Bahai Briefe/Heft 29/Text

Aus Bahaiworks
Wechseln zu:Navigation, Suche


[Seite 719]



BAHÁ'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:


„Ex oriente lux“ — Gilt diese These heute noch?

Einheit in Liebe — eine Ansprache ‘Abdu’l-Bahás

Brief an einen Theologen

Buchbesprechung


JULI 1967 HEFT 29


[Seite 720] [Seite 721]



O du gütiger Herr! Du hast die ganze Menschheit aus dem gleichen Stamm erschaffen. Du hast bestimmt, daß alle dem gleichen Haushalt angehören sollen. In Deiner heiligen Gegenwart sind sie alle Deine Diener, und die ganze Menschheit findet Schutz in Deiner Hütte. Alle haben sich um Deinen Gabentisch versammelt. Alle werden erleuchtet durch das Licht Deiner Vorsehung.
O Gott! Du bist gütig zu allen, Du hast für alle gesorgt, Du beschützest alle, Du verleihst allen Leben, Du hast einen jeden und alle mit Gaben und Fähigkeiten ausgestattet, und alle sind in das Meer Deiner Barmherzigkeit untergetaucht.
O Du gütiger Herr! Vereinige alle. Gib, daß die Religionen in Einklang kommen, und einige die Völker, so daß sie einander ansehen mögen wie eine Familie und die ganze Erde wie ein Heim. Möchten sie doch alle in vollkommener Harmonie zusammenleben.
O Gott! Erhebe das Banner der Einheit der Menschheit.
O Gott! Errichte den Größten Frieden.
Schmiede Du, o Gott, die Herzen zusammen.
O Du gütiger Vater, Gott! Erfreue unsere Herzen durch den Duft Deiner Liebe. Mache unsere Augen strahlend durch das Licht Deiner Führung. Erquicke unsere Ohren mit dem Wohlklang Deines Wortes und beschütze uns alle in der Feste Deiner Vorsehung.
Du bist der Mächtige und Kraftvolle, Du bist der Vergebende und Du bist Der, Welcher die Mängel der ganzen Menschheit übersieht.
‘Abdu’l-Bahá


[Seite 722]



Einheit in Liebe[Bearbeiten]

Ansprache ’Abdu’l-Bahás in Green Acre, USA, am 17. August 1912


Heute abend möchte ich über die Einheit der Menschenwelt zu Ihnen sprechen. Sie ist eines der wichtigen Themen unserer Zeit. Wenn die Einheit der Menschenwelt fest begründet würde, wären alle Streitigkeiten, die die Menschheit entzweien, ausgerottet. Kampf und Krieg würden aufhören, und die Menschheit würde Ruhe finden. Allumfassender Friede würde sich ausbreiten, Ost und West schlössen sich in einem starken Verband zusammen. Alle Menschen fänden Schutz unter einem Tabernakel. Die Vaterländer würden zu einer Heimat, die Rassen und Religionen würden vereint. Die Weltbevölkerung würde in Eintracht zusammenleben; ihre Wohlfahrt wäre gesichert.

Seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte bis in die Gegenwart herein haben sich die verschiedenen Religionen der Welt gegenseitig verflucht und der Falschheit beschuldigt. Jede Religion behauptete, die anderen seien der Ansehung Gottes beraubt, gingen Seiner Gnade verlustig und unterlägen Seinem göttlichen Zorn. Darum mied man sich peinlich und erwies sich gegenseitig Haß und Feindseligkeit.

Schauen Sie sich die Berichte über die Glaubenskriege, die Völkerschlachten, das Blutvergießen und die Vernichtung im Namen der Religion an! Einer der schlimmsten Religionskriege, die Kreuzzüge, erstreckte sich über einen Zeitraum von zweihundert Jahren. In dieser Folge von großen Feldzügen drangen die westlichen Kreuzfahrer mit dem Vorsatz, die Heilige Stadt aus den Händen der Muslim zu befreien, fortgesetzt im Orient ein. Ein Heerbann nach dem anderen wurde in Europa ausgehoben, um sodann seine fanatischen Legionen über den Osten zu ergießen. Die Könige der europäischen Nationen führten selbst die Kreuzzüge an, töteten und vergossen das Blut der Orientalen. Während dieses Zeitraums von zweihundert Jahren waren Ost und West in einem Zustand gewalttätiger Erregung. Manchmal waren die Kreuzfahrer erfolgreich, indem sie die Muslim töteten, brandschatzten und gefangen nahmen; manchmal trugen die Muslim den Sieg davon und brachten ihrerseits den Eindringlingen Blutbäder, Tod und Vernichtung bei. So ging es zwei Jahrhunderte lang; wütende Kämpfe und erschöpfter Scheinfriede lösten sich ab, bis sich die europäischen Glaubenskämpfer, Schutt und Asche hinter sich lassend, aus dem Osten zurückzogen, um ihre eigenen Nationen in einem Zustand der Umwälzung und des Aufruhrs vorzufinden. Hunderttausende von Menschen kamen in diesen nutzlosen Glaubenskriegen um, unermeßliche Reichtümer wurden vernichtet. Wie viele Väter betrauerten den Verlust ihrer Söhne! Wie viele Mütter und Ehefrauen klagten über das Fernsein ihrer Geliebten! Und doch war dies nur einer der „heiligen“ Kriege. Erwägen Sie dies wohl und denken Sie darüber nach!

[Seite 723] Die Religionskriege sind groß an der Zahl. Neunhunderttausend Märtyrer waren für die Protestanten das Ergebnis der Kämpfe und Streitigkeiten mit den Katholiken. Ziehen Sie die Geschichtsschreibung zu Rate, um dies bestätigt zu finden! Wie viele verschmachteten in Kerkern! Wie grausam wurden die Gefangenen behandelt! All dies geschah im Namen der Religion. Betrachten Sie die anderen Kriege zwischen religiösen Bekenntnissen und schätzen Sie ab, was das Ergebnis war!

Seit den ersten Tagen der Weltgeschichte bis auf unsere Zeit hat die Menschenwelt nicht einen Tag völliger Ruhe und Entspannung von Kämpfen und Streitigkeiten erlebt. Die meisten Kriege waren durch Glaubensvorurteile, Fanatismus und sektiererischen Haß verursacht. Eine Gruppe von Eiferern verfluchte die andere; jede meinte, die anderen seien von der Gnade Gottes ausgeschlossene, in schwarzer Finsternis befangene Satanssöhne. Zum Beispiel hielten die Christen und Muslim die Juden für teuflische Feinde Gottes; man verfluchte und verfolgte sie. Die Juden wurden in großer Zahl getötet, ihre Häuser geplündert und niedergebrannt, ihre Kinder in die Sklaverei abgeführt. Die Juden ihrerseits betrachteten die Christen als Heiden und die Muslim als Feinde und Zerstörer des mosaischen Gesetzes. Deshalb flehten sie die Rache des Himmels auf jene hernieder und fluchen ihnen bis auf den heutigen Tag.

Überlegen Sie, was der Menschheit seit Anbeginn der Geschichte an Beleidigungen, Heimsuchungen und Unheil zugefügt worden ist. Jede Stadt, jedes Land, jede Nation, jedes Volk sind der Vernichtung und Verheerung des Krieges zum Opfer gefallen. Jede der göttlichen Religionen betrachtet sich als einen stattlichen, gesegneten Baum, den Baum des Allbarmherzigen; die anderen religiösen Systeme rechnet man dagegen dem Baum des Bösen, dem Baume Satans zu. Aus diesem Grund häuft man Verwünschung und Fluch aufeinander. Dies geht aus den Büchern geschichtlicher Berichterstattung klar hervor; es war der Zustand, der bis zur Zeit des Auftretens Seiner Heiligkeit Bahá’u’lláhs vorherrschte.


Die Früchte eines Baumes

Als das Licht Bahá’u’lláhs im Osten erstrahlte, verkündete Er die Einheit der Menschheit als göttliche Verheißung. Er wandte sich an die ganze Menschheit mit den Worten: „Ihr seid alle die Früchte eines Baumes. Es gibt nicht zwei Bäume, einen Baum göttlicher Gnade und einen anderen Baum des Teufels.“ Und ein anderes Mal sprach Er: „Ihr seid alle die Früchte eines Baumes, die Blätter eines Zweiges.“ Dies war Seine Verkündigung; dies war die Verheißung der Einheit der Menschenwelt. Jeder Fluch, jeder Bann wurde ausdrücklich widerrufen. Er sagte: „Es geziemt dem Menschen nicht, andere zu verfluchen; es steht dem Menschen nicht zu, anderen schwarze Finsternis beizumessen; es schickt sich nicht, daß ein Mensch den anderen als böse betrachtet. Nein! Alle Menschen sind die Diener eines Gottes; Gott ist der Vater aller, und es gibt keinerlei Ausnahme von diesem Gesetz. Es gibt kein Volk des Teufels; alle gehören dem Allbarmherzigen zu. Es gibt keine Finsternis; alles ist hell. Alle sind die Diener Gottes, und der Mensch muß die [Seite 724] Menschheit aus ganzem Herzen lieben. Wahrlich, er muß erkennen, wie die Menschheit von der göttlichen Gnade überflutet ist.“

Bahá’u’lláh hat keine Ausnahme von dieser Regel gemacht. Er sagte, in der Menschheit könne es solche geben, die unwissend sind; sie müssen erzogen werden. Manche sind krank; sie müssen behandelt werden. Manche sind unreif; ihnen muß geholfen werden, die Reife zu erlangen. Davon abgesehen, ist die Menschheit von der göttlichen Gnade überflutet. Gott ist der Vater aller. Er erzieht, versorgt und liebt alle; denn alle sind Seine Diener und Seine Schöpfung. Zweifellos liebt der Schöpfer Seine Geschöpfe. Man kann unmöglich einen Künstler finden, der sein eigenes Werk nicht liebt. Haben Sie je einen Menschen gesehen, der seine Handlungen nicht geliebt hätte? Selbst wenn es schlechte Taten sind, liebt er sie. Wie unwissend ist deshalb der Gedanke, Gott, der den Menschen geschaffen, erzogen und ernährt hat, der ihn mit allen Segnungen umgeben hat, der die Sonne und die ganze Erscheinungswelt zum Nutzen des Menschen gemacht hat, der ihm Zärtlichkeit und Güte erwiesen hat, Gott würde den Menschen nicht lieben! Dies ist handgreifliche Unwissenheit; denn welcher Religion ein Mensch auch angehört, selbst wenn er Atheist oder Materialist sein sollte, Gott sorgt für ihn, wendet ihm Seine Güte zu und gießt Sein Licht über ihn aus. Wie können wir da glauben, Gott sei zornerfüllt und lieblos? Wie können wir uns dies einbilden, wenn wir selbst in Wirklichkeit, wohin wir uns auch wenden, Zeugen der zärtlichen Gnade Gottes sind? Überall um uns her sehen wir die Offenbarungen der Liebe Gottes.

