Bahai Briefe/Heft 27/Text

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BAHÁ'I-

BRIEFE


BLÄTTER FÜR

WELTRELIGION UND

WELTBEWUSSTSEIN



AUS DEM INHALT:


Ansprache ‘Abdu’l-Bahás

Wie ich zur Bahá’í-Religion fand

Dr. Hutten zum „Proklamationsjahr“: ein „Kommentar“ und eine Stellungnahme

Buchbesprechung


JANUAR 1967 HEFT 27

D 20 155 F


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Jeder Vers,
den diese Feder offenbarte,
ist ein strahlendes und glänzendes Tor,
das die Herrlichkeiten eines heiligen
und gottesfürchtigen Lebens
und reiner, fleckenloser Taten enthüllt.
Niemals sollten die Ermahnungen und Botschaften,
die Wir gaben,
nur ein Land oder ein Volk
erreichen und begünstigen.
Die Menschheit als Ganzes
muß entschlossen dem folgen,
was ihr geoffenbart und gewährt wurde.
Dann und nur dann
wird sie zu wahrer Freiheit gelangen.
Bahá’u’lláh


(Sendschreiben über die Welt, Ährenlese XLIII)


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Umfassende Erneuerung[Bearbeiten]

Eine Ansprache von ‘Abdu’l-Bahá am 25. Mai 1912 in Boston

Bald werde Ich aus eurer Stadt weggehen, aber Mein Herz lasse Ich bei euch. Mein Geist wird hier sein; Ich werde euch nicht vergessen. Ich bitte darum, daß ihr aus dem Königreich Bahá’u’lláhs Bestätigung erlanget. Ich bete dafür, daß ihr immerfort an geistiger Aufnahmefähigkeit wachset, daß ihr Tag für Tag strahlender werdet und Gott näher kommt, bis ihr Seine Werkzeuge für die Erleuchtung der Menschenwelt seid. Möge euch die Bestätigung aus dem Reiche Gottes umfangen. Das ist Meine Hoffnung, Mein Gebet.

In den Augen der Geschichtsforscher ist dieses strahlende Jahrhundert so wertvoll wie hundert Jahrhunderte der Vergangenheit. Wenn man den Vergleich zur Summe aller früheren menschlichen Errungenschaften zieht, wird man feststellen, daß die Entdeckungen, der wissenschaftliche Fortschritt und die materielle Zivilisation unseres gegenwärtigen Jahrhunderts den Ergebnissen und Fortschritten von hundert früheren Jahrhunderten gleichkommen, ja bei weitem überlegen sind. Allein die Produktion von Büchern und Sammlungen auf literarischem Gebiet beweist, daß das Ergebnis menschlicher Geistestätigkeit in diesem Jahrhundert größer war und aufklärender wirkte als in allen Jahrhunderten der Vergangenheit zusammengenommen. Es liegt deshalb auf der Hand, daß dieses Jahrhundert von überragender Bedeutung ist. Denkt über die Wunder nach, die es bereits zuwege gebracht hat, die Entdeckungen in jedem Bereich menschlichen Forschens, die Erfindungen, die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die ethischen Reformen und Verhaltensregeln, die zum Wohle der Menschheit begründet wurden, die entschleierten Geheimnisse der Natur, die unsichtbaren Kräfte, die sichtbar gemacht und gebändigt wurden — eine wahre Wunderwelt neuer Erscheinungen und dem Menschen bisher unbekannter Lebensbedingungen ist jetzt für seinen Gebrauch und seine weiteren Forschungen erschlossen. Ost und West können in Sekundenschnelle miteinander in Verbindung treten. Der Mensch kann sich in die Himmel aufschwingen und in die Meerestiefen hinabtauchen. Die Dampfkraft hat die Kontinente aneinandergekettet. Züge durchqueren Wüsten und durchstoßen Gebirgswände; Schiffe finden unfehlbar ihre Bahn auf den weglosen Weltmeeren. Tag für Tag nehmen die Entdeckungen zu. Was für ein wundervolles Jahrhundert ist dies!

Es ist ein Zeitalter umfassender Erneuerung. Staatsverfassungen und Bürgerrechte sind in einem Prozeß der Wandlung und Umformung begriffen. Wissenschaften und Künste werden in neue Formen gegossen. Die Gedankenwelt wird umgestaltet. Die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft ändern sich und gewinnen an Kraft.

[Seite 671] Heutzutage sind die Wissenschaften der Vergangenheit nutzlos. Das ptolemäische System der Sternkunde, zahllose andere Systeme und Theorien wissenschaftlicher oder philosophischer Weltdeutung sind aufgegeben, als falsch und wertlos erkannt worden. Ethische Grundsätze und Präzedenzfälle können nicht mehr auf die Bedürfnisse der modernen Welt angewandt werden. Die Gedanken und Theorien vergangener Jahrhunderte sind heute unfruchtbar. Throne und Regierungen zerbrechen und stürzen. Alle Zustände und Erfordernisse der Vergangenheit, die für die Gegenwart nicht passen oder ausreichen, machen eine radikale Reform durch.

Es ist deshalb klar, daß gefälschte und unterschobene religiöse Lehren, veraltete Glaubensformen und vorväterliche Nachahmungen, die den Grundlagen der göttlichen Wahrheit widersprechen, ebenfalls verschwinden und ersetzt werden müssen. Sie müssen aufgegeben werden; die neuen Verhältnisse müssen gewürdigt werden. Die sittlichen Vorstellungen der Menschenwelt müssen sich ändern. Ein neues Heilmittel, eine neue Lösung für menschliche Probleme muß übernommen werden. Selbst der menschliche Geist muß sich wandeln und der umfassenden Erneuerung unterwerfen. Wie die Gedanken und Hypothesen vergangener Zeitalter heutzutage unfruchtbar sind, so sind auch die von Menschen erdachten Dogmen und Gesetzbücher auf dem Gebiet der Religion überholt und wertlos. Nein, es ist wahr, daß sie Feindschaften verursachen und zu Streit in der Menschenwelt führen; Krieg und Blutvergießen gehen auf sie zurück, und die Einheit der Menschheit wird in ihrem Brauchtum nicht anerkannt. Darum ist es in diesem strahlenden Jahrhundert unsere Pflicht, den Wesenskern der Religion Gottes zu erforschen, die Grundwahrheiten zu suchen, auf denen die Einheit der Menschenwelt aufgebaut ist, und die Quelle des Gemeinschaftsgeistes und des Verständnisses, die die Menschheit in dem himmlischen Bund der Liebe vereinigen wird, zu entdecken. Diese Einheit ist der Lichtglanz der Ewigkeit, die göttliche Geistnatur, die Ausstrahlung Gottes und die Gnadengabe Seines Königreiches. Wir müssen die göttliche Quelle dieser himmlischen Segnungen ergründen und uns standhaft daran halten; denn wenn wir uns auf menschliche Erfindungen und Dogmen beschränken, wenn wir an sie gefesselt bleiben, wird die Menschenwelt Tag für Tag tiefer erniedrigt: Tag für Tag werden dann Krieg und Streit zunehmen, teuflische Kräfte werden sich zusammenballen, um die menschliche Rasse zu vernichten.

Soweit in einer Familie Liebe und Verständnis herrschen, wird sie Fortschritte machen, erleuchtet und durchgeistigt werden; wenn es in ihrer Mitte aber Haß und Feindschaft gibt, ist es unausbleiblich, daß diese Familie in die Brüche geht und sich auflöst. Das gleiche gilt von einer Stadtgemeinde. Wenn diejenigen, die in ihren Mauern wohnen, den Geist der Eintracht und Verbundenheit an den Tag legen, wird die Stadt unaufhörlich Fortschritte machen und immer herrlichere Lebensbedingungen bieten, wogegen sie durch Zank und Feindschaft herabsinkt, bis sich ihre Einwohner in alle Winde zerstreuen. Durch Liebe und Einigkeit entwickeln sich auch die Angehörigen einer Nation zu einer aufgeklärten Kultur, während sich ihr Staatswesen durch Krieg und Hader zersetzt. [Seite 672] Diese Wahrheit gilt zuguterletzt auch für die Menschheit als Ganzes. Wenn die Liebe zur Wirklichkeit wird, wenn ideelle, geistige Bande die Herzen der Menschen vereinen, dann wird die ganze menschliche Rasse emporgehoben, die Welt wird unablässig weiter erleuchtet und durchgeistigt, das Glück und der Seelenfrieden der Menschheit werden ins Unermeßliche wachsen. Kriege und Kämpfe werden ausgerottet werden, Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten werden verschwinden und der Größte Friede wird die Völker und Nationen der Welt vereinen. Die ganze Menschheit wird wie eine Familie beieinanderwohnen, wird sich wie die Wellen eines Meeres vermischen, strahlend wie die Sterne eines Himmelszeltes, wie die Früchte desselben Baumes. Dies ist die Bestimmung und das Glück der Menschheit. Dies ist menschliche Erleuchtung, ewige Herrlichkeit und Unsterblichkeit, die Gabe Gottes an alle Menschen. Ich wünsche diese Stufe für euch und bete zu Gott, daß das Volk Amerikas dieses große Ziel erreichen möge, damit die Vorzüge dieser Demokratie sichergestellt werden und ihre Vorkämpfer ewigen Ruhm erlangen. Mögen ihnen die Bestätigungen Gottes in allen Dingen Kraft verleihen; möge ihr Andenken so werden, daß es im Osten wie im Westen Verehrung findet. Mögen sie die Diener des allerhöchsten Gottes werden, Ihm liebwert und nahe in der Einheit des himmlischen Königreiches.

Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh erduldete sechzig Jahre der Mühsal und Heimsuchung. Es gibt keine Verfolgung, kein Schicksalsschlag und kein Leid, das Ihm nicht von Seinen Feinden und Unterdrückern zugefügt worden wäre. Die ganzen Tage Seines Lebens verbrachte Er in Not und Drangsal, einmal im Kerker, dann in der Verbannung, manches Mal in Ketten. Bereitwillig nahm Er alle diese Schwierigkeiten auf sich, der Einheit der Menschheit zuliebe. Er betete darum, daß die Menschenwelt die Ausstrahlung des Göttlichen erkennen möge, daß die Einheit der Menschheit zur Wirklichkeit werde, daß Krieg und Streit aufhören und alle zu Ruhe und Frieden finden. Im Gefängnis pflanzte Er das Banner menschlicher Solidarität auf und verkündete den Größten Frieden, indem Er an die Könige und Herrscher der Nationen schrieb, sie zu internationaler Einigkeit ermahnte und zu schiedsgerichtlicher Beratung aufrief. Sein Leben war ein Wirbel von Verfolgung und Trübsal; aber Katastrophen, Schicksalsschläge und Heimsuchungen hinderten Ihn nicht, Seine Sendung und Seine göttliche Aufgabe zu erfüllen. Nein, im Gegenteil: Seine Macht wuchs und wuchs, Seine Wirkung und Sein Einfluß nahmen zu und dehnten sich aus, bis Sein Licht herrlich im ganzen Orient erstrahlte, bis Liebe und Einheit begründet waren und die einander widerstrebenden Religionen ein Zentrum der Verbindung und Versöhnung gefunden hatten.

Deshalb müssen auch wir uns auf diesem Pfad der Liebe und des Dienstes mühen. Wir müssen unser Leben und Besitztum hingeben, unsere Tage in Ergebenheit verbringen und alle unsere Kräfte der Sache Gottes weihen, auf daß mit Gottes Hilfe das Banner eines allumfassenden Glaubens in der Menschenwelt errichtet und die Einheit der Menschheit begründet werde.

[Seite 673] In euren Herzen habe Ich den Widerschein einer wunderbaren, großen Liebe bemerkt. Die Amerikaner haben Mir alle gleichermaßen Freundlichkeit entgegengebracht, und Ich hege eine tiefe geistige Liebe für sie. Ich freue Mich über die Aufnahmebereitschaft eurer Herzen. Ich will für euch beten und um göttlichen Beistand bitten; dann will Ich euch Lebewohl sagen:

O mein Gott! O mein Gott! Wahrlich, diese Diener wenden sich Dir zu und flehen zum Königreich Deiner Gnade. Wahrlich, sie sind hingezogen zu Deiner Heiligkeit und entzündet vom Feuer Deiner Liebe; sie suchen Bestätigung aus Deinem wunderbaren Königreich und hoffen, Dein Himmelreich zu erlangen. Wahrlich, sie sehnen sich nach dem Kommen Deiner Gnadengaben und streben nach Erleuchtung durch die Sonne der Wahrheit. O Herr! Mache sie zu leuchtenden Lampen, zu gnadevollen Zeichen, zu fruchtbaren Bäumen und zu strahlenden Sternen. Lasse sie in Deinem Dienst hervortreten und mit Dir verbunden sein durch die Bande Deiner Liebe, in Sehnsucht nach dem Lichte Deiner Gunst. O Herr! Mache sie zu Wegweisern der Führung, zu Bannern Deines unvergänglichen Königreiches, zu Wogen auf dem Meere Deiner Gnade, zu Spiegeln für das Licht Deiner Erhabenheit. Wahrlich, Du bist der Großmütige! Wahrlich, Du bist der Barmherzige! Wahrlich, Du bist der Herrliche, der Vielgeliebte!


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Aus „The Promulgation of Universal Peace“, Wilmette/Ill., USA, 1922/1943, S. 134 ff.



Suchet, so werdet ihr finden[Bearbeiten]

Wie ich zur Bahá’í-Religion fand | Von Gene W. Christ

Zwei gegensätzlichen Einflüssen ist der Wahrheitssucher ausgesetzt: Der erste ist das Verlangen nach einem Glauben, der zufriedenstellende Antworten bietet, oder das Bemühen, das geistige Blickfeld zu erweitern. Der zweite ist die Schwierigkeit, etwas Neues, Ungewohntes anzunehmen; diese Schwierigkeit erwächst aus den Lebensumständen, aus Befürchtungen, aus Strenggläubigkeit, Vorurteilen und falsch verstandenen Treuepflichten.

Das Folgende ist der kurze Bericht eines Kampfes zwischen diesen beiden entgegengesetzten Einflüssen; es handelt sich um ein recht persönliches Zeugnis.

Meine Suche nach Wahrheit begann auf den Knien meiner Mutter: Ich erhielt viele Fragen beantwortet und lernte, wie viel Sicherheit, Kraft und Segen das Gebet gibt. Ich lernte das Wort Gottes lieben. Damit begann für mich ein Leben der Ergebenheit gegenüber Christus und des Dienstes am Glauben Gottes. Schon früh führte mich mein Glaube zum [Seite 674] Lehren, später zu einem regen Interesse für die vergleichende Religionswissenschaft und schließlich zum Studium der Philosophie und der Metaphysik.

Meine Studien in Religionsvergleichen begannen, nachdem ich einige Monate in China und Japan zugebracht und aus eigener Anschauung erfahren hatte, wie unzulänglich und widerwärtig Religionen werden können, wenn sie mit Aberglauben, zersetzenden Gebräuchen und Teufelskulten vermischt sind. Zu jener Zeit wußte ich noch nichts von „Fortschreitender Gottesoffenbarung“. Wer mit dieser Gesamtschau des Heilsplans Gottes für die geistige Erziehung der Menschheit vertraut ist, mag meinen Mangel an Überblick seltsam finden, Ich muß hinzufügen, daß wir in der Methodistenkirche, in der ich aufwuchs, gelehrt wurden, es gebe nur eine Quelle der Offenbarung, nämlich das Alte und das Neue Testament. Mehr noch, es wurde uns beigebracht, daß alle anderen Religionen primitiv und heidnisch seien. In der Missionsgesellschaft lernten wir alles über die verderbten, entwürdigenden Riten der Hindus, über die mörderischen Eroberungen der Muhammadaner und ihre Verheißungen eines widerwärtig sinnlichen Himmels. Von diesem dürftigen Wissen ausgehend, verurteilte ich viele Jahre lang von vornherein die nichtchristlichen Religionen. Und als ich an der George-Washington-Universität Philosophie bei einem Professor hörte, der gleichzeitig Geistlicher bei den Baptisten war und sich an eine enge Orthodoxie gebunden fühlte, wurden die Vorurteile, in die ich verstrickt war, noch kräftig verstärkt.

Mit diesem Professor setzte ich meine Studien bis weit in die Bereiche der Metaphysik hinein fort; später im gleichen Jahr besuchte ich mit meinem Mann meine Tochter, die einige Zeit zuvor Bahá’í geworden war. Da sie wußte, wie sehr ich mich um philosophische und religiöse Fragen bemühte, sagte sie schon bald nach unserer Ankunft: „Mutter, hier ist die wahre Philosophie. Sie bringt die Antwort auf alle deine Fragen.“

Man kann sich vorstellen, daß wir den ganzen Abend über den Bahá’í-Glauben gesprochen haben. Ich war mir sofort bewußt, daß ich dies alles genau untersuchen mußte. Ich mußte wissen, ob Bahá’u’lláh eine Manifestation Gottes war, und ob seine Schriften tatsächlich die Offenbarung Gottes für unsere Zeit enthielten.

Vor dem Schlafengehen sagte ich zu meinem Mann: „Ich habe solch ein seltsames Gefühl. Mir ist, als wäre ich eine Jüdin und man hätte mir soeben von Christus erzählt. Ich muß daran denken, wie viele von diesen jüdischen Frauen die herrliche Erfahrung, Christus zu begegnen, versäumt haben, weil sie sich von Ihm abkehrten. Ich wollte keine von ihnen sein.“

So begann ich gleich am nächsten Morgen, Fragen zu stellen und zu lesen. Aber ich gewann keine Klarheit; es war als wären mein Sinn und meine Seele mit Schleiern bedeckt, die mir die geistige Aussicht nahmen.

Als ich las, Bahá’u’lláh sei als Muhammadaner aufgewachsen, war ich drauf und dran, das Buch beiseitezulegen; aber ein unstillbares Verlangen [Seite 675] trieb mich weiter; ich fuhr fort, immer interessiert, immer voll von Zweifeln, und doch fand ich immerzu Antworten auf die vielen Fragen, die ich stellte.

Einige Wochen später kehrte ich heim und nahm an der ordentlichen Mitgliederversammlung unserer kirchlichen Missionsgesellschaft teil. Ich war nicht besonders aufmerksam bei der Sache, bis ich hörte, wie der Vorsitzende die Rednerin des Abends als „eine Missionarin aus Persien“ einführte. Ich will nicht versuchen, über ihren Vortrag zu berichten; aber auf dem Höhepunkt ihrer Ausführungen rief sie mit starker Gefühlsbewegung aus: „Hunderte von Millionen Muhammadaner gibt es, und sie werden niemals von der christlichen Religion erfaßt werden. Nie werden sie das Christentum annehmen.“

In diesem Augenblick war mir, als ob die Wahrheit ihrer bestürzenden Feststellung einen der Schleier meiner Vorurteile verbrannt habe. Wenn ein Volk Führung benötigt und dafür vorbereitet ist, so wurde mir plötzlich klar, dann wird Gott eine heilige Seele aus der Mitte dieses Volkes berufen, durch die Er Seine Offenbarungen verkündet.


