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BAHÁ'I-
BRIEFE
BLÄTTER FÜR
WELTRELIGION UND
WELTBEWUSSTSEIN
AUS DEM INHALT:
Das Konzil und die Einheit
Eine Ansprache ‘Abdu’l-Bahas
Bahá’i-Gemeinschaft ist keine Kirche
Sommerschulen 1966
OKTOBER 1966 HEFT 26
D 20 155F
Dies ist der Tag, von Gott zu sprechen, Sein Lob zu verkünden und Ihm zu dienen; beraubt euch dessen nicht. Ihr seid die Buchstaben der Worte, ihr seid die Worte des Buches. Ihr seid die Triebe, die die Hand der Güte in den Boden der Barmherzigkeit pflanzte und die die Schauer der Großmut zum Blühen brachten. Er hat euch vor den Stürmen des Unglaubens und den Unwettern der Gottlosigkeit behütet, und Er hat euch mit den Händen Seiner liebenden Vorsehung großgezogen. Jetzt ist es für euch an der Zeit, Blätter zu treiben und Früchte zu tragen. Die Früchte am Baume des Menschen sind seit eh und je edle Taten und ein lobenswerter Charakter. Vorenthaltet diese Früchte den Achtlosen nicht! Werden sie angenommen, ist euer Ziel erreicht und der Zweck des Lebens erfüllt. Wo nicht, da überlaßt jene ihrem Zeitvertreib, leeren Wortstreit zu führen.
- Bahá’u’lláh
- (Brief an den Sohn des Wolfes, S. 38)
Die Quelle der Einheit[Bearbeiten]
Ansprache 'Abdu'l-Bahás in New York am 16. Juni 1912
Was ist wirklich Einheit? Wenn wir die Menschenwelt betrachten, stellen
wir fest, daß die Einheit in vielerlei gemeinsamen Eigenschaften zum
Ausdruck kommt. Zum Beispiel unterscheidet sich der Mensch vom Tier
durch seine Stufe, sein besonderes Reich in der Schöpfung. Dieser
umfassende Unterschied schließt die ganze Nachkommenschaft Adams ein
und schafft eine große Gemeinschaft, eine menschliche Familie;
wir können sie als die grundlegende oder natürliche Einheit
der Menschheit bezeichnen. Des weiteren gibt es Unterschiede zwischen
verschiedenen Gruppen von Menschen nach ihrer Abstammung; jede Gruppe
bildet eine von den anderen getrennte rassische Einheit. Es besteht auch die
Einheit der Sprache zwischen Menschen, die dieselbe Sprache als
Verständigungsmittel gebrauchen; die nationale Einheit, wenn verschiedene
Völker unter einer einzigen Regierungsform, der französischen, deutschen
oder britischen usw., leben; schließlich die politische Einheit, welche den
Parteien oder Gruppierungen desselben Staates ihre Bürgerrechte gewährleistet.
Alle diese Einheiten sind imaginär und ohne wirkliche Grundlage,
weil sie zu keinen wirklichen Ergebnissen führen. Der Sinn wahrer
Einheit ist, daß sie wirkliche, göttliche Früchte trägt. Die erwähnten
begrenzten Einheiten bringen nur begrenzte Ergebnisse hervor, während
die unbegrenzte Einheit unbegrenzte Früchte zeitigt. So führt z.B. die
Einheit der Rasse oder der Nation allenfalls zu begrenzten Ergebnissen.
Es ist, wie wenn eine Familie ganz allein und auf sich gestellt lebt; dies
kann nicht zu unbegrenzten, umfassenden Ergebnissen führen.
Die Einheit, die unbegrenzte Erfolge hervorbringt, ist in erster Linie
eine Einheit der Menschheit, die von der Erkenntnis ausgeht,
daß alle unter der alles überschattenden Herrlichkeit des Allherrlichen
Schutz finden, daß alle die Diener eines Gottes sind; denn alle
atmen dieselbe Luft, leben auf der gleichen Erde, bewegen sich unter demselben
Himmel, nehmen die Strahlen derselben Sonne auf und stehen
unter dem Schutz eines Gottes. Dies ist die größte Einheit, und
ihre Ergebnisse sind von Dauer, wenn die Menschheit daran festhält. Aber
bis jetzt hat die Menschheit diese Einheit gebrochen und ist an sektiererischen
oder sonstwie begrenzten Einheiten wie denen der Rasse, des
Vaterlands oder des Eigennutzes hängen geblieben; deshalb ist es zu
keinen großen Ergebnissen gekommen. Dennoch ist es sicher, daß die
strahlenden Gunstbeweise Gottes allumfassend sind: Der menschliche
Geist hat sich entwickelt, seine Wahrnehmungen sind klar und scharf
geworden, Wissenschaften und Künste sind weit verbreitet, und es
besteht Aufnahmefähigkeit für die Verkündigung und Verbreitung der
wirklichen, höchsten Einheit der Menschheit, die zu wundervollen
Ergebnissen führen wird. Sie wird alle Religionen versöhnen, kriegerische
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Nationen Liebe lehren, feindselige Könige zu Freunden machen und der
Menschenwelt Glück und Frieden bringen. Sie wird den Osten und den
Westen aneinanderschmieden, die Ursachen des Krieges für immer
beseitigen und das Banner des „Größten Friedens“ aufrichten. Alle
begrenzten Einheiten sind deshalb Zeichen dieser großen Einheit, welche
die menschliche Familie zusammenführen wird, indem sie die Anziehungskräfte
im Bewußtsein der Menschheit wirksam werden läßt.
Eine weitere Einheit ist die geistige Einheit, die vom Odem des Heiligen Geistes ausgeht. Sie ist größer als die Einheit der Menschheit. Die menschliche Einheit oder Solidarität läßt sich mit dem Körper vergleichen, während die Einheit aus dem Odem des Heiligen Geistes die Seele ist, welche den Körper belebt. Dies ist eine vollkommene Einheit. Sie bewirkt derartige Verhältnisse in der Menschheit, daß einer für den anderen Opfer bringt, daß es zur höchsten Sehnsucht wird, das Leben und alles, was dazugehört, zum Wohle anderer hinzugeben. Es ist die Einheit, die unter den Jüngern Seiner Heiligkeit Jesu Christi bestand, die Einheit, welche die Propheten und Heiligen der Vergangenheit miteinander verband. Unter dem Einfluß des göttlichen Geistes durchdringt diese Einheit die Bahá’í so sehr, daß jeder bereit ist, sein Leben für den anderen hinzugeben und in völliger Aufrichtigkeit danach zu streben, des anderen Zuneigung zu gewinnen.
Dies ist die Einheit, die in Persien zwanzigtausend Menschen in Liebe und Ergebung ihr Leben hingeben ließ, Sie machte den Báb zur Zielscheibe für tausend Pfeile und ließ Bahá’u’lláh vierzig Jahre der Verbannung und Kerkerhaft erdulden. Diese Einheit ist der wahre Geist, der den Körper der Welt beseelt, ohne ihren erneuernden Einfluß kann der Körper der Welt niemals zu frischem Leben erweckt werden. Seine Heiligkeit Jesus Christus — möge mein Leben ein Opfer für Ihn sein — verbreitete diese Einheit unter den Menschen. Jede Seele, die an Jesus Christus glaubte, wurde durch diesen Geist zu neuem Leben erweckt und erneuert, um so den Zenith ewiger Herrlichkeit zu erreichen, das ewige Leben zu erwerben, wiedergeboren zu werden und zum Gipfel der Glückseligkeit aufzusteigen.
Die Sonne und der Spiegel
Im Wort Gottes gibt es noch eine andere Einheit, die Einheit der Manifestationen Gottes, Seine Heiligkeit Abraham, Moses, Jesus Christus, Muhammad, der Báb und Bahá’u’lláh. Dies ist eine göttliche, himmlische, strahlende, allbarmherzige Einheit, die eine Wirklichkeit, welche in ihren aufeinanderfolgenden Offenbarungen in die Erscheinung tritt. Die Sonne z.B. ist eine und dieselbe, aber ihre Aufgangsorte sind verschieden. Im Sommer beginnt sie ihre Bahn hoch im Norden, im Winter erscheint sie weit im Süden, und dazwischen erhebt sie sich jeden Monat in einem anderen Tierkreiszeichen. Obwohl diese Aufgangsorte verschieden sind, ist es dieselbe Sonne, die sich von ihnen erhebt. Die Bedeutung dieses Sinnbilds ist, daß die Wirklichkeit der Prophetenschaft von der Sonne symbolisiert wird, während die heiligen Manifestationen die Aufgangsorte sind.
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Schließlich gibt es die göttliche Einheit oder Wesenheit, die
über alles menschliche Begreifen erhaben ist. Sie kann nicht verstanden
oder vorgestellt werden, da sie eine unbegrenzte Wirklichkeit ist und
nicht begrenzt werden kann. Der menschliche Verstand ist nicht fähig,
diese Wirklichkeit zu umgreifen, weil alle seine Gedanken und Vorstellungen
begrenzte, intellektuelle Schöpfungen und nicht die Wirklichkeit
des Göttlichen sind, die allein sich selbst erkennen kann. Wenn wir uns
z.B. die Vorstellung machen, das Göttliche sei eine lebendige,
allmächtige, selbstbestehende, ewige Wesenheit, ist das nur ein Begriff,
wie ihn die verstandliche Wirklichkeit des Menschen erfassen kann. Es wäre
nicht einmal die äußere, sichtbare Wirklichkeit, die zu begreifen oder zu
umfassen die Macht des menschlichen Verstands überstiege. Wir selbst haben
eine äußerliche, sichtbare Wesenheit, aber sogar unsere Vorstellung von
ihr ist das Produkt unseres eigenen Gehirns und unserer begrenzten
Auffassungsgabe. Die Wirklichkeit der Gottheit ist geheiligt über diese
Stufe des Wissens und der Vergegenwärtigung. Sie war allezeit in ihrer
eigenen Heiligkeit, hoch über unserem Begriffsvermögen, verborgen und
verschlossen. Aber obgleich sie unsere Vorstellung übersteigt, sind doch
ihre Strahlungen, Segnungen, Spuren und Vorzüge in der Wirklichkeit
der Propheten offenbar geworden, wie die Sonne aus verschiedenartigen
Spiegeln zurückstrahlt. Diese heiligen Wesen sind wie Spiegel, und die
Wirklichkeit der Gottheit ist wie die Sonne; auch wenn sie von den
Spiegeln zurückgestrahlt wird, auch wenn ihre Tugenden und Vollkommenheiten
in diesen Spiegeln leuchtend hervortreten, neigt sich die Sonne
doch nicht von ihrer erhabenen, herrlichen Stufe hernieder und sucht
Obdach in den Spiegeln; sie verbleibt in ihrer himmlischen Unversehrtheit.