Wenn Gott liebevoll ist, was müssen wir dann tun? Wir brauchen nichts zu tun, als Ihm nachzueifern. Wie Gott alle liebt und zu allen gütig ist, müssen wir jedermann wirklich lieben und gütig zu jedem sein. Wir dürfen niemanden als böse, verabscheuungswürdig oder als Feind betrachten. Wir müssen alle lieben, ja müssen alle als Verwandte betrachten; denn alle sind die Diener des einen Gottes. Alle stehen unter der Anleitung des einen Erziehers. Tag und Nacht müssen wir uns dafür einsetzen, daß Liebe und Freundschaft zunehmen, daß dieses Band der Einheit gestärkt werde, daß Freude und Glückseligkeit mehr und mehr die Oberhand gewinnen, daß sich die ganze Menschheit in Einheit und Solidarität unter dem Schatten Gottes versammle, daß sich die Menschen um ihre täglichen Nöte an Gott wenden und bei Ihm das ewige Leben finden. So werden sie im Reiche Gottes bestätigt werden und durch Seine Gunst und Großmut ewig leben.

Bahá’u’lláh sagte in Seinen Sendschreiben deutlich, wenn man einen Feind habe, solle man ihn nicht als Feind betrachten. Seien Sie nicht nur langmütig zu ihm, lieben Sie ihn vielmehr! Sie sollen ihn so behandeln, wie es sich für einen Liebenden geziemt. Sagen Sie nicht einmal, er sei Ihr Feind. Sehen Sie überhaupt keine Feinde! Auch wenn er Ihr Mörder sein könnte, sehen Sie keinen Feind in ihm. Schauen Sie auf ihn mit dem Auge der Freundschaft. Geben Sie acht, daß Sie ihn nicht als Feind ansehen und einfach hinnehmen; denn das wäre nur List und Heuchelei. Wenn Sie einen Menschen als Ihren Feind betrachten und ihn lieben, ist [Seite 725] dies Heuchelei. Das steht keiner Seele an. Sie müssen Ihn als einen Freund betrachten, Sie müssen ihn gut behandeln. Das ist das Richtige.


Das Gesetz der Schöpfung

Kommen wir zu unserem eigentlichen Thema zurück: Wenn wir die Erscheinungen des Weltalls beobachten, stellen wir fest, daß die Achse, um die sich das Leben dreht, die Liebe ist, während Haß und Feindschaft die Achse des Todes und der Vernichtung sind. Lassen Sie uns einen Blick in das Mineralreich tun. Hier sehen wir, daß der Aufbau zusammengesetzter Stoffe nicht möglich wäre, wenn es zwischen den Atomen keine Anziehungskraft gäbe. Jeder bestehende Körper ist aus Elementen und Zellteilchen zusammengesetzt; das ist wissenschaftlich wahr und bewiesen. Wenn zwischen diesen Elementen und Zellteilchen keine Anziehungskraft herrschte, wäre die Zusammensetzung des Körpers niemals möglich gewesen. Zum Beispiel ist der Stein hier ein Körper, eine Zusammensetzung von Elementen, die durch die Bande der Anziehung zusammengebracht wurden. Durch die Bindekraft zwischen den Bestandteilen ist dieses Felsgebilde geformt worden. Der Stein ist die niederste Stufe der Erscheinungswelt, und doch ist in ihm eine Anziehungskraft offenbar, ohne die er nicht bestehen könnte. Diese Anziehungskraft im Mineralreich ist Liebe, der einzige Ausdruck von Liebe, den ein Stein offenbaren kann.

Schauen Sie nun auf die nächsthöhere Stufe des Lebens, das Pflanzenreich. Hier sehen wir, daß die Pflanze das Ergebnis der Bindekraft zwischen verschiedenen Elementen ist, ebenso wie das Mineral in seinem Schöpfungsreich; aber darüber hinaus hat die Pflanze die Kraft, Stoffe aus der Erde aufzusaugen. Dies ist eine höhere Stufe der Anziehungskraft, durch die sich die Pflanze vom Mineral unterscheidet. Im Pflanzenreich ist dies ein Ausdruck der Liebe, die höchste Ausdrucksfähigkeit, die die Pflanze besitzt. Durch diese Anziehungskraft wächst die Pflanze Tag für Tag. Somit ist auch in ihrem Reich Liebe die Ursache des Lebens. Würden sich die Elemente gegenseitig abstoßen statt anziehen, wäre das Ergebnis Auflösung, Zersetzung, Nichtexistenz. Weil aber Bindekräfte zwischen den Elementen wirken und Anziehung die Zellen zusammenhält, tritt die Pflanze in Erscheinung. Sobald die Anziehung sich verflüchtigt und die Bestandteile sich voneinander lösen, hört die Pflanze zu bestehen auf.

Nun kommen wir zur Tierwelt, die eine höhere Stufe als das Pflanzenreich einnimmt. Hier macht sich die Kraft der Liebe noch deutlicher bemerkbar. Das Licht der Liebe strahlt im Tierreich heller, weil sich die Anziehungskraft, die die Elemente aneinanderkettet und die Zellteilchen vermengt, hier in gewissen Regungen und Empfindungen offenbart, die ihrerseits instinktive Kameradschaft und Vereinigung hervorrufen. Auch sind die Tiere von Güte und Zuneigung erfüllt, die zwischen Angehörigen der gleichen Art auftreten.

Schließlich erreichen wir das Menschenreich. Hier finden wir alle Grade der mineralischen, pflanzlichen und tierischen Ausdrucksformen von Liebe [Seite 726] gegenwärtig; hinzu kommen unverkennbare Anziehungskräfte des Bewußtseins. Das will besagen, daß dem Menschen ein Grad von Anziehungskraft eigen ist, der bewußt und geistig ist. Hierin liegt eine unschätzbare Vervollkommnung. Im Bereich des Menschen treten geistige Aufnahmefähigkeiten in unser Blickfeld; die Liebe wird im höchsten Maße wirksam, und dies ist die Ursache des menschlichen Lebens.

So ist klar bewiesen, daß auf allen Stufen und in allen Reichen der Schöpfung Liebe und Kameradschaft Leben bewirken, während Zwietracht, Feinseligkeit und Absonderung letztlich immer tödlich wirken. Deshalb müssen wir mit ganzer Seele bemüht sein, daß Tag für Tag Einheit und Verständigung unter den Menschen wachsen, daß Liebe und Zuneigung immer herrlicher und strahlender offenbar werden. Innerhalb des Tierreichs können Sie beobachten, daß die Haustiere in engster Kameradschaft zusammenleben. Sehen Sie, wie freundlich und gesellig sich die Schafe in einer Herde zusammentun. Schauen Sie auf die Tauben und das andere Nutzgeflügel. Unter ihnen gibt es kein Parteigängertum, keine Trennung nach Vorstellungen wie Volkszugehörigkeit und dergleichen. Sie leben in innigster Liebe und Einigkeit zusammen; miteinander fliegen sie auf und suchen Nahrung. Grausame Raubtiere wie der Wolf und der Bär, der Tiger und die Hyäne sind niemals gütlich gesinnt und gesellen sich nicht zueinander. Sie greifen einander an. Wann immer sie sich begegnen, bekämpfen sie sich. Drei Wölfe kann man nie glücklich vereint sehen. Wenn sie sich zusammentun, steckt irgendein grausamer Vorsatz dahinter. Sie sind wie selbstische, brutale Menschen, die sich feindselig gegenüberstehen, einander verfluchen und töten. Es steht dem Menschen besser an, den Haustieren anstatt den Raubkatzen zu gleichen; denn vor Gott ist Liebe annehmbar, Haß und Feindseligkeit dagegen verworfen. Warum sollten wir dem Wohlgefallen Gottes zuwiderhandeln? Warum sollen wir wie die Raubtiere sein, fortgesetzt Blut vergießen, brandschatzen und zerstören? Wir gehören doch einer Rasse, einer Menschheitsfamilie an; warum sollten wir da alle anderen als böse und minderwertig, als todeswürdig, als Freiwild für Plünderungen und Angriffe, als Volk der Finsternis, vor Gott verhaßt und verabscheut, betrachten? Warum tritt der Mensch seinem Mitmenschen mit derartigen Einstellungen und Handlungen entgegen? Wir sehen, daß Gott gütig zu allen ist. Wie Er uns liebt, so liebt Er die anderen; wie Er für uns sorgt, sorgt Er auch für alle übrigen Menschen. Er hegt und erzieht alle mit gleicher Sorge.

Gott ist groß! Gott ist gütig! Er schaut nicht auf die menschlichen Unzulänglichkeiten, Er achtet nicht auf die menschlichen Schwächen. Der Mensch ist ein Geschöpf Seiner Gnade, und zu Seiner Gnade ruft Er alle auf. Warum sollten wir da Seine Geschöpfe verabscheuen und verachten, weil dieser ein Jude, jener ein Buddhist oder Zoroastrier usw. ist? Dies wäre Unwissenheit; denn die Einheit der Menschheit als Diener Gottes ist eine sichere und bewiesene Tatsache.

Bahá’u’lláh hat die Einheit der Menschheit als Verheißung proklamiert. Wir müssen deshalb die höchste Liebe gegeneinander üben. Allen Menschen der Welt müssen wir Liebe erweisen. Wir dürfen kein Volk als Teufelsbrut betrachten, sondern müssen wissen und anerkennen, daß alle [Seite 727] die Diener des einen Gottes sind. Allenfalls ist es so, daß manche nicht Bescheid wissen; sie müssen geführt und herangebildet werden. Es muß ihnen beigebracht werden, ihre Mitgeschöpfe zu lieben; sie müssen ermuntert werden, Tugenden zu erwerben. Manche sind unwissend; sie müssen ins Bild gesetzt werden. Manche sind unentwickelt wie Kinder; ihnen müssen wir helfen, die Reife zu erlangen. Manche sind krank und leben in ungesunden sittlichen Verhältnissen; sie müssen behandelt werden, bis ihre Moralvorstellungen geläutert sind. Aber den Kranken darf man nicht hassen, weil er krank ist; das Kind darf man nicht meiden, weil es ein Kind ist; den Unwissenden darf man nicht verachten, weil ihm Wissen fehlt. Sie müssen alle in Liebe behandelt, erzogen, ausgebildet und unterstützt werden. Alles muß getan werden, damit die Menschheit in völliger Sicherheit unter dem Schatten Gottes lebe und sich des höchsten Glücks erfreue.