Die Prophezeiungen Christi

Ich hatte „The Chosen Highway“ 1) gelesen. In diesem Buch geht eine englische Dame der Geschichte der drei Hauptgestalten der Bahá’í-Religion nach, der Geschichte des Báb (des Vorläufers), Bahá’u’lláhs (des Offenbarers) und ‘Abdu’l-Bahás (dessen Sohn). Ich hatte dieses Buch ausgewählt, weil ich das Zeugnis eines Außenstehenden über die Ansprüche und über das Leben dieser drei Persönlichkeiten haben wollte. Außerdem las ich „Tahirih the Pure, Iran’s Greatest Woman“2), den Bericht einer Amerikanerin über das Leben einer der frühen Märtyrerinnen des Glaubens, und „Beantwortete Fragen“ von ‘Abdu’l-Bahá. Noch bevor ich “The Chosen Highway“ aus der Hand legte, erwachte in mir eine unerschütterliche Liebe zu ‘Abdu’l-Bahá. Dies war ein großer Schritt vorwärts zu meinem Ziel.

Zu den Faktoren, die mich nach der Wahrheit suchen ließen, gehörten meine Erfahrungen als Gemeinderat einer Methodistenkirche. Bei den Beratungen jenes Gremiums beobachtete ich Dinge, die mich äußerst verdrießlich machten und die ich mit meinem Gewissen nicht unterstützen konnte. So legte ich mein Amt sehr gegen den Wunsch meines Pastors nieder. Auch war ich Zeuge von Erfahrungsberichten christlicher Geistlicher über Lehrfeldzüge, in denen tauben Ohren gepredigt wurde. Ich hörte sie offen sagen, sie wüßten nicht, wie es mit der Menschheit weitergehen sollte, oder welche Lösung es für die Wirrnis der heutigen Welt gäbe. Dies war zugleich mein wunder Punkt, wenn ich als Lehrerin vor einer großen Klasse der Abendschule für Frauen stand. Immer stärker fühlte ich ein beängstigendes Verlangen nach Antworten, nach mehr Klarheit. Mein Herz suchte nach einer machtvollen Stimme. Aber bei dem Gedanken, aus der Kirche auszutreten und Bahá’í zu werden, schnürte mir meine christliche Strenggläubigkeit fast den Atem ab. Die dichten Schleier vor meinen Augen drohten jedes Bemühen zu lähmen.

[Seite 676] Jeden Abend fühlte ich mich unwiderstehlich zu den wundervollen „Gebeten und Meditationen“ Bahá’u’lláhs hingezogen, und nach und nach festigte sich in mir die Überzeugung, daß ein Mensch, der so hohe Gedanken zu Ende denken und so reine, begeisternde Gebete in Worte kleiden kann, eine heilige Seele sein müsse, daß Er sicherlich nicht lügen könne, daß Er die Wahrheit gesagt haben müsse, als Er beschrieb, was Ihm geschah.

Seit vielen Jahren war ich mit den Verheißungen und Prophezeiungen Christi im Johannesevangelium vertraut: „Und wenn derselbige kommt, der wird die Welt strafen um die Sünde und um die Gerechtigkeit und um das Gericht... Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht von ihm selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, das wird er euch verkündigen. Derselbige wird mich verklären....“ (Joh. 16. 8, 13-14).

Es war mir gesagt worden, dies beziehe sich auf den Heiligen Geist, und zutiefst in meine Seele eingegraben war die Behauptung, den Heiligen Geist zu lästern sei eine unverzeihliche Sünde, So berührte es mich zunächst fast mit Schrecken, hier eine menschliche Person an die Stelle dieses „Geistes der Wahrheit“, des Heiligen Geistes, treten zu sehen. Also zurück zur Bibel, aber auch zu den Bahá’í-Schriften und -Gebeten, und nach tief empfundenen Bitten um Führung, nach langem Nachdenken kam ich zu der Einsicht, daß sich jene Bibelstellen unmöglich auf den Heiligen Geist ohne die menschliche Hülle beziehen können. Wieder war ein Stück von den Schleiern um mich durch die Macht des Wortes verzehrt worden. Der nächste Schritt brachte mich zu der Gewißheit, daß Bahá’u’lláh der Verheißene ist.

Ich nahm die Prophezeiungen Christi Vers für Vers durch, und ich fand diese: „Er wird die Welt strafen.“ Nie zuvor sind so erschütternde und gewaltige Sendschreiben an die Herrscher der Welt und ihre geistlichen Oberhäupter geschrieben worden, wie sie aus der Feder Bahá’u’lláhs in seiner Gefängniszelle strömten.

„Er wird euch in alle Wahrheit leiten.“ Bahá’u’lláh brachte die alte Wahrheit und bekräftigte und erläuterte sie aufs neue; aber Er brachte auch neue, wundervolle Wahrheiten über das unbekannte neue Zeitalter vor uns. Er entfaltete eine neue Weltordnung, die allen Nöten und Bedürfnissen der heutigen Menschheit gerecht wird. Auf den sicheren Grund der geoffenbarten Wahrheit des Wortes Gottes aufbauend, führt Er uns tatsächlich „in alle Wahrheit“ und zu der geistigen Schau, die allein die Welt retten kann.

„Er wird nicht von Sich selber reden.“ In dem Gefängnis, zu dem Er um Seines Anspruches willen lebenslänglich verdammt war, schrieb Bahá’u’lláh, indem Er sich an Gott wandte: „Aus meiner Feder strömt nur der Befehl, den Deine erhabenste Feder geäußert hat und meine Zunge spricht nichts aus, als was der allerhöchste Geist im Reiche Deiner Ewigkeit ausgerufen hat. Nichts rührt meine Seele an außer den Winden [Seite 677] Deines Willens, und mein Atem trägt keine Worte als jene, welche Deine Ermächtigung und Eingebung mich auszusprechen heißen“ 3).

„Was zukünftig ist, das wird er euch verkündigen.“ Die Prophezeiungen Bahá’u’lláhs, von denen sich viele bereits erfüllt haben, sind tatsächlich eine „Verkündigung des Zukünftigen“. Und als ich mir bewußt wurde, daß diese erfüllten Verheißungen weitgehend das Ergebnis der göttlich bestimmten Entfaltung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse während der letzten anderthalb Jahrhunderte waren, festigte sich in mir die Überzeugung, daß Gott der Urheber dieser Prophezeiungen war.

„Er wird mich verklären.“ In der ganzen mir bekannten Literatur gibt es kein herrlicheres Zeugnis für die Stufe Jesu Christi als dasjenige aus der Feder Bahá’u’lláhs: „Wisse, daß die ganze Schöpfung in großer Trauer weinte, als der Menschensohn Seinen Geist zu Gott aufgab. Indem Er sich selbst opferte, wurde allem Erschaffenen eine neue Fähigkeit eingeflößt. Die Beweise hierfür, die sich in allen Menschen der Erde dartun, sind nun vor dir offenbar. Die tiefste Weisheit, welche die Weisen zum Ausdruck gebracht haben, die gründlichste Gelehrsamkeit, die irgend ein Geist entfaltet hat, die Künste, welche die fähigsten Hände hervorgebracht haben, der Einfluß, der durch die allmächtigsten Herrscher ausgeübt wurde, sind nur Offenbarungen der belebenden Macht, die durch Seinen überragenden, Seinen alldurchdringenden und strahlenden Geist entfesselt wurde“ 4). Aus diesen Worten gewann ich die Gewißheit, daß Bahá’u’lláh kein Antichrist sein kann.


Die Stufe des Sohnes und des Vaters

Ich sah, daß meine Furcht gegenstandslos war. Meine Treue gegenüber Jesus Christus mußte ich nicht aufgeben, um Bahá’u’lláh anzunehmen. Ich mußte lediglich dem Alten und dem Neuen Testament, denen ich in Liebe verbunden war, ein weiteres Buch hinzufügen: ein modernes Testament, herrlich und allgenügend für dieses Neue Zeitalter. Eine Stelle aus Bahá’u’lláhs Botschaft an den Papst machte mir diese zeitliche Folge klar: Seine Feststellung, daß Christus auf der „Stufe“ des Sohnes gekommen war, während Gott Seinen neuen Boten auf der Stufe des Vaters gesandt hat: „Hüte dich, daß die Finsternis nicht ihre Schleier über dich breite und dich verhülle, fernab von Seinem Lichte... Betrachte jene, die sich dem Sohne (Jesus) widersetzten, als Er zu ihnen mit Macht und Herrschaft kam. Wie viele von den Pharisäern warteten darauf, Ihn zu schauen, und wehklagten, weil sie von Ihm getrennt waren! Und doch, als der Wohlgeruch Seines Kommens über sie wehte und Seine Schönheit sich enthüllte, da wandten sie sich von Ihm ab und stritten mit Ihm... Keiner außer ganz wenigen, die jeder Macht bei den Menschen ermangelten, wandte sich Seinem Antlitz zu...“ 5).

