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BAHÁ'I-
BRIEFE
BLÄTTER FÜR
WELTRELIGION UND
WELTBEWUSSTSEIN
AUS DEM INHALT:
Die Bedeutung der Sendung des Báb
Die Einheit der Schöpfung
Ruhiyyih Khanum in Indien
Professor Benz über die Bahá’í-Religion
APRIL 1967 HEFT 28
D 20 155 F
- Umgeben von Gärten, flankiert vom Michigan-See: das Haus der Andacht in Wilmette/Illinois, USA, erster Bahá’í-Tempel in der westlichen Welt.
Die Einheit der Schöpfung[Bearbeiten]
Ansprache ‘Abdu’l-Bahás in der Stanford University, Palo Alto/Kalifornien, am 8. Oktober 1912
Die größte Errungenschaft in der Menschenwelt war und ist dem Wesen
nach wissenschaftlich. Es ist die Entdeckung der Wirklichkeit der
Dinge. Dies hier ist eine der großen Universitäten des Landes, im
Ausland hochberühmt, und es erfüllt mich mit großer Freude, in einer
Heimstatt der Wissenschaft zu weilen.
Das höchste Lob gebührt den Menschen, die ihre ganze Tatkraft der Wissenschaft widmen, und der vornehmste Versammlungsort ist die Stätte, an der die Wissenschaften und Künste gelehrt und studiert werden. Die Wissenschaft führt allezeit zur Erleuchtung der Menschenwelt. Sie verleiht dem Menschen ewige Ehre, und ihre Herrschaft ist viel mächtiger als die Herrschaft von Königen. Die Macht von Königen hat ein Ende; ein König kann entthront werden. Aber die Oberhoheit der Wissenschaft ist immerwährend und ohne Ende. Schaut auf die Philosophen früherer Zeiten. Ihr Richtmaß und ihre Herrschaft sind noch heute in der Welt offenbar. Die Reiche der Griechen und Römer mit all ihrer Pracht sind vergangen, die alten Großmächte des Orients sind nur noch blasse Erinnerungen, aber die Macht und der Einfluß von Plato und Aristoteles bestehen fort. Heute noch werden in den Schulen und Universitäten der Welt ihre Namen gepriesen und verehrt; wo aber hören wir ein Wort des Lobes über die Namen vergangener Könige? Sie sind verschollen und ruhen im Tal der Vergessenheit. Es ist offensichtlich, daß die Oberhoheit der Wissenschaft größer ist als die Macht von Herrschern. Könige sind in fremde Länder eingefallen und haben sie durch Blutvergießen erobert; aber der Wissenschaftler dringt durch seine menschendienlichen Erfolge in das Land der Unwissenheit ein und erobert das Reich des Verstandes und des Herzens. Seine Eroberungen sind deshalb von Dauer. Mögen Sie an dieser Bildungsstätte besondere Fortschritte machen! Mögen Sie zu strahlenden Leuchten werden, welche die dunklen Regionen und die Schlupfwinkel der Unwissenheit mit Erleuchtung überfluten!
Das höchste Prinzip in den Lehren Bahá’u’lláhs ist die Einheit der Menschenwelt. Ich will deshalb über die wesenhafte Einheit aller Erscheinungen zu Ihnen sprechen. Dies ist eines der tiefsten Themen göttlicher Philosophie.
Der Kreislauf des Stofflichen
Im Grunde durchschreitet alles Bestehende die selben Stufen und
Entwicklungsphasen, und jede bestimmte Erscheinung verkörpert alle
andern. Ein alter Spruch der arabischen Philosophen lautet, daß „alle Dinge
in allen Dingen enthalten sind“. Es ist klar, daß jeder materielle
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Organismus der Gesamtausdruck einzelner einfacher Bestandteile ist und daß
ein bestimmtes Zellelement oder Atom Myriaden verschiedener Lebensabschnitte
durchreist oder durchläuft. Die Zellelemente, können wir beispielsweise
sagen, die in die Zusammensetzung eines menschlichen Organismus
eingetreten sind, waren zu einer früheren Zeit Bestandteile des
Tierreiches; ein andermal waren sie in dem Gefüge einer Pflanze
enthalten, und noch früher existierten sie im Mineralreich. So waren sie
dem Übergang von einem Lebenszustand zum anderen unterworfen; sie
durchliefen dabei verschiedene Formen und Phasen und erfüllten in jedem
Dasein besondere Aufgaben. Ihre Kreisläufe durch die materiellen
Erscheinungen setzen sich weiter fort. Folglich ist jede Erscheinung auf
ihrer Stufe der Ausdruck aller anderen Erscheinungen. Der Unterschied
ist eine Frage aufeinanderfolgender Übergänge und der Zeitdauer, die
der Entwicklungsprozeß benötigt.
Zum Beispiel hat es eine bestimmte Zeit gedauert, bis dieses Zellelement in meiner Hand die verschiedenen Abschnitte seiner Formveränderung durchlaufen hat. Einstens war es im Mineralreich den Veränderungen und Übergängen innerhalb seines anorganischen Zustands unterworfen. Dann wurde es in das Pflanzenreich übertragen, wo es an verschiedenen Graden und Stufen teilnahm. In der Folge erreichte es die Ebene des Tierischen und trat in den Formen tierischer Organismen auf, bis es schließlich im Laufe seiner Übergänge und Wanderungen in das Reich des Menschen gelangte. Später wird es zu seinem ursprünglichen elementaren Zustand in das Mineralreich zurückkehren; es wird weiterhin endlose Reisen von einer Daseinsstufe zur andern unternehmen und alle Zustände des Seins und des Lebens durchwandern. Wo immer es in einer bestimmten Form oder Verkörperung erscheint, hat es seine Möglichkeiten, Eigenschaften und Aufgaben. Da jeder atomare Bestandteil, jedes Element in den physischen Organismen des Lebens dem Kreislauf durch endlose Formen und Stufen unterworfen ist und Eigenschaften besitzt, die diesen Formen und Zuständen eigentümlich sind, liegt es auf der Hand, daß alle Erscheinungen stofflichen Seins im Grunde eins sind. Im Mineralreich besitzt dieser atomare Bestandteil, dieses Zellelement gewisse Eigenschaften des Minerals; im Pflanzenreich ist es mit pflanzlichen Eigenschaften oder Fähigkeiten ausgestattet; auf der Stufe des Tieres ist es mit tierischen Eigenschaften — den Sinnen — begabt, und im Reiche des Menschen offenbart es Eigenschaften, die der menschlichen Stufe vorbehalten sind.
Wenn dies für die stofflichen Erscheinungen gilt, um wieviel klarer
und wesentlicher ist es dann, daß Einheit den Menschen auf der Ebene
des Geistigen, die nur im Reiche des Menschen Ausdruck findet,
kennzeichnen sollte? Der Ursprung alles stofflichen Lebens ist wahrlich
eins, sein Ende und Ziel ist gleichfalls eins. Warum sollte der
Mensch — angesichts dieser grundlegenden Einheit und Übereinstimmung alles
Lebens der Erscheinungswelt — in seinem Daseinsbereich Krieg führen und
sich in Feindschaft und zerstörendem Hader gegen seinen Nebenmenschen
wenden? Der Mensch ist das vornehmste aller Geschöpfe. In seinem stofflichen
Organismus besitzt er die Eigenschaften des Mineralreiches.
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Desgleichen verkörpert er die Fähigkeit der Vermehrung, die Kraft
des Wachstums, die das Pflanzenreich kennzeichnet. Auf der Stufe seines
stofflichen Seins ist er überdies mit den Funktionen und Kräften, die
dem Tier zu eigen sind, ausgestattet, und jenseits von alledem liegt der
Bereich seiner eigentlich menschlichen, verstandlichen und geistigen Gaben.
Warum sollte der Mensch in Anbetracht dieser wundervollen Einheit der
Reiche des Seins und ihrer Verkörperung im höchsten und vornehmsten
aller Geschöpfe zu seinem Mitmenschen in Widerspruch stehen
und mit ihm im Streit liegen? Ist es angemessen und gerechtfertigt, daß
er Krieg führt, wenn Einklang und wechselseitige Abhängigkeit die
Lebensbereiche unter ihm kennzeichnen? Die Grundstoffe und Organismen,
die unter dem Menschen stehen, laufen in dem großen Plan des Lebens
zusammen. Soll der Mensch, der seiner Stufe nach unermeßlich hoch über
ihnen steht, dieser vollkommenen Ordnung widerstreiten und sie
zerstören? Gott bewahre uns vor einem solchen Widerspruch!
Aus der Gemeinschaft und der Vermengung von Elementarteilchen entsteht das Leben. Aus ihrem Einklang, ihrer Mischung ergeben sich immer neue Daseinsformen. Dies ist Strahlung, Vollkommenheit, es ist Vollendung, es ist das Leben selbst. Zur Stunde sind die physikalischen Kräfte und Naturmächte, die wir von hier aus unmittelbar beobachten können, allesamt friedfertig. Die Sonne hält Frieden mit der Erde, die sie bescheint. Die säuselnden Winde halten Frieden mit den Bäumen. Alle Elemente stehen in Einklang und Gleichgewicht. Die leiseste Störung, der geringste Mißklang zwischen ihnen kann ein neues Erdbeben und eine Feuersbrunst wie damals in San Francisco mit sich bringen. Ein physikalischer Zusammenprall, ein kleiner Streit zwischen den Elementen, wie es damals der Fall war, und verheerende Umwälzungen der Natur sind die Folge. Dies geht im Mineralreich vor sich. Nun denken Sie nach über die Auswirkungen von Mißklang und Streit im Reiche des Menschen, das der Ebene des unbelebten Seins so hoch überlegen ist. Wie katastrophal sind die Begleitumstände, vor allem, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß der Mensch von Gott mit Bewußtsein und Verstand begabt wurde! Das Bewußtsein ist wahrlich die höchste Gabe Gottes. Der Verstand ist wahrlich die Ausstrahlung Gottes. Das ist offenbar und selbstverständlich.
Alles Erschaffene außer dem Menschen ist nämlich Sklave und Untertan
der Natur und kann nicht im geringsten von dem Gesetz der Natur
abweichen oder sich ihrer Kontrolle entziehen. Die riesige Sonne, der
Mittelpunkt unseres Planetensystems, ist eine Gefangene der Natur und
nicht fähig, auch nur um Haaresbreite von deren Gesetz und Gebot
abzuweichen. Alle Himmelskörper und Sterne dieses unermeßlichen
Weltalls folgen ebenso gehorsam den Vorschriften der Natur. Unser Planet,
die Erde, anerkennt die allgegenwärtige Herrschaft der Natur. Die
Mineral-, Pflanzen- und Tierwelt gehen auf den Willen der Natur ein und
fügen sich ihrer Überwachung und ihrem Machtspruch. Der große, massige
Elefant mit seiner riesigen Körperkraft hat keine Macht, die Beschränkungen
zu übertreten, die die Natur ihm auferlegt hat; einzig der Mensch,
vergleichsweise schwach und schmächtig wie er ist, aber ausgestattet mit
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dem Bewußtsein, das eine Ausstrahlung des Göttlichen ist, kann sich der
Kontrolle der Natur entziehen und ihre Gesetze zu seinem eigenen Gebrauch
anwenden.
Der Mensch steht über der Natur
Seinen begrenzten Körperkräften entsprechend sollte der Mensch nach dem Schöpfungsplan auf der Erde leben, aber durch den Gebrauch seiner Geisteskräfte beseitigt er die Beschränkung dieses Gesetzes und schwingt sich wie ein Vogel in die Lüfte. Er durchdringt die Geheimnisse des Meeres in Unterseebooten und baut Flotten, um nach Belieben über die ganze Fläche des Ozeans zu fahren; so befiehlt er den Gesetzen der Natur, ihm zu Willen zu sein. Alle Wissenschaften und Künste, die wir heute genießen und benützen, waren einstmals Geheimnisse und hätten dem Befehl der Natur zufolge versteckt und verborgen bleiben sollen; aber der menschliche Verstand ist durch die Gesetze hindurchgedrungen, die diese Geheimnisse umgeben, und hat die Wirklichkeiten entdeckt, die ihnen zugrundeliegen. Aus dem Reiche des Unsichtbaren hat das menschliche Bewußtsein diese Geheimnisse auf die Ebene des Bekannten und Sichtbaren gebracht.