—————

Aus „The Promulgation of Universal Peace“, Vol. II, Wilmette/Ill. 1922/1943, S. 259 ff.



„Ex oriente lux“[Bearbeiten]

Gilt diese These für das Europa von heute und morgen?


„Ex oriente lux“ — aus dem Osten kommt das Licht! Es ist nicht bekannt, woher dieses geflügelte Wort stammt; wir wissen nicht, welcher Philosoph oder Theologe es wann und wo zuerst ausgesprochen hat. Dieser Ausspruch hat sich wohl darum ergeben, weil mit dem Licht sicher nicht nur die Sonne, die täglich für uns im Osten aufgeht, sondern mehr noch die Erleuchtung, das religiöse und kulturelle Licht gemeint ist, und weil alle Religionen, die Europa in den letzten zweitausend Jahren beeinflußt haben — Judentum, Christentum und Islam — aus dem Osten gekommen sind. Fast scheint es ein Naturgesetz zu sein, daß dieses geistige Licht, das zur Entwicklung der Menschheit dient, ebenso wie die materielle Sonne im Osten aufgeht.

Es mag mit dem Klima zusammenhängen, daß die Menschen im Osten schon vor Jahrtausenden mehr dem „Licht“ und dem Geistigen zugekehrt waren als die Bewohner des Okzidents, die für den Kampf gegen die Witterungsverhältnisse um Nahrung und Kleidung viel mehr Kräfte einsetzen mußten als ihre glücklicheren Zeitgenossen im Orient. Wir wissen, daß schon in der Frühgeschichte der Menschheit, zu Zeiten, die von den Historikern kaum mehr bestimmt werden können, vor viertausend und mehr Jahren, im Orient blühende Kulturen bestanden, während unsere Vorfahren in Europa noch in den primitivsten Verhältnissen lebten.

So schreibt Werner Keller in seinem Buch „Und die Bibel hat doch recht“: „Zieht man von Ägypten aus eine Linie, die über die Mittelmeerländer Palästina und Syrien und weiter, Euphrat und Tigris durch Mesopotamien folgend, bis zum Persischen Golf verläuft, so ergibt sich ein deutlicher Halbmond. Vor 4000 Jahren barg jener mächtige Halbkreis um [Seite 728] die Wüste Arabiens — „Fruchtbarer Halbmond“ genannt — aneinandergereiht wie die Perlen einer schimmernden Kette, eine Vielzahl von Kulturen und Zivilisationen. Helles Licht für die Menschheit strahlte von ihnen aus. Hier lag das Zentrum der Zivilisation von der Steinzeit bis zum Goldenen Zeitalter der griechisch-römischen Kultur. Je weiter sich um 2000 vor Christus der Blick vom „Fruchtbaren Halbmond“ entfernt, um so dunkler wird es, um so spärlicher sind die Anzeichen zivilisierten und kulturellen Lebens. Es ist, als schliefen die Völker der anderen Kontinente gleichsam wie Kinder erst dem Erwachen entgegen. Im „Fruchtbaren Halbmond“ und in Ägypten dagegen gibt es in buntem Nebeneinander eine geradezu verwirrende Fülle von Kulturen und hochentwickelten Zivilisationen. Seit tausend Jahren sitzen die Pharaonen auf ihrem Thron... Ägyptens gewaltige Pyramiden, Mesopotamiens mächtige Stufentürme sehen schon Jahrhunderte kommen und gehen. Seit zwei Jahrtausenden liefern Farmen und Plantagen vom Ausmaß heutiger Großbetriebe in den künstlich bewässerten Stromtälern des Nil, des Euphrat und des Tigris Getreide, Gemüse und die erlesensten Früchte. Überall im „Fruchtbaren Halbmond“ und im Pharaonenreich wird die Kunst des Schreibens in Keilschrift und Hieroglyphen geübt...

Aus dem Herzen dieses mächtigen ‚Fruchtbaren Halbmondes’ aber, aus den flimmernden, kargen Weiten der Arabischen Wüste, dort, wo sie von den Wassern des Indischen Ozeans umspült wird, brach um jene Zeit in gewaltigen Stößen gen Norden und Nordwesten, gen Mesopotamien, Syrien und Palästina, ein Sturm von Völkern und Stämmen semitischer Nomaden los. In unaufhörlichen Wellen brandeten die Amoriter, die ‚Westlichen’, wie ihr Name besagt, gegen die Reiche des ‚Fruchtbaren Halbmondes’. Das Reich der Könige von Sumer und Akkad brach 1960 v.Ch. unter ihren hartnäckigen Angriffen zusammen. Die Amoriter begründeten eine Reihe von Staaten und Dynastien. Eine von ihnen sollte schließlich zur Vorherrschaft gelangen: die 1. Dynastie von Babylon, das große Machtzentrum von 1830 bis 1530 v.Chr. ...

Einem jener semitischen Nomadenstämme indessen war es bestimmt, von schicksalhafter Bedeutung für Millionen und aber Millionen in aller Welt bis zum heutigen Tage zu werden. Es war eine kleine Gruppe, vielleicht nur eine Familie, unbekannt und unbedeutend wie ein winziges Sandkorn im Wüstensturm. Die Familie des Abraham, Urvater der Patriarchen.“


Das Licht der Offenbarung ...

Abraham war einer der ersten Träger des Lichtes, das — wenn auch erst Jahrtausende später — aus dem Orient zum Okzident kam, und das somit Einfluß auf unsere heutige Kultur gewann, denn er war es, der die Lehre von der Einheit Gottes in seinem Volke zuerst begründet und damit große Feindschaft erregt hat. Die Bibel deutet dies an mit den Worten: „So sprach der Herr, der Gott Israels: ‚Eure Väter haben von alters her jenseits des Euphratstromes gewohnt, nämlich Thora, der Vater Abrahams und Nabors, und haben andere Götter verehrt. Da holte ich [Seite 729] euren Vater Abraham aus dem Lande jenseits des Euphratstromes und ließ ihn im Lande Kanaan umherwandern und gab ihm zahlreiche Nachkommenschaft’.“ 1)

Keller berichtet im erwähnten Buch, im 6. Kapitel „Abraham lebte im Reich der Mari“, ausführlich über Ausgrabungen und Forschungen in den Jahren 1933-39, und kommt zum Schluß: „Nach den in der Bibel angegebenen Daten läßt sich genau errechnen, daß Abraham 645 Jahre vor dem Auszug der Kinder Israel seine Heimat Haran verlassen hat. Sie wanderten unter Moses Führung im 13. Jahrhundert v. Chr. durch die Wüste nach dem Gelobten Land. Dieses Datum ist, wie wir noch sehen werden, archäologisch gesichert. Abraham muß demnach um 1900 v.Chr. gelebt haben... Die Dokumente aus dem Mari-Reich liefern erstmals den unerhörten Beweis: Die Patriarchengeschichten der Bibel sind nicht — wie oft und gern angenommen wurde — ‚fromme Legende’, sondern Ereignisse und Schilderungen aus einer genau datierbaren historischen Zeit!“

Bekannter als Abraham ist der zweite große „Lichtträger“ aus dem Orient, Moses. Er war im Hause des Unterdrückers Seines Volkes, des Pharao, erzogen worden und hatte einen Ägypter erschlagen, der einen Hebräer bedrohte. Darum mußte Er fliehen und lebte lange Zeit als Hirte, bis Er zum Prophetentum berufen und mit solcher Kraft begabt wurde, daß Er Sein von den Ägyptern bedrücktes und gefangen gehaltenes Volk aus Ägypten herausführen und ihm nach langen Jahren des Umherziehens in der Wüste das freie Leben im „Gelobten Lande“ ermöglichen konnte. Auch die berühmten Zehn Gebote wurden durch Ihn geoffenbart und in ihre bis auf unsere Tage gültige Form gefaßt. Aber auch sie kamen, wie die Lehre von der Einheit Gottes, die Abraham begründet hatte, erst viel später, nach etwa 1400 Jahren, zusammen mit dem Evangelium von Jesus Christus, nach Europa.

Moses hat mit diesen Zehn Geboten — und vielen anderen, zeitbedingten und heute nicht mehr gültigen Vorschriften — ein gewaltiges Erziehungswerk an Seinem Volk vollbracht, das damals ganz primitiv und unwissend war, und hat es zur höchsten Kulturstufe Seiner Zeit und vieler folgender Jahrhunderte erhoben. Darum auch hat Jesus Christus zwölfhundert Jahre später gesagt: „Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen.“

Es ist eine unbestrittene Tatsache und braucht darum kaum erwähnt zu werden, daß Jesus Christus durch die Kraft Seines erhabenen Evangeliums und durch das Vorbild Seines Lebens die ganze damalige Welt aufgerüttelt und grundlegend verändert hat, und daß dieser veredelnde Einfluß auf die geistig-ethische Erziehung der Menschen durch die Jahrhunderte fortwirkte und immer fortwirken wird, wo Sein Evangelium nicht durch menschliche Irrtümer, durch Vorurteile und Fanatismus verdunkelt und verfälscht worden ist.

Etwa 600 Jahre nach dem kurzen Erdenleben von Jesus Christus erschien ein neues Licht im Orient: Muhammed, der aus den wilden, primitiven Stämmen Arabiens durch Seine inspirierte Botschaft, die in ihren Grundlagen mit dem Juden- und Christentum übereinstimmt, und [Seite 730] durch Sein großes Erziehungswerk eine Nation schuf und überdies die Möglichkeiten zu einer so hohen Kultur und Zivilisation gab, daß die islamischen Völker viele Jahrhunderte lang den christlichen auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet weit überlegen waren.