Bahá’u’lláh zieht dann eine Parallele zu den Mönchen, die sich heutzutage im Namen Gottes „in ihren Kirchen abgeschlossen haben“ und die, als Gott an diesem Tage Seinen Gesandten offenbarte, Ihn nicht erkannt [Seite 678] haben. Er schreibt: „Das Wort, das der Sohn verbarg, ist offenbar geworden.“ (Man erinnere sich an die Worte Jesu: „Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könntet’s jetzt nicht tragen“, Joh. 16, 12.) Bahá’u’lláh fährt fort: „Es ist herabgesandt worden in Gestalt des Menschentempels am heutigen Tage. Gesegnet sei der Herr, welcher der Vater ist! Er, wahrlich, ist gekommen zu den Völkern in Seiner größten Majestät... Dies ist der Tag, da der Fels (Petrus) ausruft und jauchzt und den Lobpreis seines Herrn, des Allbesitzenden, des Höchsten, verherrlicht mit den Worten: ‚Sehet, der Vater ist gekommen, und was euch verheißen ward in Seinem Reich, das ist erfüllt!‘“5)

Unter dem Eindruck dieser neuen Wahrheit ging ich am nächsten Sonntag in die Kirche. Ich setzte mich ganz vorn und richtete meine Augen auf das liebreiche Antlitz des Christusbildes über dem Altar. Und plötzlich, mit durchdringender Gewißheit, erreichten mich die Worte: „Wegen deiner Treue, wegen deiner Ergebenheit vor mir bist du jetzt vorbereitet für diese größere Wahrheit.“

Das war die Antwort, nach der ich mich gesehnt hatte, um den letzten großen Schritt zu tun. Ich war wie gerädert gewesen, seitdem man mich auf die Stelle in der Offenbarung Johannis verwiesen hatte, wo es über diejenigen, die zuerst heiß und dann kalt sind, heißt: „Gott spie sie aus seinem Munde." Ich hatte mich als eine dieser „verworfenen Seelen“ gefühlt. Aber jetzt brachten mir diese Worte der Zusicherung die Gewißheit, angenommen zu sein.

Als ich in der folgenden Nacht in den „Gebeten und Meditationen“ las, fand ich Gottes Botschaft für mich. Die Worte kamen mir von der Buchseite entgegen und entflammten mich: „Laß meine Gebete ein Feuer sein, das die Schleier verbrennt, welche mich von Deiner Schönheit trennen, und ein Licht, das mich in Deine Gegenwart führt.“ Schließlich war ich in die Herrlichkeit Seiner Gegenwart gelangt! Beim Einschlafen kam mir die Erinnerung an Worte, die ich als Kind oft von meiner Mutter hörte: „Aber wenn du hinfort den Herrn deinen Gott suchst, wirst du Ihn finden. Du mußt Ihn von ganzem Herzen und aus ganzer Seele suchen.“

Gene W. Christ


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aus "World Order. The Bahá’í Magazine“, S. 88 ff., Wilmette/Ill., USA, Juni 1947.

1) Lady Blomfield (Sitárih Khánum), “The Chosen Highway“, Wilmette/Ill., USA., o.J.
2) Martha Root, “Táhirih the Pure, Iran’s Greatest Woman“ (vergriffen)
3) Bahá’u’lláh, „Gebete und Meditationen“, Frankfurt/Main 1963, Nr. 66
4) „Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs“, Frankfurt/Main 1961, XXXVI
5) zitiert in Shoghi Effendi, „Der verheißene Tag ist gekommen“, Sonne der Wahrheit, 18. Jg. 1948, S. 187.


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„Proklamationsjahr“ der Bahá’í

Bahá’u’lláh in unserer Zeit[Bearbeiten]

Eine Klarstellung zu einem „Kommentar“ von D. Dr. Hutten


Der Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Stuttgart, Kirchenrat D. Dr. Kurt Hutten, hat sich in der Ausgabe vom 15. Oktober 1966 des von ihm periodisch herausgegebenen „Materialdienst“ u.a. mit Auszügen aus einem Referat befaßt, das unser Redaktionsmitglied Dieter Schubert im April vergangenen Jahres anläßlich der Nationaltagung der deutschen Bahá’í-Gemeinde in Frankfurt/Main gehalten hatte. Dieses Referat war, stellenweise stark gekürzt, im August 1966 in den „Bahá’í-Nachrichten“, dem internen Mitteilungsblatt des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Deutschland erschienen. Dr. Hutten hat seine Betrachtungen lediglich auf den Wortlaut in den „Bahá’í-Nachrichten“ gestützt.

Das Referat von Dieter Schubert behandelt das „Proklamationsjahr 1967“ der Bahá’í-Weltgemeinde. Die Bahá’í haben die Zeit ab Herbst 1967 zum „Proklamationsjahr“ erklärt; sie gedenken in diesem Zeitraum der Tatsache, daß Bahá’u’lláh, der Stifter der Bahá’í-Religion und nach Auffassung der Bahá’í der Offenbarer des göttlichen Wortes für unser Zeitalter, im Herbst 1867 Sein, wie Shoghi Effendi, der erste Hüter des Bahá’í-Glaubens, hervorhebt, „denkwürdigstes Sendschreiben“ verfaßte, die „Sure der Könige“. In diesem Sendschreiben hatte Bahá’u’lláh zum ersten Mal Seine Botschaft öffentlich an die weltlichen Herrscher und an die Geistlichkeit in Ost und West gerichtet.

Zu jener Zeit war Bahá’u’lláh Gefangener in den Händen der muhammadanischen Geistlichkeit und der türkischen Regierung im damaligen Adrianopel gewesen. „In Seiner ‚Sure der Könige‘“, so schreibt Shoghi Effendi, „ermahnt Er die Herrscher, Seine Botschaft anzunehmen“, und enthüllt das Wesen Seiner göttlichen Sendung. Er ruft die gekrönten Häupter und die Geistlichkeit aller Bekenntnisse auf, „ihre Zwistigkeiten beizulegen und ihre Rüstungen herabzusetzen“. In seinem richtungweisenden Geschichtswerk „Gott geht vorüber“ betont Shoghi Effendi ferner: „Durch diese Verkündung sollte das Tagesgestirn Seiner Offenbarung nun in seinem höchsten Glanz erstrahlen und sollte Seine Lehre die ganze Fülle ihrer göttlichen Kraft kundtun...“

Zu keinem anderen Zeitpunkt Seiner irdischen Laufbahn, die gekennzeichnet war durch Not, Elend und grenzenloses Opfer, durch 40 Jahre währende Verbannungen und Kerkeraufenthalte, hatte Bahá’u’lláh in so umfassender [Seite 680] Weise in des Wortes wahrster Bedeutung „zu aller Welt“ gesprochen und „in alle Wahrheit“ geleitet. „Niemals seit Anbeginn der Welt ist die Botschaft (Gottes) so öffentlich verkündet worden“, sagt Bahá’u’lláh selbst.

Die Bahá’í-Religion ist heute in nahezu allen Ländern der Erde verbreitet; ihre Anhänger, obgleich in den verschiedensten Rassen und Nationen beheimatet und aus den unterschiedlichsten religiösen Glaubensrichtungen kommend, haben sich zu einer festgefügten Gemeinschaft gefunden, Seitens der islamitischen Geistlichkeit ist der Bahá’í-Religion schon vor Jahren durch Richterspruch der Charakter einer „unabhängigen Religion“ bescheinigt worden, die nicht als „muhammadanische Sekte“ anzusehen sei. Namhafte Theologen aus dem christlichen Bereich haben in jüngster Zeit wiederholt die weltgestaltenden geistigen Potenzen, die dem Glauben und der Lehre Bahá’u’lláhs innewohnen, anerkannt.

*

Wir wollen unseren Lesern die Auffassung von Dr. Hutten nicht vorenthalten und veröffentlichen nachstehend im Wortlaut seine Ausführungen in der angegebenen Nummer seines „Materialdienst“. Die Entgegnung, für die wir die Form eines „Offenen Briefes“ gewählt haben, stammt aus der Feder von Huschmand Sabet und Dieter Schubert.

D. Red.


Hier zunächst der Wortlaut des Artikels, den D. Dr. Hutten in seinem „Materialdienst“ vom 15. Oktober 1966 veröffentlichte:

In einem Referat gedachte Dieter Schubert des „Proklamationsjahrs“ 1867, eröffnet durch die Botschaft an die Könige, in der Bahá’u’lláh in Adrianopel „das Wesen seiner Sendung“ enthüllte und zugleich prophezeite, daß „das Gericht Gottes von allen Seiten über die irdischen Herrscher kommen werde“, wenn sie seine Ermahnungen in den Wind schlagen sollten. Schubert meint, ein Blick auf die Geschehnisse der letzten 50 Jahre im Bereich der Politik zeige deutlich, „wie rasch und unnachgiebig diese Worte Bahá’u’lláhs in Erfüllung gegangen sind“. In der gleichen Sure verkündigte Bahá’u’lláh seinen „Triumph auf Erden“. In unzähligen Schreiben, die er anschließend an alle nur denkbaren Häupter, Herrscher und Führerpersönlichkeiten der Welt richtete, legte er die Tragweite seiner Ansprüche dar. Und was sie enthalten, ist heute, so meint Schubert, in Erfüllung begriffen. Dazu gehöre der Wille zum Frieden, der in der Gegenwart wie kaum je zuvor spürbar sei. „Aber es sind nicht nur politisch einflußreiche Köpfe, die zu neuen Wegen vorstoßen wollen, es sind gleichermaßen, ja, teilweise fast noch leidenschaftlicher Wissenschaftler und Forscher, die ihre Stimmen erheben und Rufer in der Wüste sind. Und es sind — spät zwar — endlich die Kirchen, die sich ihrer ureigensten Aufgabe entsinnen. Diese ‚ideologische Wandlung‘, die sich innerhalb der katholischen Glaubenswelt abzuzeichnen beginnt und die auch innerhalb der protestantischen Kreise nicht ohne Wirkungen bleiben kann, läßt [Seite 681] aufhorchen. Das zweite Vatikanische Konzil hat hier unbestreitbar neue Maßstäbe gesetzt — nicht für uns Bahá’í, etwa in unserem Glaubensleben, aber wir müssen uns damit auseinandersetzen und gewisse Konsequenzen in unserer Arbeit daraus ziehen.“