Entgegen den Forderungen der Natur hat der Verstand des Menschen diese Gesetze in ein System gebracht und seinen Bedürfnissen und Verwendungsmöglichkeiten angepaßt. Zum Beispiel war die Elektrizität einst eine versteckte und verborgene Naturkraft. Sie wäre verborgen geblieben, hätte sie nicht der menschliche Verstand entdeckt. Der Mensch hat das Gesetz ihrer Verborgenheit durchbrochen; er hat diese Energie den unsichtbaren Schätzen des Weltalls entnommen und in den Bereich des Sichtbaren gerückt. Ist es nicht eine ungewöhnliche Errungenschaft, wenn der Mensch, dieses kleine Geschöpf, eine unwiderstehliche kosmische Kraft in eine Glühlampe bannt? Es geht weit über die Phantasie und die Macht der Natur hinaus, so etwas zu tun. In wenigen Minuten kann sich der Osten mit dem Westen in Verbindung setzen. Das ist ein Wunder, das die Kontrollgewalt der Natur übersteigt. Der Mensch nimmt die menschliche Stimme und speichert sie in einem Phonographen. Nach den Gesetzen und der Erscheinungsweise des Schalls sollte die Stimme frei und vergänglich sein, aber entgegen den Gesetzen der Natur fängt der Mensch die Schwingungen dieser Stimme ein und verwahrt sie in einem Kasten. Alle menschlichen Entdeckungen waren einst Mysterien und Geheimnisse, die im Schoße des stofflichen Alls versiegelt und verwahrt lagen, bis der Verstand des Menschen, der die größte Ausstrahlung des Göttlichen ist, in diese Geheimnisse eindrang und sie seinem Willen und seinen Absichten dienstbar machte. In diesem Sinne hat der Mensch die Naturgesetze durchbrochen, und fortgesetzt entnimmt er der Werkstatt der Natur neue und wunderbare Dinge. Aber trotz dieser höchsten Gnadengabe Gottes, welche die größte Macht in der Welt der Schöpfung ist, fährt der Mensch fort zu kämpfen, Kriege zu führen und seine Mitmenschen zu töten, grausam wie ein wildes Tier. Paßt dies zu seiner erhabenen Stufe? Nein, es ist ein Widerspruch zu der göttlichen Zielsetzung, wie sie sich in seiner Erschaffung und seiner Begabung offenbart.
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Wenn die Tiere wild und grausam sind, dient dies nur ihrem Schutz
und ihrer Erhaltung. Sie sind der Stufe verstandlicher Urteilskraft
beraubt; sie können nicht vernünftig denken und zwischen Richtigem und
Falschem, Recht und Unrecht unterscheiden; sie sind zu ihren Taten
berechtigt und nicht dafür verantwortlich. Wenn aber der Mensch zu
seinem Mitmenschen wild und grausam ist, geht es nicht um Lebensunterhalt
oder Sicherheit. Sein Beweggrund ist selbstsüchtiger Vorteil,
vorsätzliches Unrecht. Es ist weder schicklich noch angebracht, daß ein
derart edles Geschöpf das Blut seiner Mitgeschöpfe auf dem Schlachtfeld
vergießen möchte — ein Geschöpf, das mit Verstand und erhabenen Gedanken
begabt ist, das die Fähigkeit zu wundervollen Errungenschaften
und Entdeckungen in Kunst und Wissenschaft besitzt und dem die
Möglichkeit zu noch höheren Wahrnehmungen, zur Verwirklichung göttlicher
Absichten in seinem Leben innewohnt. Der Mensch ist der Tempel Gottes.
Er ist kein menschlicher Tempel. Wenn Sie ein Haus zerstören, wird der
Eigentümer traurig und zornig werden. Wieviel größer ist das Unrecht,
wenn der Mensch ein Bauwerk vernichtet, das Gott geplant und errichtet
hat! Ohne Zweifel trägt ihm dies das Gericht und den Zorn Gottes ein.
Gott hat den Menschen edel und erhaben erschaffen; Er hat ihn zu einem beherrschenden Faktor in der Schöpfung gemacht. Mit den höchsten Segnungen hat Er den Menschen ausgezeichnet, indem Er ihm Verstand, Wahrnehmung, Gedächtnis, Begriffsvermögen und Sinnenkraft verlieh. Diese Gaben hat Gott dem Menschen geschenkt, um ihn zur Offenbarung göttlicher Tugenden, zu einem strahlenden Licht in der Welt der Schöpfung, einer Quelle des Lebens und zur eigentlichen Kraft schöpferischen Aufbaus in den unendlichen Gefilden des Daseins zu machen. Sollen wir nunmehr dieses große Bauwerk und seine feste Grundlage zerstören? Sollen wir den Tempel Gottes, den Gesellschaftskörper, das Gemeinwesen niederreißen? Wenn wir keine Gefangenen der Natur sind, wenn wir die Kraft besitzen, uns selbst zu beherrschen, sollen wir dann zu Sklaven der Natur werden und uns ihrer Notdurft beugen?
Die Welt braucht Erziehung
In der Natur gilt das Gesetz des Kampfes ums Dasein, des Übrigbleibens der Lebenskräftigsten. Selbst wenn der Mensch keine Erziehung genösse, würde nach den natürlichen Gegebenheiten dieses Gesetz Überlegenheit von ihm fordern. Sinn und Zweck von Schulen, Hochschulen und Universitäten ist es, den Menschen zu erziehen, ihn dadurch von den Notwendigkeiten und Fehlern der Natur zu erretten und zu erlösen und in ihm die Fähigkeit zu wecken, die Gaben der Natur zu beherrschen und anzuwenden. Wollten wir dieses Grundstück hier seinem natürlichen Zustand überlassen, würde es ein von Unkraut übersätes Dornenfeld werden; durch Kultivierung jedoch wird es fruchtbarer Boden, der eine Ernte einbringt. Der Kultivierung beraubt, wären die Berghänge Urwälder und Gehölz ohne nutzbare Bäume. Gärten erbringen Früchte und Blumen entsprechend der Sorgfalt und Arbeit, die der Gärtner auf sie verwendet.
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So ist es auch nicht beabsichtigt, daß die Menschenwelt in ihrem
natürlichen Zustand belassen wird. Sie bedarf der Erziehung, die Gott für
sie bestimmt hat. Die heiligen, himmlischen Manifestationen Gottes sind
die Lehrer. Sie sind die göttlichen Gärtner, die die Urwälder der
menschlichen Natur in fruchtbare Obstgärten verwandeln und die Dornenfelder
zum Blühen bringen wie Rosen. Somit liegt es auf der Hand, daß die
planmäßige, besondere Aufgabe des Menschen dahin geht, sich selbst von
den der Natur innewohnenden Mängeln zu erretten und zu erlösen und
sich durch die idealen Werte des Göttlichen auszuzeichnen. Sollte er diese
idealen Werte aufgeben und diese Möglichkeiten des Fortschritts zerstören?
Gott hat ihm eine Macht verliehen, durch die er sogar die Gesetze
und Erscheinungen der Natur überwinden kann; er kann der Natur ihr
Schwert entwinden und es gegen sie selbst einsetzen. Sollte er da ein
Sklave der Natur bleiben, indem er sogar nach dem Naturgesetz versagt,
welches das Übrigbleiben des Lebenskräftigsten befiehlt? Das heißt, soll
er weiterhin auf der Ebene des Tierreichs leben, ohne Unterschied zwischen
Tier und Mensch, was natürliche Impulse und wilde Instinkte angeht? Für
den Menschen gibt es keine tiefere Daseinsebene, keine schlimmere
Erniedrigung als diesen ursprünglichen Zustand der Tierhaftigkeit.
Das Schlachtfeld des Krieges ist der Gipfel menschlicher Erniedrigung,
der Hintergrund des Zorns Gottes, der Untergang der göttlichen Grundlage
im Menschen,
Gelobt sei Gott! Ich befinde mich hier in einer Versammlung, deren Mitglieder den Frieden lieben und die internationale Einheit verfechten. Die Gedanken aller Anwesenden sind auf die Einheit der Menschenwelt gerichtet, und ihr ganzer Ehrgeiz wendet sich dem Dienst für die Sache menschlicher Erhöhung und Entwicklung zu. Ich flehe zu Gott, Er möge Sie bestätigen und Ihnen beistehen, daß jeder von Ihnen ein verdienter Lehrer im Bereich wissenschaftlicher Erkenntnis werde, ein aufrichtiger Bannerträger des Friedens und der Verständigung zwischen den Herzen der Menschen.
Vor fünfzig Jahren (1862) verkündete Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh die Notwendigkeit des Friedens zwischen den Nationen und die Wahrheit, die zur Versöhnung der Weltreligionen führt. Er erklärte, daß die Grundlagen aller Religionen gleich sind, daß das Wesen der Religion in der Kameradschaft der Menschen besteht und daß die vorhandenen Glaubensunterschiede auf dogmatische Auslegungen und blinde Nachahmungen zurückgehen, die jenen Grundlagen, welche die Propheten Gottes errichteten, widersprechen. Würde die Wirklichkeit erforscht werden, die den religiösen Lehren zugrundeliegt, so erklärt Er, dann würden alle Religionen vereint, und die Absicht Gottes, Liebe zu stiften und die Herzen der Menschen zu verbinden, wäre erfüllt. Wenn sich religiöser Glaube als Ursache des Mißklangs und der Zwietracht erweist, wäre es nach den Lehren Bahá’u’lláhs vorzuziehen, ohne ihn zu sein; denn die Religion ist von Gott dazu ausersehen, das umfassende Heilmittel für die Leiden der Menschheit, der helfende Balsam für ihre Wunden zu sein.
Ganz besonders hob Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh den Weltfrieden hervor.
Er führte aus, alle Menschen seien die Nachkommen Adams und
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Mitglieder einer großen, umfassenden Familie. Wenn die verschiedenen
Rassen und unterschiedlichen Arten der Menschheit jeweils aus einer
anderen Abkunft herrührten, mit anderen Worten, wenn wir zwei oder
mehrere Adame zu Stammvätern hätten, gäbe es vielleicht einen vernünftigen
Grund für Streitigkeiten und Abweichungen in der heutigen
Menschheit, aber da wir alle einer Nachkommenschaft und
einer Familie angehören, sind sämtliche Namen, die die Menschen
unterscheiden und gegeneinander abgrenzen, Namen wie „Italiener“, „Deutscher“,
„Franzose“, „Russe“ und so weiter, ohne jede Bedeutung und Berechtigung. Wir
alle sind Menschen, wir alle sind Diener Gottes und stammen
alle von Herrn Adams Familie ab. Wozu dann all diese verfänglichen
nationalen und rassischen Unterscheidungen? Diese Grenzlinien, diese
künstlichen Schranken sind von Gewaltherrschern und Eroberern geschaffen
worden, die die Herrschaft über die Menschheit anstrebten; daher schürten
sie patriotische Gefühle und weckten die Hingabe an
Maßstäbe der Staatskunst, die rein örtlich bedingt waren. In der Regel
schwelgten sie in ihren Palästen im Luxus, umgeben von sattem Überfluß,
während Heere von Soldaten, Bürgern und Ackerbauern nach ihrem
Befehl auf den Schlachtfeldern kämpften und starben und ihr
unschuldiges Blut für wahnwitzige Parolen wie „Wir sind Deutsche“, „Unsere
Feinde sind die Franzosen“ usw. vergossen, wo doch in Wirklichkeit alle
eine Menschheit sind, alle der einen Familie und Nachkommenschaft
Adams, des Stammvaters, zugehören. In der ganzen Welt herrscht dieses
Vorurteil, dieser begrenzte Patriotismus, während die Menschen gegenüber
dem Patriotismus im weiteren Sinne, der alle Rassen und Abstammungen
umfaßt, blind sind.
Gott erschuf eine Erde und eine Menschheit, sie zu bevölkern. Der Mensch hat keine andere Wohnstatt, dennoch wirft er sich in die Brust, verkündet eingebildete Grenzlinien und territoriale Beschränkungen und nennt sie „Deutschland“, Frankreich“, „Rußland“ usw. Und unter der Wahnvorstellung eines fanatischen, engen Patriotismus werden Ströme kostbaren Blutes vergossen, um diese eingebildete Aufteilung unserer einen menschlichen Heimstatt zu verteidigen.
