschichten anschloß (vgl. unseren gesonderten Bericht). Nur spärlich informierten die Lokalblätter über die Veranstaltungen, die in der Jahrhunderthalle der Farbwerke Hoechst vonstatten gingen. In einer „Konferenz-Zeitung“ hat Konrad Krüger, ein junger Bahá’í aus Gießen, die Berichte der ersten Tage festgehalten.

[Seite 783] Größere Beteiligung herrschte bei dem Empfang, den der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland aus Anlaß der Konferenz am Freitag abend im Hotel Frankfurt Intercontinental gab. Regierungsdirektor Schwarzer vom Regierungspräsidium in Wiesbaden, Professor Dr. Ernst Benz von der Universität Marburg und Herr Ewan McLeod, britischer Konsul, waren die prominentesten Gäste, Die aus allen Teilen Europas, aus Asien und Nordamerika angereisten Bahá’í trafen sich derweil in einem anderen Saal des Hotels: ein großes Familienfest, auf dem neue Freundschaften geschlossen und alte erneuert wurden. Über 1600 Teilnehmer hatten sich aus 47 Ländern eingefunden.

Der eigentliche Auftakt der Konferenz war am Samstag vormittag die Verlesung der Botschaft des Universalen Hauses der Gerechtigkeit durch Paul Haney, der sie anschließend erläuterte. Die Botschaft ist ein neuer Appell, die 1967 im Frühjahr geforderten verstärkten Anstrengungen für die Verkündigung der Sendung Bahá’u’lláhs tatkräftig voranzutragen. Die Sendschreiben Bahá’u’lláhs an die Herrscher, Parlamentarier und Geistlichen Seiner Zeit sind vom Universalen Haus in einem repräsentativen Buch zusammengefaßt worden, das im Herbst 1967 140 Staatsoberhäuptern in aller Welt zugeleitet wurde — eine späte Chance vor dem „schwersten Unheil“, das Bahá’u’lláh der Menschheit angedroht hat. Paul Haney zitierte den letzten Absatz der Einleitung, die das Universale Haus dem Buch vorangestellt hat:

„Bahá’u’lláhs Botschaft ist eine Botschaft der Hoffnung, der Liebe und der praktischen Erneuerung. Heute ernten wir die erschreckenden Ergebnisse der Zurückweisung Seines göttlichen Rufes durch unsere Vorfahren. Doch gibt es heute andere Herrscher und Menschen, die vielleicht hören und die Schwere der drohenden Katastrophe aufheben oder mildern können. Aus dieser Hoffnung und aus dem Gefühl einer heiligen Verpflichtung heraus verkündet das Universale Haus der Gerechtigkeit, die international leitende Körperschaft des Bahá’í-Glaubens, ... erneut den Geist dieses mächtigen Rufes von vor einhundert Jahren. Mit derselben Hoffnung und Überzeugung werden die Bahá’í in der ganzen Welt während dieser Periode der Jahrhundertfeier ihr Äußerstes tun, um die erlösende Tatsache dieser erneuten Ausgießung göttlicher Führung und Liebe dem Bewußtsein ihrer Mitmenschen nahezubringen. Wir sind überzeugt, daß ihre Mühe nicht vergeblich sein wird.“

So ergab sich ganz natürlich, daß den eigentlichen Kern der Konferenz die Beratung der Lehrziele des Neunjahrplanes 1964-1973 bildete. Dies war auch das Ergebnis der Besprechung, die die Hände der Sache Gottes mit dem Universalen Haus vor ihrer Abreise in Bahjí bei ‘Akká, dem Landhaus Bahá’u’lláhs, geführt hatten. Auf diese Überlegungen lenkten auch die Impulse hin, die sie, die offiziellen Vertreter des Weltzentrums bei den sechs Konferenzen, von ihrem kurzen Aufenthalt in Adrianopel, vor hundert Jahren der Offenbarungsort von vierzehn großen Sendschreiben Bahá’u’lláhs, mitbrachten. Vor allem der Aufruf zur universellen Teilnahme aller Bahá’í an den Lehraufgaben und ihrer Finanzierung stand im Vordergrund: Paul Haney hob die Appelle des Universalen Hauses nach Pionieren, die den Glauben in neu zu erschließende Gebiete [Seite 784] tragen, und nach Reiselehrern hervor. Für Europa im besonderen gelte es, alle Schichten der menschlichen Gesellschaft zu erreichen, sich den Inseln um den Kontinent herum zuzuwenden, da sie vielleicht für kürzere oder längere Zeit als „Verwahrungsorte des Glaubens“ benötigt würden, und in diejenigen europäischen Länder vorzustoßen, in denen der Glaube Bahá’u’lláhs bis jetzt noch nicht bleibend Fuß fassen konnte. Von den 30 000 Bahá’í-Zentren in aller Welt sind bis jetzt nur 1000 in Europa gelegen.

Am Samstag nachmittag hatten die Freunde Gelegenheit, das Portrait Bahá’u’lláhs zu betrachten, welches in Adrianopel, kurze Zeit nach dem Giftattentat, das auf Ihn verübt wurde, fotografiert worden war. Das kleine Bild strahlt einzigartiges Charisma aus; man versteht die Ergriffenheit, mit der Professor Browne als einer der wenigen Westeuropäer, die Bahá’u’lláh begegneten, seinen Besuch bei Ihm zwanzig Jahre später schilderte.

Unter gewissen technischen Schwierigkeiten erfolgte gegen 16 Uhr die telefonische Ringschaltung zwischen den sechs Konferenzen. Am deutlichsten Chikago: 3000 Gläubige waren dort versammelt, Präsident Johnson hatte eine Grußadresse übersandt. In Sydney hatten die Konferenzteilnehmer bis spät in der Nacht auf diese Verbindung gewartet. Neu Delhi und Panama waren nur undeutlich zu verstehen; die Verbindung mit Kampala kam nicht zustande.

Das Einigkeitsfest am Abend stand unter dem Motto der „Frohen Botschaften“ Bahá’u’lláhs. Später wurde der Film „Und Sein Name wird Einer sein“ gezeigt, der vor wenigen Monaten vom Columbia Broadcasting System gedreht worden war und Millionen amerikanischen Fernseh-Teilnehmern einen ersten Eindruck von der Bahá’í-Religion vermittelt hatte. Der Titel des Films ist dem Alten Testament (Sacharja 14, 9) entnommen. Die Dia-Tonband-Serie „Karmel — der Berg Gottes“, die vom Internationalen Bahá’í-Zentrum für Bild und Ton im Auftrag des Universalen Hauses für die Proklamationsarbeit zusammengestellt worden war, bildete den Abschluß dieses erlebnisreichen Tages.

Der Sonntag vormittag, 8. Oktober, begann mit der Vorstellung der anwesenden Hände der Sache Gottes, der Mitglieder ihres Hilfsamts und der Nationalen Geistigen Räte, die auf der Konferenz vertreten waren. Grußbotschaften aus der ganzen Welt wurden verlesen. Dorothy Ferraby faßte die Berichte der Nationalen Räte über ihre Proklamationsvorhaben zusammen. Die Aussprache über dieses Thema ergab Übereinstimmung, daß im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten die modernsten Kommunikationsmittel eingesetzt werden müssen, Während das Ziel der Lehrarbeit ist, in möglichst vielen und weitverstreuten Orten Bahá’í-Gemeinden und Bahá’í-Institutionen zu schaffen, geht es bei der Proklamationstätigkeit darum, die breite Öffentlichkeit davon zu unterrichten, daß ein göttlicher Heilsplan für die Menschheit existiert.

Der Gottesdienst im Haus der Andacht in Langenhain mußte zweimal durchgeführt werden; trotzdem war der Andrang so groß, daß nicht alle Besucher Platz fanden.

(Fortsetzung Seite 786)

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INTERNATIONALE KONFERENZ FRANKFURT/MAIN: Oben
links die Jahrhunderthalle in Höchst, Ort der Zusammenkunft.
— Recht oben: Paul Haney, der Vertreter des Weltzentrums der
Bahá’í in Haifa. — Auch ein viel umlagertes Sonderpostamt
war eingerichtet (Mitte links). — Daneben und unten jeweils
ein Blick in die vollbesetzte Halle. Fotos: K. R. Krüger





[Seite 786]!


Bei seinem öffentlichen Vortrag am Sonntag abend entwickelte Paul Haney vor zahlreichen Gästen den Zweck der Proklamationsbemühungen und ihren historischen Hintergrund. Er lud die Anwesenden ein, die Lehren Bahá’u’lláhs gründlich zu prüfen, um zu erkennen, daß das Wohl der ganzen Menschheit Sein einziges Ziel gewesen sei.