Schuberts Bemerkungen über die Kirchen zeugen von mangelnder Kenntnis der Sachverhalte und einer hintergründigen Arroganz. Aber es kommt noch besser. Die Bedeutung des Proklamationsjahrs, sagt Schubert, liege in dem Nachweis für die Welt, daß die Basis ihres Handelns allein in der Botschaft Bahá’u’lláhs liegen könne. „Die Bahá’í haben heute mehr denn je die Pflicht, die Arme auszustrecken und Halt und zugleich Wegweiser zu sein. Proklamation in dieser entscheidenden Zeit — das kann nur heißen, konzentriert, gezielt, kompromißlos in der Sache und mit äußerstem Nachdruck, dabei aber klug und mit der gebotenen Noblesse Bahá’u’lláhs Botschaft zu den Menschen zu tragen. Ich habe mitunter den Eindruck, wir scheuten uns ein wenig davor, klipp und klar den Anspruch Bahá’u’lláhs zu vertreten und zu publizieren. Es genügt heute nicht mehr, nur die Lehren Bahá’u’lláhs zu verbreiten und ganz allgemein für Frieden, für Menschenverbrüderung, für Veständigung und Toleranz, für Nächstenliebe und soziale Gerechtigkeit einzutreten. Das tun andere Organisationen inzwischen auch, das schreiben sich die Parteien aufs Panier, und sie versuchen es mit wechselndem Erfolg zu praktizieren. Es ist heute zu wenig, nur eben ‚gut zu sein‘. Natürlich ist das wichtig, entscheidend ist aber, unsere Mitmenschen davon zu überzeugen, daß all diese Veränderungen, die wir erleben, daß all diese tastenden Schritte nach einem echten Frieden, daß all das sich langsam anbahnende Umdenken, daß letztlich all die Fortschritte, die unser Planet auch in wissenschaftlicher und technischer Hinsicht sich erarbeitet, ohne die vor 100 Jahren von Gott durch Bahá’u’lláh auf diese Erde gekommene Botschaft nicht denkbar wären und daß, eben durch Bahá’u’lláh, wir alle nicht nur die Möglichkeit, sondern die Pflicht haben, einen ‚neuen Himmel und eine neue Erde‘ zu schaffen, denn die alten haben sich in der Tat überlebt. So kann man sagen, daß dieses Proklamationsjahr, diese Proklamationsperiode ganz ausgerichtet sein müßte auf die Stellung Bahá’u’lláhs in dieser Zeit, darauf, daß es künftig an ihm kein Vorbeikommen mehr geben kann. Wir können die Welt allerdings nicht zwingen. Bahá’u’lláh anzunehmen; vielleicht zwingen die Verhältnisse die Welt dazu.“

Es scheint, als wünschte Schubert eine neue, eine militante und aggressive Form der Bahá’í-Glaubenswerbung. Einen ideologischen Beitrag dafür hat er selbst geliefert mit seiner These, daß alle Fortschritte und Veränderungen der letzten 100 Jahre ohne Bahá’u’lláhs Botschaft „nicht denkbar wären“. Das ist natürlich eine pure Phantasterei und entbehrt jeder sachlichen Begründung. Schubert nennt als Beispiel „das sich langsam anbahnende Umdenken“ in Richtung Frieden, Menschenverbrüderung usw. Nun, zu den konsequentesten und mächtigsten Trägern dieses Umdenkens rechnet sich der Weltkommunismus. Er geht aber nicht auf Bahá’u’lláh, sondern auf Karl Marx zurück. Schubert mag seinen Anspruch bestreiten, Träger des Friedensgedankens zu sein, und dafür die Friedensbestrebungen [Seite 682] in der westlichen Welt als gültig anerkennen. Aber sie wurzeln in christlichen Motiven oder im Sozialismus oder in der Zeit der Aufklärung, während man Einflüsse Bahá’u’lláhs vergeblich suchen wird. Auch die UN und ihr Vorgänger, der Völkerbund, sind von den Bahá’í zwar freudig begrüßt, aber nicht geschaffen worden. Und was ist gar von der Behauptung zu halten, daß ein Zusammenhang bestehe zwischen der Botschaft Bahá’u’lláhs und „all den Fortschritten“ auch in wissenschaftlicher und technischer Hinsicht? Zu diesen Fortschritten gehören Kernphysik, Atombombe und Weltraumfahrt, gehören die Leistungen auf den Gebieten der Biologie, Chemie, Medizin, Psychologie. Was mögen nur — um wenigstens einige Namen großer Forscher zu nennen — Charles Darwin und Max Planck und Albert Einstein mit Bahá’u’lláh zu tun haben? Sie wurden von ihm weder in ihrer Gesinnung inspiriert, noch in ihrer wissenschaftlichen Forschung gefördert. Und wo ist der Beitrag seiner Botschaft für die Herstellung von Weltraumkapseln?

Man fragt sich: Was will Schubert mit solchen pseudogeschichtlichen Konstruktionen bezwecken? Will er Bahá’u’lláhs Sendung bestätigen, seine Botschaft anpreise? Aber indem er Bahá’u’lláh in die fatale Rolle eines Mannes drängt, der erntet, wo er nicht gesät hat, rühmt er ihn nicht, sondern kompromittiert ihn. Und was will er mit seinem strengen Satz erreichen, daß es künftig an Bahá’u’lláh „Kein Vorbeikommen mehr geben kann“? Er dürfte damit seine prophetische Leistungsfähigkeit überfordert haben. Aber das ist seine Sache, Für die Christen ist wichtiger, daß Schubert mit solchen Worten eine Haltung vertritt, die sich mit dem Geist der von den Bahá’í veranstalteten „Weltreligionstage“ schlechterdings nicht vereinbaren läßt. Es wäre wünschenswert, daß der Nationale Geistige Rat sich mit diesem Widerspruch beschäftigt. Sollte er die Auffassungen Schuberts bestätigen, dann müßte er den Sinn der „Weltreligionstage“ neu definieren — als Veranstaltungen, die den christlichen Teilnehmern zu Gemüte führen wollen, daß sie an Bahá’u’lláh nicht vorbeikommen können —, und er müßte die eingeladenen Kirchen und Glaubensgemeinschaften von dieser neuen Zielsetzung unterrichten.

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Soweit die Äußerungen Dr. Huttens, die selbstverständlich eine eindeutige Erwiderung erheischen. Hier ist sie:

Sehr geehrter Herr Dr. Hutten!

Als Verantwortlicher und Herausgeber des „Materialdienst“ befassen Sie sich in Nr. 20 vom 15. Oktober 1966 kritisch mit einem Referat von Dieter Schubert, gehalten im Zusammenhang mit dem „Proklamationsjahr“ 1967, in dem die Bahá’í in aller Welt der 100jährigen Wiederkehr der Botschaft Bahá’u’lláhs an die Könige, die geistlichen und weltlichen Würdenträger gedenken. Ehe wir uns mit Ihren Einwänden befassen, sei hier die grundsätzliche Stellung der Bahá’í zu den Gottgesandten erläutert. Andernfalls läuft man Gefahr, in verschiedenen Terminologien fruchtlos aneinander vorbei zu reden.

Die Manifestationen Gottes, wie die Stifter der Hochreligionen von den Bahá’í bezeichnet werden, kommen durch unergründlichen göttlichen Ratschluß in verschiedenen Epochen und Zeitaltern auf diese Erde, [Seite 683] ausgestattet mit absoluter göttlicher Autorität, um als die „Mittler nie erschöpfter Gnade Gottes Geist und Willen zu offenbaren“ und „Seinen unwiderstehlichen Glauben“ den Menschen zu verkünden, sie aus ihrer Not und Unvollkommenheit zu erlösen und die Menschheit zu erziehen. „Die Absicht des einen wahren Gottes, als Er sich den Menschen offenbarte, war, die Edelsteine bloßzulegen, die in den Gesteinsadern ihres wahren und innersten Selbstes verborgen liegen“, sagt Bahá’u’lláh. Für die Bahá’í sind die Manifestationen die {{Sperrsatz|}wirklichen} und vollendeten göttlichen Lehrer, durch welche die verborgenen positiven Kräfte in den Menschen entfaltet werden. Jede von ihnen „sitzt“, wie Bahá’u’lláh sagt, „auf dem Throne des ‚Er tut, was Er will‘“.

Die Kette der aufeinander folgenden Manifestationen Gottes bildet eine Einheit. Jede Manifestation ist die Erfüllung der vorangegangenen sowie deren Wiederkunft. Das Postulat der Einheit der Gottgesandten ist der eigentliche Hintergrund für Liebe, Toleranz, Brüderlichkeit und die grundsätzliche geistige Einheit der Menschheit in der Bahá’í-Religion. Die Verkündigung der Einheit Gottes wird zu einer unverbindlichen philosophischen Aussage, wenn man aus ihr nicht unmittelbar die Einheit der Manifestationen Gottes ableitet. In diesem Sinne schreibt Bahá’u’lláh: „Hütet euch, o ihr, die ihr an die Einheit Gottes glaubt, daß ihr nicht versucht werdet, einen Unterschied zwischen den Manifestationen Seiner Sache zu machen oder eines der Zeichen, die ihre Offenbarung begleitet und verkündet haben, herabzusetzen. Dies ist in der Tat die wahre Bedeutung göttlicher Einheit, so ihr zu denen gehört, die diese Wahrheit begreifen und an sie glauben!“ (Ährenlese XXIV).

