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SONNE DER WAHRHEIT | ||
ORGAN DER DEUTSCHEN BAHAI | ||
HEFT 6 | IX. JAHRGANG | AUGUST 1929 |
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Abdu’l-Bahás Erläuterung der Bahá’i - Prinzipien.
1. Die ganze Menschheit muss als Einheit betrachtet werden.
Baha’u’lláh wandte Sich an die gesamte Menschheit mit den Worten: „Ihr seid alle die Blätter eines Zweigs und die Früchte eines Baumes“. Das heißt: die Menschheit gleicht einem Baum und die Nationen oder Völker gleichen den verschiedenen Aesten und Zweigen; die einzelnen Menschen aber gleichen den Blüten und Früchten dieses Baumes. In dieser Weise stellte Baha’u’lláh das Prinzip der Einheit der Menschheit dar. Baha’u’lláh verkündigte die Einheit der ganzen Menschheit, er versenkte sie alle im Meer der göttlichen Gnade.
2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.
In religiösen Fragen sollte niemand blindlings seinen Eltern und Voreltern folgen. Jeder muß mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören und die Wahrheit suchen, denn die Religionen sind häufig nichts anderes als Nachahmungen des von den Eltern und Voreltern übernommenen Glaubens.
3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.
Alle göttlichen Verordnungen beruhen auf ein und derselben Wirklichkeit. Diese Grundlage ist die Wahrheit und bildet eine Einheit, nicht eine Mehrheit. Daher beruhen alle Religionen auf einer einheitlichen Grundlage. Im Laufe der Zeit sind gewisse Formen und Zeremonien der Religion beigefügt worden. Dieses bigotte menschliche Beiwerk ist unwesentlich und nebensächlich und verursacht die Abweichungen und Streitigkeiten unter den Religionen. Wenn wir aber diese äußere Form beiseite legen und die Wirklichkeit suchen, so zeigt sich, daß es nur eine göttliche Religion gibt.
4. Die Religion muss die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.
Die Religion ist für die Menschheit die größte göttliche Gabe, die Ursache des wahren Lebens und hohen sittlichen Wertes; sie führt den Menschen zum ewigen Leben. Die Religion sollte weder Haß und Feindschaft noch Tyrannei und Ungerechtigkeiten verursachen. Gegenüber einer Religion, die zu Mißhelligkeit und Zwietracht, zu Spaltungen und Streitigkeiten führt, wäre Religionslosigkeit vorzuziehen. Die religiösen Lehren sind für die Seele das, was die Arznei für den Kranken ist. Wenn aber ein Heilmittel die Krankheit verschlimmert, so ist es besser, es nicht anzuwenden.
5. Die Religion muss mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.
Die Religion muß mit der Wissenschaft übereinstimmen und der Vernunft entsprechen, so daß die Wissenschaft die Religion, die Religion die Wissenschaft stützt. Diese beiden müssen unauflöslich miteinander verbunden sein.
6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.
Dies ist eine besondere Lehre Baha’u’lláhs, denn die früheren Religionen stellen die Männer über die Frauen. Töchter und Söhne müssen gleichwertige Erziehung und Bildung genießen. Dies wird viel zum Fortschritt und zur Einigung der Menschheit beitragen.
7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.
Alle Propheten Gottes kamen, um die Menschen zu einigen, nicht um sie zu trennen. Sie kamen, um das Gesetz der Liebe zu verwirklichen, nicht um Feindschaft unter sie zu bringen. Daher müssen alle Vorurteile rassischer, völkischer, politischer oder religiöser Art abgelegt werden. Wir müssen zur Ursache der Einigung der ganzen Menschheit werden.
8. Der Weltfriede muss verwirklicht werden.
Alle Menschen und Nationen sollen sich bemühen, Frieden unter sich zu schließen. Sie sollen darnach streben, daß der universale Friede zwischen allen Regierungen, Religionen, Rassen und zwischen den Bewohnern der ganzen Welt verwirklicht wird. Die Errichtung des Weltfriedens ist heutzutage die wichtigste Angelegenheit. Die Verwirklichung dieses Prinzips ist eine schreiende Notwendigkeit unserer Zeit.