...und die Schatten menschlicher Beschränktheit

Eine tiefe Tragik liegt in der Geschichte der beiden großen Religionen, des Christentums und des Islam. Christen wie Muhammedaner sind von den grundlegenden Gesetzen ihrer Stifter weit abgewichen; darum konnte es zu Feindseligkeiten und Kriegen zwischen ihnen kommen. Daß diese Feindseligkeiten von den Begründern nicht beabsichtigt waren, beweist sowohl das neue „Gesetz der Liebe“, das Christus dem alten „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ entgegengesetzt hat, wie auch ein Edikt von Muhammed, das sich heute noch in der Obhut des orthodoxen Patriarchen von Jerusalem befindet. In ihm befahl Muhammed Seinen Anhängern, die Christen zu achten, zu schützen, ja sogar ihnen zu helfen, wenn sie eine Kirche bauen wollten; auch sollten die unter den Moslem lebenden Christen vom Kriegsdienst befreit sein, wenn die Muhammedaner gegen ihre Feinde Krieg führen müßten. Darüber schreibt Siyyid Ameer ‘Alí in seinem Buche „Der Geist des Islam“, dieses Edikt sei „mit vollem Recht als eines der vornehmsten Denkmäler erleuchteter Toleranz bezeichnet worden, das uns die Weltgeschichte liefern kann“. ... „Der Prophet nahm es selbst auf sich und schärfte seinen Anhängern ein, die Christen zu schützen, ihre Kirchen und die Wohnstätten ihrer Priester zu verteidigen und sie vor jedem Unrecht zu bewahren 2).“

Nach dem Tode Muhammeds riß die Umayyaden-Sippe, die Ihn am erbittertsten bekämpft hatte, die Nachfolgeschaft gegen den Willen von Muhammed, der Seinen Schwiegersohn ‘Alí für dieses Amt ausersehen hatte, an sich und mißbrauchte den Islam dazu, ein arabisches Weltreich zu beherrschen: Dabei beachtete sie die Gebote des Propheten kaum und hielt sich nur an einige äußerliche Vorschriften. So wurde die Möglichkeit zerstört, Muhammeds Liebe für die Christenheit weiter zu entwickeln, und darum konnten die Beziehungen zwischen beiden großen Religionen nicht in dem Geiste weiter bestehen, den Christus und Muhammed gleicherweise begründet hatten.

Zu weiteren Berührungen zwischen beiden Religionen schreibt George Townshend: „Trotz der Spannungen zwischen dem Christentum und dem Islam übte diese weit vorangeschrittene Zivilisation ihren unvermeidlichen Einfluß auf das Leben und Denken Europas aus. Durch den muhammedanischen Vorposten in Sizilien, den Glanz des muhammedanischen Spaniens, durch die Intelligenz der Gelehrten und die wissenschaftlichen Quellen der muhammedanischen Universitäten sowie durch Händler, Diplomaten, Reisende und durch Soldaten, Seefahrer und zurückerobertes Landvolk, wurden neue Ideen, Techniken und Einrichtungen vom Islam in Westeuropa übernommen.

Dann kam der Tag des Jahres 1094, an dem der Papst die Ritter und Gläubigen der Christenheit aufrief, sich aufzumachen, die Scharen der [Seite 731] Sarazenen aus den geheiligten christlichen Stätten, von denen sie Besitz ergriffen hatten, zu vertreiben und den christlichen Glauben wieder an seiner ursprünglichen Heimstätte aufzurichten. Sein Ruf brachte ganz Europa auf die Beine, und fast zweihundert Jahre lang forderte das Auf und Ab dieses riesenhaften Krieges zwischen Europa und Asien, Christen und „Ungläubigen“, Westen und Osten viele Millionen Opfer, verbreitete unendliches Elend und verschleuderte unermeßliche Werte. Die Christen mußten sich am Ende nach schimpflicher Niederlage zurückziehen, und der Islam blieb nach wie vor im Besitz aller Heiligen Stätten 3).“

„Die Christenheit hat lange Zeit gebraucht, um zu erkennen und einzusehen, was unsere westliche Zivilisation dem Osten schuldet. Aber die Tatsachen unserer kulturellen Verschuldung sind in großen Buchstaben in die Geschichte eingeschrieben, und nur Vorurteil kann uns dazu verleiten, diese Tatsache zu verkleinern 4).“

Seignobos schrieb in „History of Mediaeval Civilisation“: „Laßt uns jene zwei Zivilisationen betrachten, die im elften Jahrhundert die Welt des Altertums geteilt haben. Im Westen: elende kleine Städtchen, die Hütten der Landbevölkerung und große Festungen; ein Land, das ständig von Kriegen heimgesucht wurde und in dem man kaum zehn Meilen reisen konnte, ohne Gefahr zu laufen, ausgeraubt zu werden. Und im Osten: Konstantinopel, Kairo, Damaskus, Baghdad mit ihren Marmorpalästen und Manufakturen, ihren Schulen und Bazars, ihren Dörfern und dem unentwegten Strom der Kaufleute, die in Sicherheit und Frieden von Spanien bis nach Persien reisten. Es besteht kein Zweifel, daß die muhammedanischen und byzantinischen Welten reicher waren, eine bessere Polizei hatten und besser beleuchtet waren als die westliche Welt. Im elften Jahrhundert wurden diese beiden Welten erstmalig miteinander bekannt. Die barbarischen Christen kamen auf zwei Weisen — durch Kriege und durch Handel — mit den zivilisierten Muhammedanern in Berührung. Und durch den Kontakt mit dem Orientalen wurde der Abendländer zivilisiert 5).“

‘Abdu’l-Bahá empfahl zum Studium dieses Gegenstandes das Buch von G. Ducoudray „Histoire de la Civilisation“, erschienen in Paris 1886, und schrieb dazu: „Monsieur Ducoudray beschreibt und beweist, wie die ganze Zivilisation Europas auf den Gesetzen, Regeln und Prinzipien, der Literatur, Philosophie, den Einrichtungen und den Sitten des Islams aufgebaut ist und wie zahlreiche Worte der französischen Sprache aus dem Arabischen stammen. Er hat jeden einzelnen Punkt eingehend untersucht und sogar die Daten belegt, an denen die verschiedenen Wörter vom Islam übernommen wurden 6).“ In weiteren Werken verschiedener Gelehrter wird dieses Thema behandelt, so auch in dem erst vor kurzem erschienenen Buch von Sigrid Hunke „Allahs Sonne über dem Abendland“. Sie alle stellen die damalige Überlegenheit der Araber fest: daß die Fäden des Welthandels in ihren Händen zusammenliefen, daß sie Künste und Wissenschaften, vor allem die Astronomie, die Astrologie und die Mathematik beherrschten.

Wenn wir uns nun fragen, ob die Religionen heute noch die Bedeutung haben, die sie früher hatten, so muß man wohl sagen: äußerlich gesehen, [Seite 732] nein! Denn alle Eroberungen des christlichen römischen Reiches und der nachrömischen Herrscher, zum Beispiel Karls des Großen, waren vorwiegend religiöse Kriege. Ebenso waren die Vorstöße der islamischen Völker letzten Endes Religionskriege; auch der furchtbare Zusammenstoß der christlichen Völker im Dreißigjährigen Krieg war ein Religionskrieg. In der damaligen Zeit spielte die Religion eine viel größere Rolle als heute. Es soll hier nicht darüber geurteilt werden, ob die religiöse Idee der wirkliche Beweggrund für diese Kriege war oder ob diese Idee der Vorwand war, um die Massen in Bewegung zu bringen. Heute hat die Religion ihre damalige Schlagkraft eingebüßt. Philosophie und Wissenschaft haben sehr viel zum Schwinden der kirchlichen Machtbefugnisse beigetragen, denn die christlich-kirchlichen Religionsformen sind auf festgefügte Dogmen aufgebaut, die von Philosophen und Wissenschaftlern im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr erschüttert worden sind.

Die These „Ex oriente lux“ bezieht sich auf die ursprünglichen geistigen Kräfte der Religion, die zweifellos im Laufe der Zeiten schwächer wurden und an Lebendigkeit verloren haben. Sie bedürfen dringend einer Erneuerung. In den letzten Jahrzehnten sind gerade in den christlichen Kirchen verschiedene Reform- und Einheitsbestrebungen entstanden. Sie gipfelten in der Tätigkeit des Weltkirchenrates und wurden seit 1963 durch das Konzil der Katholischen Kirche, das in drei Perioden in Rom stattfand, einem noch viel größeren Kreis bekannt. Erneuerungsbestrebungen zeigten sich aber auch innerhalb des christlichen Lebens selbst, in den Versuchen, die Texte der Heiligen Schriften zu „entmythologisieren“, also neu zu erklären. In zahlreichen in den letzten Jahren erschienen Büchern von namhaften Gelehrten und Theologen fanden diese Bemühungen ihren Niederschlag, so z. B. durch Jaspers und Toynbee, Bultmann und Bornkamp und viele andere.

In diesem Zusammenhang ist die Tatsache sehr merkwürdig, daß schon vor mehr als hundert Jahren eine große Erwartung der Wiederkunft Christi, also eine Hoffnung auf das Wiederkommen des „Lichtes aus dem Osten“, in der ganzen Welt unter vielen Christen lebendig war. Darüber schrieb William Sears, ein amerikanischer Journalist und Schriftsteller, sein Buch „Dieb in der Nacht“ (Frankfurt/M 1964). Er erzählt, wie ihm zufällig ein Buch in die Hände kam, das ausführliche Berichte über die denkwürdigen vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts enthielt und bewies, daß sehr viele Christen an die Wiederkunft im Jahre 1844 glaubten: „In Flugblättern, auf Rednertribünen, von den Kanzeln und in der Presse forderten Bibeldeuter eine achtlose, gleichgültige Welt auf, Buße zu tun.... Wie eine Sucht ergriff es zu jener Zeit die Menschen in den verschiedensten Gebieten der christlichen Welt. Warum? Warum erwarteten sie alle Christus? Warum gerade zu jener Zeit?

Es war eine rätselhafte, überaus spannende Detektivgeschichte. Es war, als ob der Virus der Erwartung des Tausendjährigen Reiches plötzlich Menschen in allen fünf Erdteilen angesteckt hätte. Als ich von diesen vielen komischen und bisweilen unglaublichen Dingen las, die sich in so weit voneinander entfernten Teilen der Welt ereigneten, wurde ich neugierig, und diese Neugierde war der Anlaß zu diesem Buch.“ (S. 12).