Letztenendes sind eine Forderung und ein Besitztitel auf ein Gebiet oder Heimatland nur ein Anspruch und eine Bindung an den Staub der Erde. Ein paar kurze Tage leben wir auf dieser Erde, dann liegen wir für immer unter ihrer Decke. So ist sie unser unvergänglicher Friedhof. Soll der Mensch für das Grab kämpfen, das ihn verschlingt, für seine ewige Gruft? Welche Dummheit könnte größer sein? Auf dem eigenen Grab zu kämpfen, andere zu töten um des Grabes willen! Was für eine Gedankenlosigkeit! Was für ein Wahnwitz! Ich hege die Hoffnung, daß Sie, die Studenten dieser Universität, nie dazu aufgefordert werden, für den Staub der Erde zu kämpfen, der die Gruft und das Grab der ganzen Menschheit ist, sondern daß Sie in den Tagen Ihres Lebens miteinander die vollkommenste Kameradschaft genießen, wie eine große Familie — aus Brüdern, Schwestern, Vätern und Müttern —, die in Frieden und wahrer Gemeinschaft miteinander verbunden ist.
- —————
aus „The Promulgation of Universal Peace“, Vol. II, Wilmette/Ill. 1922/1943, S. 342 ff.
Die Bedeutung der Sendung des Báb[Bearbeiten]
Von Dr. Amin’u’lláh Ahmedzadeh
Wenn wir über die Entstehung einer neuen Religion sprechen, die schon in ihren Anfängen den Anspruch erhebt, eine allumfassende Weltreligion zu sein, müssen wir uns zunächst eine Grundfrage vorlegen: Wie kann eine — im traditionellen Sinne begründete — Religion in einer Zeit auftreten, in der der Mensch glaubt, er sei durch die hoch entwickelten Naturwissenschaften, durch die unerhörten Ergebnisse der Forschung (Kopernikus, Newton, Laplace u. a.) im vollen Besitze des Wissens und könne die Religion entbehren? In einer Zeit, die es schließlich dahin brachte, daß Julian Huxley behaupten konnte, die Hypothese „Gott“ sei nicht verfechtbar? Was kann uns die Religion schlechthin — und insbesondere eine neue — in einer Zeit zu sagen haben, in der die Entwicklung das materialistisch-mechanistische Weltbild zu bestätigen scheint? Es ist nicht weiter verwunderlich, wenn sich der Mensch in einem solchen Weltbild als Träger absoluter Macht und Herrschaft auffaßt. Der Mensch des 19. und 20. Jahrhunderts war und ist der Meinung, er könne Attribute Gottes wie Allmacht und Allwissen für sich beanspruchen und den Glauben an einen „imaginierten Gott“ aufgeben. „Der Mensch ist dem Menschen Gott“, sagte schon Feuerbach 1). Heute hört man gar aus dem Bereich der modernen Theologie Stimmen wie diese: „Haben wir uns schon klar gemacht, daß die Abschaffung eines solchen göttlichen Wesens in Zukunft der einzige Weg sein könnte, dem christlichen Glauben Sinn und Bedeutung zu erhalten?“ 2)
Manche Denker mögen zu der Ansicht gelangt sein, die übersinnlichen,
jenseitigen Begriffe und Vorstellungen der Religion seien nicht mehr
zurechtzuleimen, gehörten vielmehr „abgeschafft“. Zweifellos schütten
sie das Kind mit dem Bade aus, neigen doch die meisten Gelehrten zu
der Einstellung, daß eine gemäßigte Haltung am Platze ist. Wenn die
alten religiösen Vorstellungen nicht mehr aufrechtzuerhalten sind, so
bedeutet das noch nicht, daß die Menschheit ohne Religion auszukommen
vermag, sondern es kann auch heißen, daß nun die Zeit reif ist, nach
grundsätzlich neuen Maßstäben und Kategorien zu forschen. Diesem
Gedanken wird selbst von einem Kritiker wie Julian Huxley Rechnung
getragen, der in seinem neuen Werk „Ich sehe den künftigen Menschen“
der Meinung Ausdruck gibt, wenn die Entwicklung der theologischen
Gedankensysteme nicht mehr mit dem Vorwärtskommen der Ereignisse
Schritt halte, werde die Religion immer unfähiger, der Menschheit als
Zuversicht für ihr Schicksal zu dienen, und verliere als soziales Organ
an Wirkungskraft. Schließlich verlieren die alten Vorstellungen jeden
Nutzen und zerbrechen unter der Last der Tatsachen. „Die Folge“, sagte
er wörtlich, „ist eine neue Gedanken- und Glaubensordnung, so wie ein
neuer Typ körperlicher Organisation nötig war, um einen weiteren biologischen
Fortschritt zu ermöglichen... Das Klassische Beispiel ist natürlich
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das Umdenken der kosmologischen Vorstellungen, das die Erde
aus ihrer zentralen Stellung im Universum entfernte und an die Stelle des
‚geozentrischen‘ das ‚heliozentrische‘ System setzte... Ich glaube, daß
eine ebenso drastische Neugestaltung unseres religiösen Denkens notwendig
geworden ist: das theozentrische System muß durch ein evolutions-zentriertes
verdrängt werden...“ 3)
Solche und ähnliche Hinweise deuten darauf hin, daß man heute, kraft desselben kritischen, aber ungleich weiter entwickelten wissenschaftlichen Denkens zur Erkenntnis gelangt, hinter der sichtbaren Welt müsse eine unsichtbare, geistige Wirklichkeit verborgen liegen und kein Ding, das einmal zu existieren begann, könne sich in „Nichts“ auflösen: Aus „Nichts“ wird ja auch nichts. Deswegen wird auch die Religion, die jeden Abschnitt der menschlichen Geschichte leitete, jetzt nicht untergehen; vielmehr erweist sie sich als lebendiger Organismus, der höchstens seine Struktur grundlegend ändert. Eine so neugestaltete Religion wird aus einem überholten Sachverhalt in einen neuen übergehen, der die geistesgeschichtliche Entwicklung bestimmt. Solche Vorstellungen findet man bei jenen Denkern, die frei von alten Traditionen und frei von Vorurteilen die Lage der Dinge erkennen und die Zeichen der Zeit nicht übersehen. Ihre Ausführungen und Aussagen können bis zu einem gewissen Grade die Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach dem Warum einer neuen Religion sein.
Stürmische Neugeburt
In Wirklichkeit verlief die Geburtsstunde jener neuen Religion im heutigen Iran vor etwa 120 Jahren weit stürmischer, und sie übertraf in ihrer Kraft und Wucht das, was Huxley mit „drastischer Neugestaltung“ bezeichnete, um ein Vielfaches. Der Historiker Muhammad-i-Zarandí, genannt Nabíl, spricht von „einer großen Umwälzung, die niederschmetternd, bewußtseinsraubend“ gewesen sei. Zehntausende von Menschen aus dem Volke, Kaufleute, namhafte Theologen, ja Frauen und Kinder machten sich auf, ihr Hab und Gut und ihr Leben zu opfern. Viele Tausende fielen auf diesem Pfade, „gekreuzigt, vor Kanonen gebunden, lebendig verbrannt, beschlagen wie Pferde, auseinandergerissen...“ (Nabíl). Eine Bewegung durchbebte das Volk und erschütterte das Land; sie drohte, die Grundlagen des Staates ins Wanken zu bringen, was den unbarmherzigen Widerstand der Regierung und der Geistlichkeit auf den Plan rief. Diese merkwürdigen und einzigartigen Ereignisse zogen auch das Augenmerk der im Lande anwesenden Diplomaten, Orientalisten und Historiker auf sich, erregten ihr Staunen und ihre Bewunderung. Sie haben ausführlich über ihre Beobachtungen und Erlebnisse berichtet: so Graf Gobineau und A.L.M. Nicolas aus Frankreich, Lord Curzon, Prof. E. G. Browne und T. K. Cheyne aus England, Kázim-Beck und Tumansky aus Rußland und der damalige russische Gesandte in Tihrán, Fürst Dolgoruky 4).
Das Merkwürdigste aber war die rätselhafte Erscheinung des Gründers
der Bewegung selbst, eines jungen Menschen von 25 Jahren aus kaufmännischer
Familie, ungelehrt und bis dahin in keiner Weise hervorgetreten.
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Der 25jährige erklärte sich als Qá’im („Der, der sich erhebt“),
als Báb („Tor“) und Wegbereiter für einen anderen, unermeßlich Größeren,
den Gott bald offenbaren werde. Und dennoch verkündete Er eine
selbständige Offenbarung und erklärte sich als eine neue Manifestation
Gottes. Von Seinen Lippen und aus Seiner Feder flossen gleich einem
ununterbrochenen Strom die Verse der Offenbarung; Er verfaßte — ohne
vorherige Überlegung und Studium — „tiefgründige Abhandlungen,
Kommentare und ausdrucksvolle Gebete“ (Esslemont, S. 30), was die
Anwesenden in höchstes Staunen und in Verwirrung versetzte. Denn dieses
Wissen und die Art und Weise der Darlegung überstiegen alle Grenzen
des Möglichen und Vorstellbaren. Die Größe und Macht dieser Offenbarung
schilderte Bahá’u’lláh mit folgenden Worten: „Kaum hatte die
Menschheit die Stufe der Reife erlangt, als das Wort den Augen der
Menschen die verborgenen Kräfte offenbarte, mit denen es ausgestattet
worden war — Kräfte, die sich in der Fülle ihrer Herrlichkeit dartaten,
als die Urewige Schönheit im Jahre 60 in der Gestalt von ‘Alí-Muhammad,
dem Báb, erschien...“ 5)
Wo liegen nun die Hauptmerkmale des Báb? Bahá’u’lláh deutet mit den oben zitierten Worten auf den prinzipiellen Unterschied der neuen Offenbarung zu den bisherigen hin: Diese neue Offenbarung wendet sich an die Vernunft des Menschen, die durch die fortschreitenden Offenbarungen Gottes den Zustand der Reife erlangt hat. Dieser Zustand ist in einem „weitreichenden, majestätischen Prozeß“ erreicht worden, der „mit dem Dämmern des Zyklus Adams sich in Bewegung gesetzt hat“, und durch ein Geschehen, „das vor 6000 Jahren mit dem Pflanzen des Baumes Göttlicher Offenbarung im Erdreich des Göttlichen Willens begann und das schon gewisse Stufen durchlaufen hat und notwendig noch andere durcheilen muß, bis es seine schließliche Vollendung erreicht“. 6)
Sechstausend Jahre oder sechs „Tage“ — denn Gottes Tag währt tausend Jahre — dauerte die Entwicklung des „göttlichen Lebensbaumes“, der Religion Gottes, und damit der geistigen Welt (nicht der kosmischen!), bis dieser Baum, wie es Shoghi Effendi ausdrückte, im Báb die vollkommene Frucht hervorbrachte, als dieser im Jahre 60 in Shiráz Seine Sendung erklärte.
Die Vernunft des Menschen ist während dieser sechs „Tage Gottes“ herangereift; die Stufen des Keims, des Embryos, des Säuglings- und Kindesalters sind vorüber. Eingetreten ins Stadium der Reife, will und kann der Mensch die Dinge nicht mehr in blindem Glauben annehmen, selbst wenn sie die Grundlage dieses Glaubens darstellen. Angelangt an diesem Punkte seiner Entwicklung, will er die Dinge verstehen, begreifen und wissen. Blinder Glaube, Aberglaube und Vorurteile werden dadurch abgebaut und können sich in Wirklichkeit nicht mehr halten. 7)
Würden wir das Erreichen der „Stufe der Reife“ im Sinne einer Entwicklung
der Vernunft vom Keimstadium an verstehen, so könnten wir
auch ungefähr ermessen, wie sich die Welt durch die neue Konstellation
in allen Bereichen umgestalten, ja bis zur Unkenntlichkeit ändern muß.