Lediglich ihr Licht wird in den Spiegeln oder Manifestationen offenkundig
und sichtbar.
So sind die Wohltaten, die von diesen Spiegeln ausgehen, ein und dieselben, auch wenn der Empfänger dieser Wohltaten viele sind. Dies ist die Einheit Gottes, dies ist die Einzigkeit — die Einheit des Göttlichen, geheiligt über Aufstieg oder Niedergang, Verkörperung, Vorstellung oder Verklärung; die göttliche Einheit und die Propheten als ihre Spiegel, die ihr Licht offenbaren. Ihre Vorzüge strahlen aus den Spiegeln wider, aber die Sonne der Wirklichkeit steigt niemals von ihrer erhabenen Stufe hernieder. Dies ist Einheit, Einzigkeit, Heiligkeit; dies ist die Verherrlichung, durch die wir Gott anbeten und preisen.
- O mein Gott! O mein Gott! Wahrlich, dies sind Diener an der Schwelle Deiner Gnade und Mägde am Tore Deiner Einheit. Wahrlich, sie haben sich in diesem Tempel versammelt, um sich Deinem herrlichen Antlitz zuzuwenden, um sich an den Saum Deines Gewandes und an Deine Einzigkeit zu halten, Dein Wohlgefallen zu suchen und in Dein Königreich aufzusteigen. Sie empfangen Strahlen von der Sonne der Wirklichkeit in diesem herrlichen Jahrhundert, und sie sehnen sich nach Deinem Wohlwollen in allen wichtigen Angelegenheiten. O Herr! Erleuchte ihre Augen mit der Schau Deiner Zeichen und Deiner Reichtümer. Belebe ihre Ohren mit dem Klang Deines Wortes. Lasse ihre Herzen erfüllt sein von Deiner Liebe und erfreue ihren Geist durch die Begegnung mit Dir. Verleihe ihnen, ich bitte Dich, die Gaben des Geistes auf Deiner Erde und in Deinem Himmel, und mache sie zu Zeichen der Einheit unter Deinen Dienern, auf daß die wirkliche Einheit erscheine und alle eins werden in Deiner Sache und in Deinem Königreich. Wahrlich, Du bist der Großmütige! Wahrlich, Du bist der Herr der Macht und des Geistes! Du bist der Barmherzige, der Gnädige!
- —————
Aus “The Promulgation of Universal Peace“, Wilmette/Ill., USA, 1922/1943, S. 183 ff.
Das Konzil und die Einheit[Bearbeiten]
Gedanken zum Bemühen der Kirchen | Von Daniel Schaubacher
Abgesehen von den ewig Gleichgültigen, hat das zweite ökumenische Konzil des Vatikans viele aufgerüttelt. Man hat von einem der markantesten Ereignisse des 20. Jahrhunderts gesprochen, einem „Aggiornamento“ der Kirche, einer Öffnung der Christenheit gegenüber der Dritten Welt, einer Versöhnung mit den anderen Religionen. Wenn die Bahá’í heute von der Einheit der Religionen sprechen, wie sie Bahá’u’lláh mit dem Anspruch, der Träger des göttlichen Willens für unser Zeitalter zu sein, vor hundert Jahren verkündete, bekommen sie von unbefangenen Gesprächspartner oft als Kommentar zu hören: „Ist das nicht das, worum sich alle bemühen? Die Religionen kommen zusammen. Sehen Sie das Vatikanische Konzil, die Enzykliken des Papstes, die Sekretariate für die Atheisten und für die nichtchristlichen Religionen, den Ökumenischen Rat der Kirchen usw...“
Für den Laien ist religiöse Einheit durchaus vorstellbar, wünschenswert und oft gar eine messianische Hoffnung. Vor dem Theologen, der sich zweifellos ebenso brennend nach Einheit sehnt, erhebt sich eine Unmenge von Hindernissen. Als der Papst den ehrwürdigen Patriarchen des Ostens umarmte, mochte diese Geste in den Augen des Laien ungeheure Bedeutung annehmen. Aber jenen beiden Dienern desselben Propheten Gottes wird der Weg zur Einheit und zur endgültigen Versöhnung ein Dornenpfad werden, der mit beiderseitigen Opfern und Zugeständnissen übersät ist; beide sind Kirchenfürsten der gleichen Religion, aber beide haben eine Menge verschiedenartiger Überlieferungen und Dogmen zu respektieren. Die kommenden Jahre werden zeigen, inwieweit die christlichen Kirchen an ihren Traditionen festhalten und inwieweit sie sich einer gemeinsamen Sache anpassen können.
In den Kreisen der reformierten Kirchen fand das Zweite Vatikanische
Konzil ein positives Echo. Dennoch konnte Lukas Vischer, der Sprecher
und Konzilsbeobachter des größten protestantischen Verbandes, des
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Ökumenischen Rats der Kirchen, nicht umhin, das Konzil in das richtige
Bezugssystem zu stellen, wenn er in einem Interview beim Schweizerischen
Fernsehen hervorhob, daß die große Versammlung in Rom vor allem anderen
eine interne Angelegenheit der römisch-katholischen Kirche sei.
Neu, so fügte er hinzu, sei der Dialog, der zwischen der römischen Kirche
und den anderen angeknüpft worden sei. „Früher hatte man immer den
Eindruck, Rom würde sich niemals offiziell an der ökumenischen Bewegung
beteiligen. Diese Situation hat sich völlig verändert, als im Jahre 1959
das Konzil angekündigt wurde.“ Der Protestant, der ungefähr 200 Millionen
Glaubensgefährten vertreten dürfte, erinnerte jedoch daran,
daß das Konzil in keiner Weise die Grundlehren über Petrus und den
Vorrang des Papstes gemildert habe, Dogmen, die nach seiner Ansicht das
Haupthindernis für eine Versöhnung zwischen den beiden großen
christlichen Gemeinschaften seien.
Zur Konzilserklärung über die Religionsfreiheit sagte Camillo de Albornoz gleichfalls im Namen des Ökumenischen Rates: „Gewisse Grundsatzanträge stellen die römisch-katholische Kirche als die einzige Kirche und als Hüterin der einzigen Wahrheit heraus. Das verwirrt und verwundert viele Christen...“
Das Zweite Vatikanische Konzil war in erster Linie eine römisch-katholische Kundgebung, nur in zweiter Linie eine christliche. Aber seine Schwungkraft hat sich über die ganze Welt ausgedehnt: auf die katholische Mission, auf die universale Botschaft, welche die Christenheit in einer Zeit der Revolutionen und Phantastereien verkünden will, und nicht zuletzt auf die explosionsartige Entwicklung des menschlichen Geistes, die in weniger als einem Jahrhundert die Gesellschaftsordnung völlig umwälzte. Die Konzilsdebatten bedeuten, daß die Kirche sich offiziell bewußt geworden ist, daß sie einer neuen Welt gegenübersteht. Mit anderen Worten, sie hat sich vor der Notwendigkeit gesehen, die im Verlauf von 2000 Jahren angesammelten Traditionen und Bräuche insgesamt neu zu durchdenken und in einem modernen Sinnzusammenhang neu zu bewerten.
Eine neue Welt
Die moderne Welt wird von zwei entscheidenden Faktoren geprägt: einerseits die ungeheuren Fortschritte der Wissenschaft und ihr Einfluß durch technische Anwendungsformen auf die Gesellschaft, andererseits das Zusammenschrumpfen unseres Planeten zu einer einzigen Nachbarschaft und, daraus folgend, das gemeinsame Schicksal, das alle Völker der Erde teilen. Es ist naheliegend, in diesem Zusammenhang Bahá’u’lláh zu zitieren, der vor hundert Jahren diese völlige Neuordnung aller Dinge vorausschaute:
- „Die Zeit der Zerstörung der Welt und ihrer Menschen ist gekommen. Die Stunde naht, da sie in heftigsten Krämpfen zuckt... Bald wird die Ordnung des heutigen Tages aufgerollt und eine neue an ihrer Statt verbreitet werden.“
- „Wissen ist gleichsam ein Flügelpaar des Seins, eine Leiter des Aufstiegs. Sich Wissen anzueignen, ist allen zur Pflicht gemacht... Die Wissenschaftler und Künstler haben ein großes Vorrecht unter den Menschen.“
- „Die Erde ist nur ein Land und alle Menschen sind seine Bürger... Diese Handvoll Staub, die Erde, ist nur eine Heimat, Laßt sie eine solche in Einigkeit sein.“
- „Die ganze Erde ist jetzt im Zustand der Trächtigkeit. Der Tag naht heran, da sie die edelsten Früchte zeitigt, da ihr die stolzesten Bäume entsprießen, die entzückendsten Blüten, die himmlischsten Segnungen... Die Zeit ist nahe, da alles Erschaffene seine Bürde abwerfen wird... Diese großen Unterdrückungen bereiten sie (die Menschheit) für das Kommen der Größten Gerechtigkeit vor...“ 1)
Seien wir uns klar darüber, daß dies nur eine kleine Auswahl aus den zahlreichen Werken Bahá’u’lláhs ist, die Er vor etwa hundert Jahren geschrieben hat.
Angesichts des Umbruchs der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und religiösen Ordnung der Welt ist es für jedes soziale Gebilde, für jede Ideen- oder Tatgemeinschaft eine Frage von Sein oder Nichtsein geworden, ihren Standort zu bestimmen. Das war es auch, was die katholische Kirche im Verlauf des Konzils getan hat. Die reformierten Kirchen, im Ökumenischen Rat der Kirchen als einer Interessengemeinschaft zusammengeschlossen, tun das selbe. Und welche politische oder wirtschaftliche Strömung wäre nicht von Grund auf durch die ungeheuren wissenschaftlichen Errungenschaften unseres Zeitalters geprägt worden?
Man fragt sich jedoch, warum eine Religion, die einmalig und umfassend zu sein vorgibt, sich neu „in Schuß“ bringen muß, weil sie von den Ereignissen überrollt wurde. Wenn die Religion die Offenbarung des Göttlichen ist, wäre es da zu fassen, daß Gott Seinen Willen nicht deutlich und rechtzeitig zum Ausdruck bringen könnte?