In diesem Lichte werden die theologischen Auseinandersetzungen der verschiedenen Religionen, die sich häufig um die Stellung des „Propheten“ oder des „Sohnes Gottes“ in Abgrenzung zu den anderen Religionsstiftern drehen, gegenstandslos. Bahá’u’lláh warnt ausdrücklich davor, die Zeichen und Merkmale, welche die Sendung begleiten, zum Maßstab für die Beurteilung des jeweiligen Offenbarers zu machen. Vom Bahá’í-Standpunkt aus ist es z. B. absolut unverständlich, wenn viele namhafte Theologen behaupten, Christus habe sich in der nahen Erwartung des Weltuntergangs geirrt, oder wenn sie glauben, ihm in der einen oder anderen Frage Unwissenheit zuschreiben zu können. Auch die Art und Weise, wie in der Theologie verschiedene Merkmale wie Geburt und Kreuz usw., die das Leben des Gottgesandten begleiten, zum Glauben schlechthin deklariert werden, können die Bahá’í nicht teilen. Für sie sind die Gottgesandten von Hause aus über jeden Zweifel, jede Kritik und über jeden von Menschen erfundenen Maßstab erhaben. Die Gottgesandten sind nach den Worten Bahá’u’lláhs als „strahlende Edelsteine der Heiligkeit vom Reiche des Geistes her in der edlen Form des menschlichen Tempels (Körpers) erschienen... “ und sind „ohne Ausnahme die Träger Seiner Namen und die Verkörperungen Seiner Eigenschaften“ (vgl. „Die Sendung Bahá’u’lláhs“, S. 25). Von uns Menschen unterscheiden sie sich nach ihrer Stufe, wie wir Menschen uns der Stufe nach von den Tieren oder die Pflanzen sich vom Mineral unterscheiden. Wenn man die Einheit der Gottgesandten und ihre erhabene Stellung begriffen hat, [Seite 684] dann scheitert man weder an den Worten Christi: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“, — was alle Gottgesandten von sich mit Recht behaupten —, noch braucht man den Wiederkunftsgedanken, der das tragende Element in den Evangelien ist, durch Konflikte mit dem falsch verstandenen Absolutheitsanspruch ins Unwirkliche und Spekulative zu verweisen.

In einem völlig anderen Licht erscheinen dann auch solche Worte Christi wie: „Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen“ (Joh. 16, 12,13) oder: „Es kommt aber die Zeit, daß ich nicht mehr in Bildern mit euch reden werde, sondern euch frei heraus verkündigen von meinem Vater“ (Joh. 16, 25). Gleichfalls wird jenes Christus-Wort: „Ich gehe hin und komme wieder zu euch“ (Joh. 14, 28) in seinem wahren Sinn verständlich.

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Daß hier so ausführlich die Grundgedanken der Einheit der Gottgesandten und, vom Ursprung her gesehen, die Einheit der Religionen beleuchtet wurde, war wohl notwendig, weil Sie, Herr Dr. Hutten, als Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen sich in gewissem Sinn berufsmäßig mit der Bahá’í-Religion beschäftigen und Ihr Werk „Seher, Grübler, Enthusiasten“ ein Standardwerk ist. In diesem Buch widmen Sie 35 Seiten der Bahá’í-Religion, ohne mit einem Wort ihr wichtigstes Glaubenselement zu erwähnen, nämlich die grundsätzliche Einheit der göttlichen Manifestationen. Setzte man die Einheit der Gottgesandten voraus, so würde sich alles, was Sie Dieter Schubert zum Vorwurf machen, von selbst auflösen.

Erstens: Bei der zentralen Bedeutung der Gottesoffenbarung, von der die Menschheitsentwicklung schlechthin abhängt, wirken die positiven Kräfte und Impulse, die von den Manifestationen ausgehen, in zweifacher Art: einmal über die Ergriffenen und Gläubigen, die durch persönliche Wandlung und allmähliche Entfaltung des neuen Menschenbildes und seiner Ideale einen immer größer werdenden Einfluß ausüben, ungeachtet aller Hindernisse, die zu bewältigen, und aller Opfer, die zu erbringen sind; zum andern vermag das schöpferische Wort des Gottgesandten sämtliches Geschehen auf der Erde so zu beeinflussen, daß Seine Lehren zur Richtschnur für die Entwicklung der gesamten Menschheit werden, ohne daß der größte Teil der Menschen zunächst einmal die Offenbarung wahrgenommen oder gar begriffen hat.

In der Bahá’í-Religion wird die Manifestation Gottes häufig mit der Sonne verglichen. Wenn die Sonne am Horizont erscheint, wird es nicht nur dort hell, wo die Sonnenstrahlen unmittelbar auftreffen, sondern auch dort, wo die Strahlen nicht sofort Einlaß finden. Für einen aufmerksamen Beobachter ist alles Leben auf der Erde von den Sonnenstrahlen abhängig. Bahá’u’lláh sagt in den „Worten der Weisheit“: „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im [Seite 685] Reich der Gedanken abhängt. Es ist der Geist der Wirklichkeit und das Wasser des Lebens. Ihm verdanken alle Dinge ihr Dasein.“ Er sagt weiter: „Alle Dinge der Welt erheben sich durch den Menschen und sind in ihm offenbar. .. Und der Mensch hängt in seinem geistigen Dasein von der Sonne des Wortes Gottes ab.“

Die Bahá’í glauben also, daß jede Art von geistigem, intellektuellem, wissenschaftlichem und kulturellem Fortschritt direkt oder indirekt dem ewigen und lebendigen Wort Gottes zuzuschreiben ist. Wenn die Sonne der Wahrheit zu scheinen aufhörte, ginge die Menschheit geistig zugrunde. Dieses religiöse Bekenntnis ist in letzter Zeit von seiten der großen Denker und Geschichtsphilosophen bestätigt worden. So zeigen uns die Untersuchungen des englischen Kulturhistorikers A. J. Toynbee, daß jede Kultur eine religiöse Grundlage hatte; während die Kulturen der Vergangenheit entstanden und vergingen, hat die Religion einen fortschreitenden Charakter.

Wenn Sie das, was Bahá’u’lláh an Lehren und Prinzipien vor etwa 100 Jahren offenbarte, genau studieren und die Gesamtentwicklung seither verfolgen, werden Ihnen die Ausführungen von Dieter Schubert nicht mehr als Phantasterei erscheinen; vielmehr kann hier ein gläubig denkender Mensch eine Entwicklung erkennen, die auf das schöpferische „Werde“ zurückgeht. Bahá’u’lláh sagt unmißverständlich: „Die Zeit muß kommen, da die gebieterische Notwendigkeit zur Abhaltung einer ausgedehnten und allumfassenden Versammlung der Menschen universal erkannt werden wird. Die Herrscher und Könige der Erde müssen ihr unbedingt beiwohnen und, an ihren Beratungen teilnehmend, solche Wege und Mittel erwägen, die den Grund zum Größten Weltfrieden unter den Menschen legen. Ein solcher Friede erfordert, um der Ruhe der Völker der Erde willen, daß die Großmächte sich zu völliger Versöhnung untereinander entschließen. Sollte ein König die Waffen gegen einen andern ergreifen, so müssen sich alle vereint erheben und ihn daran hindern.“ (Ährenlese CXVII).

Ist es Phantasterei, wenn die Bahá’í das Zustandekommen von Völkerbund und UN, zu dem sie nachweislich auch unmittelbare Beiträge geleistet haben, auf die, wie Marcus Bach formuliert, „mystische Gegenwart Bahá’u’lláhs“ zurückführen und diese Institutionen zunächst einmal als eine Vorstufe und unvollkommene Verwirklichung einer weltumfassenden gesetzgebenden Körperschaft, eines Weltschiedsgerichtshofs und einer Weltexekutivgewalt, wie sie in den Schriften Bahá’u’lláhs verankert sind, deuten? Ist es nicht eine allzu materialistische Deutung des Weltgeschehens, wenn man die großen Forscher, wie Darwin, Planck und Einstein unbedingt außerhalb des religiösen Einflusses — Religion im weitesten Sinn verstanden — sehen will? Ist es nicht so, daß in den vergangenen 100 Jahren auf allen Gebieten Entwicklungen zu verzeichnen sind, die diese Epoche durch und durch als eine neue Epoche herauskristallisieren? Was spricht dagegen, daß diese bei allen als eine neue Epoche empfundene Zeit ihre Impulse von einer neuen Gottesoffenbarung empfangen hat? [Seite 686]

Zweitens: Sie nehmen Dieter Schubert übel, daß er erklärt hat, man könne in unserer Zeit nicht mehr an Bahá’u’lláh vorbeikommen. Beim richtigen Verständnis der Einheit der Manifestationen Gottes bedeutet ein Vorbeigehen an Bahá’u’lláh „Verrat“ an allen vorangegangenen Gottgesandten. In diesem Sinne hat auch Jesus die Juden belehrt: „Hättet ihr an Moses geglaubt, so würdet ihr Mich erkennen“. Wie unzulänglich die Maßstäbe der heutigen Theologie zur Prüfung des Wahrheitsanspruches von Bahá’u’lláh sind, mag man daran ermessen, daß z.B. in der Evangelischen Kirche kaum ein Glaubenspostulat existiert, das nicht innerhalb der Kirche selbst umstritten ist. Vielleicht werden wir in den nächsten Jahren sogar Zeuge dessen sein, wie die „wesentlichsten“ Teile des Glaubensbekenntnisses gestrichen werden.

In diesem Prozeß der Wandlung sollte man viel demütiger und nicht versucht sein, Bahá’u’lláh, der den Anspruch einer Manifestation Gottes erhebt, mit den Maßstäben irgendeiner theologischen Richtung zu messen. Die katholische Kirche hat sich vor allem unter Papst Johannes XXIII. vieles von den Forderungen Bahá’u’lláhs zu eigen gemacht und versucht, ihre dogmatische Lehre den Gegebenheiten der heutigen Zeit anzupassen. Dr. Ugo Giachery weist nach, daß es keinen Gedankengang in der beachtenswerten Enzyklika „Pacem in terris“ gibt, der nicht 100 Jahre zuvor in umfassender Form von Bahá’u’lláh ausgesprochen worden ist (vgl. „BAHA’I-BRIEFE“ 23/ Jan. 1966). Freilich hat die katholische Kirche diese „Zusammenhänge“ bislang nicht dargelegt. Papst Pius IX. war aber einer der Empfänger jener Sendschreiben gewesen, die Bahá’u’lláh in den Jahren 1867/68 an die damaligen Herrscher der Welt gerichtet hatte.