John Ferraby, Hand der Sache Gottes, erläuterte in seiner Ansprache am Montag nachmittag, der am Morgen eine eingehende Beratung über die Lehraufgaben vorangegangen war, zwei Aspekte aus ‘Abdu’l-Bahás „Sendschreiben zum Göttlichen Plan“: Die Bahá’í sind aufgerufen, durch ihre Tätigkeit die Grundlagen für eine politische Vereinigung der Menschheit zu festigen und in der Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten das Modell einer neuen Gesellschaftsordnung zu schaffen. In der Bahá’í-Administration, wie sie von Bahá’u’lláh geoffenbart, von ‘Abdu’l-Bahá erklärt und von Shoghi Effendi als Hüter des Bahá’í-Glaubens in die Praxis umgesetzt wurde, sind die Grundsätze aller bisherigen Staatsordnungen — Demokratie, Oligarchie und Monarchie — harmonisch vereinigt. Unsere Aufgabe ist es, auf die praktischen Verhältnisse bezogene optimale Kombinationen zu erreichen. Wenn ‘Abdu’l-Bahá Jesus zitiert, daß die Armen selig seien und zu Führern der Menschheit werden sollten, bedeutet dies das Ziel eines völligen Aufgehens im neuen Bündnis Gottes mit der Menschheit durch Bahá’u’lláh. Nur so kann ein fruchtbarer Boden für neue soziale Strukturen geschaffen werden.

Der Dienstag vormittag war nach einer kurzen Ansprache von Dr. Adelbert Mühlschlegel, Hand der Sache Gottes, vor allem der finanziellen Seite der bevorstehenden Aufgaben gewidmet. Paul Haney betonte, wie sehr wir alle eigentlich nur Treuhänder unseres „Eigentums“ seien, das gerade in diesen unsicheren Zeiten ganz in Gottes Hand liege.

Der Nachmittag gehörte der Jugend: Charles Ioas, Mitglied des Hilfsamtes aus Spanien, leitete eine Podiumsdiskussion; es war eine Freude festzustellen, wie aufgeschlossen und tief die jungen Bahá’í die besonderen Aufgaben, die ihnen das Universale Haus gestellt hat, verstanden haben.

Paul Haney sprach das Schlußwort und brachte die Entschlossenheit aller Konferenzteilnehmer zum Ausdruck, sich in den kommenden Jahren noch mehr als in den vergangenen für die Lehraufgaben in Europa einzusetzen.

9200 Bahá’í aus 140 Ländern haben an den sechs Konferenzen teilgenommen. Über 230 von ihnen haben sich für neue Pioniervorhaben gemeldet. Amatu’l-Bahá Rúhiyyih Khánum, die Witwe Shoghi Effendis, legte in Panama den Grundstein zum ersten Haus der Andacht in Lateinamerika. Auf allen ihren Tätigkeitsgebieten fühlen sich die Bahá’í angespornt, wie es das Universale Haus der Gerechtigkeit nach den Konferenzen in einem Telegramm ausdrückte, „mit noch größerer Weitsicht und unverminderter Entschlossenheit die vor uns liegenden ruhmreichen Ziele zu verfolgen, bis dieser neue Abschnitt der Proklamation seinen Anteil an dem göttlich gelenkten Vorgang der Errichtung des Reiches Gottes in den Herzen der Menschen geleistet hat.“

Peter Mühlschlegel


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Begeisterung führt über die Ziele hinaus[Bearbeiten]

Die Konferenz im Herzen Afrikas


Eine große Urwaldtrommel gab das Zeichen beim Beginn der Sitzungen, zu denen sich 450 Bahá’í aus siebzehn afrikanischen und sieben überseeischen Ländern zwischen 4. und 8. Oktober 1967 im Klubhaus des Logogo-Stadions von Kampala (Uganda) vereinigten. Bahá’í-Gebete in unzähligen Sprachen und Dialekten, die getragenen und rhythmischen Gesänge der afrikanischen Freunde, hin und wieder auch die bunten Stammestrachten gaben der Konferenz ein besonders farbiges Gepräge. Ursprünglich hatte die Regierung von Uganda eine Verschiebung gefordert, da gleichzeitig der Jahrestag der nationalen Unabhängigkeit begangen wurde; aber im Hinblick auf die sechs weltweiten Konferenzen konnte die Erlaubnis schließlich erwirkt werden.

Das Ereignis warf seine Schatten voraus: Eine Pressekonferenz brachte nachhaltiges Echo; der Rundfunk, der sich den Bahá’í lange verschlossen hatte, öffnete seine Pforten und die einzige englischsprachige Tageszeitung, der „Uganda Argus“, brachte am 5. Oktober eine große Sonderbeilage über „Bahá’u’lláhs Proklamation an die Menschheit“. Auch „Ebony“, die große amerikanische Illustrierte für die farbige Welt, hatte einen Bahá’í als Berichterstatter zusammen mit einem Fotografen entsandt.

Als Vertreter des Weltzentrums verlas Ali Akbar Furutan, Hand der Sache Gottes, die Botschaft des Universalen Hauses der Gerechtigkeit. Er berichtete über die Pilgerreise nach Adrianopel und die schweren Heimsuchungen, die Bahá’u’lláh in jener Stadt und mehr noch in ‘Akká trafen. Enoch Olinga, Hand der Sache Gottes, spannte den Bogen von den damaligen Ereignissen zur gegenwärtigen Jahrhundertfeier der Verkündigung des göttlichen Willens durch Bahá’u’lláh an die Herrscher der Welt.

Am Nachmittag des ersten Konferenztages übergab Ali Akbar Furutan das neue nationale Haziratu’l-Quds (Verwaltungszentrum) für Uganda und Zentralafrika sowie das Gebäude für ein Lehrinstitut ihrer Bestimmung. Sie liegen in der Nähe des Hauses der Andacht auf einem Hügel vor der Stadt Kampala. Das Verwaltungszentrum ist ein Rundbau mit einer breit ausladenden Kuppel über einem kreisförmigen Versammlungsraum, der von Büros, Bibliotheks- und Archivräumen, Gastzimmern und Versorgungseinrichtungen rings umgeben wird. Patrick Robarts, ein Bahá’íArchitekt, hatte die Pläne entworfen.

Zu einer öffentlichen Kundgebung am Spätnachmittag des 6. Oktober war die ganze Prominenz Ugandas brieflich eingeladen worden; jeder Sendung lag ein Rundbrief über die Verkündigung Bahá’u’lláhs und eine eigens vorbereitete Broschüre mit Auszügen aus den Schriften Bahá’u’lláhs [Seite 788] und einem Abriß der Geschichte und Bedeutung der Bahá’í-Religion bei. 250 Gäste, darunter Vertreter der Regierung, des diplomatischen Korps, der Geistlichkeit, Lehrerschaft und des Geschäftslebens, nahmen anschließend an dem Empfang des Nationalen Geistigen Rates im neuen „Staatshotel“ teil.

Über die Bahá’í-Lehrarbeit in Afrika wird berichtet, die Begeisterung führe weit über die gesteckten Ziele hinaus. In vielen Bereichen seien alle Vorhaben des Neunjahresplanes bereits jetzt, zur Halbzeit, erreicht und übertroffen worden, obwohl es nicht nur an ausgebildeten Kräften, sondern vor allem auch an finanziellen Mitteln fehle.

Höhepunkt und Abschluß der Konferenz war die Sitzung am Sonntagnachmittag, 8. Oktober, im Anschluß an eine Andacht im Mashriqu’l-Adhkár. Vier Hände der Sache Gottes waren anwesend: Neben Ali Akbar Furutan, der die Liebe als Wesen der Religion und die Einheit der Menschheit als Grundlage des Gesetzes Gottes hervorhob, und Enoch Olinga, der an den Opfersinn der Gläubigen appellierte, waren auch William Sears und Musa Banani, beide trotz schwerer Krankheit, erschienen. William Sears ging von der Botschaft des Universalen Hauses der Gerechtigkeit aus, in der es hieß, die Menschheit trete gegenwärtig „in das finstere Zentrum der Übergangszeit“ ein. „Die Welt um uns her ist schwer krank... Niemand kann mehr glücklich sein ohne die Liebe Gottes im Herzen... Nur das eine kann nach den Worten des Hüters mit unfehlbarer Sicherheit den Triumph dieser heiligen Sache sicherstellen: das Ausmaß, in dem unser Innenleben und unser Charakter in ihren mannigfachen Aspekten den Glanz jener ewigen Grundsätze widerstrahlen, die Bahá’u’lláh verkündet hat“.

Alle Anwesenden erhoben sich spontan von ihren Plätzen, als Musa Banani in seinem Rollstuhl auf die Rednerbühne gehoben wurde. Er war es, der vor sechzehn Jahren die Religion Bahá’u’lláhs in das Herz Afrikas getragen hatte. Unter den einfachen, ungebildeten Menschen Afrikas hatte er in seiner einfachen, unkomplizierten Art ohne viele Worte die Bedeutung dienenden Glaubens gelehrt.

Mit einer abschließenden Andacht im Mashriqu’l-Adhkár ging die Konferenz zu Ende. In der warmen, sternklaren Nacht schien der Unendliche nahe zu sein.

pmhl



Die Konferenz in Neu-Delhi[Bearbeiten]

Bereits wenige Tage nach der Konferenz (7. bis 11. Oktober 1967) legte der Nationale Geistige Rat der Bahá’í von Indien durch seinen Sekretär, K. H. Vajdi, einen ausführlichen Bericht vor. Die Konferenz wurde auf den ausgedehnten, gepflegten Rasenflächen um das nationale Verwaltungszentrum der Bahá’í Indiens, ein palastartiges Gebäude im Gesandtschaftsviertel der Hauptstadt, abgehalten. Unter einem riesigen Zeltdach waren Sitzgelegenheiten für über 3300 Besucher geschaffen worden. Die [Seite 789] Rednertribüne war geschmackvoll mit indischen und persischen Teppichen bedeckt; davor ein gleichfalls mit Teppichen belegter Platz, auf dem die Kinder der verschiedenen Bahá’í-Schulen zu sitzen kamen.