Von da her kann man die islamische Überlieferung begreifen, die besagt,
[Seite 704]
daß der Qá’im die Welt mit Gerechtigkeit erfüllen wird, genau so wie sie
bis dahin voll Ungerechtigkeit war. 8)
Der Umschwung und Auflösungsprozeß in der religiösen Welt ist so grundsätzlicher Natur, daß keine noch so moderne, anpassungsfreudige Theologie dem gewachsen ist. Die prophetische Schau des Apostels Petrus illustriert diesen Vorgang mit drastischen Worten:
- „... wartet und eilet zu der Zukunft des Tages des Herrn, an welchem die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen werden. Wir warten aber eines neuen Himmels und einer neuen Erde nach seiner Verheißung, in welchen Gerechtigkeit wohnt...“ (2. Petrus 3, 12 und 13).
Damit prophezeit Petrus nicht nur den Untergang der alten, sondern auch das Aufsteigen einer neuen Religion.
Die Reife der Menschheit
Es ist klar, daß bei dieser Sachlage mit „halben Wahrheiten“ nichts mehr anzufangen ist. Unzweifelhaft ist jene „volle Wahrheit“ vonnöten, von der Paulus schrieb (1. Kor. 13, 10-12) und von der Christus selbst sagte: „Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt noch nicht tragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten“ (Joh. 16, 12—13). Liegt es nicht auf der Hand, daß bei einer derart komplexen Umwälzung und Erneuerung das menschliche Wissen und Vermögen versagt und nur „der Geist der Wahrheit“ — das heißt ein neuer Gottgesandter — richtungweisend wirken kann?
Der Báb selbst hat dieses Geschehen an einem Beispiel erläutert und darin auch die Größe Seiner Offenbarung kundgetan: Er vergleicht Seine Offenbarung mit einem 12-jährigen Jungen und schreibt darüber u. a. in Seinem Buch „Bayán“, Kapitel 13, Váhid 3:
- „Jede Offenbarung vereinigt in sich die Vollkommenheiten der ihr vorangegangenen mit den Vollkommenheiten der neuen (ihrer eigenen) Offenbarung. So hat der 14-jährige Junge die Vollkommenheiten des 12-jährigen, dazu noch andere mehr... Zwischen zwei Offenbarungen vergehen durchschnittlich tausend Jahre, zuweilen etwas mehr oder weniger, aber durchschnittlich tausend Jahre...“
- (Übers. d. Verf.)
Dann geht Er auf die Bedeutung Seiner eigenen Offenbarung ein und schreibt:
- „Die sichtbare Wirklichkeit der allumfassenden Offenbarer ist ein und dieselbe, aber ihre Offenbarungen sind verschieden, genau so, wie die Wirklichkeit des Menschen eine ist, ihre Erscheinungen aber verschieden sind in den Stufen des Samens, des Embryonalen, der Knochen- und Fleischbildung usw. bis zum Alter von zwölf und vierzehn Jahren, in dem die Reife einsetzt... Die Offenbarung Adams ist die Stufe des Keims dieser einen Wirklichkeit, die in [Seite 705]
ihrer weiteren Entwicklung bis zu der Zeit der Offenbarung des ‚Punktes des Bayán‘ (Báb) ein zwölfjähriger Junge geworden ist, und die Offenbarung ‚Dessen, den Gott offenbaren wird‘ (Bahá’u’lláh) ist die Stufe der Reife, vergleichbar einem 14-jährigen Jungen...“ (Übers. d. Verf.)
Über diese Analogie spricht auch ‘Abdu’l-Bahá in den „Beantworteten Fragen“ (Kapitel 30, S. 125 unten), wo Er den paradiesischen ‚Baum des Lebens‘ als Symbol für das Wort, die Offenbarung Gottes, erklärt. „... die Stellung Adams“, sagt ‘Abdu’l-Bahá, „war in bezug auf das Erscheinen und die Offenbarung der göttlichen Vollkommenheiten in keimhaftem Zustand“. Dieser bildhaften Darstellung der Entfaltung, der Größe, des Wissens und der Reife der Offenbarung entsprechen die prophetischen Worte: „Wissen entspricht 27 Buchstaben“. Alles, was die Propheten und Gesandten Gottes bis jetzt offenbart haben, sind nur zwei Buchstaben von insgesamt 27 gewesen, doch wenn der Qá’im sich erhebt, so heißt es in der Überlieferung, wird Er die übrigen 25 Buchstaben kund werden lassen 9). Was bedeuten diese Worte, und was haben die 27 Buchstaben des Wissens zu sagen? Dazu gibt ‘Abdu’l-Bahá folgende Erklärung:
- „Mit dieser prophetischen Aussage ist nicht ein verhüllter Buchstabe gemeint, sondern es will heißen, daß alles, was in vergangenen Zeitaltern an ausgezeichneten Leistungen und Erkenntnissen von der Menschheit hervorgebracht worden ist — in Wissenschaften, Künsten, Erfindungen, Entdeckungen, Unternehmungen, der Erforschung des in den Dingen Verborgenen und in der Entdeckung ihrer Wirklichkeiten — all das ist vergleichsweise wie die Zahl 2. Das aber, was nach der Offenbarung des Qá’im (Báb) an Entdeckungen der Geheimnisse der Welt, Wirklichkeiten der Dinge in den Künsten, durch wunderbare Entdeckungen und Erkenntnisse in der menschlichen Welt durch die Enthüllung verschlüsselter Chiffren zu Tage treten wird, ist zu vergleichen mit 25 Buchstaben. Und fürwahr, du siehst, welch große Dinge nach der Offenbarung des Qá’im erreicht wurden. Alles, was bis dahin Objekt des Wissens geworden war, kann sich in keiner Weise messen mit nur einer einzigen der neuen Erkenntnisse. Betrachte die Dinge in der materiellen Welt, die ein Spiegelbild der geistigen ist: Alle im Bereich der physischen Welt bisher gemachten Erfindungen und Entdeckungen zusammengenommen können sich nicht mit einer einzigen Kraft wie Telegraphie oder Phonographie, Photographie, Telephon, Elektrizität, drahtlose Kommunikation und dergleichen mehr, messen...10) Jetzt bedenke, was erst noch die kommende Zeit bringen wird!“ (Übers. d. Verf.)
Mit dieser Auslegung ‘Abdu’l-Bahás ist angedeutet, daß der große Aufschwung des modernen Wissens und der Technik (nicht nur in der geistig-religiösen Welt) von der dynamischen Kraft und Strahlenstärke dieses geistigen Gestirns in Bewegung gesetzt wurde, einer Kraft, die göttlichen Ursprungs ist. Zugleich weist diese Auslegung auf den einheitlichen Ursprung allen Seins — ob materiell oder geistig — hin. 11)
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Wissenschaftlich ist dergleichen nicht zu beweisen, aber das plötzliche,
unerwartete Hervortreten der modernen Wissenschaft und Technik, dieser
unglaubliche Aufschwung innerhalb von wenigen Jahrzehnten ist bis
heute ein Rätsel geblieben und von keinem der bekannten Denker und
Wissenschaftler erklärt worden. So fragt Hermann Glaser in seiner
„Kleinen Kulturgeschichte der Gegenwart“: „Wie kommt es, daß mit
einem Male ein jahrtausendelanger Stillstand überwunden und die
technische Entwicklung zum reißenden Strome wird?“ (S. 10).
Diese Frage harrt heute noch einer Antwort; im Gegenteil, das Rätsel vertieft sich in dem Maße, als man sich nach und nach bewußt wird, daß diese Entwicklung zu allem hin einen zielstrebigen, sinnvollen Ablauf annimmt, daß ihre Erkenntnisse einen allgemeinen Frieden, Gerechtigkeit, die Einheit der Menschheit und die wahre Freiheit nicht nur fördern, sondern geradezu erzwingen. Ja, diese Entwicklung hat es dahin gebracht, daß ein Wissenschaftler wie der Frankfurter Universitätsprofessor Friedrich Dessauer zum Verfechter einer „Philosophie der Technik“ 12) wird und ein bedeutender Theologe und Geistlicher wie der Kurienkardinal Bea vom Podium der Frankfurter Paulskirche herab den Visionen Jesajas vom Frieden auf Erden Aktualität verleiht.
Die Frage Hermann Glasers erweckt so, wie sie sich heute stellt, von neuem die alte, ungelöste Frage nach dem Ursprung des Wissens überhaupt. In schwacher Form beleuchtet Toynbee dieses Problem, wenn er feststellt, daß mit dem Entstehen jeglicher Kultur und Zivilisation das Leben und Wirken solch hervorragender Männer wie Mose, Christus, Buddha, Muhammad u. a. zusammenfällt. Im großen und ganzen aber bleibt bei dieser Betrachtungsweise des weltbekannten Historikers die Gestalt des Gründers oder Offenbarers selbst im Dunkel. Wenn erst einmal Wissenschaften wie Anthropologie, Historie, Philosophie, Soziologie und andere den Geheimnissen der Kategorien „Offenbarung“ und „Offenbarer“ näher gekommen sind, ist zu hoffen, daß die Frage nach dem Ursprung des Wissens und der Kulturen beantwortet werden kann. Die Auffassung des Bahá’í-Glaubens hierzu wurde bereits dargelegt; nachstehende klare Worte von Bahá’u’lláh bestätigen sie unzweifelhaft:
- „Ihr sollt nicht wähnen, die Offenbarung Gottes nähme allein auf das äußere Kulturwesen und auf die Veränderungen im Bereiche der althergebrachten Gesetze Bezug. Vielmehr werden alle Dinge im Augenblick der Offenbarung zu Empfängern der Kräfte und des unermeßlichen Überflusses, die dann allmählich mit den Gegebenheiten der Zeit und unter Zuhilfenahme der weltlichen Mittel zur Entfaltung gelangen... 13). (Übers. d. Verf.)
Vorbereitung auf die „volle Wahrheit“
Wenn wir dem Kern und der Substanz der Offenbarung des Báb näher kommen und diese, soweit es für uns möglich ist, in einer Gesamtschau betrachten, fallen uns zwei Hauptmerkmale auf:
- 1) das Element des Wissens, das überall in den Vordergrund tritt,
- 2) der Begriff der Reife der menschlichen Vernunft und der Welt.
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Diese beiden Kardinalpunkte sind für das Erkennen der Lehren des
Báb von unermeßlicher Bedeutung. Auf diesen zwei Säulen ruht die
ganze Neugestaltung, eine Neuorientierung, die das Gesicht der Religion
völlig ändern und umformen muß. Auf diesen zwei Säulen erhebt sich
die Religion in einem anderen Lichte; der herkömmliche Begriff „Religion“
trifft fast nicht mehr zu. Aber das ist nur scheinbar; in Wirklichkeit
ist hier ein „Organismus“ geschaffen worden, dessen Funktionen dieselben
sind wie bei seinen Vorgängern, der aber an Breite und Weite in
ungeheurem Ausmaß zugenommen hat.
Der menschliche Verstand war bis jetzt mehr oder weniger nur den äußerlichen Phänomenen der materiellen Welt zugewandt. Ein Eindringen in die Hintergründe der Dinge war nur teilweise möglich. Auch der denkende, geistig orientierte Teil der Menschheit war noch nicht imstande, die „volle Wahrheit“ (Joh. 16, 13) zu erfassen, denn vor der Offenbarung des Báb, vor der Mitte des 19. Jahrhunderts, hatte die Wissenschaft noch nicht jene Horizonte eröffnet, die den menschlichen Geist zur Aufnahme der vollen Wahrheit befähigen konnten. Darum sprachen Christus und andere Offenbarer in Gleichnissen; auch das „Verborgene“ deutete Christus in Gleichnissen an (Matth. 13, 35). Die Religion war also bis heute auf Symbolen, Gleichnissen und Mythen aufgebaut; ihr inneres Wesen, ihr wahrer Inhalt, blieb noch verborgen. So sprach Daniel von den versiegelten Versen, deren Bedeutung bis zur „letzten Zeit“ verborgen bleiben sollte (Dan. 12, 9). Christus sprach über die Speise, die nicht vergänglich ist und die „der Vater“ 14) versiegelt hat (Joh. 6, 27). Und mit der Sendung Muhammads war immer noch nicht die Zeit für die Auslegung dieser geheimen Aussagen gekommen.15) Der Inhalt dieser versiegelten und verborgenen Aussagen bezog sich meist auf die Erkenntnis des Offenbarers selbst, auf Seine geistige Natur, Seine himmlische Herkunft, auf den „Tag des Gerichtes“, die „Auferstehung der Toten“, „Hölle“, „Paradies“, kurz, auf alles das, was in der christlichen Theologie unter dem Ausdruck Eschatologie bekannt ist.