[Seite 733] Der vielgereiste Verfasser berichtet dann von seinen Nachforschungen, die sich über sieben Jahre erstreckten, und die ihn schließlich zu der Erkenntnis führten, daß im Jahre 1844 ein bedeutungsvolles Ereignis stattgefunden hatte, der Beginn einer neuen, allumfassenden Offenbarungsreligion, die wiederum im Osten entstanden und nach dem Westen gekommen war, und deren Bestrebungen zur Einheit weit über den Rahmen der christlichen Kirchen hinausgreifen. Sie betont die Einheit der Menschheit, fordert die Vereinigung aller Religionen und zeigt die Möglichkeiten, die zu diesem Ziel führen.


Bahá’u’lláhs Ruf

Über das umfassende Konzept Bahá’u’lláhs, des Begründers der Bahá’í-Religion, schreibt sein Urenkel Shoghi Effendi:

„Weit davon entfernt, auf den Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung abzuzielen, sucht es ihre Grundlage zu erweitern, ihre Einrichtungen in einer Weise umzugestalten, die mit den Bedürfnissen einer stets veränderlichen Welt in Einklang steht. Es kann mit keiner rechtmäßigen Untertanenpflicht in Widerspruch sein, noch kann es wirkliche Treue untergraben. Seine Absicht ist, weder die Flamme einer vernünftigen Vaterlandsliebe in den Herzen der Menschen zu ersticken, noch den Grundsatz nationaler Selbständigkeit abzuschaffen. ... Es übersieht weder die Verschiedenheiten der ethnologischen Herkunft, des Klimas, der Geschichte, Sprache und Überlieferung, des Denkens und der Gewohnheit, die die Völker und Länder der Welt unterschiedlich gestalten, noch versucht es, sie auszumerzen. Es ruft nach größerer Treue, stärkerem Bemühen als irgend ein anderes, das je die Menschenwelt beseelt hat. Es besteht auf Unterordnung nationaler Triebkräfte und Belange unter die dringenden Ansprüche einer geeinten Welt. Es verwirft die übersteigerte Zentralisation und entsagt zum anderen allen Versuchen der Gleichmacherei. ... Der Grundsatz der menschlichen Einheit — der Angelpunkt, um den alle Lehren Bahá’u’lláhs kreisen — ist kein bloßer Ausdruck unkundiger Gefühlsseligkeit oder unklarer frommer Hoffnung. Sein Ruf ist nicht gleichbedeutend mit einer bloßen Wiedererweckung des Geistes der Bruderschaft und des guten Willens unter den Menschen, es geht Ihm nicht nur um die Förderung harmonischer Beziehungen zwischen den einzelnen Völkern und Ländern. Seine Ausfolgerungen gehen vielmehr tiefer. Er fordert kühn und weltumfassend dazu heraus, nationalen Glaubensbekenntnissen abzuschwören, deren Zeit gewesen ist. Er fordert nichts Geringeres als den Wiederaufbau und die Entmilitarisierung einer Welt, die in allen wesentlichen Lebensfragen, in ihrem politischen Mechanismus, geistigen Streben, Handel und Finanzwesen, ihrer Schrift und Sprache organisch zusammengewachsen und doch von einer unendlichen Mannigfaltigkeit an nationalen Eigentümlichkeiten ihrer verbündeten Staatenglieder ist. Die Verkündigung der Einheit der Menschheit ist nicht nur ein Ruf. Sie ist Ermahnung und Verheißung zugleich“ 7).

Zur These „Ex oriente lux“ sagte ‘Abdu’l-Bahá: „Vom Anbeginn bis zum heutigen Tage ist das Licht der göttlichen Offenbarung noch immer [Seite 734] im Osten aufgegangen und hat von dort aus seine Strahlen über den Westen ergossen. Das so ausgegossene Licht bekam jedoch im Westen einen ganz besonderen Glanz. Denken wir nur an die von Jesus verkündete Religion. Sie trat wohl im Osten in Erscheinung, aber erst, nachdem ihr Licht sich auch auf den Westen ergossen hatte, kam das volle Maß ihrer Möglichkeiten zur Geltung.“

„Der Westen hat sein Licht vom Osten empfangen; die Widerspiegelung dieses Lichtes war jedoch in mancher Hinsicht im Abendland eine noch stärkere“ 8).

Auf jeden kommt es an, damit dieses neue Licht aus dem Osten, diese Offenbarung, die das Christentum und die andern Religionen nicht verwirft, sondern im Gegenteil erfüllt und auf den göttlichen Ursprung zurückführt, deren Lehre alle Gebiete des privaten und öffentlichen Lebens umfaßt, eine neue, lebendige und wahre religiöse Bindung zwischen den breiten Schichten der Bevölkerung herbeiführt und die Verwirklichung neuer ethischer Grundsätze ermöglicht.

Johanna von Werthern


—————
1) Josua 24, 2 und 3 (Übersetzung von Menge).
2) Zitiert in „Christus und Bahá’u’lláh“ von George Townshend. M. A. ehemaliger Domherr der St. Patrick Kathedrale in Dublin, Archidiakon von Clonfort. Bahá’í Verlag Frankfurt/M., 1958, S. 40.
3) Townshend, „Christus und Bahá’u’lláh“ S. 48/49.
4) Ebenda. S. 50.
5) Townshend „Christus und Bahá’u’lláh“ S. 48/49.
6) Zitiert von Townshend in „Christus und Bahá’u’lláh“, S. 50.
7) Shoghi Effendi, „Das Ziel der Neuen Weltordnung“.
8) Zitiert von Shoghi Effendi in „Gott geht vorüber“, S. 287/288.



Zum Gedenken an Friedrich Heiler[Bearbeiten]

Am 28. April 1967 ist Professor D. Dr. phil. Dr. theol. Friedrich Heiler nach einer in den letzten Jahren durch ein Leiden wiederholter Bedrohung seiner Gesundheit im Alter von 75 Jahren in die Welt des ewigen Seins abberufen worden. Als o. em. Professor der Theologie der Universität Marburg übte er noch in den letzten Jahren in seiner Heimatstadt München als Lehrbeauftragter der Universität eine Gastprofessur für Religionsgeschichte aus.

Deutschland und die Welt der Religionen hat einen international bekannten und hochgeachteten Theologen und Religionswissenschaftler mit seherischem Weitblick im Lichte der Begegnung der Weltreligionen verloren. Heiler, der in seinem weltoffenen Werdegang Männern wie Nathan Söderblom und Rudolf Otto viel zu verdanken hatte, war durch seine großen Reisen in viele Länder der Welt, insbesondere in den Orient, durch Gespräche mit maßgebenden Vertretern der Offenbarungsreligionen und nicht zuletzt dank seiner streng wissenschaftlichen Forschungsmethoden ein hervorragender Kenner der Religionen als Mutterboden der großen Kulturen. Es sei hier nur auf sein aufschlußreiches umfassendes Werk „Erscheinungsformen und Wesen der Religion“ (1961 erschienen als Band 1 [Seite 735] von „Die Religionen der Menschheit“, W. Kohlhammer Verlag) hingewiesen.

Wer Professor Heiler persönlich kannte, wußte um seinen Glaubensmut, mit welchem er als Christ die geistige Einheit des Ursprungs der Hochreligionen und „die praktische Zusammenarbeit der Religonen in allen großen sittlichen Menschheitsaufgaben“ unentwegt vertrat. So war er auch bereit, für den Grundgedanken der esoterischen, inneren Einheit und für Verständigung der geschichtlichen Religionen, wie er durch den Weltreligionstag der Bahá’í bekundet wird, öffentlich einzutreten. In einer öffentlichen Feierstunde zum Weltreligionstag am 15. 1. 1961 sprach Professor Heiler in Hamburg über „Gott ist der Gott der ganzen Menschheit“. In der Stuttgarter Feier des Weltreligionstages im Januar 1962, die unter dem Leitthema stand: „Religion ist der Sieg über die Furcht“, an der Heiler wiederum als Redner teilnehmen wollte, mußte seine Ansprache wegen Verhinderung durch Krankheit verlesen werden.

In einer gutachtlichen Äußerung über den Charakter der Bahá’í-Religion schrieb er u. a.:

„Der Bahá’ísmus steht somit als geschichtliche Erscheinung den anderen Universalreligionen, dem Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Islam, Sikhismus und Christentum ebenbürtig zur Seite... Schon der Umstand, das Bahá’u’lláh als Träger der letzten und höchsten Gottesoffenbarung die Stelle einnimmt, die im Islam Mohammed gebührt, macht die Selbständigkeit der Bahá’í-Religion gegenüber dem Islam deutlich.“

Heiler war der Vorsitzende des von ihm 1956 gegründeten deutschen Zweigs des Weltbundes der Religionen (World Congress of Faiths), der sich zum Ziel setzte, die geistigen Werte und ethischen Prinzipien der Weltreligionen durch gegenseitige Verständigung und rechtverstandene Toleranz zu fördern. Die Grenzen der Ausschließlichkeit sollen überwunden werden, um zu einer umfassenden Erkenntnis der göttlichen Wahrheit in allen Religionen und einem erneuerten Menschenbild aus gemeinsamer Verantwortung zu gelangen.

In einem Rundbrief an seine vielen Freunde in Erwiderung der ihm zu seinem 75. Geburtstag am 30. 1. 1967 übermittelten Glückwünsche gab der Jubilar seinem Dank und seiner Freude Ausdruck gegenüber dem großen und verschiedenartigen Kreis der Gratulanten, der, wie er wörtlich schrieb, „wissenschaftliche Forscher verschiedener Gebiete und Männer der Kirche, Mitarbeiter und Freunde, Gesinnungsgenossen und ehemalige Gegner“ umfaßt; „ja, nicht nur eine Vielheit von Nationen, sondern eine solche der Religionen: Juden, Muslime, Bahá’í, Hindu, Buddhisten unterschiedlicher Denominationen, Parsen und Christen verschiedener Konfessionen bezeugten mir ihre Verbundenheit. Wenn ich nicht schon vorher überzeugt gewesen wäre, daß es nicht nur eine Una Sancta Christianorum sondern auch eine Una Sancta Religionum gibt, so hätte ich es an diesem Geburtstag erfahren.“

Das weltökumenische Wirken des Verstorbenen aus tiefer Menschen- und Friedensliebe heraus möge im Gedanken an ihn bewußt bleiben!