In vielen Autobussen kamen die Freunde aus allen Provinzen Indiens; die größte ausländische Delegation stellten die 400 Perser, die mit zahlreichen Charterflugzeugen eintrafen. 16 weitere asiatische und vier überseeische Länder waren vertreten. Konferenzsprachen waren Hindi, Englisch und Persisch, aber Gebete wurden in vielen Nationalsprachen gelesen und gesungen.

A. Q. Faizi, Hand der Sache Gottes, überbrachte die Grüße des Universalen Hauses der Gerechtigkeit und berichtete von der Pilgerreise zu den Häusern Bahá’u’lláhs in Adrianopel. Die Hände Dr. A. M. Vargha, General Ala’í und Dr. Mohajer wiesen auf die Fortschritte des Bahá’í-Glaubens in den Entwicklungsländern seit der ersten Konferenz von Neu Delhi im Jahre 1953 hin: Damals gab es zwölf Nationale Geistige Räte, heute 81; damals setzte die Massengewinnung für den Glauben in Afrika ein, um sich nach den Konferenzen von 1958 auch auf den asiatischen Erdteil auszudehnen.

Die telefonische Ringschaltung mit den Interkontinentalen Konferenzen in Kampala, Frankfurt am Main, Panama, Chicago und Sydney war in Neu Delhi durch Leitungsstörungen unverständlich; es mußten stattdessen die vorbereiteten Tonbänder mit Grußbotschaften abgespielt werden. Groß war das Echo, das die Konferenz bei der Presse, dem Informationsamt der indischen Bundesregierung und beim Fernsehen fand.


Empfänge bei der Regierung

Auf einer großen öffentlichen Kundgebung in der geräumigen Halle des Vigyan Bhavan am 9. Oktober führte Jagjivan Ram, der Minister für Ernährung und Landwirtschaft in der indischen Zentralregierung, den Vorsitz. Dr. M. Salmanpour (Iran) sprach über die Ereignisse in Adrianopel, die in der Offenbarung des Sendschreibens an die Könige durch Bahá’u’lláh gipfelten; Frau Shirin Fozdar (Thailand) gab einen Überblick über die Wesenszüge des Bahá’í-Glaubens. In seinem Schlußwort äußerte sich der Minister überaus anerkennend über die Bahá’í-Religion; er führte aus, die Botschaft Bahá’u’lláhs, des Propheten Gottes für unser Zeitalter, brächte eine geistige Grundlage für den Weltfrieden und eine moderne Zusammenfassung alter Weisheitslehren. Er sagte, jeder vernünftige Mensch sei seiner Meinung nach ein potentieller Bahá’í, und er selbst wünsche den Bahá’í allen Erfolg für ihre Bemühungen.

Zur gleichen Zeit mit dieser Kundgebung empfing der Präsident der Indischen Union, Dr. Zakir Hussain, eine Bahá’í-Delegation, die ihm das vom Universalen Haus der Gerechtigkeit für alle Staatsoberhäupter zusammengestellte Werk „Die Verkündigung Bahá’u’lláhs“ überreichte. Die Abordnung bestand aus der Hand der Sache A. Q. Faizi, der Vorsitzenden und dem stellvertretenden Vorsitzenden des Nationalen Geistigen Rates von Indien, Frau Shirin Boman und Dr. K. K. Bhargava, sowie Frau S. Fatheazam, die gleichzeitig einen Band mit den Gedichten von [Seite 790] Táhirih, der großen Bábí-Vorkämpferin für die Frauenrechte, überreichte, ein Buch, das sich der Präsident beim letzten Indienbesuch von Amatu’l-Bahá Rúhíyyíh Khánum, der Witwe des Hüters des Bahá’í-Glaubens, erbeten hatte. Dr. Hussain nahm die Proklamationsschrift mit großer Ehrerbietung entgegen und versprach, sie zu studieren. A. Q. Faizi berichtete ihm von der Konferenz und führte aus, welche hohe Meinung ‘Abdu’l-Bahá von der herrlichen Zukunft Indiens gehegt habe. Der Präsident bat darum, daß ihm dieses Bahá’í-Schrifttum über Indien gesandt werde.

Auch der stellvertretende Ministerpräsident von Indien, Morarji Desai, gab einen kurzen Empfang für die Bahá’í. Zuerst wurden ihm die drei Hände der Sache, A. Q. Faizi, General S. Ala’í und Dr. A. M. Vargha, vorgestellt, sodann Konferenzteilnehmer aus fast allen der dreißig vertretenen Länder. Er ließ Bemerkungen darüber fallen, wie weit doch die Bahá’í-Religion über die ganze Welt verbreitet sei, und lud alle ein, an dem großen Konferenztisch seines Amtssitzes Platz zu nehmen. In einer kurzen Ansprache erklärte er, er glaube an alle Religionen einschließlich der Bahá’í-Religion. A. Q. Faizi berichtete ihm von einem Sendschreiben ‘Abdu’l-Bahás über die künftige geistige Bedeutung Indiens, und General Ala’í erzählte, wie er vor einigen Jahren Nehru getroffen habe und welch freundliche Haltung dieser dem Bahá’í-Glauben gegenüber eingenommen habe. Es entspann sich eine lebhafte Unterhaltung, in deren Verlauf einer der Bahá’í sagte: „Die Schriften Bahá’u’lláhs sind authentisch.“ Dies faßte Desai offenbar so auf, als ob die heiligen Schriften der Hindu nach Bahá’í-Ansicht nicht authentisch wären; er führte aus, die Bhagavad-Gita sei vor 2500 Jahren geoffenbart worden und heute nach wie vor authentisch. Nach zehn Minuten weiterer Aussprache schloß Desai das Interview mit der Bemerkung, wenn jeder seine eigene Religion gewissenhaft befolgte, gäbe es keine Schwierigkeiten in der heutigen Welt. In überaus freundschaftlicher Stimmung verabschiedeten sich die Bahá’í von ihm.

Am Abend des letzten Konferenztages, der vor allem ein Jugend-Symposion über die Rolle der jungen Gläubigen bei der Lehrarbeit in Asien brachte, fand um 17.30 Uhr ein großer Empfang der Bahá’í für die indische Prominenz im Hotel Oberoi Intercontinental statt. Ehrengast war der Oberbürgermeister von Neu-Delhi, die große Halle war mit etwa tausend geladenen Gästen voll besetzt. Besonders bei denjenigen, die zum erstenmal von der Bahá’í-Religion hörten, erweckten die Ansprache von A. Q. Faizi und die präzise Fragenbeantwortung, die sich anschloß, nachhaltiges Interesse. Auch ein Bahá’í-Lied „Wir sind alle die Blätter eines Baumes“, vorgetragen von Frau und Fräulein Polpraid, wurde sehr freundlich aufgenommen.

Eine wahrhafte Bahá’í-Modellstadt war das Zeltlager für über 2000 indische Konferenzteilnehmer im Talkatora-Park. Das Gelände von gut 800 m Durchmesser war mit großen Zelten bedeckt, die ihrerseits in Abteile von 6 x 12 m untergeteilt waren. Für Frauen und Kinder waren besondere Vorkehrungen geschaffen worden. Provisorische Telefon- und Lautsprecheranlagen, Erste-Hilfe-Stationen, Registrierungs- und [Seite 791] Empfangsräume, Waschküchen und sanitäre Einrichtungen waren sorgfältig vorbereitet worden, um für die vielen Bahá’í den Aufenthalt zu einer in jeder Hinsicht angenehmen Erinnerung werden zu lassen.

Vor allem bei den abendlichen Veranstaltungen in Hindi kam es zu Szenen der Begeisterung, die die kühnsten Erwartungen übertrafen. Als beispielsweise einer der Freunde vortrat und sagte: „Ich biete meine Dienste für die Lehrarbeit an, obwohl ich erst zehn Tage im Glauben stehe und meine Kenntnisse noch nicht sehr tief sind“, da stand ein zweiter auf und erklärte: „Nun, Freunde, ich bin erst seit acht Tagen Bahá’í, und doch bin ich meiner Sache so sicher, daß ich mich verpflichten kann, diese große Botschaft Gottes nicht nur meiner Familie und meinen nahen Verwandten zu bringen, sondern allen Menschen, denen ich draußen auf den Dörfern begegne.“ Hierauf setzte eine Kettenreaktion ein; alle Bahá’í, die sich erst neuerdings erklärt hatten, kamen nach vorn und sagten: „Diese Konferenz, diese große Versammlung von Freunden aus so vielen Orten hat uns so begeistert, daß wir uns entschlossen haben, in unserem neu gefundenen Glauben nicht zu rasten, bis wir die Botschaft so vielen Menschen wie irgend möglich übermittelt haben.“ Bisweilen schlug ihr Enthusiasmus solche Wellen, daß viele sagten, sie wären bereit, ihr Leben hinzugeben, wenn es nötig wäre, um der Welt zu beweisen, daß dies die wahre Religion Gottes ist.

In einem besonderen Pavillon hatten verschiedene Nationale Geistige Räte Fotos, Bücher und Landkarten ausgestellt, um die Fortschritte des Glaubens in ihren Gebieten zu erläutern. Als beste Ausstellung wurde diejenige des Nationalen Rates von Malaysia anerkannt.