Aus einigen Stellen der Evangelien geht hervor, daß die verborgenen Wahrheiten manchen Jüngern Christi bekannt waren; z. B. aus 1. Kor. 2, 10: „Uns aber hat es Gott offenbart durch Seinen Geist, denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit“. Und doch war diese Weisheit nur rein intuitiv und glaubensmäßig erfaßt worden; sie konnte nicht weitergegeben werden, denn diese Weisheit hat „kein Auge gesehen und kein Ohr gehört und ist in keines Menschen Herz gekommen ...“ (1. Kor. 2, 9).
So erklärte ‘Abdu’l-Bahá: „Die Priester haben die symbolische Sprache nicht verstanden, darum glaubten sie, die Religion widerspreche der Wissenschaft und die Wissenschaft stehe im Gegensatz zu der Religion. So z. B. die Frage nach der körperlichen Himmelfahrt Christi: Sie widerspricht den mathematisch-astronomischen Tatsachen; ist jedoch die wirkliche Sachlage klargestellt und das Symbol erklärt, so wird kein Widerspruch mehr zwischen Religion und Wissenschaft bleiben...“ (Übers. d. Verf.)16)
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Die Nachfolger aller Religionen, Juden, Christen, Muslim u. a., bestehen
unnachgiebig auf buchstäblichen Auslegungen, um damit das „Wunderbare“
in der Religion zu erhalten. Trotz der Entdeckungen von Keppler,
Kopernikus, Giordano Bruno und Newton klafft bis zum heutigen Tage
ein Abgrund zwischen Religion und Wissenschaft im Bewußtsein jedes
traditionsbewußten Gläubigen.
Aber die Zeiten finsterer Unwissenheit waren in dem Augenblick vorbei, als der Báb — bevollmächtigt durch das Wort Gottes — die Siegel erbrach und die in den früheren Offenbarungen verborgene Wahrheit ans Licht brachte. Seine Entsiegelung der Heiligen Schriften bot in Form einer Terminologie den Schlüssel zum Verständnis solcher Begriffe wie „Auferstehung“ (= Auftreten einer neuen Manifestation), „Auferstehung der Toten“ (= geistige Erweckung der in den Gräbern der Unwissenheit Schlafenden), „Himmel“ (= Wort Gottes) usw., ein Werk, das Bahá’u’lláh später mit dem „Buch der Gewißheit“ vollendet hat.
Solche umwälzenden Wahrheiten, verkündet mit göttlicher Macht und Kraft, duldeten keine mittelmäßige Reaktion: Sie fanden entweder glühende Anhänger und Gläubige oder aber den erbitterten Widerstand jener, die darin ihre Religion nicht mehr erkannten und verloren glaubten. Damit hatten jene dramatischen religiösen Auseinandersetzungen in Persien begonnen, die bald über die Grenzen dieses Landes hinausdringen sollten und über die die westlichen Beobachter berichteten.
Auffallend für den Beobachter von heute ist, daß sich nunmehr, nach 120 Jahren, „en miniature“ etwas Ähnliches im christlichen Abendlande abspielt: Heute entfesseln die Auslegungsversuche eines großen Theologen den Sturm des Widerspruchs der konservativen Kräfte der Religion. Gegenstand ernstlicher Angst und Sorge sind die Entmythologisierungsversuche Bultmanns, die nach Meinung der Konservativen die Wahrheit des Evangeliums Christi bedrohen. 17) Wenn man beobachtet, welche Unruhe, Proteste und Befürchtungen schon ein verhältnismäßig unbedeutender Vorgang wie der Versuch Bultmanns heute unter den christlichen Theologen hervorruft, mag man eine Ahnung dessen bekommen, was die Bábí-Offenbarung in jenem zurückgebliebenen Lande vor 120 Jahren bei der fanatisch gesinnten Bevölkerung und ihrer Geistlichkeit heraufbeschwor. Selbst die gläubigen Bábí waren ja oft nicht fähig, die neuen Erkenntnisse sofort voll und ganz aufzunehmen, und die tiefgreifende Liebe zum traditionellen väterlichen Glauben konnte natürlich nicht mit einem Schlage von dem unerhört Neuen abgelöst werden. Aber es war an der Zeit, die Schleier beiseitezuschieben und die Wahrheit über den Anbruch eines neuen Zeitalters den Seelen der Gläubigen einzuprägen. So kam es im Jahre 1848 zu der bedeutsamen Versammlung in Badasht, die von Bahá’u’lláh einberufen worden war; der Báb selbst befand sich zu der Zeit bereits als Gefangener in der Festung Chihríq.
Bahá’u’lláh hatte für diese Zusammenkunft eigens drei aneinanderliegende
Gärten gemietet; anwesend waren 81 Gläubige, unter ihnen eine
einzige Frau, die bezaubernde, hoch begabte Dichterin und Gelehrte
Táhirih, sowie Quddús, ein inspirierter Geist, Mulláh Husayn, der mutige
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Geistliche und erste Gläubige des Báb, und nicht zuletzt Bahá’u’lláh
selbst, in dem sich „Der, den Gott offenbaren wird“, noch verbarg, unter
Seinem bürgerlichen Namen Mirzá Husayn-‘Alí. Die Diskussionen, Rezitationen
und Ereignisse dieser Konferenz waren nicht nur für Persien und den Islam
von unerhörter Bedeutung; sie wurden durch westliche Beobachter bis in
die Einzelheiten aufgezeichnet und erleuchteten allmählich die
ganze denkende Menschheit.
„Der Hauptzweck der Versammlung war, die Offenbarung des Bayán durch einen raschen, völligen und dramatischen Bruch mit der Vergangenheit — mit deren Ordnung, Kirchenwesen, Überlieferungen und Bräuchen — zur Durchführung zu bringen... Es war Bahá’u’lláh, der stetig, unbeirrbar und ganz unauffällig den Kurs jenes denkwürdigen Ereignisses steuerte, und auch Bahá’u’lláh, der die Versammlung ihrem schließlichen Höhepunkt zuführte. Als Er eines Tages durch eine Erkrankung ans Bett gefesselt war, erschien Táhirih, die als das reine und makellose Sinnbild der Keuschheit und die Verkörperung der heiligen Fátimih (Tochter des Propheten Muhammad) angesehen wurde, plötzlich in Seinem Beisein geschmückt, aber unverschleiert vor den versammelten Gefährten und setzte sich zur Rechten des entsetzten, in Zorn geratenen Quddús. Mit feurigen Worten riß sie die Schleier, welche die Heiligkeit der Verordnung des Islám bewahrten, hinweg, um gleich einem Fanfarenruf den feierlichen Beginn einer neuen Sendung zu verkünden. Die Wirkung war wie ein plötzlicher elektrischer Schlag... „Dieser Tag ist der Tag des Festes und der allgemeinen Freude!“ rief sie aus, „der Tag, an dem die Fesseln vergangener Zeiten gesprengt worden sind.“ Und dann zitierte sie aus dem Qur’án den Vers: „Wahrlich, inmitten von Gärten und Bächen werden die Gläubigen weilen, am Hofe der Wahrheit, in der Gegenwart des mächtigen Königs...“ Sie zitierte und sprach weiter: „Ich bin das Wort, das der Qá’im sprechen soll, das Wort, durch das die Oberhäupter und Edlen auf Erden in die Flucht geschlagen werden!“ 18)
Dr. T. K. Cheyne schreibt in „The Reconciliation of Races and Religions“, als Táhiríh geendet hatte, habe Bahá’u’lláh aus dem Qu’rán die 75. Súrih von der Auferstehung zitiert. Die tiefe Bedeutung dieser Súrih ist, daß die Menschheit bald in einen neuen kosmischen Zyklus eintrete und ein neuer Kodex der Sitten und Gebräuche unerläßlich sei.
Die Wirkung dieser Eröffnung war jedoch furchtbar, wie Nabíl berichtet: Die einen verbargen ihr Gesicht in den Händen, andere verhüllten ihr Haupt mit ihren Kleidern, nur um nicht das Antlitz ihrer Hoheit, der Reinen (Táhirih) sehen zu müssen. Sie war doch eine heilige Frau. Einer der Anwesenden war so erschüttert, daß er mit eigener Hand sich die Kehle durchschnitt. Einige folgten seinem Beispiel, andere verließen ihre Gefährten und schworen ihrem Glauben ab.
Und doch, „das Ziel dieser denkwürdigen Zusammenkunft war erreicht
worden. Der Fanfarenruf der Neuen Weltordnung war erschollen. Die
veralteten Bräuche, die das Bewußtsein der Menschheit in Fesseln hielten,
waren kühn angegriffen und hinweggefegt worden“ (Nabíl). Die von der
Offenbarung des Báb in Bewegung gesetzte Neugestaltung des religiösen
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Lebens ebnete den Weg für den „Verheißenen aller Religionen und
Zeitalter“, als der sich Bahá’u’lláh 1863, genau 19 Jahre nach
der Erklärung des Báb, verkündigte.
- —————
- 1) Georg Sigmund, „Der Kampf um Gott“, S. 155 (Morus, Berlin 1957)
- 2) J. Robinson, „Gott ist anders“, S. 27
- 3) Julian Huxley, „Ich sehe den künftigen Menschen“, S. 221
- 4) Literatur: Gobineau, “Les Religion et les Philosophies dans l’Asie Centrale“; Curzon, “Persia and the Persian Questions“; Nicolas, “Essai sur le Shaykhisme“ und “Siyyid ‘Alí-Muhammad dit le Báb”; Browne, “Materials for the Study of the Bábí Religion“ und “A Literary History of Persia“ und “A Year amongst the Persians”. Tumansky übersetzte Schriften Bahá’u’lláhs und das Buch Aqdas ins Russische; Nicolas übersetzte die Schrift des Báb “The Book of Seven Proofs”.
- 5) „Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláh“, XXXIII, S. 55 (Bahá’í-Verlag GmbH., Ffm. 1961)
- 6) Shoghi Effendi, „Botschaft an die Bahá’í-Welt vom 4. Mai 1953“ („Hüterbotschaften“ S. 17, herausgeg. 1962 vom Lehrausschuß des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Deutschland)
- 7) Die Theologie versucht sich diesen Gegebenheiten anzupassen. Der englische Bischof Dr. Robinson schreibt z. B. in seinem Buch „Gott ist anders“, S. 224: „Im Zuge der Entwicklung müssen Ritual und Moralnormen umgeformt und den neuen Verhältnissen angepaßt werden, Abgesehen davon, was Nietzsche Umwertung der Werte nannte, bedürfen wir einer Umgestaltung unseres Denkens, einer neuen Terminologie, einer Neuformulierung der religiösen Ideen und Konzepte in einer neuen Sprache... Eine humanistische, um die Entwicklungsgeschichte kreisende Religion bedarf ebenfalls des Göttlichen, aber des Göttlichen ohne „Gott“ (d. h. ohne den hergebrachten Gottesbegriff, Anm. d. Verf.).
- 8) Shoghi Effendi, „Die Entfaltung der neuen Weltzivilisation“ (Der 19-Tage-Brief 13/114 vom 4. November 1957)
- 9) Shoghi Effendi, „Die Sendung Bahá’u’lláhs“ S. 37 (Georg Ronald, Oxford 1948)
- 10) Ma’adi-Asamání, Sammlung von Ishráq-Khávarí, Band 2, S. 84-86
- 11) Siehe auch Johannes 1, 1—3
- 12) Fr. Dessauer, Aufsatzfolge in der Schweizer Rundschau 194, „Gedanken über Weiterführung der Schöpfung Gottes durch den Erfinder“, siehe Klaus Tuchel, „Die Philosophie der Technik bei Fr. Dessauer“, S. 41 (Verlag Josef Knecht, Ffm. 1964)
- 13) Amr va Khalq (Sammlung der Tablets von Fádil-i-Mázindarání), S. 314
- 14) Nach den eigenen Erklärungen Bahá’u’lláhs ist mit dem Begriff „Vater“ in der Bibel Er Selbst, Bahá’u’lláh, gemeint. Siehe auch Shoghi Effendi, „Die Sendung Bahá’u’lláhs“, S. 13, und „Gott geht vorüber“, Kap. VI, S. 104 ff.