Dr. Eugen Schmidt


[Seite 736]



Brief an einen Theologen[Bearbeiten]

von Dr. Adelbert Mühlschlegel


Sehr geehrter Herr Pastor!

Herzlichen Dank für Ihren inhaltsreichen Brief. Die Schwierigkeiten beim Auftreten eines neuen ganz Großen sind in der ganzen Religionsgeschichte grundsätzlich die gleichen; sie liegen vorwiegend im einzelnen Menschen, sodann in den religiösen Traditionen und Dogmen, am wenigsten in allen sonstigen Verhältnissen. Dabei hat es der Christ besonders schwer.

Es ist ein Unbehagen, wenn man umlernen soll. Auch gibt es so viele falsche Propheten und Wirrköpfe in der Welt. Aber das „metanoeite“ ist eben unerläßlich. Und dazu muß der Christ allein von Jesus ausgehen, nicht von der Kirche oder dem Christentum und nicht vom Mythos mit der Vergottung. Leider weiß man von Jesus so wenig: etwa 20 Buchseiten Seiner eigenen Worte, und diese nicht von Ihm geschrieben, sondern nacherzählt nach Jahrzehnten der Überlieferung. (Wie anders stehen die übrigen Hochreligionen da!) Und dieser spärliche Bericht wurde dann von Hieronymus zusammengestellt, so gut es ging, und in andere, plumpere Sprachen übersetzt, wobei fast gleich viele apokryphe Worte Jesu, zu recht oder zu unrecht, unter den Tisch fielen.

Unter seinen eigenen Aussprüchen bezeichnet Jesus als das höchste und vornehmste Gebot: Gott und den Nächsten zu lieben, und zwar ganz — was meist übersehen wird — mit Herz, Seele und Denken („synnoia“, nicht „Gemüt“ wie bei Luther!). Das heißt, wenn Verstand und Gefühl einem echten Christen andeuten, daß hier, mit Bahá’u’lláh, eine neue Willensäußerung des Allein- und Ganz-Geliebten geschehen sein könnte, müßte sein Herz jubeln; seine Seele müßte sich im Glauben an Gottes Führung und Liebe öffnen, er müßte die neue Botschaft eifrig studieren und durchdenken. Dabei dürfte er keine althergebrachten Maßstäbe anlegen, sondern müßte sich an dem orientieren, was Liebe, Gebet und Meditation ihm eingeben. Was das Material angeht, hat der Sucher in der Bahá’í-Religion nicht 20, sondern rund 8000 verifizierte Seiten „Wort Gottes“ zur Verfügung. Auch seelisch betrachtet, dürfte ihm kaum etwas im Wege stehen, denn in den letzten 120 Jahren ist noch jeder wahre Bahá’í Christus unendlich viel näher gekommen, als er Ihm vor seinem Eintreten für Bahá’u’lláh war. Nur vor dem gedanklichen Erfassen erhebt sich die hergebrachte Theologie wie eine Barriere. Der Christ, der ja Jesus näher kommen will, hat ständig das Wort vor sich: „Es werden zu Mir kommen nicht, die da sagen Herr, Herr, sondern die den Willen tun Meines Vaters im Himmel.“ Es war immer falsch, das Auftreten eines neuen Gottgesandten mit den Maßstäben der vorhandenen Traditionen und Dogmen zu messen.

[Seite 737] Die Gottgesandten oder — wie Bahá’u’lláh sich ausdrückt — Manifestationen Gottes sind die Begründer der geschichtlichen Hochreligionen und nach den Bahá’í-Lehren jeweils die Herren eines Zeitalters. Wir wollen uns auf diesen Begriff der „Manifestation Gottes“ einigen, im Unterschied zum Ausdruck „Prophet“, der im Westen einen Weissager oder im engeren Sinn eine der tragenden Gestalten des Alten Testaments bedeutet, aber auch im Unterschied zum Begriff „Offenbarer“, was sowohl „Manifestation Gottes“ als auch „Prophet“ umfassen kann, oder zum „Sohn Gottes“, bei dem die Christen ein einmaliges Geschehnis unterstellen.

Religion ist eine Verbindung des Göttlichen mit dem Irdischen, die dem menschlichen Leben Sinn und Ziel gibt. Dazu bedarf es fünf Elemente, die alle Hochreligionen mehr oder weniger aufweisen:

❶ Gott,
❷ der Mittler,
❸ die Wandlung des einzelnen Menschen,
❹ die Lehren,
❺ Gesetz und Ordnung;

denn bis in die Bereiche des praktischen Lebens soll sich ja Gottes Wille und Sein „Reich auf Erden“ auswirken. Gott (1) ist ewig gleich, unfaßbar. Die Mittler (2) wirken als Heilande, wie es die Nöte erfordern und die Fassungskraft der Menschen erlaubt; jeder könnte mehr sagen, aber „wir können’s noch nicht tragen“. Der Mensch (3) als einer, der sich wandeln soll — die Christen nennen diesen Vorgang „Erlösung“ — ist eingebettet in Kulturen und Zeitalter, die verschiedene Tugenden und Ziele haben; so unterscheiden sich die Wirkungsweisen der Mittler (2) nach den orts- und zeitgebundenen Verhältnissen ein wenig voneinander: Ihre Lehren (4) weichen in den Einzelheiten scheinbar voneinander ab; Gesetze und Ordnungen (5), auf die materiellen Gegebenheiten bezogen und für jedermann verbindlich, widersprechen einander bisweilen sogar.

Aus der Entwicklungsbedingtheit des Menschen und seiner sozialen Strukturen (3—5) ergibt sich zwingend, daß immer neue Manifestationen Gottes als Mittler (2) für die Menschheit auftreten müssen. Daß „das Kreuz“ alle weiteren Offenbarungen erübrige, ist eine theologische Konstruktion, die sich nicht weiter als bis zu Paulus zurückverfolgen läßt.

Alle Manifestationen Gottes reden je nach der Gelegenheit von verschiedenen Stufen aus: manchmal nur als „Menschen“ über zeitliche Dinge, manchmal „aus Gott“, und dann meist ewig Gültiges; aber immer ist es die Wahrheit. Daß Jesus sagte: „Der Vater und Ich sind eines“ oder „Wer mich siehet, der siehet den Vater“, ist keine Unterlage für das Trinitätsdogma. Es ist eher begreiflich durch das Gleichnis von der Sonne im Spiegel, das Bahá’u’lláh oft gebraucht. Auch die anderen Manifestationen Gottes drücken sich ähnlich aus, nur verwenden sie nicht das Wort „Vater“ und nur selten den Begriff „Sohn“. Gegen die Trinität sprechen auch Äußerungen Jesu wie: „Wann dies aber geschieht, wissen weder die Engel des Himmels, noch der Sohn, sondern allein der Vater“, oder der Gethsemane-Konflikt, oder der Aufschrei am Kreuz „Warum hast Du Mich verlassen?“.

[Seite 738] Wir Menschen haben keine Vergleichsmaßstäbe für die „Größe“ der Manifestationen Gottes; wir sind sozusagen wie kleine Jungen, die sich um die Größe ihrer Väter streiten. Wir sehen nicht über Merkmale und Äußerlichkeiten hinaus; aber dabei handelt es sich nicht um Rangabzeichen, sondern gleichsam um Strahlungskegel gleichstarker Lampen, die verschiedenartige Lampenschirme haben. So kommen wir zu falschen Begriffen von historischer Größe und messen nach erfüllten Prophezeiungen, die wir nach unserem Sinn oder nach den Maßstäben unserer Kirche auslegen. Dies führt zu tragischen Fehlentwicklungen, wenn unser Forschen nach Wahrheit nicht von dem höchsten Gebot Jesu, der ganzen Liebe zu Gott und zum Nächsten, geleitet wird.

Bahá’u’lláh spricht von Jesus mit besonderer Liebe und Verehrung; Er sagt, daß durch den Opfertod Christi Kräfte ausgelöst worden sind, die sich in allen Menschen der Erde dartun und die menschliche Kultur maßgeblich beeinflussen. Aber diese Zeichen, wenngleich sie weit über menschliches Begreifen hinausgehen, sind kein Beweis für die Einmaligkeit der Stellung Jesu. Auch Wunder sind dies nicht. Manche Wunder — nach den Bahá’í-Lehren z. B. die Auferstehung Jesu — sind als erhabene Symbole zu verstehen. Andere Wunder oder Visionen sind Erlebnisse von Massensuggestion; wieder andere lassen sich tiefenpsychologisch erklären und sind mit den menschlichen Begrenztheiten der jeweiligen Medien behaftet. Nie darf ein Christ Jesus Seiner Wunder wegen eine einmalige Stufe beimessen; dies entspräche dem Niveau des tibetischen Tantrismus.

Jede Manifestation Gottes bestätigt die Stufe der vorhergegangenen Offenbarung und erfüllt deren Sendung, obwohl sie in den Fragen der Wandlung (3), der Lehre (4) und der Ordnung (5) Neues bringt und Altes abschafft. Besonders deutlich wird dies bei Jesus in der Bergpredigt: „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ward...; Ich aber sage euch...“

*

Bis hierher besteht noch kein tiefgreifender Unterschied zwischen den Lehren Bahá’u’lláhs und den modernen Richtungen der christlichen Theologie, abgesehen davon, daß die letzteren in ihren Aussagen auf die Bibel begrenzt bleiben. Aber kommen wir zu dem, was die ganze nichtchristliche Menschheit der Kirche vorzuwerfen hat: daß sie „vollkommen die Welt zugeschlossen und, wie die alten messianischen Hoffnungen, so die Apokalypse selber unterschlagen oder vermittelst des Pfingstfestes zu einer bloßen universalen Wiederholungsszene und Tautologie des bereits Geschehenen abgeschwächt hat“ (Ernst Bloch).

Daß der Heilige Geist seit Pfingsten bei der Kirche geblieben und weiter maßgebend gewesen sein sollte als einer, der „in alle Wahrheit leitet“, ist ein arges Stück. Dieser „Geist der Wahrheit“ wird ja nach den Worten Jesu „nicht von sich selber reden, sondern was er hören wird, das wird er reden“, also wie bei Jesus selbst, „was der Vater ihm eingibt“ — und dies ist weit eher ein Hinweis auf die nächstfolgende Manifestation Gottes als auf einen anonymen Pfingstgeist. Daß der Heilige Geist in den Aposteln wirksam gewesen wäre, anerkennen wir Bahá’í nur bedingt.