Zweitägige Pressekonferenz in Neu-Delhi

Unmittelbar im Anschluß an die Interkontinentale Bahá’í-Konferenz fand am 12. und 13. Oktober ein Presse-Symposion statt, die erste Pressekonferenz dieses Ausmaßes in der Bahá’í-Geschichte. Ehrengast war J. R. Mudholkar, Präsident des Presserates von Indien, der in seiner Eröffnungsansprache seinem Bedauern darüber Ausdruck gab, daß sich die Presse bisher nur wenig um das geistige Leben gekümmert habe. Der Mensch erhebe sich dadurch über das Tier, daß er einen Verstand besitze, mit dem er denken und entscheiden könne. „Alle geistigen Lehren sprechen von einer gemeinsamen Quelle für die gesamte Schöpfung... Dennoch hören wir nicht auf, uns voneinander abzutrennen... Der Bahá’í-Glaube enthält, so weit ich bis jetzt darüber erfahren konnte, ein allumfassendes Heilmittel... Ich fordere deshalb die Vertreter der Presse hier und heute auf, eine geordnete Diskussion über dieses Thema voranzutragen und die Avantgarde der neuen Welt zu sein, die bald begründet werden muß. Wenn die Presse der Menschheit auf diese Weise dient, kann sie das Augenmerk der Öffentlichkeit auf den wichtigsten Aspekt des Lebens lenken — die geistige Entwicklung des Menschen.“

General Ala’í bedankte sich für das rege Interesse der indischen Presse und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die neuen Lehren des Bahá’í-Glaubens, [Seite 792] sprach über die Botschaft Bahá’u’lláhs an die Herrscher der Welt und schloß mit den Worten: „Ich bin überzeugt, daß Sie die Vertreter der breiten Bevölkerungsschichten dieser bedeutenden Nation sind. Ich weiß, daß Sie sich danach sehnen, einen dauerhaften Frieden zwischen den Nationen errichtet und die Vorurteile überwunden zu sehen. Um dieses glorreiche Ziel zu erreichen, muß man bei sich selbst anfangen. Beginnen Sie heute noch! Jede Verzögerung bedeutet, daß die Weltprobleme einen Tag später gelöst werden.“

Das Presse-Symposion war gut besucht und umfaßte einen Querschnitt durch das gesamte Zeitungswesen Indiens. Sein Zweck war zweifacher Art: Zum ersten sollte die Presse angeregt werden, sich selbständig mit den Lehren Bahá’u’lláhs und den Zielsetzungen der Bahá’í-Weltgemeinschaft auseinanderzusetzen; zum zweiten sollte offen die Frage diskutiert werden: „Kann die Presse eine aktive Rolle beim Aufbau wirklicher Einheit zwischen den Völkern und Nationen spielen?“

In zwölf Sitzungen, bestehend aus Podiumsgesprächen, Vorträgen und Ansprachen zahlreicher Bahá’í-Lehrer, wurde über ausgewählte Themen einer neuen Sozialphilosophie referiert. Nach jedem Vortrag bestand reiche Gelegenheit zu Fragen und Bemerkungen. Die Leitung war bei Keith de Folo, Mitglied des Hilfsamtes, in fähigen Händen. A. Q. Faizi trug mit seinen weisen und gedankentiefen Bemerkungen am Ende mancher Sitzung viel zum Gelingen der Veranstaltung bei. Das Echo in der Presse übertraf alle Erwartungen. Ausführliche Berichte und Kommentare gingen aus dem ganzen Subkontinent ein.

Die Bahá’í-Konferenz selbst wird in vielen asiatischen Ländern noch lange nachklingen. Vorgesehen sind regionale Konferenzen in Süd- und Ostasien und eine „Proklamationswoche“ in ganz Indien mit Schwerpunktveranstaltungen in 22 wichtigen Städten. Nicht nur bürgerliche Vereine, sondern vor allem Colleges und Universitäten gehen in wachsendem Maße auf das Angebot der Bahá’í ein, vor dem Lehrkörper und den Studenten Vorträge über die verschiedensten Themen wie „Die Rolle der Jugend in der modernen Welt“, „Bahá’í-Lehren für das Wirtschaftsleben“, „Errichtet oder zerstört die Religion die Einheit zwischen den Menschen ?“, „Religion und Wissenschaft“, „Weltfriede“ u. a. m. zu halten.


SARAWAK: Proklamation in der Presse

„The Vanguard“, die führende Zeitung von Kuching, der Hauptstadt von Sarawak (Nord-Borneo, Malaysia), brachte in fünf Fortsetzungen vom 10. bis 14. Oktober 1967 auf insgesamt 19 Spalten ein ausführliches Interview mit Dr. John Fozdar über den Bahá’í-Glauben. In klaren, einfachen Worten legt Fozdar das Wesen der neuen Gottesoffenbarung dar, mit vielen Bildern und Gleichnissen geht er auf die Mentalität der Zeitungsleser in einem Entwicklungsland ein. Nach einer allgemeinen Darstellung der Geschichte und der Lehren der Bahá’í-Religion beantwortet das Interview Fragen über die Stellung der Bahá’í zu den Prophezeiungen [Seite 793] in den alten Religionen, über deren historische Rolle, über die Häuser der Andacht und über die wachsende Bedeutung des Glaubens in den Entwicklungsländern.

Während es vor zehn Jahren noch kaum einen Bahá’í in Nord-Borneo gab, bestehen heute Verwaltungszentren in Kuching, Mukah, Kapit und Limbang. In den ländlichen Gebieten, unter den Stämmen der Ulus und Ibos, wurden Dutzende von Geistigen Räten gebildet.

P.M.
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Die wahre Freiheit[Bearbeiten]

Gehorsam und freier Wille in religiöser und psychologischer Sicht

Das unabhängige Forschen nach Wahrheit ist einer der Grundbegriffe der Bahá’í-Religion. Dieses Forschen nach Wahrheit führt uns aber nicht zum Ziel, wenn wir nicht bereit sind, mit den neuen Erkenntnissen und Methoden unserer Zeit zu denken. Wir müssen umdenken, wir müssen neu lernen, und etwas vom Wichtigsten dieses Neuen ist, in Kategorien und Stufen (z. B. Daseins- und Entwicklungsstufen) zu denken.

Obwohl uns ‘Abdu’l-Bahá gezeigt hat, wie wichtig der Begriff der Stufe allgemein gesehen und im individuellen menschlichen Leben ist, sind wir noch weit davon entfernt, in Stufen zu denken und die damit verbundenen Gesetze zu erkennen. Das herrschende Vorurteil besteht in der Meinung, daß ein einmal gefundenes Gesetz für alle Stufen gelte. Hieraus entspringen viele Mißverständnisse. Entweder setzt man Dinge gleich, die sich auf verschiedenen Stufen befinden, z. B. das Verhalten von Tieren und von Menschen. Dies führt dazu, daß unzulässige Schlußfolgerungen aus der modernen Verhaltensforschung den Menschen Entschuldigungen für ihre Fehlentscheidungen bieten. Oder man sieht Dinge, die der gleichen Stufe angehören, als Gegensätze an, wie z. B. Mann und Frau im gesellschaftlichen Zusammenleben usw. Tatsache ist, daß jede Stufe ihre eigenen Gesetze hat, wenn sie auch von den Gesetzen der darunterliegenden Stufen abhängig ist, aber niemals determiniert wird.

Wir alle wissen um die Daseinsstufen des Minerals, der Pflanze, des Tieres, des Menschen und des Geistes. Auf der Stufe des Minerals gelten physikalische und chemische Gesetze, dann kommen die biologischen, psychologischen, sozialen und geistigen Gesetze. Der Mensch ist mit seinem Körper von den physikalischen, chemischen und biologischen Gesetzen abhängig; er wird aber nicht von ihnen determiniert. Dank den für seine Stufe neuen psychologischen, sozialen und geistigen Gesetzen kann er immer auch anders.

Absoluten Gehorsam gibt es nur auf der Stufe des Tieres. Dies erscheint uns merkwürdig, wenn wir an die Freiheit wilder Tiere denken. Selbst Bahá’u’lláh sagt im „Buch der Gesetze“ (Ährenlese CLIX): „Wisse, [Seite 794] daß die Verkörperung der Freiheit und ihr Sinnbild das Tier ist.“ Tatsächlich handelt es sich beim Tier aber nur um eine gewisse Art der Freiheit, von der wir später sprechen werden. Das Tier hat nicht die Freiheit, sondern ist nur ihr Sinnbild, ihre Verkörperung. Vielleicht hat Gott die Tiere auch deshalb erschaffen, damit sie als Sinnbilder für den Menschen dienen, damit der Mensch erkennen kann, daß er mehr ist als ein Tier, damit er sich über die tierische Stufe erheben und anders handeln kann als ein Tier. Das Tier als Sinnbild z. B. der Freiheit soll uns zu denken geben, ob dies die Freiheit ist, die dem Menschen ansteht.