Die Erklärung über die Nichtchristen
Die römische Kirche hat sich also zunächst der Christenheit gegenüber geöffnet und wünscht sich mit den getrennten Brüdern des gleichen Glaubens auszusöhnen. Alsdann wendet sie sich durch ihre Mission, katholisch, d. h. universell zu sein, den anderen Völkern und Rassen auf allen Kontinenten zu. Natürlich ist es heutzutage unmöglich, isoliert zu leben und das Vorhandensein anderer Religionen abzustreiten; das Konzil mußte sich über diese äußern. Nehmen wir einige Auszüge aus der „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ zur Kenntnis:
- 1. In unserer Zeit, da sich das Menschengeschlecht von Tag zu Tag enger zur Einheit zusammenschließt und die Beziehungen unter den verschiedenen Völkern sich täglich mehren, erwägt die Kirche mit um so größerer Aufmerksamkeit, in welchem Verhältnis sie zu den nichtchristlichen Religionen steht. Gemäß ihrer Aufgabe, Einheit und Liebe unter dem Menschen und damit auch unter den Völkern zu fördern, faßt sie hier insbesondere all das ins Auge, was allen Menschen gemeinsam ist und zur Herstellung der Gemeinschaft untereinander führt...
- Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen eine Antwort auf die ungelösten Rätsel der menschlichen Situation, die heute wie in alten Tagen die Herzen der Menschen im tiefsten bewegen...
- 2. ...So erforschen im Hinduismus die Menschen das göttliche Geheimnis in seinen Tiefen und bringen es in einem unerschöpflichen Reichtum von Mythen und in den philosophischen Versuchen zum Ausdruck...
- Der Buddhismus anerkennt in seinen verschiedenen Formen das radikale Ungenügen dieser veränderlichen Welt und lehrt einen Weg, auf dem die Menschen frommen und vertrauenden Herzens entweder den Zustand vollkommener Befreiung zu erreichen oder, sei es durch eigenes Tun, sei es durch eine Hilfe von oben, zur höchsten Stufe der Erleuchtung zu gelangen vermöchten.
- So sind auch die übrigen in der Welt verbreiteten Religionen bemüht, der Unruhe des menschlichen Herzens auf verschiedene Weise zu begegnen, indem sie Wege weisen: Lehren und Lebensregeln sowie auch heilige Riten.
- Nichts von alledem, was in diesen Religionen wahr und heilig ist, wird von der katholischen Kirche verworfen... Unablässig verkündet sie jedoch und muß unablässig verkündigen, Christus, der „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ ist (Joh. 14:6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat...
- 3. Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Moslems, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, den barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde... Jesus, den sie allerdings nicht als Gott anerkennen, verehren sie doch als Propheten... Da jedoch im Laufe der Jahrhunderte nicht wenige Zwistigkeiten und Feindschaften zwischen Christen und Moslems entstanden sind, ermahnt die Heilige Synode alle, daß sie das Vergangene beiseite lassen, sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen bemühen und gemeinschaftlich die soziale Gerechtigkeit, die sittlichen Güter sowie Frieden und Freiheit für alle Menschen schützen und fördern.
- 4. ... Deshalb kann die Kirche auch nicht vergessen, daß sie durch jenes Volk... die Offenbarung des Alten Testaments empfing... Die Kirche glaubt ja, daß Christus, unser Friede, durch das Kreuz Juden und Heiden versöhnt und in ihm beide vereinigt hat... Da also des Christen und Juden gemeinsames geistliches Erbe so reich ist, will die Heilige Synode die gegenseitige Kenntnis und Achtung fördern, die vor allem die Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gesprächs ist...
- So ist es Aufgabe der Predigt der Kirche, das Kreuz Christi als Zeichen der universalen Liebe Gottes und als Quelle aller Gnaden zu verkünden...“
Es besteht kein Zweifel: Diese Erklärung ist von höchster Tragweite,
Das Organ der Genfer Katholiken, „Le Courrier“, meinte: „Unter allen
Konzilstexten gehört die Erklärung über die nichtchristlichen Religionen
zu denjenigen, die die bedeutsamsten Höhepunkte aufzuweisen haben...
Es ist bekannt, welcher politische Druck dieserhalb ausgeübt wurde, vor
allem von den arabischen Staaten, denen es höchst unliebsam war, die
[Seite 649] Kirche eine Stellung
einnehmen zu sehen, die nicht nur als politisches
Manöver zu Gunsten des jüdischen Volkes, sondern gar für den Staat
Israel gedeutet werden könnte.“
Vor allem das Vorwort muß ein Balsam für die Herzen all jener sein, welche sich nach der religiösen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einheit der ganzen Menschheit sehnen. Die Großzügigkeit der Stellungnahme Roms gegenüber dem Hinduismus, dem Buddhismus und den anderen Religionen ist erhebend. Die Worte über den Islam bezeichnen offiziell das Ende der Kreuzzüge, und die systematische Verunglimpfung des Glaubens Muhammads, die seit dem frühen Mittelalter betrieben wurde, hat damit aufgehört. Die Erklärung über die Juden wird als das Kernstück des ganzen Dokuments betrachtet, weil sie das jüdische Volk und die jüdische Rasse von dem Verbrechen des Gottesmordes reinwäscht.
Aber auch wenn sich die römische Kirche den Anhängern der nichtchristlichen Religionen freundschaftlich zuwendet, anerkennt sie nicht — mit Ausnahme von Abraham und Moses — die Begründer der anderen Religionen. Die Erhabenheit eines Krischna, Buddha oder Muhammad wird schweigend übergangen. Und doch sind sie es, auf die die Ehre zurückfallen muß, die jetzt ihren Erben entgegengebracht wird; denn sie haben durch ihren „strahlenden, überragenden Geist“ die Völker geformt und ihre Kulturen herangebildet.
Haupthindernis: der Absolutheitsanspruch
Die katholische Kirche sucht die Aussöhnung mit den Menschen, gleich welcher religiösen, völkischen oder gesellschaftlichen Zugehörigkeit sie auch seien, aber sie beharrt erneut auf dem Vorrang Christi und „muß unablässig verkündigen“, daß allein „Christus... der Weg, die Wahrheit und das Leben ist“ und daß deshalb nur durch Ihn „alle das Heil erlangen“. Papst Paul VI. hat das bereits in seiner Enzyklika „Ecclesiam Suam“ vom 6. August 1964 als einer Begriffsbestimmung für den Dialog der Kirche insbesondere mit den anderen Religionen wie folgt erklärt: „Wir können freilich die verschiedenen religiösen Auffassungen und Ausdruckformen nicht teilen; Wir können Uns auch nicht zu einem Indifferentismus bekennen, der alle Religionen auf ihre Art für gleichwertig hält und ihnen das Recht zuerkennt, ihre Anhänger von einem weiteren Forschen abzuhalten, ob Gott selbst etwa eine Form der Religion geoffenbart habe, die frei ist von Irrtum, vollkommen und endgültig... Die Liebe zur Wahrheit verpflichtet Uns vielmehr, Unserer Überzeugung Ausdruck zu verleihen, daß es nur eine wahre Religion gibt — und das ist die christliche, und daß Wir die Hoffnung nähren, daß sie als solche einmal von allen anerkannt werde, die Gott suchen und anbeten.“
Aus dem Zusammenhang gezogen, mag diese Textstelle überaus hart
und exklusiv erscheinen. Der Ton der ganzen Enzyklika ist demgegenüber
demütig und weltoffen, denn „die Kirche verkennt nicht die gewaltigen
Ausmaße“ der weltweiten Mission, die sie übernehmen möchte.
[Seite 650]
„Sie kennt die Mißverhältnisse der Statistiken zwischen dem, was (sie)
wirklich ist, und dem, was die Bevölkerung der Erde ist.“ 2)
Wie der Vorrang des Papstes das Haupthindernis auf dem Weg zur Vereinigung der christlichen Kirchen ist, so ist das Dogma von der einmaligen und endgültigen Fleischwerdung des Gotteswortes in der Person Jesu Christi das grundlegende Hemmnis einer Annäherung an die anderen Religionen. Die Gläubigen der meisten nichtchristlichen Religionen nehmen ihrerseits größtenteils eine ähnliche Haltung ein, was ihren eigenen Propheten oder ihr Lehrgebäude angeht. Alle, die Christen, Muslim, Juden, Hindus oder Buddhisten, haben sich bisher eingebildet, die Träger ihrer jeweiligen Offenbarungen seien Rivalen. Dennoch kann man aus keiner einzigen überlieferten Äußerung dieser Boten Gottes eine derartige Rivalität ableiten.
Hier haben wir den Kern des Problems. Den Anhängern der verschiedenen Boten Gottes scheint es, als ob die Religionen in vielen Punkten, die sie für wesentlich halten, voneinander abwichen. Selbst wenn man den anderen „einen Lichtstrahl der Wahrheit“ zugesteht, haben sie doch — immer den jeweils entgegengesetzten Adepten zufolge — „grundlegend verschiedene Positionen.“ „Eine Allianz der Religionen ist völlig undenkbar“, behauptete der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Visser‘t Hooft. Und der Großrabbiner von Rom sagte in einem Kommentar über die Ergebnisse des Konzils: „Tatsachen werden darüber entscheiden, ob eine Annäherung — die als eine Zusammenarbeit auf sozialem, kulturellem und politischem Gebiet zu verstehen ist — zwischen der christlichen und der jüdischen Welt realisiert werden kann.“ Auch Visser‘t Hooft ist der Meinung, daß sich die Zusammenarbeit nur auf den humanitären Bereich erstrecken kann. In seinem Werk „Kein anderer Name. Synkretismus oder christlicher Universalismus“ (BasileiaVerlag, Basel 1965) geht er sogar noch weiter: „Jedesmal, wenn Christen das Wort Religion in einem Sinne gebrauchen, der über das Christentum hinausgeht und es doch zugleich einschließt, fördern sie die synkretistische Neigung unserer Zeit und bestärken die Überzeugung, daß die Religion und nicht das Christentum die wahrhaft universale Kraft sei.“ (S. 99)
Eine neue Offenbarung?
Das Kernproblem der religiösen Annäherung scheint also die Frage zu sein, in welchem Ausmaß man Kompromisse machen zu müssen glaubt: Ökumenismus mit einer Gemeinschaft von Kirchen, deren „jede ihre eigene Persönlichkeit beibehält“ — sprich: ihren eigenen Überlegenheitsanspruch — wie es Lukas Vischer, der Sekretär der Abteilung „Glaube und Verfassung“ des Ökumenischen Rates ausgedrückt hat; oder ein Ökumenismus, der die Überlegenheit einer von mehreren Lehren fördert, oder schließlich eine Vereinigung, die durch Synthese oder Synkretismus, d. h. durch einen Kompromiß zwischen verschiedenen Ideen, verwirklicht wird: Alle diese Formen von Interessengemeinschaften, so wünschenswert sie sein mögen, können keinen festen und unerschütterlichen Baugrund für den Tempel der religiösen Einheit abgeben.