[Seite 739] Sie mögen zeitweise vom Geist beseelt gewesen sein, aber sie hatten deshalb nicht die Stufe einer Allgegenwart des Heiligen Geistes erlangt. Paulus war nicht das Wort Gottes, auch wenn er, wie ich vor 50 Jahren als Konfirmant heimlich feststellte, von den Kanzeln herab fast dreimal so oft zitiert wird wie Jesus. Er war vielleicht nach Jesus die bedeutendste Gestalt im Christentum, aber wenn er nach seinem Damaskus-Schock das „Skandalon“ als die „zentrale Aussage des Neuen Testaments einführte“, vermischte er auf der ihm eigenen Ebene eines Eiferers das Neue, das ihn überwältigt hatte, mit seinem individuellen Erleben und mit seinem Verständnis des Zeitgeists. Was wußte er von Zarathustra, Laotse oder Buddha, was von der Unermeßlichkeit des Universums, als er die groteske Idee formulierte, der unendliche Gott habe einen Sohn, den Er auf dieses Staubkorn von einem Planeten herabgesandt habe, um die dort befindliche Menschheit zu erlösen, und damit sei ein für allemal Schluß mit allen weiteren Offenbarungen, die ja nicht mehr nötig seien?

Auf das Konto von Paulus geht auch das unentwickelte Verhältnis der christlichen Religion zu Ordnung und Gesetz (5). Seine neurotische Reaktion auf früheres, eiferndes Pharisäertum — wissenschaftlich Enantiodromie — schlug um in eine Unterbewertung des Gesetzes. So waren die Christen seit dem Apostelkonzil eben römische Bürger; selbst der Kaiser Konstantin führte das Corpus juris weiter, und es blieb ein Nebeneinander von kirchlicher und weltlicher Gewalt bis auf den heutigen Tag; der geoffenbarte Wille Gottes konnte nicht im Gesetz seinen Ausdruck finden, wie es — wenngleich begrenzt — im Brahmanismus, im Mosaismus und im Islam geschah. Stattdessen öffnete sich das Christentum den Einflüssen orientalischer und hellenistischer Mysterien, vor allem der bereits im Herakleskult gegebenen Vorstellung der Erlösung durch die Opferleistungen eines Gottessohnes, in geringerem Maße auch der Gnostik.

Muhammad, selbst von „gebildeten“ Abendländern dank einseitiger Erziehung heute noch verkannt, hätte dem damals schon so kranken Christentum bringen können, was es brauchte: einen sauberen, absoluten Gottesbegriff, eine Fülle von zuverlässigerem „Wort Gottes“, als Lehraussage so gut wie als praktische Gesetzesnorm, die Einheit von Religion und Staat, geprägt durch das Beispiel des staatsmännisch wirkenden Offenbarers, die Einheit der Sprache, die Einheit und Gleichheit eines jeden vor Gott. Sofort war allerdings auch der Islam verdorben und über der Nachfolgefrage gespalten. Zwischen den beiden großen Religionen häuften sich die Vorurteile, oft mit lächerlichen Anschuldigungen — eine weltgeschichtliche Tragödie.

*

Wer es aber nicht vermag, durch die „ganze“ Liebe zu Gott und Seiner Wahrheit den Dschungel der Theologie zu durchdringen, für den gibt es ja in dem herrlichen Jesuswort vom höchsten Gebot noch den zweiten Satz: „Das andere aber ist dem gleich“, d.h. das Gleiche, nicht nur gleichwertig: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Es ist dies die tätige Liebe zum Göttlichen in jedem Menschen. Der Nächste aber ist heute, nach 150 Jahren stürmischer technischer Entwicklung auf unserem [Seite 740] schrumpfenden Planeten, die ganze Menschheit geworden. Sie ist todkrank. Ein religiöser, verantwortungsbewußter Mensch ergreift jede Möglichkeit, ihr zu helfen. Er prüft mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln, ob dies nicht doch die Zeit des Endes ist, in der wir leben — nicht das „Ende der Welt“ (Kosmos), sondern das „Ende eines Weltzeitalters“ (Äon), wie es im griechischen Text der Bibel heißt. Er erkennt, daß nur ein Bewußtsein der Einheit, der Universalität weiterführen kann, und bemüht sich darum, sich selbst und seine Umwelt darauf einzustellen (3). Er findet eine Fülle von Wegen und praktischen Grundgedanken in den Bahá’í-Lehren (4); mehr und mehr festigt sich in ihm die Überzeugung, daß Bahá’u’lláhs Anspruch, die Manifestation Gottes (2) für unser Zeitalter zu sein, zu Recht besteht, und er reiht sich in die rasch wachsende Bahá’í-Weltgemeinschaft ein, um in ihrer Ordnung (5) mitzuwirken, Modelle für das zukünftige „Reich Gottes auf Erden“ zu schaffen.

Wenn Sie, lieber Herr Pastor, die Bahá’í-Texte lesen und Ihnen die Sprache und die Gedankenwelt bisweilen ungewohnt und fremd erscheinen, weil sie sich meistens auf den Islam als geographisch-historische Wiege dieser Offenbarung beziehen, dann bedenken Sie bitte, daß die Ausdrucksweise und die Bezugssysteme des Neuen Testaments den Römern, Griechen und Germanen vor 1800 Jahren ebenso fremd gewesen sein mochten. Die Metaphern der blumenreichen persisch-arabischen Sprache sind nicht zufällig und nicht nur Ausdruck einer tausendjährigen poetischen Tradition, sondern haben einen tiefen Sinn, als Ausschöpfung immer neuer Bedeutungen für die Attribute des Göttlichen, als Verbindung von Vordersatz und Nachsatz, aber auch als Zusammenklang von Denkkategorien und Gefühlswerten.

Zeiten, Formen und Worte sind der Wandlung unterworfen. Was immer währt und uns über die Grenzen der Namen und Bekenntnisse brüderlich vereint, ist die Liebe zu Gott und zum Mitmenschen, und aus dieser Liebe heraus die Sehnsucht nach Wahrheit.

Glückauf zum Forschen nach dieser Wahrheit!


—————
Alle Religionen verkünden als ihr Ziel die Vereinigung der Menschheit. Dies ist im physischen oder geographischen Sinne erreicht, aber unser Denken und unsere Herzen müssen erst noch auf diese Einheit der Menschheit vorbereitet werden. Eine neue Orientierung ist vonnöten, um aus der Vielzahl von Rassen und Völkern, den Rivalitäten unter den Nationen und den Konflikten zwischen den Religionen eine Einheit aufzubauen. Dies verlangt mutigen Einsatz und eine radikale Änderung unserer Anschauungen.
Sarvapalli Radhakrishnan


(Erneuerung des Glaubens aus dem Geist, Ullstein 238, S. 16)
—————



[Seite 741]



NEU AUF UNSEREM Büchertisch[Bearbeiten]

Das Gericht

Shoghi Effendi, „Der verheißene Tag ist gekommen“, Bahá’í-Verlag GmbH., Frankfurt/Main 1967, 212 Seiten, Ln. DM 7.40.

Dieses Buch des Hüters der Bahá’í-Religion, Shoghi Effendi, bietet den Bahá’í des Westens und durch ihre Vermittlung der ganzen westlichen Welt die Deutung eines Dramas, das die Nachwelt einmal als die erschütterndste Episode der Menschheitsgeschichte einstufen wird. Die Tragödie entfaltet sich als ein dem Wesen nach geistiges Geschehen durch die Anschauungen und Handlungen der christlichen und mohammedanischen Völker und ihrer Führer während der Jahre zwischen 1844 und 1944.

Auf den einleitenden Seiten seines Buches charakterisiert Shoghi Effendi den Zeitabschnitt schlimmster Heimsuchung, den die Welt heute durchläuft, als „einen Sturm von beispielloser Heftigkeit und unberechenbarer Bahn, von verheerenden Wirkungen, aber unvorstellbar herrlichen späteren Folgen“ (S. 21). Er wird die Menschen letztlich zu der Einsicht führen, daß, um Bahá’u’lláh anzuführen, „das Reich Gottes ist, des Allmächtigen, des Allgepriesenen“ (S. 22).


Göttliche Heimsuchung

Denen, die Bahá’u’lláh als das Sprachrohr Gottes erkannt haben, erscheinen die in der Geschichte beispiellosen Schrecken der jüngsten Vergangenheit als „eine göttliche Heimsuchung und zugleich eine Läuterung für die ganze Menschheit“ (S. 23).

Gott hat nicht geschwiegen, sondern wie vor alters zu Seinem Volk gesprochen „durch den Mund Seiner heiligen Propheten, die seit Anbeginn der Welt gekommen sind“. „In einhundert Bänden“, führt Shoghi Effendi aus, „den Aufbewahrungsorten unschätzbarer Lehren, starker Gesetze, einzigartiger Grundsätze, inständiger Ermahnungen, wiederholter Warnungen“ hat Bahá’u’lláh „wie kein Offenbarer zuvor die Sendung verkündet, die Gott Ihm anvertraut hatte“ (S. 25), und all dies als Gefangener und Verbannter. Um dieser Aufgabe willen entsagte Er Ansehen und Reichtum, nahm leibliche Unbill und grausame Entbehrungen auf sich.

Welches war das Echo der Welt? Seine Anhänger in den muslimischen Ländern wurden Verfolgungen unterworfen, wie sie die Welt bis dahin noch nicht kannte. Die Herrscher und Könige schauten gleichgültig zu, als die verderbte islamische Geistlichkeit die Volksmassen dazu aufwiegelte, nicht weniger als zwanzigtausend heldenhafte Gläubige niederzumachen, weil sie sich weigerten, ihren Glauben aufzugeben.

[Seite 742] Proklamation an die Herrscher

Bahá’u’lláh wandte sich wie noch kein Prophet vor Ihm an die Herrscher der Welt. Er tat dies, so führt Shoghi Effendi aus, weil jene Könige zur Zeit der Verkündigung des Bahá’í-Glaubens um 1863 noch unumschränkte Gewalt ausübten. Die Massen des Volkes hatten damals nicht die Freiheit, die Bedeutung der göttlichen Botschaft abzuschätzen und ihre Wahrheit anzunehmen.