Wir sagten, nur auf der Stufe des Tieres gebe es absoluten Gehorsam. Wem gehorcht das Tier? Es folgt seinen Instinkten und Trieben. In dem Augenblick, wo wir dies erkennen, wissen wir aber auch schon, daß ein Mensch, der nur seinen Instinkten und Trieben folgt, tierisch ist. In den „Pariser Ansprachen“ (S. 44) sagt ‘Abdu’l-Bahá: „Der Mensch hat die Kraft zum Guten wie auch zum Bösen. Wenn die Kraft zum Guten vorherrscht und seine Neigungen zum Unrechten überwunden werden, mag der Mensch mit Recht als Heiliger bezeichnet werden. Doch wenn er stattdessen das, was Gott ist, verwirft und seine üblen Leidenschaften über sich siegen läßt, ist er nicht besser als die bloßen Tiere.“

Daß tierisches Dasein nicht absolute Freiheit bedeutet, ersehen wir auch aus folgenden Worten ‘Abdu’l-Bahás („Pariser Ansprachen“, S. 25): „Das Tierreich ist im Stoff gefangen. Den Menschen aber hat Gott mit Freiheit ausgestattet. Das Tier kann den Naturgesetzen nicht entrinnen, wogegen der Mensch sie zu beherrschen vermag, weil er die Natur begreifen und sich dadurch über sie erheben kann.“


Zwei Stufen der Freiheit

Mit dem Begriff des Gehorsams kommen wir nicht weiter, ohne uns zu überlegen, was Freiheit, was freier Wille ist. Lassen wir zuerst Bahá’u’lláh zu Wort kommen (Ährenlese CLIX):

„Freiheit muß letzten Endes zum Aufruhr führen, dessen Flammen niemand löschen kann. Also warnt euch der Fordernde, der Allwissende. Wisse, daß die Verkörperung der Freiheit und ihr Sinnbild das Tier ist. Was dem Menschen ziemt, ist die Unterwerfung unter solche Gesetze, die ihn vor seiner eigenen Unwissenheit beschützen und ihn vor dem Schaden der Unheilstifter bewahren. Freiheit veranlaßt den Menschen, die Grenzen des Sittlichen zu überschreiten und die Würde seiner Stufe zu verletzen. Sie drückt ihn auf die Ebene äußerster Verderbtheit und Gottlosigkeit herab.

Seht die Menschheit als eine Schafherde an, die einen Hirten zu ihrem Schutze braucht. Dies ist die Wahrheit, die unumstößliche Wahrheit. Wir billigen die Freiheit unter gewissen Umständen und verwerfen es, sie unter anderen gutzuheißen. Wahrlich, Wir sind der Allwissende.“

Wo liegt nun der Unterschied? Welche Freiheit ist richtig und „gebilligt“, welche ist falsch und „verworfen“? Die Lösung ist sehr einfach: [Seite 795] Wir müssen zwischen äußerer und innerer menschlicher Freiheit unterscheiden. Äußerlich frei scheint ein Mensch zu sein, der alles tun kann, was er will. Das ist aber in der Praxis kaum möglich, denn der Mensch ist nicht allmächtig. Es sind nicht nur andere Menschen, die ihm im Wege stehen, sondern auch die Dinge, die Natur und ihre Kräfte zeigen seine Grenzen auf.

Innerlich frei ist ein Mensch, der das will, was er soll. Woher weiß er aber, was er soll? Die Antwort gibt uns Bahá’u’lláh, der sagte: „Er hat jede Seele mit der Fähigkeit ausgestattet, die Zeichen Gottes zu erkennen“ (Ährenlese LII). Die Religionen sind es also, die mit ihrem Wertsystem immer gezeigt haben, was richtig ist. Die weitere Frage lautet dann, ob ein Mensch das für richtig Erkannte wollen kann. Wir haben gesehen, daß ein Mensch an der Ausführung gehindert werden kann, aber keine Macht der Welt außer ihm selbst kann ihn daran hindern, das für richtig Erkannte zu wollen. Und das ist das Wesen der inneren Freiheit.

Durch diesen Begriff der Freiheit sind wir in unseren Überlegungen schon sehr weit vorgestoßen. Knüpfen wir deshalb an unsere früheren Ausführungen an. Wir sagten, absoluter Gehorsam bestehe nur auf der Stufe des Tieres. Auf der Stufe Gottes kann es natürlich keinen Gehorsam geben. Somit unterliegt der Mensch, der sich auf einer Stufe zwischen Tier und Gott befindet, teilweise dem Gehorsam, teilweise nicht: Der Gehorsam wird auf der menschlichen Stufe zum Problem. Es ist auch verständlich, daß es auf der Stufe des Menschen Gehorsam gibt, der richtig ist und Gehorsam, der für den Menschen nicht richtig ist. Untersuchen wir also, welche Arten und Stufen des Gehorsams es gibt.


Vier Arten des Gehorsams

Der nächstliegende Gehorsam ist der eines Menschen gegenüber einem anderen Menschen. Diese Art von Gehorsam gab es früher, als die Menschheit noch in Herrschende und Beherrschte aufgeteilt war. Der Untertan mußte dem Herrscher folgen, der Sklave seinem Herrn. Eines unserer Hauptprinzipien ist die soziale Gleichwertigkeit aller Menschen. ‘Abdu’l-Bahá sagt (Das Kommen göttlicher Gerechtigkeit, S. 45): „Vor Gott sind alle Menschen gleich. Im Reich Seiner Gerechtigkeit und Unparteilichkeit gibt es keinen Unterschied, keinen Vorzug für irgendeine Seele.“

Sind wir Menschen wirklich gleichberechtigt, das heißt sozial gleichwertig, so muß Gehorsam unter Individuen falsch sein. Diese Gleichberechtigung hat ‘Abdu’l-Bahá so wunderschön gezeigt, als Ihn einmal eine Amerikanerin mit einem Neger, der ihr Diener war, besuchte. Als man sich zu Tisch setzte, war für den Neger nicht gedeckt. Daraufhin bediente ‘Abdu’l-Bahá zusammen mit dem Neger die anderen und aß später allein mit ihm.

Gehorsam einzelnen Menschen gegenüber — soweit sie nicht im Namen der Gemeinschaft, in der wir leben, uneigennützig handeln — ist heute [Seite 796] also keine Tugend mehr. Auch der früher übliche Gehorsam von Kindern gegenüber den Eltern gehört einer autokratischen Vergangenheit an. Wir haben heute die Möglichkeit, die Kinder als Gleichberechtigte zu behandeln und sie nicht wie Sklaven herumzukommandieren. Die auf den Lehren sowohl der Bahá’í-Religion als auch der Individualpsychologie beruhenden neuen Erziehungsmethoden erzeugen zwischen den Generationen ein Verhältnis des gegenseitigen Verstehens und Vertrauens, aus dem heraus die Kinder heute lernen können, sich aus eigenem Antrieb für das richtige Handeln und Verhalten zu entscheiden. Und sollte eine außergewöhnliche oder gefahrvolle Situation einen Befehl erfordern, so folgen diese Kinder aus ihrem Vertrauen heraus viel rascher als die Kinder, die infolge der seither üblichen Methoden und des damit verbundenen zuvielen Redens und Befehlens „muttertaub“ und ungehorsam geworden sind.

Ist der Gehorsam gegenüber einzelnen Menschen heute keine Tugend mehr, so ist es gleichwohl die zweite Art des Gehorsams, nämlich gegenüber der Gruppe.

Kinder können auch heute noch ohne weiteres lernen, den Gesetzen ihrer Gruppe, und das ist zuerst einmal die Familie, zu gehorchen. Deshalb wirken solche neuen Erziehungsmittel wie z. B. die Bildung eines Familienrates so segensreich auf die heutigen Kinder. Auch die Erwachsenen folgen den Gesetzen ihrer Gruppe, d. h. ihrer Gemeinschaft, ihrer Regierung. Dies ist sogar eines der hauptsächlichen Bahá’í-Gebote. ‘Abdu’l-Bahá sagt (Pariser Ansprachen S. 104): „Das Gesetz muß herrschen und nicht der einzelne.“ Und Bahá’u’lláh Selbst befiehlt (Ährenlese CII): „Heute muß die Menschheit Gehorsam gegenüber den Mächtigen erzeigen und treu am Seile der Weisheit festhalten. Die Mittel zum unmittelbaren Schutz, zur Ruhe und Sicherheit des Menschengeschlechts sind den Führern der menschlichen Gesellschaft anvertraut und liegen in ihrer Hand.“

Bahá’u’lláh Selbst hat sich von dieser Art des Gehorsams nicht ausgenommen. Er fragte den türkischen Sultan ‘Abdu’l-'Azíz (Ährenlese CXIV): „O König! War Ich dir jemals ungehorsam? Habe Ich jemals eines deiner Gesetze übertreten?“

Wir sehen also, Gehorsam gegenüber der Gemeinschaft, ihren Gesetzen und ihren bevollmächtigten Vertretern ist richtig und notwendig. Natürlich öffnet eine derart lapidare Feststellung allen möglichen Interpretationen Tür und Tor. Desto klarer erhellt die Bedeutung der Pflicht, die Bahá’u’lláh allen Mächtigen dieser Erde auferlegt: Keine eigensüchtigen Ziele zu verfolgen, sondern sich als die Treuhänder Gottes und der ganzen Menschheit zu betrachten.

Der Vollständigkeit halber wäre hier noch hinzuzufügen, daß die Gemeinschaft und ihre Gesetze natürlich nicht ungerecht, und das heißt nicht dem Willen Gottes entgegen sein dürfen.