[Seite 651]
Eine Frage haben sich die Konzilsväter nicht gestellt: Könnte es nicht
sein, daß das Licht der Einheit von einer neuen Offenbarung kommt, die
zugleich die Ursache für den apokalyptischen Umbruch unserer Zeit ist?
In ihrem Bestreben, die Botschaft der Kirche den modernen Verhältnissen
anzupassen, haben die Bischöfe vielleicht vergessen, bis zu den Quellen,
zu den Worten ihres Meisters, zurückzugehen. Gewiß, sie sehen die
Aufgabe ihrer Kirche darin, Christus auf Erden universell zu vertreten.
Und wie sein Vorgänger, Johannes XXIII., zögert auch der gegenwärtige
„Stellvertreter Christi auf Erden“ nicht, etwa vor dem Forum der
Vollversammlung der Vereinten Nationen am 4. Oktober 1965 zu verkünden,
die Aufgabe, welche die Vertreter der Nationen auf politischem Gebiet
erfüllen (oder nicht erfüllen), nämlich den Frieden zu sichern, wolle die
katholische Kirche auf geistlicher Ebene übernehmen: „... Wir wären
versucht zu sagen, daß Ihr Charakteristikum in der zeitlichen Ordnung
gewissermaßen das widerspiegelt, was Unsere katholische Kirche in der
geistigen Ordnung sein will: einzig und universal.“
Zweifellos möchten neben den 570 Millionen Katholiken auch die 500 Millionen Muslim derartige geistige Aufgaben übernehmen. Auch sie glauben nach Art des Drittels der Menschheit, das sich christlich nennt, daß die Offenbarung Muhammads „frei von Irrtum, vollkommen und endgültig“ sei. Und die 700 Millionen Buddhisten oder die 500 Millionen Hindu? Haben nicht auch sie das Recht, diese „göttliche" Sendung für sich zu beanspruchen? Und wenn nicht die Zahl der Bekenner das Entscheidende wäre, könnten dann nicht auch die anderen religiösen Richtungen ein solches Heilswerk für sich beanspruchen, zumal auch sie sich zumeist als überlegen, einzig und endgültig betrachten und die Konzilserklärung auch ihnen „einen Strahl jener Wahrheit“ zuspricht, die „alle Menschen erleuchtet“, und außerdem „eine jede Diskriminierung eines Menschen, jeden Gewaltakt gegen ihn um seiner Rasse oder Farbe, seines Standes oder seiner Religion willen“ verwirft?
Wenn man darauf besteht, die Überlegenheit einer religiösen Doktrin
zu behaupten, kommen wir allesamt unzweifelhaft nicht aus der Sackgasse
heraus. Vernunft und gesunder Menschenverstand erheischen eine
vernünftige Lösung des Problems der religiösen Verschiedenheit, zumal
wenn die Religion mit der Wissenschaft harmonieren will. Alle heiligen
Schriften der Offenbarungsreligionen kündigen ein Zeitalter der Einheit
und Verständigung, der Versöhnung der Menschheit und der Errichtung
einer harmonischen, allumfassenden Gesellschaftsordnung an: das Reich
Gottes auf Erden. Sollten diese Schriften lügen? Sie sind doch sehr
deutlich, was das Kommen dieses Goldenen Zeitalters anbelangt: Es würde
errichtet werden, nachdem der jeweilige Träger der religiösen Sendung
wiedergekehrt sein würde, oder nach dem Kommen einer neuen Offenbarung
Gottes, einer neuen Ordnung, eines Mannes, der den Geist, das
Wort und den Willen Gottes verkörpert. Jene, die in den bestehenden
Religionen für die Vereinigung arbeiten, schweigen sich über diese
Wiederkehr aus, obwohl ein volles Drittel des Evangeliums davon
handelt — wenn wir einmal nur das Christentum in Betracht ziehen. Die
Kirchen und religiösen Bekenntnisse warten vielleicht, jede für sich und auf ihre
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besondere Art, auf die Festigung ihrer eigenen geistigen Überlegenheit und
auf ihre Rechtfertigung, den Triumph ihres Glaubens; aber sie versäumen es,
die Möglichkeit einer Wiederkunft Christi oder des Kommens
einer Manifestation Gottes, die alle Menschen unter ihrem Schutz vereinigt,
in Betracht zu ziehen. Die römische Kirche möchte die ganze
Menschheit umfassen; sie will nicht anerkennen, daß Gott sie bereits
durch eine neue Offenbarung vereinigt hat. Man muß sich aber fragen,
ob die folgende Stelle aus der Erklärung über die Nichtchristen nicht
unbeabsichtigt darauf anspielt: „Alle Völker sind ja eine einzige
Gemeinschaft... Sie haben auch ein und dasselbe letzte Ziel, Gott.
Seine Vorsehung, die Bezeugung seiner Güte und seine Heilsratschlüsse
erstrecken sich auf alle Menschen, bis hin zu der Zeit, da die
Auserwählten in der Heiligen Stadt vereint werden sollen, die von der
Herrlichkeit Gottes erleuchtet sein wird, wo alle Völker
in seinem Lichte wandeln.“
Im Herzen von Rom, in den Bibliotheken des Vatikans, ist das Pergament mit dem historischen Aufruf Bahá’u’lláhs (zu deutsch: „Herrlichkeit Gottes“) an den damaligen Pontifex maximus, Papst Pius IX, verwahrt. Es war der Papst, der das Erste Vatikanische Konzil einberief, das auf tragische Weise unterbrochen wurde, und der, nachdem er seine Ländereien verloren hatte, als schlichter Priester verkleidet aus seiner Residenz fliehen mußte. Wir entnehmen dem Tablet Bahá’u’lláhs Seine Aufforderung:
- „O Papst! Zerreiße die Schleier! Er, der Herr der Herren, ist gekommen, von Wolken überschattet, und der Ratschluß ist erfüllt worden durch Gott, den Allmächtigen, den Unbeschränkten... Erhebe dich im Namen deines Herrn, des Gottes der Barmherzigkeit, inmitten der Völker der Erde und ergreife den Kelch des Lebens mit den Händen des Vertrauens, und trinke du zuerst davon und biete ihn sodann solchen an, die sich ihm zuwenden unter den Völkern allen Glaubens... Rufe dir Ihn ins Gedächtnis zurück, welcher der Geist war (Jesus), wie, als Er kam, die Gelehrtesten Seiner Zeit in Seinem eigenen Lande das Urteil gegen Ihn fällten, während einer, der nur ein Fischer war, an Ihn glaubte. Gebet acht denn, ihr Menschen mit einsichtsvollem Herzen! Du bist in Wahrheit eine der Sonnen am Himmel Seiner Namen. Hüte dich, daß die Finsternis nicht ihre Schleier über dich breite und dich verhülle, fernab von Seinem Lichte...“ 3)
„1870, nachdem Bahá’u’lláh Seinen Brief an Pius IX. geoffenbart hatte,
trat Viktor Emmanuel I. in den Krieg mit den päpstlichen Staaten, und
seine Truppen zogen in Rom ein und besetzten es. Am Vorabend dieser
Besetzung begab sich der Papst in den Lateran und stieg, das Gesicht in
Tränen gebadet, trotz seinem Alter mit gebeugten Knien die Scala Santa
hinan. Am nächsten Morgen, als die Beschießung begann, befahl er, die
weiße Flagge über dem Petersdom zu hissen. Seines Besitzes beraubt,
weigerte er sich, diese ‚Schöpfung der Revolution‘ anzuerkennen,
exkommunizierte die Eindringlinge in seine Staaten, bezichtigte Viktor
Emmanuel als ‚Räuberkönig‘ und ‚jedes religiösen Grundsatzes bar‘,
‚Verächter jedes Rechtes und Vergewaltiger jedes Gesetzes‘, Rom, die
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‚ewige Stadt, auf welcher fünfundzwanzig Jahrhunderte des Ruhmes
ruhen‘ und über welcher die Päpste mit nie bestrittenem Rechte zehn
Jahrhunderte lang geherrscht hatten, wurde schließlich zum Sitze eines
neuen Königreiches und zum Schauplatz der Demütigung, die Bahá’u’lláh
vorausgeschaut und die der Gefangene des Vatikans sich selbst
aufgebürdet hatte.“ 4)
Und doch, in der Christenheit gibt es adventistische Gemeinschaften, die sehnsüchtig die Wiederkehr ihres Herrn erwarten, wie es auch zahlreiche Bekenntnisse innerhalb der nichtchristlichen Religionen tun. Schließlich gibt es jene, die sich bei allen menschendienlichen Werken zugleich öffnen für eine neue, umfassende Wahrheit.