Drittens: Der von den Bahá’í veranstaltete Weltreligionstag ist dazu bestimmt, das Verbindende in den Religionen herauszustellen und auf der Basis der gemeinsamen Wahrheiten aller Hochreligionen neue Maßstäbe für Verständnis und Toleranz aus gemeinsamer Verantwortung heraus zu erarbeiten. Die Bahá’í begehen diesen Tag also nicht etwa aus „taktisch-propagandistischen“ Erwägungen, sondern einfach deshalb, weil hier ein Bestandteil des Bahá’í-Glaubens dokumentiert werden soll. Nicht raffinierte, an die neue Philosophie erinnernde Theologien vermögen ein echtes Verständnis herbeizuführen, sondern die Haltung, daß man in Demut auf den Ursprung und die allen Hochreligionen innewohnenden gemeinsamen Wahrheiten zurückgreift und sich dort zusammenfindet. In gewissem Sinn ist der Weltreligionstag ein Spiegelbild der Bahá’í-Andacht, in der ohne menschliches Beiwerk aus den für die Bahá’í heiligen Schriften aller Hochreligionen gelesen wird.

„O ihr Menschenkinder“, sagt Bahá’u’lláh, „die grundlegende Absicht, die den Glauben Gottes und Seine Religion beseelt, ist, die Belange der menschlichen Rasse zu schützen, ihre Einheit zu fördern und den Geist der Liebe und Kameradschaft unter den Menschen zu pflegen. Laßt sie nicht zu einem Quell der Uneinigkeit und des Mißklangs, des Hasses und der Feindschaft werden... Unsere Hoffnung ist, daß sich die religiösen Führer der Welt und ihre Herrscher vereint für die Neugestaltung dieses Zeitalters und die Wiederherstellung seines Friedens erheben mögen. [Seite 687] Laßt sie... zusammen beratschlagen und in bedachtsamer und voller Überlegung einer kranken und schwer heimgesuchten Welt das Heilmittel darreichen, das sie erheischt.“

Der Ruf Bahá’u’lláhs ist in keiner Weise eklektisch oder synkretistisch. Der Weltreligionstag ist keine Aufforderung an die Theologen verschiedener Religionen und Konfessionen, Kompromisse zu schließen. Der Sinn ist vielmehr, daß wir bescheiden werden und durch eigene Meinungen und Theologien nicht versucht werden, die Autorität des lebendigen Wortes Gottes herauszufordern. Die Absicht des Weltreligionstages ist zu lernen, was man seit Jahrtausenden leider zu erlernen versäumt hat: daß es nicht nötig ist, Muhammad zu erniedrigen, um Christus zu erhöhen, Zarathustra zu verleumden, um unsere Liebe zu Moses zu beweisen. „Wir dürfen nicht“, sagt ‘Abdu’l-Bahá, „in den Taten und Handlungen der Völker nach Wahrheit suchen; wir müssen die Wahrheit an ihrer göttlichen Quelle suchen und alle Menschen zu Einigkeit in der wahren Wirklichkeit ermahnen“.

Viertens: Die Art und Weise, wie Sie zu den in den „Bahá’í-Nachrichten“ erschienenen Auszügen des Referats von Dieter Schubert Stellung nehmen, deutet darauf hin, daß dieses Referat für Sie ein Ärgernis gewesen ist. Dieses Ärgernis wäre Ihnen bestimmt zu ersparen gewesen, wenn Sie der wiederholten Bitte des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Deutschland, unser ausdrücklich als intern bezeichnetes Nachrichtenblatt nicht in Ihrem „Materialdienst“ zu verwerten, sondern sich der Ihnen zur Verfügung gestellten Informationen zu bedienen, Folge geleistet hätten.

Lassen Sie uns diese Stellungnahme mit einem Wort Bahá’u’lláhs beenden, das wir alle ohne Vorbehalt akzeptieren können: „Die Hand der Allmacht hat Seine Offenbarung auf einen unverletzlichen und bleibenden Grund gestellt. Stürme menschlichen Streites vermögen ihre Grundfesten nicht zu schwächen, noch werden die Trugschlüsse der Menschenhirne ihrem Aufbau schaden können.“ („Die Sendung Bahá’u’lláhs“, S. 19).

Mit freundlichen Grüßen
Huschmand Sabet, Dieter Schubert


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Wahrlich, Ich sage: Dies ist der Tag, da das Menschengeschlecht das Angesicht des Verheißenen schauen und Seine Stimme vernehmen wird. Gott hat Seinen Ruf erhoben, und das Licht Seines Antlitzes ist über den Menschen aufgegangen. Es ziemt einem jeden, die Spuren aller eitlen Worte von der Tafel seines Herzens zu löschen und mit offenen, unvoreingenommenen Sinnen auf die Merkmale Seiner Offenbarung, die Beweise Seiner Sendung und die Zeichen Seines Glanzes zu schauen.
Bahá’u’lláh
Ährenlese VII
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[Seite 688]











Auch im vergangenen Jahr kamen die deutschen Bahá’í an vielen Plätzen der Bundesrepublik zu Lehrtagungen zusammen. Auf regionaler Ebene wurden dabei Gedanken ausgetauscht und Anregungen vermittelt. Unser Bild entstand bei einem Treffen in Aachen, an dem auch belgische Bahá’í teilnahmen.


[Seite 689]



NEU AUF UNSEREM Büchertisch[Bearbeiten]

Zwischen Synkretismus und Selbstisolierung

W.A. Visser’t Hooft, „Kein anderer Name. Synkretismus oder christlicher Universalismus?“ Basileia Verlag, Basel 1965, 134 S. Ln. DM 9,80.

„Für den Frieden zwischen den Kirchen und der Welt“, so und ähnlich lauteten die Schlagzeilen, unter denen die deutsche Presse im September 1966 über die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an die beiden Protagonisten der Einheitsbestrebungen zwischen den großen christlichen Konfessionen, Augustin Kardinal Bea, den Präsidenten des vatikanischen Sekretariats für die Förderung der Einheit der Christen, und Pastor D. Willem A. Visser’t Hooft, den seitherigen Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, berichtete. Es war eine glanzvolle Demonstration des guten Willens, des Bemühens um Verständigung zwischen den christlichen Kirchen. Und über die Kirchen hinaus?

„Uns kann nur geholfen werden, wenn unser Egoismus, Provinzialismus und Nationalismus überwunden wird“, sagte Visser’t Hooft in seiner Dankrede für den Friedenspreis, „überwunden wird von einer Wirklichkeit, die größer ist als Ego, Provinz und Nation und die uns so beherrscht, daß wir bereit sind, Opfer für sie zu bringen.“ Diese Wirklichkeit heißt für ihn christlicher Universalismus. Ihn darzustellen und gegen andere, nichtchristliche Universalismen abzugrenzen, hat er sich in dem vorliegenden Buch, das aus einer Vorlesungsreihe in Amerika entstand, zur Aufgabe gemacht.

Instruktiv und aufschlußreich ist der systematische Aufbau des Werks, das sich zunächst um eine Definition des Synkretismus bemüht. Nachdem er verschiedene Lehrmeinungen behandelt hat, kommt er zu dem Ergebnis, „es handelt sich bei dieser Anschauung um die Behauptung, daß es in der Geschichte überhaupt keine einmalige Offenbarung gibt, sondern nur viele verschiedene Wege, um zur göttlichen Wirklichkeit zu gelangen, daß alle Formulierungen religiöser Wahrheit oder Erfahrung ihrem Wesen nach ein unzureichender Ausdruck der einen Wahrheit sind und daß es notwendig ist, alle religiösen Ideen und Erfahrungen so weit wie möglich zu harmonisieren, um für die Menschheit eine Universalreligion zu schaffen“ (S. 13; Sperrung vom Rezensenten).

Auf den jüdisch-christlichen Religionskreis bezogen, unterscheidet und beschreibt Visser’t Hooft vier synkretistische Wellen in der Geschichte: Die erste im Jahrhundert vor dem Exil des Volkes Israel deckt sich ungefähr mit der „Achsenzeit“ bei Jaspers; gegen sie erheben die großen Propheten des Alten Testaments ihren Protest. Die zweite Welle fällt in die Blütezeit des römischen Imperiums; vorbereitet durch die Alexanderzüge, reicht sie bis in die Zeit, in der sich das Christentum durchsetzt. Die dritte, deistische Welle wurde durch Renaissance und Aufklärung vorbereitet; einer ihrer vornehmsten Exponenten ist Goethe. Die vierte, gegenwärtige [Seite 690] Welle des Synkretismus basiert auf dem Vordringen der vergleichenden Religionswissenschaft als eines besonderen Erkenntniszweiges und der neuen Schulen der Psychologie; beide Faktoren verhelfen den alten asiatischen Religionen zu neuem Auftrieb. Als typische Beispiele werden auf literarischem Gebiet Walt Whitman, D. H. Lawrence, Carl Gustav Jung mit seinem Bestreben, die Religion als psychotherapeutisches Heilmittel einzusetzen, genannt, in der Geschichtsphilosophie Northrop, Hocking und Toynbee, der nicht der Meinung sei, „daß eine künstliche synkretistische Religion entstehen wird; nachdem er aber den Bahá’í-Tempel in der Nähe Chikagos gesehen hat, fragt er sich, ob dieses wunderbare Bauwerk nicht ein Hinweis auf die Zukunft sei“ (S. 37). Ein weiteres Kapitel behandelt den östlichen Synkretismus der Neuzeit, beginnend mit Akbar dem Großen über Ramakrishna und Vivekenanda zu Gandhi und Radhakrishnan.