Nun gibt es eine weitere, dritte Art des Gehorsams — immer daran gemessen, wem wir gehorchen — den Gehorsam gegenüber uns selbst. Wer aber sind wir selbst? In der Bahá’í-Religion wird von einem niederen und [Seite 797] einem höheren Selbst gesprochen. In der Psychologie wird mehr der Unterschied zwischen Ich und Selbst gemacht. Das Ich ist dabei das sogenannte niedrige Ich, das sich in der Ichhaftigkeit zeigt, im Egoismus. Das Selbst ist mehr der ganze volle runde Mensch, der sowohl das schlechte als auch das gute Ich beinhaltet.

Woraus besteht dieses Ich? In einem „Verborgenen Wort“ sagt Bahá’u’lláh: „O Sohn der Höhe! Zum Unvergänglichen rufe Ich dich, du aber verlangst nach dem Vergänglichen. Warum hast du Meinen Willen vernachlässigt und folgst nur deinen Wünschen?“

Dieses schlechte Ich sind demnach unsere Wünsche, unsere Neigungen, unsere Begierden, also falsche Ziele. Das weitere Ziel dieser Bestrebungen ist wiederum die Ichhaftigkeit, das heißt die Selbsterhöhung. Wir wissen, daß dieses Ziel falsch ist, und doch folgen wir ihm. Wir benützen dazu einen Trick, nämlich unsere Gefühle und Stimmungen. Gefühle und Stimmungen sind nicht an sich vorhanden, sie kommen nicht von selbst, sondern sie werden von uns, wenn auch meist unbewußt, hervorgerufen, damit wir besser unsere falschen Ziele verfolgen können.

Wenn wir unseren Gefühlen und Stimmungen folgen, machen wir es wie die Tiere, nur etwas komplizierter. Die Tiere folgen unmittelbar ihren Instinkten und Trieben und haben kein Bewußtsein. Wir Menschen haben das Bewußtsein, ohne das ein freier Wille ja nicht möglich ist. Und jetzt fängt unsere Selbsttäuschung an: Wir möchten etwas, was mit unserem guten Gewissen nicht in Einklang zu bringen ist. Deshalb erzeugen wir Gefühle und Stimmungen, in deren Gegenwart wir hilflos sind, das heißt, unser Bewußtsein sagt uns, wir sind ja nicht schuld an unseren Gefühlen und Stimmungen. Auf diese Art können wir die Zweckgerichtetheit unserer Gefühle nicht erkennen. Hätten wir den Mut, die Ziele unserer negativen Gefühle zu erkennen, dann könnten diese Gefühle nicht mehr so wirkungsvoll unseren geheimen Absichten dienen, das heißt sie würden von selbst schwächer.

Der Mensch ist eine Einheit, ein Ganzes, das sich wohl in verschiedene Richtungen bewegen kann, aber —- gleichgültig, in welcher Richtung es sich bewegt — immer dasselbe Individuum bleibt. Unser Benehmen hat einen Zweck und ist auf selbstgesetzte Ziele gerichtet. Wir entscheiden selbst über unsere Ziele, oft ohne es zu wissen, weil sich ein großer Teil unserer Tätigkeit, sowohl der körperlichen als auch der seelischen, nicht zur Ebene des Bewußtseins erhebt. Der Mensch ist ein Entscheidungen treffendes Wesen. Wir entscheiden über unsere Gefühle, ja unsere Stimmungen, wir entscheiden kraft unserer Fähigkeit, uns Wünsche zu versagen, wir entscheiden auch, ob wir unseren Pflichten und Aufgaben entgegenarbeiten (Rudolf Dreikurs).

Diese neue Auffassung vom Menschen gibt uns zwei Dinge, auf die wir nicht vorbereitet sind: Sie gibt uns die Verantwortlichkeit für all unsere Taten, seien sie gut oder schlecht, und sie gibt uns die Freiheit zu wählen, was wir tun. Wir aber ziehen die Sklaverei vor; wir ziehen immer noch die Einbildung vor, wir seien die Opfer der Umstände, unserer Umgebung, unserer Vergangenheit. Wir geben nur zu gerne das Geburtsrecht [Seite 798] der Freiheit auf für diesen Scheinfrieden der Unterordnung unter fremde Mächte (Dreikurs).

Bahá’u’lláh sagt in einem „Verborgenen Wort“: „Meine Einheit ist Mein Werk, um deinetwillen erschuf Ich sie. So schmücke dich mit ihr, damit du für immer eine Offenbarung Meines ewigen Wesens werdest.“

Von ganz wesentlicher praktischer Bedeutung ist die Erkenntnis, daß wir nur das tun, wofür wir uns entscheiden. Können wir nämlich diese Erkenntnis akzeptieren, dann vermögen wir auch, unsere Entscheidungen zu ändern. Wir wissen dann aber auch, daß kein Ärger, keine Angst und keine Selbstbeherrschung uns daran hindern können, das Falsche zu tun, wenn wir uns zum Falschen entschieden haben. Diese Einsicht könnte das Tor zur Freiheit öffnen, aber die Menschen wollen es nicht, weil sie sich sonst eingestehen müßten, daß sie für all ihr Tun die volle Verantwortung tragen (Dreikurs).

Bahá’u’lláh sagt uns (Ährenlese XXXIV), daß „Erfolg oder Fehlschlag, Gewinn oder Verlust... vom eigenen Bemühen des Menschen abhängen.“ Was geschieht zum Beispiel, wenn jemand seine Fassung verliert oder in Wut ausbricht? Er sagt Dinge, die er sonst nicht sagen würde, beleidigt andere oder schlägt irgendetwas zusammen. Was er damit sagen will, ist: „Ihr solltet wissen, daß ich schlechte Nerven habe, und mich nicht herausfordern!“ Er will also anderen klarmachen, daß sie zu tun haben, was er wünscht. Daß er völlige Kontrolle über seinen Wutausbruch hat, können wir sehen, wenn zufällig gerade während dieser Demonstration z. B. der Briefträger klingelt. Der Betreffende hört mitten in seinem Wutausbruch auf, bis der Briefträger gegangen ist, und setzt ihn dann fort. Natürlich möchte er nichts davon wissen, daß es seine Entscheidung ist, ob er seine Fassung verliert oder nicht. Es ist viel bequemer zu sagen: „Auch mein Vater hatte solche Ausbrüche, ich kann nichts dafür, es sind meine schwachen Nerven.“ Es erfordert große Überwindung zuzugeben, daß wir für alle unsere Handlungen verantwortlich sind. ‘Abdu’l-Bahá lehrt: „Einige Dinge, wie Gerechtigkeit, Unparteilichkeit, Gewalt und Ungerechtigkeit unterstehen dem freien Willen des Menschen, wie auch alle guten und schlechten Taten“ (Beantwortete Fragen, 70. Kap.). Nur diese Einsicht kann uns die Freiheit geben, die wir von Haus aus haben, ohne sie zu kennen oder Gebrauch von ihr zu machen.

Erst wenn wir sehen, daß wir Entscheidungen treffende Wesen sind, können wir erkennen, daß wir tun, was wir wollen. Das ist aber schon wieder eine Überschreitung unserer Daseinsstufe und steht uns nicht zu. Nicht umsonst wird z. B. in den Gebeten Bahá’u’lláhs immer wieder betont, daß „Gott tut, was Er will.“ Zu tun, was Er will, steht nur Gott zu. Unsere Aufgabe ist zu tun, was Gott will, nicht was wir wollen.


Gottesfurcht als wahre Freiheit

Und damit sind wir bei der vierten Art des Gehorsams angelangt, dem Gehorsam gegenüber Gott, Seinem Willen und Seinen Manifestationen. [Seite 799] Solange wir tun, was wir wollen — und das ist heute die Regel — stehen wir mit uns selbst in einem Kampf, auch wenn er unbewußt ist. Es ist der sinnlose Kampf zwischen Wollen und Sollen, zwischen Wort und Tat, zwischen äußerer und innerer Freiheit. Je mehr wir aber mit uns selbst im Kampf stehen, werden die Gebote Gottes als Last empfunden, was im Extrem zur Neurose führt. Sich nach den Regeln unserer Religion zu richten, wird hingegen als Freude befunden. Wir tun, was Gott will, was dazu führt, daß uns die himmlischen Heerscharen zu Hilfe kommen. Psychologisch gesprochen, entdeckt das Individuum in sich eine Kraft und Macht, die sogar noch größer ist als die Kraft und Macht, die im kleinsten Teilchen der Materie, dem Atom, entdeckt worden ist.