Neue Offenbarung ist notwendig
Die Bahá’í sind überzeugt, daß jene Verheißung des Reiches Gottes durch Bahá’u’lláh erfüllt wurde. Sie wissen, daß auch auf religiösem Gebiet eine Erneuerung notwendig ist. Shoghi Effendi, der Hüter des Bahá’í-Glaubens, schrieb hierüber im Jahre 1932:
- „Wer könnte, wenn er über die Hilflosigkeit, die Angst und das Elend der heutigen Menschheit nachdenkt, noch länger in Frage stellen, daß eine neue Offenbarung der belebenden Kraft der erlösenden Liebe und Führung Gottes notwendig ist? Wer könnte, wenn er einerseits Zeuge des ungeheuerlichen Fortschritts im Bereich menschlichen Wissens, menschlicher Macht, Geschicklichkeit und Erfindungsgabe ist und andererseits die noch nie dagewesenen Leiden und Gefahren sieht, welche die gegenwärtige Gesellschaft heimsuchen und bedrohen — wer könnte da so blind sein zu bezweifeln, daß die Stunde endlich geschlagen habe für das Kommen einer neuen Offenbarung, für eine neue Erklärung der göttlichen Absicht, für eine folgerichtige Neubelebung jener geistigen Mächte, welche in bestimmten Zeitabständen die Geschicke der menschlichen Gesellschaft erneut zum Guten wenden? Verlangt nicht gerade die Wirksamkeit der weltvereinenden Kräfte, die in diesem Zeitalter am Werke sind, daß Er, der Träger der Botschaft Gottes an diesem Tage, nicht nur das selbe erhabene individuelle Verhaltensmuster neu bestätigt, welches die Ihm vorangegangenen Propheten der Menschheit eingeprägt haben, sondern seinem Aufruf an alle Regierungen und Völker zugleich die Wesenszüge jenes Sozialcodes, jener göttlichen Weltverfassung einverleibt, die die aufeinander abgestimmten Bemühungen der Menschheit um die Errichtung eines allumfassenden Bundesstaates als Signal für den Anbruch des Reiches Gottes auf dieser Erde lenken muß?“ 5)
Welche Aufgaben muß die Religion in einer modernen, geistig orientierten
Gesellschaft übernehmen? Unzählige Bekenntnisse aller Breiten haben
versucht, dieses Ziel zu bestimmen und in unserer Zeit der Wirrnis ihr
religiöses Konzept zu verwirklichen. Wäre es da nicht angebracht, sich
auch nur einen Augenblick auf die Begriffsbestimmung der Religion durch
[Seite 654]
eine Persönlichkeit zu besinnen, die für sich in Anspruch nimmt, der
Gesandte Gottes für unser Zeitalter zu sein? Bahá’u’lláh sagt:
- „Die Göttlichen Boten wurden herabgesandt und Ihre Bücher geoffenbart, damit die Erkenntnis Gottes vertieft und Einheit und Brüderlichkeit unter den Menschen gefördert werden... Daß es den verschiedenen Gemeinschaften und den mannigfachen Glaubensrichtungen auf der Erde nie gestattet sein sollte, Gefühle der Feindschaft unter den Menschen zu nähren, gehört an diesem Tage zum Wesen des Glaubens Gottes und zu Seiner Religion.“ 6)
- „Die Religion ist ein strahlendes Licht und eine uneinnehmbare Feste für den Schutz und die Wohlfahrt der Völker dieser Welt.“
- „Wie der Körper des Menschen ein Gewand braucht, ihn zu kleiden, so muß der Körper der Menschheit notwendigerweise mit dem Mantel der Gerechtigkeit und Weisheit geschmückt sein. Ihr Kleid ist die ihr von Gott gewährte Offenbarung.“ 7)
Die Lehre, daß Gott aus freien Stücken Seinen eingeborenen und vielgeliebten Sohn Jesus Christus den Leiden und Qualen des Kreuzestodes unterworfen habe, ist zum Kernstück des christlichen Unterrichts geworden. Die römische Kirche betont immer wieder, durch das Opfer Christi am Kreuz und einzig und allein durch das Blut, das Er vergossen hat, könnte das Erlösungswerk Gottes vollendet werden und könnten die Gläubigen der nichtchristlichen Religionen Zugang zu der einzig wahren Religion finden. Auch der größte Teil der übrigen christlichen Richtungen steht auf dem Boden dieser Lehre.
Einem Nichtchristen mutet diese Vorstellung barbarisch an. Er schaut eher auf das Leben Christi, Seine Botschaft, Seine Heilslehre als Beispiel und Verhaltensmuster, dem man folgen und das man als göttlich verordnet betrachten muß. Ein Christ von gefühlsbetonter Frömmigkeit kann so weit kommen, daß er Hymnen singt, in denen er sich danach sehnt, sich „in den Blutströmen von Golgatha zu baden“, um sich von seinen Sünden reinzuwaschen — ohne sich darüber klar zu werden, daß eine solche Grundhaltung für Andersdenkende schockierend sein könnte. Es dürfte auch nicht weiter verwunderlich sein, daß sich für einen Muslim diese Einstellung mit derjenigen eines Hindus deckt, der sich im Ganges badet oder am Ufer dieses Flusses verbrennen läßt, um geradewegs ins Paradies zu kommen.
Wie stellen sich die Bahá’í dazu? Bahá’u’lláh bezeugt, daß Christus
durch Sein Opfer der ganzen Schöpfung neues Leben einflößte, Er hat die
Leiden der Menschheit geheilt, den geistig Blinden das Augenlicht
gegeben, die geistig Toten auferweckt. Die Bahá’í glauben aber nicht, dass
Christus zu diesem Zweck unbedingt hätte am Kreuz sterben müssen. Wie
könnte man darüber befinden? Ohne alle diese Leiden hätte das Erlösungswerk
auch erfüllt werden können. Durch Sein Opfer hat Jesus das
höchste Beispiel gegeben. Aber zahllose Menschen haben noch
schlimmere Todesarten erlitten, und ihre Anliegen waren darum
nicht größer. Die Passionsgeschichte ist ein Zeichen für die
unermeßliche Liebe Christi
[Seite 655]
für die Menschheit. Er hat es auf sich genommen, die materielle Welt zu
opfern, damit die Welt des Geistes triumphiere.
War Jesus Seiner Geburt wegen einzigartig? Auch hier müssen wir uns fragen, ob ein der stofflichen Welt zugehöriges Geschehen so wichtig ist. Dann wäre Adam noch größer, weil er nach dem Alten Testament weder Vater noch Mutter hatte. 8)
Die Auferstehung Christi, logische Folgerung eines Gedankengebäudes, das auf der Überlegenheit des Christentums beruht, wird von den Bahá’í ihrem geistigen Gehalt nach gedeutet. Der Körper Christi, das bedeutet Sein Glaube, Seine Lehre und Seine Botschaft, die Seine Zeitgenossen vernichten wollten, ist wiederauferstanden, und Sein Triumph erstrahlt in der ganzen Welt. 9)
Wenn die Bahá’í überzeugt sind, die Lösung für das Problem der religiösen Verschiedenartigkeit zu besitzen, so deshalb, weil sie sich auf drei Grundlehren Bahá’u’lláhs stützen: die Einheit Gottes und Seiner Offenbarer, die Relativität des historischen Ausdrucks der Religion und das Fortschreiten göttlicher Offenbarung. Die Bahá’í gehen sogar noch weiter: Sie sind überzeugt, daß sie damit den Schlüssel zu den anderen großen Problemen unseres Zeitalters besitzen, wie es der große Dichter Tolstoi bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts entdeckt hatte.
Die Einheit Gottes und Seiner Offenbarer
„Jedem unterscheidenden und erleuchteten Herzen ist klar, daß Gott, das unfaßbare und himmlische Wesen, unermeßlich hoch über alle menschlichen Zeichen... erhaben ist. Fern sei es von Seiner Pracht, daß Menschenzungen angemessen Seinen Ruhm zu künden oder Menschenherzen Sein unergründliches Geheimnis zu fassen vermöchten... Da das Tor zur Erkenntnis des Urewigen vor dem Angesicht aller Geschöpfe verschlossen ist, hat die Quelle unendlicher Gnade... jene leuchtenden Edelsteine der Heiligkeit in der edlen Gestalt des menschlichen Tempels aus dem Reich des Geistes erscheinen und allen Menschen kund werden lassen, damit Sie der Welt die Geheimnisse des unwandelbaren Seins übermitteln und von der Feinheit Seines unvergänglichen Wesens künden. Diese geheiligten Spiegel, diese Morgenröten ewiger Herrlichkeit sind allesamt die irdischen Vertreter Dessen, der der Angelpunkt des Weltalls, sein Wesen und letztes Ziel ist... Durch Sie wird eine Gnade übermittelt, die nicht endet, und das Licht enthüllt, das niemals schwindet... Durch die Offenbarung dieser Edelsteine göttlicher Tugend werden alle Namen und Zeichen Gottes, wie Erkenntnis und Macht, Oberhoheit und Herrschaft, Barmherzigkeit und Weisheit, Herrlichkeit, Güte und Gnade klar dargelegt. Die göttlichen Eigenschaften werden und wurden nie bestimmten Offenbarern gewährt und anderen vorenthalten, nein, alle Manifestationen Gottes, Seine Vielgeliebten, Seine Heiligen und erwählten Boten sind vielmehr ohne Ausnahme die Träger Seiner Namen und die Verkörperungen Seiner Zeichen... .“ 10)
- Hütet euch, o ihr, die ihr an die Einheit Gottes glaubt, daß ihr nicht versucht werdet, Unterschiede zwischen den Manifestationen Seiner Sache zu machen oder eines der Zeichen, die Ihre Offenbarung begleitet und verkündet haben, herabzusetzen. Dies ist in der Tat die wahre Bedeutung göttlicher Einheit, so ihr zu denen gehört, die diese Wahrheit begreifen und an sie glauben!“ 11)
Die Relativität in der Religion
- „Das Ausmaß der Offenbarung der Manifestationen Gottes in dieser Welt muß sich indessen voneinander unterscheiden. Jede von Ihnen ist die Trägerin einer bestimmten Botschaft gewesen und beauftragt worden, sich durch besondere Handlungen zu offenbaren... Es ist daher klar und offenbar, daß jede scheinbare Schwankung in Ihrer Lichtstärke nicht auf das Licht selbst zurückzuführen ist, vielmehr der wechselnden Empfänglichkeit einer sich immer verändernden Welt zugeschrieben werden muß.“ 12)
- „Sie unterscheiden sich nur im Grade Ihrer Offenbarung und der verschiedenen Kraft Ihres Lichtes...“ 13)
Das Fortschreiten göttlicher Offenbarung
- „In jedem Zeitalter und Zyklus hat Er durch das von den Offenbarungen Seines wunderbaren Wesens ausgegossene strahlende Licht die Dinge neu erschaffen, damit alles, was in den Himmeln und auf Erden die Zeichen Seiner Herrlichkeit zurückstrahlt, nicht des Ausströmens Seiner Gnade beraubt sei noch an den Schauern Seiner Gunst zweifle.“ 14)
- „In den vorhergehenden Abschnitten und Andeutungen ist zweifellos klar dargelegt, daß in den Reichen der Erde und des Himmels notwendigerweise ein Sein, ein Wesen geoffenbart werden muß, das als Offenbarung und Träger für die Übermittlung der Gnade Gottes, des höchsten Herrn alles Erschaffenen, wirken soll. Durch die Lehren dieser Sonne der Wahrheit wird jeder Mensch vorwärtsschreiten und sich entwickeln, bis er die Stufe erreicht, auf der er alle im Bereiche des Möglichen liegenden Kräfte offenbaren kann, mit denen sein innerstes, wahres Selbst ausgestattet wurde. Allein zu diesem Zweck sind in jedem Zeitalter und jeder Sendung die Manifestationen Gottes und Seine Erwählten unter den Menschen erschienen und haben eine Kraft an den Tag gelegt, wie sie nur von Gott kommen und eine Macht, wie sie nur der Ewige offenbaren kann.“ 15)
Wie die meisten christlichen Bekenntnisse und die anderen Religionen
betont auch die Offenbarung Bahá’u’lláhs, daß es nur einen Gott gibt und
daß die ganze menschliche Familie Seine Kinder sind. Es kann deshalb
nur eine einzige Religion geben, die von verschiedenen Sendboten entsprechend
den Bedürfnissen einer Menschheit, die sich in ständiger Entwicklung befindet,
gelehrt wird. Die Religion entspricht der Kulturstufe,
[Seite 657]
in der sie geoffenbart wird, dem allgemeinen Fortschritt und anderen
historischen Bedingungen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit,
daß sie in verschiedenen Zeitabschnitten und an verschiedenen Orten
durch aufeinanderfolgende Boten Gottes immer wieder neu verkündet
wird und alle Völker erreicht. Dies ist die Bahá’í-Lehre von der
fortschreitenden Offenbarung. Es handelt sich nicht um einen Synkretismus,
eine Ideenverschmelzung oder einen Kompromiß. Für Bahá’u’lláh kann es
keine Konkurrenz oder gar Rivalität zwischen verschiedenen religiösen
Wirklichkeiten geben, weil alle Wahrheit aus der gleichen Quelle kommt.