9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung geniessen.
Alle Menschen müssen erzogen und belehrt werden. Eine Forderung der Religion ist, daß jedermann erzogen werde und daß er die Möglichkeit habe, Wissen und Kenntnisse zu erwerben. Die Erziehung jedes Kindes ist unerläßliche Pflicht. Für Elternlose und Unbemittelte hat die Gemeinde zu sorgen.
10. Die soziale Frage muss gelöst werden.
Keiner der früheren Religionsstifter hat die soziale Frage in so umfassender, vergeistigter Weise gelöst wie Baha’u’lláh. Er hat Anordnungen getroffen, welche die Wohlfahrt und das Glück der ganzen Menschheit sichern. Wenn sich der Reiche eines schönen, sorglosen Lebens erfreut, so hat auch der Arme ein Anrecht auf ein trautes Heim und ein sorgenfreies Dasein. Solange die bisherigen Verhältnisse dauern, wird kein wahrhaft glücklicher Zustand für den Menschen erreicht werden. Vor Gott sind alle Menschen gleich berechtigt, vor Ihm gibt es kein Ansehen der Person; alle stehen im Schutze seiner Gerechtigkeit.
11. Es muss eine Einheitssprache und Einheitsschrift eingeführt werden.
Baha’u’lláh befahl die Einführung einer Welteinheitssprache. Es muß aus allen Ländern ein Ausschuß zusammentreten, der zur Erleichterung des internationalen Verkehrs entweder eine schon bestehende Sprache zur Weitsprache erklären oder eine neue Sprache als Weltsprache schaffen soll; diese Sprache muß in allen Schulen und Hochschulen der Welt gelehrt werden, damit dann niemand mehr nötig hat, außer dieser Sprache und seiner Muttersprache eine weitere zu erlernen.
12. Es muss ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.
Nach dem Gebot Gottes soll durch das ernstliche Bestreben aller Menschen ein Weltschiedsgerichtshof geschaffen werden, der die Streitigkeiten aller Nationen schlichten soll und dessen Entscheidung sich jedermann unterzuordnen hat.
Vor mehr als 50 Jahren befahl Baha’u’lláh der Menschheit, den Weltfrieden aufzurichten und rief alle Nationen zum „internationalen Ausgleich“, damit alle Grenzfragen sowie die Fragen nationaler Ehre, nationalen Eigentums und aller internationalen Lebensinteressen durch ein schiedsrichterliches „Haus der Gerechtigkeit" entschieden werden können.
Baha’u’lláh verkündigte diese Prinzipien allen Herrschern der Welt. Sie sind der Geist und das Licht dieses Zeitalters. Von ihrer Verwirklichung hängt das Wohlergehen für unsere Zeit und das der gesamten Menschheit ab.
SONNE DER WAHRHEIT Organ der deutschen Bahá’i Herausgegeben vom Verlag des deutschen Bahá’i-Bundes, Stuttgart Verantwortliche Schriftleitung: Alice Schwarz - Solivo, Stuttgart, Alexanderstraße 3 Preis vierteljährlich 1,80 Goldmark, im Ausland 2.– Goldmark. |
Heft 6 | Stuttgart, im August 1929 Kamál — Vollkommenheit |
9. Jahrgang. |
Inhalt: Das Bündnis und Testament von Bahá’u’lláh. — Das Tablet über den Zweig. — Die Sonne der Seele. — 'Abdu'l-Bahá wird zum Ritter geschlagen. — Die geheimnisvollen Mächte der Kultur. — Freude! — Aus 'Abdu'l-Bahá und das verheißene Zeitalter, von Ruth White. — Die Frau des Morgenlandes.
Motto: Einheit der Menschheit — Universaler Friede — Universale Religion.
Der Ruf Bahá’u’lláhs.