- 15) Qur’án, Súrih 5, Vers 102: „O, die ihr glaubt! Fragt nicht nach Dingen, die, würden sie auch enthüllt, euch nur Wirrnis brächten... .“ Súrih 10, Vers 40: „Nein; aber sie haben das verworfen, dessen Kenntnis sie nicht erfaßten, auch ist seine wahre Auslegung noch nicht zu ihnen gekommen...“ Súrih 7, Vers 54: „Warten sie denn darauf, daß seine Auslegung kommt? An dem Tag, da die Auslegung kommt, werden all die, die es vordem vergessen hatten, sprechen: „Die Gesandten unseres Herrn haben in der Tat die Wahrheit gebracht...“
- 16) Amr va Khalq (Sammlung von Fádil-i-Mázindarání), S. 411
- 17) vgl. dazu das Buch von Gerhard Bergmann, „Alarm um die Bibel“, im Schriftenmissionverlag Gladbeck 1963 erschienen. Die Sorge erscheint berechtigt, wenn man bedenkt, daß die Auslegungsversuche Bultmanns zwar manche Wahrheit treffen mögen, oft aber fehlgehen und zu falschem Ergebnis gelangen. Wichtig ist hier die Aussage der Heiligen Schrift, daß jede Auslegung und „Entsiegelung“ nur dem Geist Gottes selbst zusteht. Daraus ist wiederum ersichtlich, wie wichtig die Erkenntnis des Offenbarers ist. Seit der Offenbarung des Báb und seiner Auslegung zur Sure Josef (Qayyúm-i-Asmá) ist der Weg zum Verständnis der geheimnisvollen Stufe des Offenbarers geöffnet (siehe auch Shoghi Effendi, „Die Sendung Bahá’u’lláhs“, S. 38), die Jesus Seinen Jüngern (Joh. 6, Vers 35 ff.) klarzumachen versuchte und die diese nur mühsam zu ahnen imstande waren.
- 18) Shoghi Effendi, „Gott geht vorüber" S. 35 u. 36, und “The Dawn-Breakers, Nabíl’s Narrative of the Early Days of the Bahá’í Revelation“, Wilmette 1962, Kap. XVI, S. 293 ff.
Aus theologischer Perspektive[Bearbeiten]
Zu einem Rundfunkvortrag von Professor Dr. Ernst Benz über die Bahá’í-Religion
Im Rahmen eines Vortragszyklus’ über die „neuen Religionen“ sendete der Bayerische Rundfunk am 15. Februar 1967 in seinem II. Programm ein Referat von Professor Dr. Ernst Benz, dem bekannten Marburger Theologen und Religionsforscher, über die Bahá’í-Religion. Es war eine umfassende Schilderung der geistesgeschichtlichen und soziologischen Grundlagen dieses neuen Glauben; die Lebensschicksale des Báb, Bahá’u’lláhs, ‘Abdu’l-Bahás und Shoghi Effendis wurden in groben Zügen
- —————
- Erstmals: „Langenhainer Seminar“
- Erstmals trafen sich vor einiger Zeit rund 60 Bahá’í aus der Bundesrepublik zu dem vom Lehrausschuß des Nationalen Geistigen Rats der Bahá’í in Deutschland ins Leben gerufenen „Langenhainer Seminar“. Im Mittelpunkt der zweitägigen Veranstaltung stand das Thema: „Der einzelne und das Lehren“. Die Referenten trugen die verschiedenen Aspekte vor, die Diskussionen zeichneten sich durch eine besonders rege Anteilnahme fast aller Tagungsteilnehmer aus. Unser Bild zeigt einen Teil der Bahá’í bei der Beratung. Das zweite „Langenhainer Seminar“ wird vom 13. bis 15. Mai im Verwaltungsgebäude des Hauses der Andacht in Langenhain/Taunus stattfinden.
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beschrieben, der Einfluß ihrer Lehren auf die orientalische Welt und ihre
Ausstrahlungen auf den Westen blieben nicht unerwähnt.
Professor Benz beschränkte sich auf eine Darstellung, ohne kritisch ins Detail zu gehen. Wenn er auf das Bemühen der Bahá’í um neue ethische Grundlagen oder auf ihre modernen Lehrmethoden, etwa durch Mehrjahrespläne für die Ausbreitung, zu sprechen kam, war mitunter sogar eine gewisse Anerkennung herauszuhören. Dennoch sind wesentliche Momente nur flüchtig erwähnt worden; einzelne Aussagen entsprachen nicht ganz dem Sachverhalt, So wurde mehrfach ein Anspruch Bahá’u’lláhs postuliert, eine „abschließende“, „endgültige“ Offenbarung gebracht zu haben. Dadurch schien dem christlichen Absolutheitsanspruch und der islamischen Haltung, in Muhammad das Siegel der Propheten zu sehen, eine neue Ausschließlichkeit gegenübergestellt. Folgerichtig war von der wichtigsten Lehraussage Bahá’u’lláhs, der Idee einer forschreitenden Gottesoffenbarung, nur am Rande die Rede.
In Wirklichkeit lehrt Bahá’u’lláh, daß mit dem Báb ein umfassender Offenbarungszyklus abgeschlossen ist: eine Übergangszeit, sozusagen die jugendliche „Sturm- und Drangperiode“ der Menschheit, während mit Seiner eigenen Offenbarung ein neues Zeitalter der Reife und der Einheit für die Menschheit beginnt. Daß Bahá’u’lláh Seine Lehren und Gesetze nicht als „abschließend“ und „endgültig“ versteht, ergibt sich schon aus Seiner deutlichen Prophezeiung, nicht vor Ablauf von mindestens eintausend Jahren werde wiederum eine prophetische Gestalt auftreten. Ohne diese Schau eines universellen Weltbildes, in dem die Offenbarungen Gottes die mächtigsten schöpferischen Impulse in der Geistesgeschichte darstellen, bleibt jede Schilderung der Bahá’í-Lehren unfruchtbar, ihres dynamischen Einflusses auf die Geschicke der Menschheit beraubt. Dieses Konzept ist es, was keinen Geringeren als Tolstoi 1908 niederschreiben ließ: „Wir verbringen unser Leben mit dem Versuch, das Geheimnis des Universums zu erschließen. Da war ein türkischer Gefangener, Bahá’u’lláh, der hatte den Schlüssel.“ Und diese Offenbarung Gottes ist auch die große Herausforderung an das heutige christliche Denken, das von der Vorstellung einer einmaligen Fleischwerdung des Göttlichen nicht loskommt.
Der zweite Gesichtspunkt, der zu kurz kam, ist die Gemeinschaftsordnung
der Bahá’í. Professor Benz erwähnte, daß örtliche und nationale
Geistige Räte bestehen, die sich zu „Häusern der Gerechtigkeit“
weiterentwickeln sollen. Daß es seit vier Jahren ein Universales Haus
der Gerechtigkeit als administrative Spitze der Bahá’í-Weltgemeinde gibt,
war dem Referenten offenbar noch nicht bekannt. Der Geist, die Lehren und
die Gesetze aber, auf denen diese Gemeinschaftsordnung beruht und die
nicht nur Ersatz, sondern Weiterentwicklung der Hierarchien der
vorausgegangenen Religionen sind — dies alles kam gar nicht zur Sprache.
Dabei liegt hier der zweite Schlüssel verborgen, den Bahá’u’lláh uns bringt:
der Schlüssel zur organisch-homogenen, „klassenlosen“, „reifen“ menschlichen
Gesellschaft von morgen. Das Prinzip der Selbständigkeit des Menschen im
Forschen nach Wahrheit und das Prinzip der solidarischen Kooperation — beides
sind keine neuen Gedanken, sondern alte
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Menschheitsträume: Diese Ideen zu einem harmonischen Gleichgewicht zu führen
und mit einer Fülle demokratischer Tugenden zu einem beispiellosen geistigen
System zu integrieren, blieb jedoch Bahá’u’lláh vorbehalten, der den
Anspruch erhob, nicht nur einzelnen Menschen, die an Ihn glauben,
sondern der Menschheit als Ganzem Erlösung zu bringen.
Es muß gesagt werden, daß in den Darstellungen von Professor Benz gerade diese beiden Momente zu wenig Beachtung fanden, mit denen das Abendland nach zweitausend Jahren Christentum am schlechtesten zu Rande gekommen ist: die Frage nach dem Sinn der Geschichte und die Frage nach dem Wesen der menschlichen Gesellschaft. Es wäre zu begrüBen, wenn sich von religionswissenschaftlich berufener Seite bald jemand fände, der diesen Problemstellungen auf den Grund geht und die Lösung, die Bahá’u’lláh aufzeigt, ernsthaft analysiert.
- Peter Mühlschlegel
Lehren und Vorbild sein[Bearbeiten]
Ansprache von Ruhiyyih Khanum in Gwalior, Indien
- Über die ausgedehnte Lehrreise, welche Amatu’l-Bahá Rúhiyyih Khánum, die Witwe von Shoghi Effendi, dem ersten Hüter des Bahá’í-Glaubens, im Frühjahr und Herbst 1964 durch Indien und die angrenzenden Länder unternahm, liegt nunmehr ein ausführlicher Bericht ihrer Begleiterin, Frau Violette Nakhjavani, vor. In beredter Sprache wird in dem kleinen Buch die erstaunliche Aufgeschlossenheit geschildert, die auf dem weiten indischen Subkontinent aus allen Kreisen der Bevölkerung den Bahá’í-Lehren entgegengebracht wird. Nur wenige Jahre waren nötig, um die Zahl der Bahá’í in Indien zu verhundertfachen. — Wir bringen im folgenden Auszüge aus der Ansprache, die Amatu’l-Bahá Rúhiyyih Khánum am 15. Oktober 1964 vor 500 Teilnehmern einer gesamtindischen Lehrkonferenz in Gwalior hielt.
- D. Red.
Wenn wir die Botschaft Bahá’u’lláhs den Menschen lehren wollen, dann
fällt uns dies umso leichter — davon bin ich fest überzeugt — je klarer wir
zutiefst darum wissen, wie groß diese Botschaft ist. Ich möchte Sie auf
eine Reise mitnehmen. Es ist Abend, wir können zum Sternenhimmel aufschauen.
Hier in Indien ist der Himmel gewöhnlich besonders klar; wir
sehen den großen weißen Strom quer über das Himmelsgewölbe, den wir
die Milchstraße nennen. Ob Sie aus den Städten oder vom Lande kommen,
Sie alle kennen diesen großen Lichtstrom, aber wissen Sie auch alle, daß
er aus Millionen und Milliarden von Sternen wie unserer Sonne zusammengesetzt
ist? Wie viele von uns wissen, daß wir kleinen Erdenwürmer,
die zum Himmel aufschauen, zu den Sternen dieses Lichtstroms gehören?
So groß ist dieser Strom. Nun ist die Sonne für uns auf dieser Erde der
Mittelpunkt, um den alle Planeten angeordnet sind; unsere Erde ist nur
[Seite 714]
einer der Planeten, die sich um die Sonne drehen. Kommen wir jetzt zu
dieser Erde. Wir wissen, wo wir in diesem großen Weltall stehen; wir wissen,
wo wir im Verhältnis zu der Sonne stehen, die gerade untergeht. Lassen Sie
uns jetzt über diesen Planeten sprechen, auf dem wir Menschen leben.
Bahá’u’lláh lehrt uns, daß in dieser Welt ein Prozeß abläuft, etwas, das einen Anfang und ein Ende hat. Vor vielen tausend Jahren, lange bevor ein Krischna, ein Rama und ein Buddha in die Welt kamen, erschienen bereits Propheten, um die Menschen zu erziehen. Bahá’u’lláh erklärt, daß alle Erkenntnis von diesen großen Propheten Gottes ausgeht, die in die Welt kommen, um die Seelen und das Bewußtsein der Menschen zu erleuchten. Er sagte, Er sei zum Abschluß eines Zyklus gekommen, der vor Tausenden von Jahren begonnen habe, und Seine Offenbarung werde die Welt 500 000 Jahre lang unmittelbar beeinflussen. Der Grund, warum ich Ihnen dies erkläre, ist, daß Sie Bahá’í sind. Sie müssen wissen, was Sie glauben, und ich bezweifle, daß sich irgendjemand unter uns völlig darüber im klaren ist, was es bedeutet, ein Bahá’í zu sein. Wir werden auch in der Zukunft Feinde haben; die Leute werden sagen, die Bahá’í hätten unrecht, sie führten die Menschen weg vom wahren Pfad des Hinduismus, des Islam oder des Christentums. Sie werden uns angreifen, und dann müssen wir wissen, woran wir glauben; nur so können wir fest in unserem Glauben stehen. Es sollte uns fern liegen, daß wir uns davor fürchten, Feinde zu haben; wir sollten zu Gott darum beten, daß ein Tag komme, an dem wir auf die Probe gestellt werden, denn wenn der Sturm kommt, dann gehen die Wurzeln der großen Bäume noch tiefer in den Boden hinein, und die Bäume wachsen noch höher hinaus.