Bahá’u’lláh unterscheidet zwischen dem ewigen Aspekt der Religion und den zeit- und ortsgebundenen Ausdrucksformen der religiösen Sendungen. Der ewige Teil der Religion umfaßt die geistige Lehre von Gerechtigkeit, Wahrheit, Frieden und Eintracht, Lohn und Strafe in dieser und in einer transzendenten Welt. Dies ist die Grundlage der menschlichen Kultur und des gesellschaftlichen Fortschritts. Bahá’u’lláh erinnert daran, daß die Religion die großen Kulturen der Vergangenheit geistig untermauert hat und der Antrieb des Fortschritts war und ist. Der zeitgebundene Ausdruck der Religion ist vergänglich; er umfaßt Gesetze, Riten, Lehren und Verhaltungsnormen, die der Gesellschaft angemessen sind, an welche sich der jeweilige Offenbarer wendet.
Die Grenzen des Althergebrachten
Mit der Lehre Bahá’u’lláhs von der Einheit und Einzigkeit Gottes dürfte die Geistlichkeit übereinstimmen, aber so bald es um die Folgerungen geht, wird ihre Einstellung widersprüchlich und gegensätzlich. Die Führer der historischen Religionen können sich unter religiöser Einheit nichts vorstellen, weil sie die anderen Religionen als dem Wesen nach verschiedenartig, minderwertig und nicht in den Heilsplan Gottes einbezogen betrachten. Es gehört zum Wesenskern des Priestertums, daß nach seiner Auslegung das Erlösungswerk Gottes nur in einer einzigen Offenbarung der Vergangenheit Fleisch geworden ist. Demgegenüber sammelt Bahá’u’lláh alle zerstreuten und zerstrittenen Gruppen und Teile der Menschheit und ruft ihnen ihre Einheit, ihre gleiche Herkunft und ihr gleiches Ziel ins Bewußtsein. Für die Oberhäupter der alten Religionen gehört die Verschiedenheit zum Wesen des Menschlichen; für Bahá’u’lláh ist es die Einheit, die wesentlich ist. Er führt aus, daß sich die Geistlichkeit zu sehr an das Vergängliche in den religiösen Sendungen klammert, das sich im Laufe der Zeit entwickeln, den Bedürfnissen einer fortschreitenden Gesellschaft anpassen oder überwunden werden muß. Das ist die Haltung, die auch Jesus, Muhammad und alle anderen Religionsstifter eingenommen haben und die von immer mehr Philosophen und Gelehrten geteilt wird, für die das von Bahá’u’lláh immer wieder unterstrichene Gebot des selbständigen Forschens nach Wahrheit auch im Bereich des Religiösen zur Arbeitsgrundlage und zum Lebensprinzip geworden ist. Bahá’u’lláh schreibt:
- „Die Führer der Religionen haben zu allen Zeiten ihre Anhänger daran gehindert, die Küsten des Meeres des ewigen Heils zu errei
- chen, denn sie halten die Zügel der Gewalt über die Menschen in ihrem mächtigen Griff. Einige wurden aus Verlangen nach Führerschaft, andere aus Mangel an Erkenntnis und Wissen zur Ursache, daß die Menschen ihres besten Teils beraubt blieben... Obgleich alle Propheten, Heiligen und Auserwählten durch die Eingebung Gottes den Menschen einschärften, mit ihren eigenen Augen zu sehen und mit ihren eigenen Ohren zu hören, haben sie deren Rat hochmütig verworfen; sie sind blind den Führern ihres Glaubens gefolgt und werden ihnen auch weiterhin folgen... Nicht ein Prophet Gottes ist herabgesandt worden, der nicht diesem unbarmherzigen Haß zum Opfer gefallen wäre, diesen Androhungen, dieser Verleugnung und Verfluchung durch die Geistlichen Seines Tages! Wehe ihnen über die Missetaten, die ihre Hände einst gewirkt hatten! Wehe ihnen über das, was sie jetzt tun!...“ 16)
- „Auch sollte man keinen Augenblick denken, daß die Anhänger Bahá’u’lláhs den Rang der religiösen Führer der Welt, ob christlich, islamisch oder irgend eines anderen Namens, jemals herabzusetzen oder auch nur zu vermindern suchen, sofern ihr Betragen mit ihren Bekenntnissen übereinstimmt und sie der Stellung wert sind, die sie einnehmen. ‚Jene Geistlichen‘, hat Bahá’u’lláh bekräftigt, ‚die wahrhaft mit dem Schmuck der Erkenntnis geziert sind und einen rechtschaffenen Charakter haben, sind wahrlich wie ein Haupt für den Körper der Welt und wie Augen für die Völker.“ 17)
Neuer Begriff von der alten Wahrheit
Die Bahá’í suchen durch Taten zu beweisen, daß die Verschiedenartigkeit der Religionen nur das Produkt menschlicher Einbildung ist. Sie weigern sich, einen Kompromiß zu schließen, „Wasser auf die Mühle des zeitgenössischen Synkretismus zu leiten“ oder formale Abmachungen zu treffen; vielmehr verkünden sie, daß Gott der Menschheit in diesem Zeitalter erneut geoffenbart hat, auf welchem Wege sie zu Frieden, Gerechtigkeit und Wahrheit finden wird. Auf den Lehren und Geboten Bahá’u’lláhs aufbauend, ist eine weltumspannende Brüderlichkeit entstanden, die keine Schranken der Rasse oder Klasse, der Religion oder Volkszugehörigkeit kennt. Mehr als zwanzigtausend Märtyrer haben ihr Leben für die Errichtung dieser Weltgemeinschaft und für die Reinhaltung ihres Glaubens geopfert.
Was wird die Zukunft bringen? Wird es zu einem neuen Religionskrieg kommen, wie der Physiker Jacques Bergier, Mitverfasser des Buches „Ausblick ins dritte Jahrtausend“, glaubt? In seiner Zeitschrift „Planète“ brachte er im Dezember 1964 eine Prognose für das Jahr 1984, in der es heißt:
- „Ökumenische Kongresse fassen eine Vereinigung der klassischen Religionen ins Auge, um die neuen Religionen (Bergier nennt deren drei, darunter die Bahá’í-Religion) zu bekämpfen. Historiker, Soziologen und Psychologen mühen sich um die neuen Religionen, ihre Ursachen und
- die Gründe ihre Machtgewinns. Mystiker bestreiten ihre Rechtmäßigkeit und lassen nur die klassischen Offenbarungen zu: Moses, Jesus und Muhammad.“
Welcher Art von religiöser Einheit gehen wir nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil entgegen? Die Zukunft wird es weisen, ob sich die Christenheit an die nichtchristlichen Religionen annähert, sei es, um angesichts der vielen neuen religiösen Strömungen überleben zu können, sei es, um gemeinsam in brüderlichem Geiste das Reich Gottes auf Erden aufzubauen, das von Moses, Christus und Muhammad verheißen und von Bahá’u’lláh begründet wurde. Aber, um ein Gleichnis Jesu zu verwenden, kann man neuen Wein in alte Schläuche füllen? Es besteht die Gefahr, daß sich ein monotheistischer Block der drei klassischen Mittelmeer-Religionen gegenüber den Glaubenssystemen der übrigen Menschheit verhärtet. Die einzige Hoffnung liegt letztlich in dem dreifachen Grundsatz der Einheit Gottes, der Einheit Seiner Offenbarer und der Einheit der Menschheit. Die Bahá’í, die in diesem Geist den Menschen aller Rassen, Klassen und Religionen die Hand entgegenstrecken, haben es nicht nötig, ein Monopol oder eine Überlegenheit ihrer Lehren zu beanspruchen. Sie wissen, daß Gott zu allen Zeiten durch Seine Boten zur Menschheit gesprochen hat, und daß Er fortfahren wird, dies zu tun, „bis zu dem Ende, das kein Ende hat“. Jeder kann in das Tabernakel der neuen Offenbarung Gottes, in dem es keine Dogmen, Riten und Priester gibt, eintreten und die ewigen Aspekte seiner Glaubensüberzeugung darin wiederentdecken. Es fragt sich nur, durch wieviel Kampf und Leid die Menschheit noch hindurchgehen muß, ehe sie auf dieser umfassenden Grundlage ihre Seele findet.
- —————
Gekürzte Fassung nach dem Französischen in „La Pensée Bahá’íe“, Nr. 17/Jan.-März 1966, CH-2034 Peseux.
- 1) zitiert in „Der verheißene Tag ist gekommen“ von Shoghi Effendi, Sonne der Wahrheit, 18. Jg. 197, S. 78, 112 u. 80; Tablet Tajallíyát, BAHA’I-Briefe 13/Juli 1963, S. 329
- 2) „Ecclesiam suam. Die Wege der Kirche. Erstes Rundschreiben Papst Pauls VI.“, Paulus-Verlag, Recklinghausen, S. 39 u. 34
- 3) „Der verheißene Tag ist gekommen“, S. 186 f.