Als Verbannter und Gefangener richtete Bahá’u’lláh Sendschreiben an die mächtigsten Herrscher Seiner Zeit: Napoleon III., Papst Pius IX., Zar Alexander II., Königin Viktoria, Wilhelm I. von Deutschland, Kaiser Franz Joseph von Österreich-Ungarn, ‘Abdu’l-‘Azíz, Sultan der Türkei und Kalif des sunnitischen Islam, sowie Sháh Násiri’d-Dín von Persien. Ein großer Teil des Buches besteht aus der meisterhaften Charakterschilderung dieser Herrscher; ihre Taten und deren Folgen werden beleuchtet, Bahá’u’lláhs Briefe an sie werden angeführt, Briefe, die „klar und eindringlich die Wahrheit Seiner Offenbarung herausstellen, ... die Kostbarkeit günstiger Gelegenheiten betonen, die zu ergreifen in der Macht dieser Herrscher und Führer lag, und sie in bedeutsamer Sprache vor der schweren Verantwortung warnen, welche mit der Verwerfung von Gottes Botschaft auf sie zurückfallen würde“ (S. 43).

In zwei Briefen forderte Bahá’u’lláh Napoleon III. auf, Ihn als den von Christus Verheißenen zu erkennen, von seinen Gelüsten nach militärischen Eroberungen Abstand zu nehmen und sich dem Diktat seiner Leidenschaften zu entziehen. Wenn er es versäumte, diese Warnungen zu beachten, würde sein Reich „in Verwirrung gestürzt werden“ (S. 57) und die Herrschaft seinen Händen entgleiten. Diese Prophezeiung erfüllte sich wenige Jahre später mit Napoleons Niederlage 1870 bei Sedan.

Pius IX. wurde aufgerufen, Bahá’u’lláh und Seine Botschaft als die Erfüllung der Prophezeiung Christi anzunehmen, Er werde als „der Geist der Wahrheit“ wiederkommen, um das Viele zu sagen, das Seine Zeitgenossen „noch nicht tragen“ konnten, und um die Menschen „in alle Wahrheit zu leiten“. Der Papst wurde gedrängt, „seine Paläste denen zu überlassen, die sie begehren“, seinen „verzierten Kirchenschmuck zu verkaufen“ und „den Erlös auf dem Pfade Gottes dahinzugeben“. Kurz nachdem dieser Brief geoffenbart worden war, erhielt die weltliche Macht des Papsttums, die bereits zusammengeschrumpft war, durch die Errichtung des Königreichs Italien mit der Hauptstadt Rom 1870 den Todesstoß. Shoghi Effendi hält diese Demütigung des Papsttums für weniger dramatisch, aber geschichtlich bedeutsamer (S. 88) als bei Napoleon III.

Der Untergang des deutschen Kaiserreichs 1918 war von Bahá’u’lláh in Seinem Brief an Wilhelm I. vorhergesagt worden, in dem Er schrieb, Er sehe „die Schwerter der Vergeltung gezückt“ und „höre das Wehklagen Berlins“.


Die Verantwortung der Religionsführer

In zahllosen Briefen und Textstellen aus anderen Werken Bahá’u’lláhs werden die islamische wie die christliche Welt zur Rechenschaft gezogen. [Seite 743] Auch hier erlegt Er die Verantwortung für den Niedergang der wahren Religion und die daraus folgende Ablehnung Seiner Botschaft den geistlichen Führern dieser Bekenntnisse auf. „Religiöse Führer“, lautet Sein klares, umfassendes Urteil, „haben in jedem Zeitalter ihr Volk daran gehindert, die Ufer des ewigen Heils zu erreichen, da sie die Zügel der Autorität in ihrem mächtigen Griff hielten“ (S. 124).

Im letzten Teil seines Buches setzt Shoghi Effendi sein Hauptthema zu den Problemen unserer Zeit in Beziehung und beseitigt eine Reihe von Mißverständnissen, die aus den Anklagen Bahá’u’lláhs gegen die geistlichen und weltlichen Herrscher erwachsen könnten. Obwohl Bahá’u’lláh die Könige Seiner Zeit streng verurteilt, setzt Er doch in keiner Weise das Prinzip des Königtums herab; Er preist es vielmehr bei zahlreichen Gelegenheiten als eine abgeleitete Offenbarung der Autorität, die in erster Linie bei Gott liegt. Shoghi Effendi führt Stellen aus den Schriften Bahá’u’lláhs an, die Gehorsam gegenüber denen verlangen, die „mit Autorität bekleidet sind“, und in denen Bahá’u’lláh selbst von der „Majestät des Königtums“ als einem der „Zeichen Gottes“ spricht. „Ein gerechter König“ ist „der Schatten Gottes auf Erden“. Auch prophezeit Er, es werde bald ein König auftreten, der den Bahá’í-Glauben annehmen und seine Anhänger schützen werde.

Die Vorwürfe an die Adresse der Führer des christlichen und des mohammedanischen Glaubens dürfen nach den Darlegungen Shoghi Effendis nicht als ein Versuch ausgelegt werden, diese Religionen oder ihre redlich gesinnten Führerpersönlichkeiten herabzusetzen. Die Bahá’í-Lehren verfechten den göttlichen Ursprung aller Offenbarer Gottes und streben keineswegs danach, den Rang religiöser Führer, deren „Betragen mit ihrem Bekenntnis übereinstimmt“, zu verkleinern.

Das Grundproblem unserer Zeit ist, um Bahá’u’lláh zu zitieren, daß „der Weg Gottes und die Religion Gottes aufgehört haben, in den Augen der Menschen noch irgendeinen Wert zu besitzen“ (S. 171). Die „Schwächung der Pfeiler der Religion“ führte zu einem Sittenverfall, dessen Zeichen uns auf Schritt und Tritt begegnen. Ihr müssen wir „die Ausbreitung von Gesetzlosigkeit, Trunksucht, Glückspiel und Verbrechen“ zuschreiben, „die zügellose Sucht nach Vergnügen, ... die verantwortungslose Haltung gegenüber der Ehe, die Schwächung der elterlichen Aufsicht, ... das Sinken des Durchschnittsniveaus von Literatur und Presse, die Befürwortung von Theorien, welche eine glatte Verleugnung von Reinheit, Moral und Keuschheit darstellen“ (S, 174).


Drei falsche Götter

Neben vielen kleineren Idolen hat die Menschheit drei Hauptgötzen an die Stelle der Anbetung des einen wahren Gottes gerückt: den Rassismus, den Nationalismus und den Kommunismus. Aber die Zeit wird schließlich kommen, da diese „falschen, kriegerzeugenden Doktrinen durch die Anerkennung der erlösenden Wahrheiten, die Bahá’u’lláh verkündet, überwunden werden: „Richtet Verstand und Willen auf die Erziehung der Völker und Geschlechter der Erde, damit... alle Menschen zu Stützen einer [Seite 744] Ordnung und zu Bewohnern einer Stadt werden mögen.“ „Hütet euch, daß nicht die Begierden des Fleisches und einer verderbten Neigung Zwiespalt unter euch hervorrufen“ (S. 173).

Die Menschheit durchmißt gegenwärtig „das Jünglingsalter in ihrer langsamen, schmerzensreichen Entwicklung“ — ein Zustand, der wie beim Heranwachsen eines einzelnen Menschen durch Sturm und Drang, „Aufruhr, Ungestüm, Stolz, Selbstbewußtsein und Mißachtung der Disziplin“ gekennzeichnet ist (S. 177). Diese Übergangsphase führt zu einem Zustand der Reife, in dem die schöpferischen Gedanken der Bahá’í-Religion zur Wirklichkeit werden.

Abschließend zeigt Shoghi Effendi die Stufenfolge auf, die zu dieser großen Vollendung führen und notwendigerweise Schritt für Schritt begangen werden muß. Sie umfaßt zunächst die Begründung des „Kleineren Friedens“, „den die Nationen der Erde von sich aus errichten werden, noch ohne Seiner (Bahá’u’lláhs) Offenbarung bewußt zu sein und noch ohne Wissen darüber, daß sie die allgemeinen Grundsätze durchsetzen, die Er verkündet hat“. Dieser Schritt „wird die Vergeistigung der Massen unmittelbar mit sich bringen, die auf die Erkenntnis der Wesensart und die Anerkennung der Ansprüche des Glaubens Bahá’u’lláhs folgt. Sie sind die wesentlichen Vorbedingungen zu jener endlichen Verschmelzung aller Rassen, Glaubensbekenntnisse, Klassen und Nationen, welche das Aufsteigen Seiner Neuen Weltordnung kennzeichnen wird“ (S. 186).

Mabel Hyde Paine


Aus „World Order“, Jgg. 12, S. 243 ff.; vgl. „Bahá’í News“ (USA), Nr. 431, Febr. 1967.



Heft 30 / Oktober 1967 der “BAHA’I-BRIEFE“

wird u.a. einen Bericht in Wort und Bild über die Interkontinentale Konferenz der Bahá’í, die vom 7. bis 10. Oktober 1967 in Frankfurt am Main stattfindet, bringen. Wir bitten unsere Leser um Verständnis dafür, daß dieses Heft voraussichtlich erst Ende Oktober ausgeliefert werden kann.

D. Red.



—————

Die „BAHA’I-BRIEFE“ werden vierteljährlich herausgegeben vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland e. V., 6 Frankfurt, Westendstraße 24. Alle namentlich gezeichneten Beiträge stellen nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers oder der Redaktion dar.

Redaktion: Dipl.-Volksw. Peter A. Mühlschlegel, 6104 Jugenheim, Goethestraße 14, Telefon (0 6257) 21 33, und Dieter Schubert, 7022 Leinfelden, Fliederweg 3, Telefon (07 11) 79 35 35.

Vertrieb: Georg Schloz, Bahá’í-Haus, 7 Stuttgart-Zuffenhausen, Friesenstraße 26, Telefon (0711) 87 90 58 oder (07 11) 87 32 48.

Druck: Buchdruckerei Karl Scharr, 7 Stuttgart-Vaihingen, Scharrstraße 13.

Preis: DM —.80 je Heft einschließlich Versandkosten, im Abonnement DM 3.20 jährlich. Zahlungen erbeten an Bahá’í-Verlag GmbH., 6 Frankfurt, Westendstr. 24, Postscheckkonto Stuttgart 35 768, mit dem Vermerk „BAHA’I-BRIEFE“.

An der Zeitschrift bestehen keine wirtschaftlichen oder finanziellen Beteiligungen im Sinne des Hessischen Pressegesetzes, § 5 Abs. 2.