Im „Buch der Gesetze“ (Ährenlese CLIX) sagt Bahá’u’lláh: „Sprich: Wahre Freiheit besteht in der Unterwerfung des Menschen unter Meine Gebote, sowenig ihr es auch begreifen möget. Würden die Menschen das befolgen, was Wir aus dem Himmel der Offenbarung auf sie herniedersandten, so würden sie sicherlich vollkommene Freiheit erringen. Glücklich ist der Mensch, der die Absicht Gottes in allem erkannt hat, was Er aus dem Himmel Seines Willens, der alles Erschaffene durchdringt, offenbarte. Sprich: Die Freiheit, die euch nützt, findet ihr nur in vollkommener Dienstbarkeit unter Gott, der Ewigen Wahrheit. Wer ihre Süße gekostet hat, wird es verschmähen, sie gegen alle Herrschaft der Erde und Himmel einzutauschen.“

Es gibt also vier Arten des Gehorsams. Die erste Art ist der Gehorsam anderen Einzelmenschen gegenüber, der heute nur bedingt richtig sein kann. Richtig dagegen ist die zweite Art des Gehorsams gegenüber den gerechten Gesetzen der Gemeinschaft. Die dritte Art des Gehorsams, nämlich uns selbst gegenüber, hängt auf merkwürdige Art mit der vierten Art des Gehorsams als höchster Tugend zusammen, dem Gehorsam dem Höchsten gegenüber. Tatsache ist, daß wir die dritte Art des Gehorsams dauernd ausüben: Wir tun, was wir wollen. Dabei benützen wir den Kunstgriff, unseren Wünschen, Gefühlen, Emotionen, Affekten und Stimmungen zu folgen, was aber falsch sein muß, solange wir den verkehrten Zielen der Ichhaftigkeit nachjagen. Hätten wir schon den Idealzustand unserer Entwicklung erlangt, wären wir Heilige und Gottes Ebenbild, dann würde diese Art des Gehorsams mit der vierten Art des Gehorsams, dem Gehorsam Gott gegenüber, zusammenfallen. Da dieser Idealzustand aber ein nie erreichtes Ziel ist, kann die dritte Art des Gehorsams uns selbst gegenüber nicht richtig sein, so daß nur noch die vierte Art übrigbleibt. Die dritte Art zeigt deutlich unsere Abhängigkeit; von freiem Willen kann hier keine Rede sein. Wie aber haben wir einen freien Willen, wenn wir Gottes Geboten folgen?

In der Ährenlese (II) sagt Bahá’u’lláh: „Der Anfang aller Dinge ist die Erkenntnis Gottes, und das Ziel aller Dinge die genaue Befolgung dessen, was aus dem höchsten Himmel des göttlichen Willens herabkam, der alles durchdringt, was in den Himmeln und auf der Erde ist.“

Und noch ein Zitat aus der Ährenlese (CXXXIII): „Die Gesetze Gottes wurden aus dem Himmel Seiner erhabensten Offenbarung herabgesandt. [Seite 800] Alle müssen sie sorgfältig befolgen. Die höchste Auszeichnung des Menschen, sein wahrer Fortschritt und sein endlicher Sieg, waren immer von ihnen abhängig und werden auch weiterhin von ihnen abhängig bleiben. Wer die Gebote Gottes befolgt, wird ewige Glückseligkeit erreichen.“

Im ersten Augenblick scheinen das Befolgen von Geboten und der freie Wille unvereinbar, ja paradox zu sein. Wir müssen deshalb zur Erklärung etwas weiter ausholen: Alle möchten heute frei und unabhängig sein, und viele leugnen deshalb sogar die Existenz Gottes, die den Menschen in seiner Freiheit anscheinend einschränkt. Da wir aber im allgemeinen den Lebensstil eines verwöhnten Kindes haben, das alles darf und zu nichts verpflichtet ist, lehnen wir die mit der Freiheit verbundene Verantwortung ab.

Das Stufendenken hilft uns weiter: Wie der Gehorsam gegenüber anderen Individuen heute nicht mehr richtig ist, während er gegenüber Gott höchste Tugend ist, oder wie die Verbreitung von Angst eine falsche Methode ist, um falsche Ziele zu erreichen, so ist Gottesfurcht nicht nur richtig, sondern notwendig; denn die Gottesfurcht bewirkt das Gegenteil der Angst, nämlich Mut. So löst sich auch das Problem der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit: Auf der Stufe der Beziehung des Menschen zu Gott hat Abhängigkeit eine andere Bedeutung als auf der Stufe der Beziehung des Menschen zu anderen Menschen.

Wenn das Ziel unseres Strebens Gott ist, bedeutet dies eine Abhängigkeit vom Schöpfer, die unlösbar mit der menschlichen Freiheit zusammenhängt. In dem Maße, wie sich unser Streben nicht auf Gott richtet und wir etwas anderes höher schätzen als das Göttliche, macht dieses andere, Nichtgöttliche uns unfrei; es will uns besitzen und beherrschen.

Unsere Aufgabe ist es, in Freiheit und Unabhängigkeit zu erforschen, was der Wille Gottes ist, was Gott mit uns meint. Dann müssen wir uns für oder gegen das Gefundene, für oder gegen Gott entscheiden. „Lasset uns unsere Herzen abwenden von der Welt des Stoffes und in der Welt des Geistes leben. Sie allein kann Freiheit geben ... Sind wir auch in der stofflichen Welt gefangen, kann sich doch unser Geist in die Himmel erheben, und wir werden tatsächlich frei sein“, sagte ‘Abdu’l-Bahá in den „Pariser Ansprachen“ (S. 86) und „Suche die Wahrheit, und die Wahrheit wird dir Freiheit bringen“ (S. 109).

Wollten wir uns allein auf die psychologischen und sozialen Gesetze der menschlichen Stufe, auf der die Funktionen des Denkens und Handelns von Wichtigkeit sind, ausrichten, unser Blick bliebe begrenzt, unser Leben bestünde in ichhaften Interessen, Wünschen, Hoffnungen und Befürchtungen und wir wären unfrei. Erst wenn wir uns auf die „über“-menschliche Stufe begeben, auf der geistige, göttliche Gesetze gelten und die Funktion des Glaubens Bedeutung hat, können wir unsere eigenen Vorteile und Vorurteile vergessen und uns den anderen Lebewesen und Dingen der Schöpfung zuwenden.

Als Lebewesen ist der einzelne Mensch Individuum, wie auch das einzelne Tier, als geistiges Wesen erst ist er Persönlichkeit (Alexander [Seite 801] Müller). Nur die Bemühung um Geistigkeit kann den Menschen zum Subjekt machen, ihn aus dem Objektsein befreien, ihn zu einem schöpferische Entscheidungen treffenden und dafür verantwortlichen Wesen werden lassen.

Wenn ein Mensch sich in seinem Inneren beherrscht fühlt, so war doch immer er es, der sich für dieses Beherrschtsein, z. B. durch eigene Wünsche und Neigungen, entschieden hat. Meistens läßt er sich durch die „Welt“ herabziehen, gibt damit sein geistiges Subjektsein auf und wird zum Objekt der eigenen seelischen Vorgänge. In seinem Streben auf der menschlichen Stufe — nach Besitz, Geltung, Macht und Genesung — will der Mensch von allem frei sein, was ihm Schranken setzt. In seinem Streben nach Geistigkeit und der damit verbundenen inneren Freiheit will der Mensch frei sein zu etwas, nämlich zur wahren Selbsterkenntnis und letzten Endes zur Erkenntnis Gottes. „Zu wollen, was ich will, ist Willkür, zu wollen, was sein soll, ist die gebundene innere Freiheit des Menschen“ (Müller).

Ein kurzes Beispiel dafür, wie Geistigkeit und innere Freiheit zusammengehören: Viktor Frankl, der heute noch in Wien lebende große Psychotherapeut, erzählt in seinem Buch „Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“, wie er bar aller Habe in das Lager kam. Unterm Arm hatte er das Manuskript eines Buches, von dem er glaubte, daß es ihn berühmt machen würde. Selbstverständlich wurde ihm bei Eintritt in das Lager dieses Manuskript weggenommen. Nicht nur dies, er geriet in eine Situation, die man wohl als die denkbar schlimmste für einen Menschen bezeichnen kann. Er war nicht nur ständig der Gefahr ausgesetzt, sein Leben zu verlieren, sondern er war ebenfalls ununterbrochen den Quälereien der Schergen und Büttel ausgeliefert. In diesem Zustand äußerster Erniedrigung und völliger Hoffnungslosigkeit entdeckte er die innere Freiheit. Es gelang ihm nämlich eine Kehrtwendung: Er stellte plötzlich fest, daß ja nicht er verantwortlich für seine Lage war, sondern daß es die anderen waren, die ihm dieses Unrecht zufügten. Folglich waren die anderen im Unrecht, nicht er. Folglich hatten die anderen Schuld und befanden sich, gemessen an dem Geistig-Göttlichen, in einer viel schlechteren Lage als er selbst. Er konnte höchstens gequält werden oder seinen Körper verlieren. Die anderen aber schadeten mit ihrem Unrecht der eigenen Seele. Und er erkannte, daß nicht er Hilfe brauche, sondern in erster Linie die anderen. Er erkannte, daß sie die wirklich Leidtragenden waren, und versuchte, sich entsprechend einzustellen und ihnen zur Erkenntnis ihres unrichtigen Verhaltens zu verhelfen. In diesem Augenblick waren seine Leiden nicht mehr das alles Beherrschende.