- 4) dgl., 19. Jg. 1948, S. 29
- 5) Shoghi Effendi, “The World Order of Bahá’u’lláh“, Wilmette 1955, S. 60
- 6) „Brief an den Sohn des Wolfes“, Frankfurt 1966, S. 27
- 7) „Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláhs“, Frankfurt 1961, XXXIV
- 8) vgl. ‘Abdu’l-Bahá, „Beantwortete Fragen“, Frankfurt 1962, Kap. 17
- 9) dgl., besonders Kap. 18-23
- 10) „Ährenlese“ XIX
- 11) „Ährenlese“ XXIV
- 12) „Ährenlese“ XXXIV
- 13) „Ährenlese“ XIX
- 14) „Ährenlese“ XXVI
- 15) „Ährenlese“ XXVII
- 16) „Das Buch der Gewißheit“, Frankfurt 1958, S. 19 und 102
- 17) „Der verheißene Tag ist gekommen“, Sonne der Wahrheit, 20. Jg. 1950, S. 28; vgl. „Brief an den Sohn des Wolfes“, S. 31
Wenn Sie kein Bahá’í sind...[Bearbeiten]
Wenn Sie kein Bahá’í sind, werden Ihnen die Bahá’í unter Ihren Freunden manchmal auf die Nerven gehen. Auf alles wissen sie eine Antwort. Fragen, die den schärfsten Verstand und das abgeklärteste Gemüt durcheinanderbringen, regen sie gar nicht auf: Sie wissen, wie diese Probleme letzten Endes zu lösen sind. Umwälzungen, die die Welt in ihren Grundfesten erschüttern und die menschliche Kultur zu vernichten drohen, bringen die Bahá’í nicht aus der Ruhe: Sie wußten die ganze Zeit, daß es so kommen mußte, und sie legen bereits eine Grundlage. Überdies können sie Ihnen den Plan umreißen, nach welchem dieses neue Bauwerk errichtet wird. Es gibt nichts, wovon sie nicht eine hinreichend klare Vorstellung hätten, von der Entwicklungstheorie bis zum Jüngsten Gericht. Sie behaupten keineswegs, sie wüßten dies alles vermöge eigener übermenschlicher Gedankentätigkeit; vielmehr wissen sie es durch ihre Religion, und es ist nur zu verständlich, daß gerade hier Ihre Zweifel ansetzen. Die Religion hat schon manche persönliche Schwierigkeit gelöst, schon manches Leben gewandelt. Aber kann es wirklich sein, daß sie so vielen verschiedenartigen Fragen auf den Grund ginge?
Tatsächlich ist die Religion häufig den Dingen des praktischen Lebens auf den Grund gegangen. Sie brauchen nur das Alte Testament zu lesen, um festzustellen, wie Moses Gesetze für das Gemeinschaftsleben gab, die heute noch in Kraft sind. Wenn sich die Lehren Christi in erster Linie mit der geistigen Entwicklung des einzelnen befaßten, so hat später Muhammad recht genaue Verordnungen und Gebote gegeben, um damit Arabien aus der Barbarei herauszuführen und den islamischen Staat zu schaffen.
Seit den Zeiten Muhammads ist das Leben immer verwickelter geworden; die Wissenschaften und die Technik haben sich derart stürmisch entfaltet, daß der Mensch zu der Überzeugung kommen konnte, er habe sich von Gott emanzipiert und sei nun völlig auf sich selbst gestellt. Aber die fortschreitende Industrialisierung der Welt, das Zusammenrücken ihrer vielen Völker mit ihren verschiedenartigen Kulturen — dies alles hat so verwickelte und so zahlreiche Probleme geschaffen, daß sie den menschlichen Geist völlig durcheinandergebracht haben. Und plötzlich wird uns bewußt, daß wir diese Probleme unverzüglich lösen müssen. Vielleicht könnte uns dabei doch die Religion zu Hilfe kommen? Ihre Bahá’í-Freunde wissen um diese Hilfe, die in der Offenbarung Bahá’u’lláhs zum Ausdruck kommt.
Die Hilfe Gottes für unsere Zeit ist weder unausgereift noch
bruchstückhaft. Fast fünfzig Jahre lang haben der Báb und Bahá’u’lláh
in Wort und Schrift den Willen Gottes niedergelegt. ‘Abdu’l-Bahá hat
ihn neunundzwanzig Jahrelang als
[Seite 661]der bevollmächtigte Ausleger auf
unsere besonderen Nöte angewandt. So bieten die Bahá’í-Lehren einen
umfassenden Erziehungsplan; sie berühren jede Frage, die für den
modernen Menschen von Bedeutung ist: Vom persönlichen Edelmut bis
zur wirtschaftlichen Gerechtigkeit, von den Grundlagen familiärer
Beziehungen zu denen eines Weltstaats, von der Erklärung
überkommener theologischer Lehrsätze zu den Fortschritten der
Wissenschaft.
Nicht daß Bahá’u’lláh eine „Betriebsanleitung“ für eine Weltmaschine hinterlassen oder lediglich ein Gesetzbuch geoffenbart hätte! Vielmehr stellte Er eine schöpferische Wahrheit dar und arbeitete sie so weit aus, daß sie auf alle Aspekte des menschlichen Lebens angewandt werden kann: die Einheit Gottes und mit ihr die Einheit der Menschheit. Dieses dynamische Prinzip hat uns Bahá’u’lláh in solcher Weise zugänglich gemacht, daß wir imstande sind, unsere Probleme zu lösen. Er hat uns auf den richtigen Weg geführt, hat uns die Richtung gewiesen und uns die nötigen Werkzeuge in die Hand gedrückt.
Das wichtigste Stück dieser Ausrüstung ist der menschliche Verstand, und wissenschaftliche Erkenntnis ist uns als ein besonders brauchbares Hilfsmittel ans Herz gelegt worden. Wenn wir zum Beispiel ein Kind großziehen, gibt es vieles in den Bahá’í-Schriften, was uns dabei helfen wird, aber wir lernen darin auch, unsere eigene, angeborene Intelligenz und Vorstellungskraft einzusetzen und alle Hilfsmittel zu gebrauchen, die die Wissenschaften uns bieten.
Einen besonders wichtigen Beistand bietet uns Bahá’u’lláh durch eine Verfahrensweise: Die Bahá’í-Beratung leitet sich unmittelbar von dem Grundsatz der Einheit der Menschheit her; sie ist die neue Form von Demokratie für unsere Zeit. Die eingehende und freimütige Diskussion jeder anstehenden Frage auf der Grundlage aller zur Verfügung stehenden Informationen, gefolgt von einem Beschluß, der in Gebetshaltung gefaßt und in der Folge von allen Betroffenen getreulich eingehalten und ausgeführt wird — dieser Weg, unsere Schwierigkeiten anzupacken, führt uns dazu, alle möglichen Hilfsquellen, göttliche wie menschliche, auszuschöpfen; er stellt die Aktion des Ganzen und nicht nur eines Teiles dar. Wenn diese Methode in internationalem Rahmen angewandt wird, wie es innerhalb der Bahá’í-Gemeinschaft geschieht, dann ist die Gewähr für einen wahrhaften Frieden gegeben.
Ihre Bahá’í-Freunde besitzen tatsächlich einen großen Teil der Antworten, aber sie wären die letzten, diese alle für sich zu beanspruchen; denn sie haben erst damit begonnen, aus dem tiefen Quell der Aufklärung zu schöpfen, der ihnen zur Verfügung steht. Die Tiefe dieser Quelle macht sie weit eher demütig als selbstgefällig und weckt in ihnen den Wunsch, auch Sie daran teilhaben zu lassen.
- Garreta Busey
- —————
Aus “World Order. The Bahá’í Magazine“, Wilmette/Ill., USA, Oktober 1947
Sommerschulen 1966: Im Bilde festgehalten[Bearbeiten]
Auch in diesem Sommer veranstaltete der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland e. V. wieder zwei Sommerschulen. Vom 17. bis zum 30. Juli trafen sich die Bahá’í und ihre Gäste in der Heimvolkshochschule Hustedt bei Celle, einen Monat später, im August, vereinte man sich im Jugendleiterzentrum Gauting bei München. Das Leitthema der diesjährigen Sommerschulen lautete: „Neues Weltbewußtsein“. Wesentliche Referate und Diskussionen befaßten sich u.a. mit dem II. Vatikanischen Konzil, dem neuen Bündnis Gottes durch Bahá’u’lláh, der weltweiten Verbreitung des Bahá’í-Glaubens und der sozialen Gerechtigkeit unter den Völkern.
- IN GAUTING: Man unterhält sich vergnügt und studiert im kleinen Kreise.
- SOMMERSCHULE HUSTEDT: Vor und in der Heimvolkshochschule bieten sich stets Gelegenheiten für ausführliche Diskussionen.
- Eins, zwei, drei... Schnell ein Bild für den Fotografen.
Frohe Tage am Bodensee[Bearbeiten]
Über 50 Buben und Mädchen waren zur vierten Bahá’í-Kindersommerwoche nach Immenstaad am Bodensee gekommen, Sie kamen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Afrika und Amerika, und alle bildeten rasch eine frohe Gemeinschaft, so daß Helfer und Betreuer stets ihre helle Freude hatten.
Die täglichen Lehrstunden über die Bahá’í-Religion wurden in drei Altersgruppen getrennt gehalten, wobei die Gruppe der Älteren (ab 13 Jahren) sich sehr intensiv mit den Lehren Bahá’u’lláhs befaßte. Auffallend war auch die Bereitschaft der „Mittelstufe“, die sich eingehend mit dem Lehrstoff auseinandersetzte, während die jüngsten Teilnehmer sich auf ihre Weise beschäftigten. So verrannen in lebhafter Art die Vormittage. Nachmittags tummelte man sich im Garten, im Zeltlager, am Strand oder im Wasser.
Höhepunkte waren die Ausflüge zu den Pfahlbauten und auf die Tropeninsel Mainau. Abends fand man sich zusammen zum Singen und Spielen oder zu Lichtbildervorträgen aus dem Leben des Báb, von Bahá’u’lláh und ‘Abdu’l-Bahá; ein alter Film über den Besuch 'Abdu'l-Bahás in Amerika ließ die Gestalt des Meisters lebendig werden. Filme von den letzten Kindersommerwochen ergänzten das Programm. Am letzten Abend schloß die Sommerwoche mit einer Feierstunde am Lagerfeuer. Jugendlieder und eine Wurstbraterei machten dabei große Freude. Am nächsten Tag ging die junge Schar auseinander. Jeder zog ab mit der Freude im Herzen, Freundschaften geschlossen zu haben, und mit dem Vorsatz, im nächsten Jahre wieder zu kommen.
- P.R.
- Anfang August trafen sich junge deutsche und ausländische Bahá’í in Bad Mergentheim zur Jugendsommerschule. Die Veranstaltung hatte auch in der lokalen Presse ein erfreuliches Echo gefunden. Hier einige der Teilnehmer beim „obligatorischen“ Gruppenfoto.
- Jamshed Fozdar, Mitglied des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í von Vietnam, und seine Frau Parvati besuchten kürzlich während einer Vortragsreise die Bundesrepublik. Fozdar sprach in Frankfurt über das Thema: „Gibt es einen Weg zum Weltfrieden?“ Unser Bild zeigt ihn mit seiner Gattin auf dem Frankfurter Flughafen.