Woran glauben wir nun? Mit welcher Absicht ist Bahá’u’lláh in diese Welt gekommen? Nur um uns beizubringen, brave Menschen zu sein, einander nette Dinge zu sagen, unsere Gebete zu sprechen und an das Leben nach dem Tode zu glauben? Es ist viel mehr als dies. Bahá’u’lláh sagte zum Volk dieser Welt: „Ihr seid alle unsere Kinder, und wir waren sehr geduldig mit euch, wir Propheten, eure Väter, Krischna, Rama, Buddha, Christus, Moses, wir waren alle unendlich geduldig mit euch. Wir waren eure Väter und ihr unsere Kinder, aber jetzt beginnt eine ganz andere Zeit.“
Sie wissen es von Ihren eigenen Kindern, wie Sie versuchen, ihnen beizubringen, daß sie sich richtig benehmen und wie Erwachsene verhalten sollen, daß sie Verantwortung tragen lernen; oft aber tun die Kinder nicht so, wie Sie, die Eltern, es wollen, und dann sagen Sie: „Nun, es sind eben noch Kinder.“ Was sagt uns nun Bahá’u’lláh? Er sagt: „Schluß damit! Ihr seid keine Kinder mehr. Dies ist der Tag eurer Volljährigkeit. Ihr Menschen seid jetzt erwachsen geworden. Ich will jetzt zu euch reden wie zu einem Sohn, der 21 Jahre alt geworden ist.“
Die Größe des Glaubens
Bahá’u’lláh hat uns geistige Lehren gegeben, Er hat uns wirtschaftliche
und soziale Lehren gegeben, und über dies alles hinaus hat Er uns
eine völlig neue Weltordnung, eine Weltzivilisation gegeben. Lassen Sie
[Seite 715]
uns ein Beispiel nehmen, das einfach ist, weil es uns vor Augen steht.
Nehmen wir die Musterung auf diesem schönen Zelt hier. Es ist ein
besonders schönes Zelt, und ich freue mich sehr, daß es jemand über
meinem Kopf aufgespannt hat, so daß ich es als Gleichnis verwenden kann.
Dieses Zelt hat verschiedene Bestandteile und Verstrebungen, die es
aufgespannt halten. Es hat verschiedene Farben und Muster. Aber es hat
vor allem einen Plan. Über und über ist es mit demselben Muster bedeckt.
Das Motiv ist gleich, diese Rosetten sind gleich, diese großen Medaillons
und Blumen sind gleich. Uns Bahá’í geht es ganz ähnlich. Wir
sind die Blumen und Blätter. Die Medaillons sind die Geistigen Räte,
die großen Stangen sind die Nationalen Räte, und das ganze Zelt ist die
Bahá’í-Welt. Nun wollen wir uns eine Weile hinsetzen und uns vorstellen,
wir hätten ein Zelt, das ohne jeden Plan gemacht worden wäre. Stellen
wir uns vor, anstatt dieser Muster hätten Sie die ganzen Unterröcke und
Saris und Dhotis (Lendentücher) der Menschen hier, und die wären hier
aufgehängt. Was bekämen Sie da für ein Zelt? Es wäre bestimmt kein
Zelt wie dieses, es wäre ein Mischmasch! Es gibt viele Leute auf der
Welt, die meinen, wir Bahá’í hätten eine Organisation, die sozusagen
eine Choli-, Sari-, Dhoti- und Turban-Organisation ist. Sie wissen nicht,
daß wir solch ein Zelt haben, die Bahá’í-Welt. Als Bahá’í-Lehrer wissen
wir alle, daß die Menschen, wenn wir ihnen erklären, was für eine
wunderbare Sache die Bahá’í-Religion ist, bei sich selbst nicht recht klar
darüber werden und sagen: „Nun, der Rock meiner Frau ist so gut wie
das Dhoti ihres Mannes. Warum sollte ich deshalb Bahá’í werden? Ich
bleibe Hindu und lasse die anderen Bahá’í sein.“ Wenn die Leute so
reden, dann liegt der Fehler bei uns. Es ist uns nicht gelungen, ihnen die
Größe des Glaubens Bahá’u’lláhs zu vermitteln und ihnen klarzumachen,
was er in der heutigen Welt bedeutet. Das ist es, was wir lernen müssen,
wenn wir das Volk Indiens zur Sache Bahá’u’lláhs führen wollen.
Wir müssen deshalb immer in großen Maßstäben denken. Ich bin überzeugt, wir kommen weiter, wenn wir zuerst über die Welt, dann über die Geschichte, dann über das Weltall, dann über Bahá’u’lláh nachdenken und begreifen lernen, warum Er gekommen ist und was Er beabsichtigt. In der Bibel heißt es — ich zitiere vielleicht nicht ganz wörtlich: „Als ich ein Kind war, dachte ich wie ein Kind und redete wie ein Kind; aber jetzt bin ich ein Mann geworden und habe kindische Allüren abgelegt.“
Was wird von Ihnen erwartet, wenn Sie erwachsen geworden sind? Sie müssen ein Vollbürger Ihres Heimatortes werden und die Pflichten eines Bürgers auf sich nehmen. Sie zahlen Ihre Steuern, Sie können wählen, Sie heiraten, gründen einen Hausstand und eine eigene Familie, Sie schließen Ihre Studien ab, gehen in das Geschäftsleben, ergreifen einen Beruf oder werden ein selbständiger Bauer. Dies geschieht auch mit der heutigen Menschheit. Die ganze Menschheit hat nach den Lehren Bahá’u’lláhs die Volljährigkeit erreicht. Wir sind erwachsen geworden. Die Volljährigkeit bringt Pflichten mit sich. Was sind die Pflichten, die uns Bahá’u’lláh auferlegt? Es gibt einige Dinge, die wir uns tief ins Bewußtsein einpflanzen müssen; ich will diese Punkte aus den Schriften Bahá’u’lláhs anführen, damit Sie wissen, worum es sich handelt.
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Bahá’u’lláh sagt: „Rede nicht, was du nicht tust, und versprich nicht,
was du nicht erfüllen kannst.“ Das sind ungeheuer wichtige Dinge, nicht
nur nette kleine Sprüche. Er fügt noch etwas hinzu: „Wenn eines Menschen
Worte seine Taten übertreffen, wäre sein Nichtsein besser als sein
Dasein, und sein Tod wäre seinem Leben vorzuziehen.“ Was besagt dies?
Wir sind hier lauter intelligente Bahá’í, wir wollen uns fragen, was diese
Worte Bahá’u’lláhs bedeuten. Sie bedeuten, daß der Bahá’í einen Charakter
wie einen vollkommenen Quaderstein hat, den man für ein Bauwerk verwenden
kann, der fest bleibt und nicht schwankt. Das ganze Haus kann man bauen,
wenn man Steine mit diesen Eigenschaften hat.
Wir wollen den ersten Satz Bahá’u’lláhs nehmen und die Welt daran messen: „Rede nicht, was du nicht tust.“ Wenden wir diesen Satz auf die Vereinten Nationen an, auf die Beziehung eines Landes zu den anderen. Behandeln sie einander nach diesem Maßstab oder sagen sie ständig Dinge zueinander, die zu erfüllen sie gar keine Absicht haben? Sie versuchen es nicht einmal, und jedermann weiß das. „Versprich nicht, was du nicht erfüllen kannst!“ Die Nationen machen einander Versprechungen, genauso wie wir Einzelmenschen einander Versprechungen machen: „Ja, freilich, ich helfe Ihnen gern, wenn es an der Zeit ist!“ Oder: „Wenn Ihr Sohn eine Arbeit sucht, können Sie auf mich zählen!“ Wo ist er, wenn Ihr Sohn einmal ins Berufsleben tritt? Dann ist es aus damit. Ich glaube, wir machen uns nicht genügend bewußt, daß Bahá’u’lláh lehrt, es sei der schlimmste Charakterzug eines Menschen, Lügen zu erzählen; dies sei ein Laster, das die ganze menschliche Natur vergifte. Wir lügen uns die ganze Zeit an. Ich spreche nicht über die Bahá’í. Ich spreche über die menschliche Rasse im allgemeinen. Jemand ruft an und möchte mich sprechen; ich mag nicht und sage: „Erzähle ihm, ich sei ausgegangen.“ Ich bin nicht fort, ich bin da. Was ist dies anderes als eine Lüge? Wir sagen über andere Menschen Dinge, die wir nicht so meinen. Wir rufen entzückt: „O, was für einen wundervollen Sari Sie tragen! Was für einen lieblichen grünen Ton der hat!“ In unserem Herzen denken wir: Mein Gott, wenn sie so eine gelbe Hautfarbe hat, warum um Himmels willen trägt sie dann einen grünen Sari! Ohne daß es uns bewußt wird, ist die Lüge in der heutigen Welt so verbreitet, daß sie ein Bestandteil von allem ist, was wir tun. Der Kaufmann lügt seinen Kunden an, der Kunde den Kaufmann, der Vater das Kind, das Kind den Vater, der Lehrer den Schüler, der Schüler den Lehrer und so weiter. Dies gilt von der ganzen menschlichen Gesellschaft, vom einfachen kleinen Mann in seiner Familie bis hin zu den Nationen.
Wir sind unehrlich, in großem und in kleinem Maße. Wenngleich wir
zögern mögen, andern etwas wegzustehlen, weil wir ein Gewissen
haben — wir legen nicht gerade die Hand auf etwas und nehmen es weg — finden
wir doch auf andere Art nette kleine Methoden des Stehlens, die in der
modernen Gesellschaft annehmbar sind. Wir nehmen und geben Bestechungsgelder,
wir verlangen mehr, als rechtens ist, um mehr Profit für uns zu machen.
Das ist eine ganz hintersinnige Art des Stehlens. Ich erinnere mich,
wie der Hüter eines Tages ein Telegramm erhielt, es sei etwas erreicht
worden, was er dringend haben wollte. Einesteils war er sehr
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erfreut, daß es so weit war, aber er sagte: „Weißt du, ich habe Angst,
die Einzelheiten zu hören, weil ich nicht weiß, was sie gemacht haben,
um zu Rande zu kommen. Ich hoffe, es war alles in Ordnung.“ Da keiner
von Ihnen auf den Kopf gefallen ist, wissen Sie genau, was ich Ihnen sagen
will. Jemand erklärt, er sei Bahá’í und glaube an dies, das und jenes.
Was für ein Unterschied ist zwischen ihm und irgendjemand sonst in der
Welt? Keiner. Inwieweit ist dann dieser Bahá’í der Welt von Nutzen,
inwieweit nützt er Bahá’u’lláh? Bahá’u’lláh kann Sein Haus nicht mit
Steinen bauen, die schwach und verrottet sind. Wir wollen nicht, daß die
Leute nur so sagen: „Dieser Mann ist ein Bahá’í von Religion und sein
Prophet ist Bahá’u’lláh.“ Die Menschen sollen sagen: „Ach, Sie meinen
den Kaufmann, der im Basar an der und der Stelle ist? Wisen Sie, das ist
ein Bahá’í!“ Wir wollen, daß die Leute fragen: „Kennen Sie das Dorf
dort, wo die Menschen so anständig und unternehmungslustig und in jeder
Hinsicht hervorragend sind? Ja, das sind Bahá’í; es ist ein Bahá’í-Dorf.“
Die Bedeutung des Gebets
‘Abdu’l-Bahá sagte, es werde eine Zeit kommen — Er sagte dies, als Er in Amerika war — eine Zeit, in der Sie die Leute auf den Straßen anhalten werden; sie werden Ihnen ins Gesicht schauen und Sie fragen: „Sagen Sie mir, was ist das, woran Sie glauben? Was haben Sie da?“ Ich weiß, es ist in der heutigen Welt schwer, ein guter und anständiger Mensch zu sein. Die Politik ist schmutzig, die Geschäfte sind schmutzig; selbst in den Bildungsstätten und auf dem Lande gibt es alle Arten von persönlichen Reibereien und Eifersüchteleien. Die Welt von heute ist in einer erbärmlichen moralischen Verfassung. Wir wissen das.