Dieses Beispiel zeigt uns, daß die innere Freiheit des Menschen durch Äußeres oder durch andere Menschen nicht beeinflußt zu werden braucht. Allerdings machen wir von dieser inneren Freiheit meist keinen Gebrauch, weil uns die damit verbundene Mühe und Verantwortung zu groß erscheint. Immer ist es meine Entscheidung, ob ich das Richtige für mich und andere im Sinne eines Gemeinschaftsbewußtseins tun will. Übernehme ich kritiklos ein fertiges Wertsystem, zum Beispiel eine [Seite 802] Religion, so habe ich nicht die Ethik im Auge, die das Richtige, Gute will, sondern mache den Gehorsam gegenüber den bestehenden Vorschriften zur höchsten Forderung. Statt des Guten, zum Beispiel statt des Wohls der Mitmenschen, ist Gehorsam mein Ziel, der aber nur dann eine Tugend ist, wenn man dem Höchsten, wenn man Gott folgt. „Die Stufe vollkommener Selbstunterwerfung überragt jede andere Stufe und wird immer über sie erhaben bleiben. Es gebührt dir, dich dem Willen Gottes zu weihen“ (Bahá’u’lláh, Ährenlese CLX).

Menschliches Zusammenleben ohne Gesetze ist unmöglich. Es ist zum Beispiel kein Verkehr ohne Verkehrsvorschriften denkbar. Die äußere Freiheit des einzelnen muß in dem Augenblick beschränkt werden, wo sie gegen die äußere Freiheit anderer verstößt. Auch die Natur setzt unserer äußeren Freiheit Schranken. Die innere Freiheit aber ist unbeschränkt. Die Gesellschaft muß Regeln des Zusammenlebens aufstellen, diese dürfen jedoch nicht auch die innere Freiheit regeln wollen. In letzterem Falle wäre das Ziel der Gesellschaft und ihrer Machthaber nicht Ordnung, sondern nackte Gewalt.

Jede Entscheidung eines Menschen hat größere Folgen als er sich im allgemeinen klar macht. Auch wenn es uns nicht bewußt wird, immer stehen wir vor Entscheidungen und wählen zwischen Gott und Welt, zwischen Wahrheit und Einbildung, zwischen Frieden und Krieg, zwischen Freiheit und Sklaverei. Immer und überall tragen wir dazu bei, daß „in der Welt das Bessere oder Schlechtere dominiere“ (Müller).

Daß wir es sind, die über unser Tun entscheiden, zeigt uns ‘Abdu’l-Bahá so schön in den „Beantworteten Fragen“ in dem Kapitel über die Willensfreiheit (S. 241), wo Er von einem Schiff spricht, das durch die Kraft des Windes oder Dampfes getrieben wird. In gleicher Weise empfängt der Mensch Kraft durch die Hilfe Gottes. ‘Abdu’l-Bahá sagt wörtlich: „Trotzdem ist es das Steuer, das das Schiff in jede Richtung lenkt, und die Kraft des Dampfes bewegt es nur in der gewünschten Richtung. Wird es nach Osten gesteuert, fährt es nach Osten, wird es nach Westen gesteuert, fährt es nach Westen. Die Bewegung geht aber nicht vom Schiff selbst aus, sondern vom Wind oder Dampf. .... Aber die Wahl des Guten oder Bösen liegt beim Menschen selbst.“

In einem Verborgenen Wort und einem Gebet von Bahá’u’lláh liegt das Wesentliche unseres Themas eingeschlossen (A 40): „O Sohn des Menschen! Durchwandere die Weiten der Welt und durchstreife die Höhen der Himmel — du wirst doch nirgends Ruhe finden, außer in der Befolgung Unserer Gebote und in der Demut vor Unserem Antlitz.“

„Ich flehe zu dir, o mein Herr, bei Deinem Namen, dessen Glanz Himmel und Erde umgibt, mache mich fähig, meinen Willen dem zu unterwerfen, was Du durch Deine Gebote bestimmt hast, so daß ich keinen Wunsch mehr fühle außer dem, was Du in der Kraft Deiner höchsten Herrschaft wünschest, und keinen Willen außer dem, was Du mir bestimmt hast durch Deinen Willen.“

Erik Blumenthal


[Seite 803]



VON UNSEREM Büchertisch[Bearbeiten]

Huschmand Sabet „Der gespaltene Himmel“, erschienen im Verbum-Verlag Stuttgart, Postfach 321, 184 Seiten, Leinen DM 12.80.

Jeder Verantwortung fühlende Mensch wird sich heute Gedanken über das Fortbestehen der Menschheit machen. Dabei werden ihn Fragen zahlreicher Art beschäftigen — und quälen. Als aufmerksamer Beobachter weiß er, daß diese Generation an einem Scheidewege steht, daß den Regierenden dieser Erde mehr als allen Herrschern je zuvor eine fast übermächtige Verantwortung auferlegt ist. Da und dort kann er Ansätze zu neuen Denk- und Betrachtensweisen feststellen; er ist Zeuge neuer Ideen auf wirtschaftlichem, sozialem und auch religiösem Gebiet. Aber er muß bald erkennen, daß diese — so erfreulich sie auch sein mögen — noch nicht ausreichen, die Diskrepanz zwischen einer weithin noch immer dem Egoismus und Materialismus zugewandten Menschheit und der von Gott gestellten Bestimmung, Sein Reich auf Erden zu verwirklichen, zu überwinden. Die heute allseits wahrzunehmende Zerrissenheit erfordert eine Kraft, die fähig ist, den Menschen innerlich völlig zu wandeln — in seiner Haltung zu den Geschehnissen rings um ihn herum und in seinem Verhalten zu seinen Mitmenschen.

Zu dem jetzt im Stuttgarter Verbum-Verlag von Huschmand Sabet veröffentlichten Buch: „Der gespaltene Himmel“ schreibt Professor A. Bausani, Universität Neapel, unter anderem: „Das Vorherrschen eines sich verflüchtigenden, rein intellektuell ausgerichteten Geistes ist eines der typischsten Kennzeichen unserer modernen abendländischen Welt, die sich alle Wege zu einer praktischen Welteinheit, zum Weltfrieden, zum harmonischen Funktionieren irgendeiner Weltorganisation versperrt. Wir brauchen etwas Einfaches, etwas Herz und Intelligenz gleichzeitig Bewegendes. Mit anderen Worten: Wir brauchen eine Religion.“

Huschmand Sabet, dessen Buch die Frucht ausgedehnter Vortragsreisen ist, legt auf 184 Seiten überzeugend dar, weshalb die Religionen in ihrer heutigen Struktur — dem hohen Geistesgehalt ihrer Urform entfremdet — den Menschen weder Führung noch Erlösung mehr sein können. Auf der einen Seite sieht er eine im Alten, Dogmatischen verharrende, geistig unsichere, gespaltene und verbrauchte Welt, auf der anderen Seite das Heraufdämmern einer tatkräftig in die Zukunft blickenden, nach vorwärts gerichteten Ordnung, dazu bestimmt, die Einheit der Menschheit zu verwirklichen.

Das heute zu beobachtende Versagen der Religionen, begründet auf menschlicher Unzulänglichkeit und der Weigerung anzuerkennen, daß Gottes Wort sich im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder aufs neue manifestiert, beleuchtet Huschmand Sabet vom geschichtlichen, [Seite 804] sozialpolitischen, wissenschaftlichen und selbstverständlich vom weltanschaulichen Standpunkt. Er schildert die großen Gefahren, die den Menschen der Gegenwart materiell, aber auch seelisch-geistig bedrohen. Der Verfasser bleibt aber bei einer negativen Schilderung der Situation nicht stehen, sondern zeigt recht überzeugend den Weg zu einer geistig geeinten, in Frieden lebenden Gesellschaft. „Dieses Ziel“, schreibt er, „Kann jedoch nicht ohne ein geistig-religiöses Leitbild erreicht werden“.

So lernt der Leser eine neue, alle Lebensgebiete durchdringende Ideen- und Geisteswelt kennen: durch einen umfassenden Einblick in die Bahá’í-Religion. Spannend und einleuchtend vermittelt Huschmand Sabet Kenntnisse und Erkenntnisse eines tief religiösen Glaubens, der weder im Widerspruch zur Wissenschaft und zum modernen Denken noch zur Ethik der geschichtlichen Religionen steht und die Menschheit in einer umfassenden, gerechten, göttlich sanktionierten Weltordnung zu einer Einheit verbindet.

Huschmand Sabet untersucht unter anderem den Verfall des Christentums und des Islams und macht deutlich, daß „die Mauern, die uns trennen, nicht bis zum Himmel reichen“. Der Wandel unseres Weltbildes habe jeglichen Absolutheitsanspruch fragwürdig gemacht. Die messianische Erwartung spielt in seinen Überlegungen eine wichtige Rolle, und er setzt sich eingehend mit den vor allem für den Christen so wichtigen Begriffen wie Sünde, Erlösung und Himmel auseinander. „Warum“, so möchte man fragen, „sollten seine Definitionen nicht richtig sein?“ Sabet hält sich bei alledem nämlich streng an die Texte der geoffenbarten Religionen und weist deren gemeinsame Grundlage nach.

Dieses bedeutsame Buch gehört in jedermanns Hand. „Ein Buch“, so schreibt Professor Bausani, „das manchen auf Tradition Bedachten herausfordern mag, das aber jenen zahlreicheren suchenden Menschen freien Geistes zu denken gibt, deren Zahl ständig im Steigen begriffen ist, in einem Abendland, das allen Glauben in den alten und pessimistischen Religionen und in einem pseudo-optimistischen Atheismus zu verlieren beginnt.“

H.S.
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Zwei Ausschnitte aus dem Buch von Huschmand Sabet haben wir in Heft 1 und Heft 11 der „BAHÁ'Í-BRIEFE“ (S.2 und S. 275) wiedergegeben.

D. Red.



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