Bahá’í-Gemeinschaft ist keine Kirche[Bearbeiten]
Vom Ursprung und der Zielsetzung des Glaubens
Erst seit etwa 120 Jahren haben wir genügend Tatsachenmaterial über die Menschheitsgeschichte, um uns ein genaues Bild von der gesellschaftlichen Entwicklung, ihren Ausmaßen und ihrer Zielrichtung zu machen. Das Ergebnis dieser Wissenanhäufung ist gewaltig. Heute ist es klar verständlich, daß die Geschichte gewissen Rhythmen, Zyklen oder periodischen Änderungen unterliegt. Große Kulturabschnitte sind in wirre, chaotische Zeitläufe, die durch Kriege, Gewaltherrschaft, Sittenzerfall, Materialismus und den Machtkampf von Gruppeninteressen gekennzeichnet sind, abgeglitten. Es bedarf keines Beweises, daß unsere Gegenwart eine derartige Periode des Verfalls und des Chaos ist.
In religiöser Hinsicht ist für ein sterbendes Zeitalter bezeichnend, wie sehr es über Fragen der Organisation und des Bekenntnisses in Sektierertum ausmündet. Dies wird in jedem Zeitalter deutlich, das den Sinn für Zusammengehörigkeit und für die göttliche Führung verloren hat.
Die Gemeinschaften von Menschen, die sich in solchen Übergangszeiten zwischen den großen Kulturepochen inmitten des zunehmenden inneren Verfalls und der chaotischen Vernichtung darum mühen, den Grundsätzen der neuen Zeit gerecht zu werden, stehen unter derselben Anklage des Sektierertums, die auf die alte Ordnung zutrifft. Was während des Niedergangs und Zusammenbruchs des Römerreiches gegen die Christen vorgebracht wurde, waren nichts weiter als Spiegelungen der Mißstände in der römischen Zivilisation. Den frühen Christen wurde zur Last gelegt, sie seien sittenlos, sie zettelten Umsturzpläne gegen die herrschende Gesellschaftsordnung und Aufruhr gegen den Kaiser an, sie seien gottlos und übten schändliche geheime Riten aus. Alle diese Untugenden können wir heutzutage als Merkmale des römischen Lebens erkennen, finden aber keine Anhaltspunkte dafür bei den Christen jener Zeit; wir sehen, daß es sich psychologisch lediglich um eine Verlagerung des Schuldgefühls derjenigen handelt, die sich hinter der alten Ordnung verschanzten.
Häufig wird den Bahá’í vorgeworfen, sie würden lediglich eine neue Kirche bilden. Auch wenn wir diesen Vorwurf als unbewußte Schuldverlagerung in einer Welt verstehen, die sich durch sektiererische Gruppenbildungen ihrer Lebenskraft beraubt, müssen wir darauf vorbereitet sein, die Unterschiede zwischen einer Kirche der alten Bekenntnisse und der Bahá’í-Weltgemeinschaft klar aufzeigen zu können.
Der erste wichtige Unterschied liegt im Ursprung. In den Lehren
Jesu gibt es keine deutliche Spur für den Plan einer religiösen
Organisation. Demzufolge kann jeder der verschiedenen Zweige der Christenheit
direkt oder mittelbar ein größeres Maß an Ansprüchen herleiten als die
anderen. Aber Bahá’u’lláh, dessen weltweites Ziel es ist, auf einem zur
Einheit geführten Planeten Gerechtigkeit zu schaffen, entwarf
[Seite 667]Selbst eine
Charta des Gemeinschaftslebens, für die es kein klar
skizziertes Gegenbeispiel in der Geschichte gibt. Er gebot die Errichtung
von Häusern der Gerechtigkeit und umriß ihre Pflichten und Befugnisse.
Er gab uns auch ein neues Modell für Gemeinschaftszentren im Haus der
Andacht und den damit verbundenen Erziehungs- und Wohlfahrtseinrichtungen.
Bahá’u’lláh hatte so umfassendes Verständnis für das Wesen des Menschen, daß Er nicht nur das Gebot der Einheit aussprach, sondern zugleich die Mittel und Wege vorsah, durch die das göttliche Gebot befolgt werden kann. Die Grundzüge dessen, was wir die Bahá’í-Verwaltungsordnung nennen, sind in den Büchern und Sendschreiben Bahá’u’lláhs aufgezeichnet. ‘Abdu’l-Bahá hat diese Ordnung in Seinen Ansprachen und Briefen eingehend erläutert und ihr in Seinem Willen und Testament die endgültige Form gegeben, während Shoghi Effendi als Hüter ihr genialer Baumeister war. „Denn Bahá’u’lláh... hat nicht nur die Menschheit mit einem frischen und erneuernden Geist erfüllt. Er hat nicht nur gewisse universale Grundsätze verkündet oder eine besondere Philosophie geboten, wie machtvoll, klar und weltumfassend sie immer sein mögen, sondern außerdem, wie nach Ihm auch ‘Abdu’l-Bahá, ungleich den Offenbarungen der Vergangenheit, klar und ausgeprägt eine Reihe von Gesetzen niedergelegt, festumrissene Einrichtungen geschaffen und die Grundlagen einer göttlichen Ordnung bestimmt...“ 1)
Aber Bahá’u’lláh und ‘Abdu’l-Bahá lösten auch das Problem der Auslegung Ihrer Lehren; denn sie haben „in unmißverständlicher und nachdrücklicher Sprache jene Zwillingseinrichtungen des Hauses der Gerechtigkeit und des Hütertums zu Ihrer erwählten Nachfolge ausersehen; dazu bestimmt, die von den Begründern des Glaubens der Welt vermachten Grundsätze anzuwenden, die Gebote zu verbreiten, die Einrichtungen zu schützen, den Glauben getreulich und verständnisvoll den Erfordernissen einer fortschreitenden Gesellschaft anzupassen und das unverderbbare Erbe zu vollstrecken“ 2). So finden wir in den Lehren selbst die Einrichtungen für das religiöse Leben der Gläubigen und die Vollmacht für die Erläuterung der Lehren verankert.
„Die Jünger Bahá’u’lláhs in allen Ländern, wo immer sie arbeiten und sich mühen, haben vor ihren Augen in klarer, unmißverständlicher und nachdrücklicher Sprache alle Gesetze, Bestimmungen und Grundsätze und jegliche Führung, die sie für den Verfolg und die Erfüllung ihrer Aufgabe benötigen“ 3).
Wenn wir vom Ursprung der Bahá’í-Institutionen, von der Einrichtung
des Hütertums für die Auslegung der Lehren und dem Universalen
Haus der Gerechtigkeit als der Institution für die fortschreitende
Entfaltung des Glaubens ausgehen und die unvergleichliche Klarheit der
Bahá’í-Lehren ins Auge fassen, stoßen wir auf einen weiteren Unterschied
zwischen diesem Glauben und den Kirchen der Vergangenheit.
„Jene ungerechtfertigten Bräuche in Verbindung mit dem Sakrament der
Taufe, dem Abendmahl, der Beichte, mit Asketentum, Priesterherrschaft,
umständlichem Zeremoniell, heiligem Krieg und Vielehe, wurden durch
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die Feder Bahá’u’lláhs allesamt schonungslos beseitigt, während die
Härte und Strenge gewisser Regeln wie des Fastens, welche für das
Andachtsleben des einzelnen notwendig sind, beträchtlich gemildert
wurden“ 4).
Ein anderer wesentlicher Unterschied ist die Einstellung der Bahá’í-Gemeinschaft zur Einheit. Praktisch gesprochen ist das Wort „Kirche“ gleichbedeutend mit Teilung. Die Bahá’í-Gemeinschaft umfaßt Lebensbereiche, die bei den alten Bekenntnissen getrennt sind; sie umschließt einen Querschnitt durch die gesamte Menschheit: Arme und Reiche, einfache und gebildete Menschen, alle Rassen, alle vormaligen Bekenntnisse.
Sodann gibt es im Bahá’í-Glauben das Moment des Gehorsams, das eine Absage an sektiererische Wahlentscheidungen bedeutet. Im Bereich der alten Bekenntnisse wurde die Religion im allgemeinen durch die Position des einzelnen im Leben bestimmt. Wenn jemand mit einer bestimmten Kirche unzufrieden war, ging er über die Straße und schloß sich einem anderen Glaubenszweig an. Aber Bahá’u’lláhs Gebot der Einheit macht dies in der Bahá’í-Welt unmöglich.
„Keine der geschichtlichen Ursachen für die Vereinigung von Menschen hat diese weltweite geistige Gemeinschaft geschaffen. Weder die Sprache noch die Blutszugehörigkeit, ein gemeinsames Staatswesen, das Brauchtum oder gemeinschaftlich erduldete Übelstände haben auf die Bahá’í eingewirkt und ihnen einen festen Mittelpunkt der Interessen oder eine Zielsetzung materieller Vorteile verliehen. Ganz im Gegenteil bedeutet die Mitgliedschaft in der Bahá’í-Gemeinde in ihrem Geburtsland bis heute ein gewichtiges Hindernis für das persönliche Fortkommen, und außerhalb Irans stehen die Beweggründe der Gläubigen geradezu im Gegensatz zu den eingefleischten Vorurteilen ihrer Umgebung. Die Sache Bahá’u’lláhs schreitet ohne Unterstützung durch Reichtum, soziales Ansehen oder andere Mittel öffentlicher Einflußnahme fort.“ 5)
Der letzte Unterschied, den wir hier verzeichnen wollen, liegt in der Zielsetzung des Bahá’í-Glaubens. Bahá’u’lláh hat diese Zielsetzung unzählige Male dargelegt: „O ihr Menschenkinder! Die Grundabsicht, die den Glauben Gottes und Seine Religion beseelt, ist es, das Wohl des Menschengeschlechts zu sichern und seine Einheit zu fördern.“ „Das Wohlergehen der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, wofern nicht und ehe nicht ihre Einheit sicher begründet ist.“ — „Dieses Ziel überragt jedes andere Ziel, und dieses Streben ist der Fürst allen Strebens.“ 6).
- William Kenneth Christian
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Aus “World Order, The Bahá’í Magazine“, Dezember 1942; vgl. „Bahá’í News“ (USA), Juni 1966.
- 1) Shoghi Effendi, "The World Order of Bahá’u’lláh", Wilmette/Ill., USA, 1938/1955, S. 19; vgl. „Göttliche Weltordnung“, Bahá’í-Studientexte II/2, Frankfurt/M. 1922, S. 1
- 2) wie 1), S. 20 bzw. S. 2
- 3) wie 1), S. 21
- 4) wie 1), S. 22
- 5) ”The Bahá’í World“, Band VIII, S. 1
- 6) zitiert in „Die Entfaltung der neuen Weltzivilisation“, von Shoghi Effendi, 19-Tage-Brief 14/114, S. 28 f.
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