Der springende Punkt ist, daß wir vieles haben, was uns hilft, besser zu werden. Eine der größten dieser Gaben ist das Gebet. Wir müssen Bahá’u’lláh darum bitten, daß Er uns hilft, uns zu bessern, und daß Er uns unsere Schwächen vergibt. Muhammad sagt: „Das Gebet ist eine Leiter, auf der der Mensch in den Himmel aufsteigen kann.“ Wenn uns in unserem Charakter etwas abgeht, müssen wir Bahá’u’lláh jeden Tag darum bitten, es uns zu gewähren. Nehmen wir an, wir seien fromm und gottesfürchtig, gute Menschen, aber sehr, sehr geizig, dann sollten wir darum beten, daß uns Gott die edle Gabe der Großzügigkeit schenkt. Wenn es uns an Geduld mit unseren Kindern oder unseren Kunden oder anderen Menschen fehlt, müssen wir Bahá’u’lláh jeden Abend beim Schlafengehen bitten: „Bahá’u’lláh, bitte hilf mir, geduldig zu sein; stärke meine Geduld!“
Ein anderer Weg, wie wir unseren Charakter wandeln können, ist die
Art und Weise, in der wir täglich an uns arbeiten. Vor ein paar Tagen
war ich in Benares; dort ging ich an das Flußufer und sah einigen Yogis
zu, wie sie ihre morgendlichen Übungen machten und ihre Lungen erweiterten.
In Ordnung, ihre Lungen werden kräftiger werden, wenn sie sich
so üben. Wir müssen diejenigen Eigenschaften schulen, die wir nicht
haben. Wir müssen uns darin trainieren. Nicht viele Bahá’í sind sich im
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klaren darüber, daß Gott niemals etwas von uns verlangt, ohne uns die
Kraft zu geben, es zu tun. Er hat die Menschen dieser Welt aufgefordert,
ihren Charakter zu ändern, ihre Denkweise zu ändern, ihr Verhalten zu
wandeln, und morgen wie heute gibt Er ihnen die Kraft, es zu tun...
Einer der Anwesenden hat die Frage aufgeworfen: „Wie kann ein Mensch sicher sein, ob seine Taten gut oder schlecht sind? Gibt es eine Liste der guten und der schlechten Dinge?“
Jede Religion in der Welt hat uns aufgezeigt, was gut und was schlecht ist, und wir haben auch etwas in uns — wir nennen es Gewissen — das uns vor dem Bösen warnt. Wahrscheinlich könnte der Fragesteller selbst aufstehen und seine Frage beantworten, wenn er kurz darüber nachdächte, was gut und was schlecht ist. Lügen ist schlecht, Diebstahl ist schlecht, Ehebruch ist schlecht. Es liegt auf der Hand: Unehrlichkeit ist schlecht, Betrug ist schlecht, Grausamkeit ist schlecht. Dies alles ist so offensichtlich böse, daß Sie niemand brauchen, der Ihnen sagt, was auf der Liste steht. Der Haß ist etwas Schlechtes. Sich voll Stolz oder im Zorn von anderen Menschen abzukehren, ist schlecht. Und ich will Ihnen etwas sagen, was ich für schlecht halte, obwohl ich im Augenblick keine Stelle in den Bahá’í-Lehren wüßte, die ich dafür angeben könnte: Viele von uns geben gern etwas her, aber wir mögen nichts annehmen, und das, meine ich, ist schlecht.
Ich möchte drei Dinge hinzufügen, von denen Bahá’u’lláh sagt, daß sie sehr schlecht sind: Das eine ist Trinken, was streng verboten ist; das zweite ist der Gebrauch von Rauschgiften, die im Bahá’í-Glauben absolut verboten sind; und das dritte, was Bahá’u’lláh für das allerschlimmste auf der ganzen Welt hält, ist die üble Nachrede. Er sagt: „Die Zunge ist ein schwelendes Feuer, und zuvieles Reden ist ein tödliches Gift“. Es ist eine verbreitete Seuche in der Menschheit, schlecht über andere Leute zu reden und sich die Übeltaten anderer berichten zu lassen. Bahá’u’lláh sagt, mit dem Schwert könne man im Nu Menschen töten, aber die Zunge zerstöre den Ruf eines Menschen für ein ganzes Jahrhundert. Ich möchte den Bahá’í einen kleinen Rat erteilen, was Klatschereien angeht: Denken Sie daran, daß sie in den Lehren Bahá’u’lláhs verboten sind. Wenn aber jemand zu Ihnen kommt, um schlecht von einem anderen zu reden, dann lassen Sie ihn nicht zuerst drauf los reden, um ihm dann entgegenzuhalten: „Sie sollten so etwas nicht sagen.“ Sagen Sie ihm gleich: „Ich möchte solche Sachen nicht hören. In dieser Religion ist das verboten.“
Ein anderer Freund hat folgende Frage gestellt: „Wenn es so viel Ungleichheit in der Welt gibt, wenn wir so verschieden voneinander sind, wie ist es uns da möglich, einander zu lieben?“
Zum Glück habe ich unseren geliebten Hüter einmal auf die wunderbarste
Weise zu einem Bahá’í-Pilger über dieses Thema sprechen hören.
Ich wollte, ich könnte Ihnen den hundertsten Teil dessen vermitteln, was
er sagte, und den Geist, in dem er es sagte. Jener Pilger beklagte sich, er
sei nicht recht glücklich in der Bahá’í-Gemeinde, in der er jetzt lebe; aber
in der Gemeinde, in welcher er zuvor den Glauben angenommen habe,
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sei er überaus glücklich gewesen. Er sagte: „Ich liebe sie nicht und ich
kann nicht sehen, daß ich auch nur das Geringste mit ihnen gemein hätte.“
Shoghi Effendi antwortete: „Das ist ganz natürlich. Wir sind sehr verschieden
voneinander. Wie können wir da einander lieben? Es kann nicht
jeder von uns die ganze Zeit alle anderen lieben, das ist ganz natürlich.“
Er fuhr fort: „Es gibt einen Weg, dies zu tun, und das ist durch die Liebe
zu Gott.“ Und er erklärte dies: „Wenn Kinder ihren Vater lieben, stimmen sie
doch oft als Brüder und Schwestern unter sich nicht überein; sie mögen dem
Temperament nach recht verschieden sein, sie können einander nicht leiden und
streiten sich. Aber aus der Liebe zu ihrem Vater heraus und weil sie wissen,
daß ihr Vater jeden von ihnen liebt, von dieser Vaterliebe her werden
sie auch ihre Brüder und Schwestern lieben. Bahá’u’lláh zuliebe
können wir einander mit wirklicher Liebe begegnen, es hängt nur
davon ab, wie sehr wir Bahá’u’lláh lieben.“
Ich bin ein einfacher Mensch und kann mich oft besser durch das ausdrücken, was ich erlebt habe. Deshalb möchte ich Ihnen von einer Erfahrung erzählen, die ich seit meinem Aufenthalt in Indien gemacht habe. Sie war eine Lehre für mich und hat mit diesem Thema zu tun. Ich liebe Bahá’u’lláh; ich bin dessen nicht würdig, aber ich liebe Ihn, und ich kann aufrichtig sagen, daß ich meine Mit-Bahá’í liebe. Auf einer Station dieser Reise jedoch geschah es, daß ich durch die Haltung eines bestimmten Bahá’í drauf und dran war, richtig hochzugehen. Sie wissen, ich war an Hunderten von Orten, deshalb kann niemand von Ihnen erraten, wo dies passiert ist. An jenem Abend ging ich in mein Zimmer und sagte zu mir: „Ich kann diesen Menschen wirklich nicht mehr aushalten. Er ist fürchterlich.“ Und ich darf hinzufügen, daß ich allerhand Gründe für dieses Gefühl hatte. Ich mußte einen der schwersten Kämpfe mit mir selbst austragen, die ich in vielen Jahren hatte. Die ganze Zeit ging es
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Auch dieses Jahr Sommerschulen im In- und Ausland
Die deutschen Bahá’í-Sommerschulen finden dieses Jahr in Hofheim/Taunus in der Zeit vom 29. Juli bis 6. August und in Gauting/Oberbayern vom 2. bis 8. Juli statt. Anmeldungen nimmt schon jetzt der Nationale Lehrausschuß, 7 Stuttgart, Parlerstraße 50 (Frau Erna Schmidt), entgegen. Hofheim liegt in unmittelbarer Nähe des ersten europäischen Hauses der Andacht in Langenhain. Sommerschulen sind außerdem in zahlreichen europäischen Ländern geplant. Auskunft erteilt das Sekretariat des Nationalen Geistigen Rats der Bahá’í in Deutschland, 6 Frankfurt/Main, Westendstraße 24.
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mir so, wie es jedem anderen Menschen ergangen wäre: Ich hatte ständig
vor Augen, was dieser Mensch gesagt und was er getan hatte; dies ging
mir im Kopf herum, und ich wurde zornig. Ich sagte zu mir: So geht es
nicht. Erstens handelt es sich um einen guten Bahá’í. Er liebt seinen
Glauben, er dient ihm, einerlei wie er dich oder diesen oder jenen behandelt
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hat, oder was er gesagt und getan hat. Er ist ein guter Bahá’í und liebt
Bahá’u’lláh. Und weiter sagte ich zu mir: Der ganze Zweck der Lehren
Bahá’u’lláhs ist, Liebe und Einheit zu schaffen, und wenn du dein Herz
nicht weit genug Öffnen kannst, um diesen Bahá’í-Bruder darin aufzunehmen
und ihn zu lieben, weil Bahá’u’lláh ihn liebt und weil er dein
Mit-Bahá’í ist, wo bleibt dann der Friede in der Bahá’í-Gemeinschaft,
wo ist dann unsere Einheit? Und ich war wütend und wälzte mich im
Bett herum und sagte: Ich will diesen Kerl nicht in meinem Herzen
aufnehmen. Aber das genügte mir nicht, und ich flehte: Bitte, Bahá’u’lláh,
hilf mir! Jetzt brauche ich wirklich Hilfe. Bitte nimm dieses Gefühl des
Zornes aus meinem Herzen. Bitte laß mich meinen Bahá’í-Bruder lieben,
wie es sich gehört. Bitte laß mich alle Glieder dieser Gemeinschaft lieben,
denn sonst ist diese Bahá’í-Einheit ein Witz, ein Possenspiel, und wir
werden sie nie in dieser Welt zustandebringen. Und, Gott sei Dank,
Bahá’u’lláh half mir, und ich habe diese Schlacht mit mir selbst gewonnen.
Aber glauben Sie mir, Freunde, es war einer der schlimmsten Kämpfe,
die ich seit vielen Jahren auszustehen hatte, und ich weiß, daß ich jetzt
ein besserer Bahá’í bin als ich es war, bevor dies geschah, und daß ich
jetzt mehr Kraft für das nächste Mal habe, wenn ich wieder geprüft
werde und mit mir kämpfen muß. Was mich dazu befähigte, so zu reagieren,
war zweierlei: die Liebe zu Bahá’u’lláh und das Gebet zu Ihm,
Er möge mir helfen, ein guter Bahá’í zu sein...
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aus „Amatu’l-Bahá visits India“ von Violette Nakhjavani, Bahá’í Publishing Trust, P.O.B. 19, New Delhi, 0. J., S. 137 ff.
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Die „BAHA’I-BRIEFE“ werden vierteljährlich herausgegeben vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland e. V., 6 Frankfurt, Westendstraße 24. Alle namentlich gezeichneten Beiträge stellen nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers oder der Redaktion dar.
Redaktion: Dipl.-Volksw. Peter A. Mühlschlegel, 6104 Jugenheim, Goethestraße 14, Telefon (0 6257) 21 33, und Dieter Schubert, 7022 Leinfelden, Fliederweg 3, Telefon (07 11) 79 35 35.
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