Die Bahá’í-Religion wird von dem Verfasser vergleichsweise ausführlich und korrekt erwähnt; aber statt daß sich Visser’t Hooft mit der Lehre auseinandersetzt, „daß religiöse Wahrheit nicht absolut, sondern relativ und die göttliche Offenbarung progressiv ist, daß alle Religionen göttlichen Ursprungs und ihre grundlegenden Prinzipien in Harmonie miteinander sind und alle eine und dieselbe Wahrheit widerspiegeln“, wischt er sie einfach mit der Behauptung vom Tisch, „als Ergebnis dieser erzwungenen Synthese bleibt letztlich nur ein nichtssagender, gemeinsamer Nenner der Religion übrig. Bahai ist darum eine neue zusammengemischte Religion, die die alten Religionen ersetzt“ (S. 45).

Der zweite Teil des Werks behandelt den Kampf des Neuen Testaments gegen den Synkretismus. Es ist ein religionsgeschichtlich interessanter Beitrag zur frühen Lehrtätigkeit der christlichen Gemeinde in ihrer hellenistischen Umgebung. Das Bekenntnis zu Gottes „eingeborenem Sohn, unserem Herrn“ (S. 77) ist die zentrale antisynkretistische Aussage. Die Gnosis als die verfeinerte Form des Synkretismus wurde nach Visser’t Hooft nicht zuletzt durch die Art der Zusammenstellung des Neuen Testaments im 3. und 4. Jahrhundert bekämpft: „Die Entscheidung für den Kanon ist eine Entscheidung gegen den Synkretismus“ (S. 85).

„Können die großen Religionen... eine für die ganze Menschheit annehmbare, gemeinsame Religion ausarbeiten? Nein, denn das würde nur eine andere Form von Selbstmord für sie bedeuten...“ (S. 92), sagt Visser’t Hooft. „Wir müssen die Tatsache akzeptieren, daß wir noch eine ganze Zeit lang in einer Welt leben werden, in der es verschiedene Religionen geben wird“ (S. 96). Die Kirche hat bisher „die wirklichen Fragen des Synkretismus nicht beantwortet... Es ist an der Zeit zu zeigen, daß im Evangelium ein Universalismus sui generis enthalten ist“ (S. 100). Er besteht darin, „alles auf eine Mitte hin zu konzentrieren, auf eine einzige Person... Einer ist für alle gestorben“ (S. 103). Er ist „für die Menschheit als ganze gestorben“. Die Funktion der universalen Kirche ist es, „Überbringer von Gottes universalem Versöhnungsangebot zu sein“ (S. 105). „Christus ist der Mittelpunkt zweier konzentrischer Kreise, des Kreises, der die Kirche darstellt, und des Kreises, der die Menschheit darstellt. Der kleinere Kreis muß immer weiter werden“ (S. 106). „Es gibt keine Universalität, wenn es kein einzigartiges Ereignis gibt“. Daß die Christenheit [Seite 691] in unzählige Lager und Grüppchen gespalten ist, muß bedauert werden, ist aber von zweitrangiger Bedeutung; denn die „Einheit besteht nicht in der Übereinstimmung in unserem Denken oder in der Zustimmung unseres Willens. Sie ist in Jesus Christus selbst gegründet, in Ihm, der lebte, starb und wieder auferstand...“ (S. 111, Edinburger Konferenz 1937). „In dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn allein liegt die Hoffnung der Menschheit“ (S. 113, Stockholmer Konferenz 1925). „An diesem Punkte darf es keinerlei Kompromiß geben“ (S. 118).

Visser’t Hooft empfindet es als „eine merkwürdige Tatsache, daß die Kirche und die Theologen es den humanistischen Philosophen, den Freimaurern, Theosophen oder Bahá’í-Anhängern überlassen haben, die Frage nach der Einheit der Menschheit aufzuwerfen“ (S. 119). Dabei ist im Neuen Testament „die Perspektive der Menschheit immer gegenwärtig... Am Jüngsten Tage werden alle Völker vor seinem Thron versammelt sein“. Der Ausschließlichkeitsanspruch heißt nicht, „daß die christliche Kirche immer eine Haltung des Monologs einnehmen muß“; vielmehr ist ja nach Martin Buber das Wesen des Dialogs nicht, daß „die Partner sich von vornherein darin einig sind, ihre eigenen Überzeugungen zu relativieren, sondern daß beide sich gegenseitig als Personen akzeptieren“ (S. 122). Überzeugten Christen ist es deshalb durchaus möglich, „sogar mit Synkretisten in ein echtes Gespräch einzutreten“. Die Zusammenarbeit mit Andersdenkenden wird gleichwohl rein pragmatisch an den gegebenen Nahzielen orientiert, „die Interessen des Menschen gegen seine alten Feinde Hunger, Krankheit, Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu verteidigen“ (S. 127). Alle Aussagen über den christozentrischen Universalismus bleiben jedoch sinnlos, solange dieser nicht im Leben der Kirche praktiziert wird. „Die Hauptaufgabe aber, unsere Kirchen in jene eine allgemeine Kirche umzuwandeln, als die sie gedacht sind, liegt noch vor uns“ (S. 130).

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Sicherlich wäre es reizvoll, die Widersprüche in diesen Ausführungen einzeln aufzuzeigen. Dem Nichtchristen muß gleich der zentrale Begriff des Christozentrischen Universalismus als eine contradictio in adjecto erscheinen. Handelt es sich nicht eher um das Gegenteil von Universalismus, nämlich Selbstisolierung? Genügt es für einen Dialog wirklich, den Partner als Person voll zu nehmen? Muß man nicht weiter gehen und das Gemeinsame auch in den Grundlagen der Überzeugungen des anderen finden, ehe man darauf hoffen darf, verstehen zu können und verstanden zu werden? “

Wir wollen uns hier auf die eine kritische Bemerkung beschränken, daß Visser’t Hooft völlig danebengreift, wenn er die Lehre Bahá’u’lláhs von der Fortschreitenden Gottesoffenbarung als eine synkretistische Aussage einstuft. Es ist ein großer Unterschied zwischen der Einstellung, daß man Gott einen guten Mann sein läßt und seine Propheten als Lehrer der Menschheit betrachtet, deren Gebote man eigentlich befolgen sollte, und der Lehre, daß diese Offenbarer nach einem universalen Heilsplan Gottes aufeinanderfolgen, um die Lehren und Gebote ihrer Vorläufer weiterzuentwickeln und zu erfüllen und dadurch die Menschheit zu befähigen, [Seite 692] „eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen“ (Bahá’u’lláh, Ährenlese CIX).

Während die synkretistische Aussage von der Gleichwertigkeit der Religionen mit dem Heilsplan und dem Bündnis Gottes nichts anzufangen weiß, läuft die Idee der Fortschreitenden Gottesoffenbarung auf eine klare Stufenfolge hinaus. Um es ganz deutlich zu sagen: Genau so, wie mit dem Kommen Christi die Legitimation der jüdischen Priester und Schriftgelehrten zu Ende war und die Lehren, Gebote und Gesetze des Judentums nur insofern Gültigkeit behielten, als sie von Christus bestätigt wurden, genau so sind seit dem Kommen Muhammads die Lehren, Riten, Dogmen und Institutionen der christlichen Religion nur noch bedingt wahr und gültig. Wer die gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart mit den Lehren und Gesetzen anzupacken versucht, die im Alten und im Neuen Testament niedergelegt sind, gleicht einem Manne, der eine Reise mit dem Kursbuch vom vorvergangenen Winter vorbereitet. Die Stationen, Entfernungen und Symbole sind alle gleich geblieben; aber doch kann es passieren, daß unserem Freund der Zug vor der Nase wegfährt, weil er vorverlegt oder schneller geworden ist.

Vielleicht wäre es doch an der Zeit, die folgenden Worte Bahá’u’lláhs zu prüfen, der dem großen russischen Dichter Tolstoi zufolge den „Schlüssel zum Geheimnis des Universums“ in Händen hält:

„Das Gleichgewicht der Welt schwankt infolge der ausstrahlenden Schwingungen dieser größten und neuen Weltordnung. Die Lebensweise der Menschheit ist in Aufruhr geraten durch das Wirken dieses einzigartigen und wundersamen Planes, desgleichen menschliche Augen noch nie geschaut haben.
Versenkt euch in das Meer Meiner Worte, damit ihr seine Geheimnisse ergründen und die Perlen der Weisheit entdecken möget, die in seinen Tiefen schlummern! Hütet euch, in eurem Entschluß wankend zu werden und die Wahrheit dieser Sache nicht anzunehmen — einer Sache, welche die Möglichkeiten der Macht Gottes enthüllt und Seine höchste Herrschaft errichtet hat! Eilt freudestrahlend zu Ihm! Dies ist der unveränderliche Glaube Gottes, ewig in der Vergangenheit, ewig in der Zukunft. Laßt den, der sucht, zu Ihm gelangen! Wenn Ihn aber jemand zu suchen verschmäht, so genügt sich wahrlich Gott Selbst, und Er ist über jede Abhängigkeit von Seinen Geschöpfen erhaben.
Sprich: Dies ist die untrügliche Waage, die Gott in Händen hält, worauf alle, die im Himmel und auf Erden sind, gewogen werden und ihr Schicksal bestimmt wird — möchtet ihr zu denen gehören, die glauben und diese Wahrheit erkennen! Sprich: Sie hat die Armen bereichert, die Gelehrten erleuchtet und den Suchern den Weg gewiesen, zur Gegenwart Gottes aufzusteigen. Hütet euch, sie zur Ursache des Zankes unter euch zu machen! Steht fest wie ein unverrückbarer Berg in der Sache eures Herrn, des Mächtigen, des Liebenden!“
(Buch der Gesetze, Ährenlese LXX)


Peter Mühlschlegel


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