Wahrlich, der Mensch, der belebt ist durch den Hauch Gottes und an diesem Tage sich nicht erhebt, ist in der Tat vor Ihm, dem König der Namen und Eigenschaften tot.
Erhebt euch aus den Gräbern der Wollust und Begierde und wendet euch zum Königreich des Herrn, der da regiert auf dem Throne der Welt, damit ihr das, was euch vom Herrn, dem Allmächtigen verheißen wurde, sehen möget. —
Erhebt euch, o ihr sterblichen Menschen! Seid treu den Geboten und standhaft in der Liebe zu Gott und bestätigt Mich, wodurch ihr näher zu Gott gelangt. —
Es ist eure Pflicht, mit den Schwingen der Freude und der Glückseligkeit aufzusteigen zum höchsten Gipfel, zur Höhe heiliger Freude.
Er hat euch in den Tagen der Auferstehung zum größten Führer geleitet. —
Diejenigen, die sich am Tage der großen Auferstehung durch die größte Manifestation (Bahá’u’lláh) von den Toten erheben und das wahre Leben — durch das erhabene Wort Gottes finden, werden nie mehr zur Finsternis zurückkehren.
Das Bündnis und Testament von Bahá’u’lláh.
Aus Baha’i-Scriptures, Pag. 255.
Im Namen Gottes, der von den Höhen der Macht herniederstrahlt!
Wahrlich, das Wort des Allgepriesenen kündet frohe Botschaft denen, die auf Erden sind über das Kommen des „Größten Namens“, der Sein Bündnis unter den Nationen aufrichtet. Wahrlichh, Er ('Abdu'l-Bahá) ist Ich selbst; die Ausstrahlung Meiner Idendität, der Aufgangsort Meiner Lehre, der Himmel Meiner Gnade, das Meer Meines Willens, die Leuchte Meiner Führung, der Weg Meiner Gerechtigkeit, die Standarte Meiner Liebe.
Wer sich Ihm zuwendet, hat sich Meinem Antlitz zugewandt und ist erleuchtet durch das Licht Meiner Schönheit; er hat Meine Einheit erkannt und Meine Einzigkeit bezeugt. Der, welcher Ihn verleugnet, hat sich des Salsibils Meiner Liebe und des Kawther Meiner Gnade beraubt wie auch des Kelches Meiner Barmherzigkeit und des Weins, durch den die Aufrichtigen angezogen werden und die Monotheïsten ihren Flug in die Athmosphäre Meines Erbarmens genommen haben. Dies weiß kein einziger außer Dem, welchem ich die Angelegenheit in Meinem Tablet geoffenbart habe.
Das Tablet über den Zweig.*)
Aus der erhabenen Feder Bahá’u’lláhs. Deutsch von A. Schwarz.
*) Bahá’u’lláh nennt hier 'Abdu'l-Bahá „den Zweig“.
Er ist Gott in Ewigkeit!
Wahrlich, die göttliche Lehre ist in einer Fülle von Aeußerungen herabgekommen, und die Anhänger der Vielgötterei kommen am heutigen Tag (dem Tag Gottes)in große Verlegenheit. Wahrlich, die Engel der Verkündigung sind mit Bannern der Erleuchtung vom Himmel der Offenbarung im Namen Gottes, des Kraftvollen, des Mächtigen, herabgestiegen. Heute sind alle Gottgläubigen glücklich über den Sieg Gottes und über Seine Alleinherrschaft, aber die Gottesleugner geraten in sichtliche Bestürzung.
O ihr Völker! Entflieht ihr der Gnade Gottes, nachdem sie doch alles Bestehende zwischen Himmel und Erde umfaßt? Hütet euch, daß ihr euer eigenes Ich nicht der Gnade Gottes vorzieht und beraubt euch nicht selbst dieser Gnade. Wahrlich, wer es auch sei, der sich aus diesem Grunde abwendet, wird großen Schaden erleiden. Wahrlich, das Wort, das vom Himmel herniederkam, und von dem die Gottgläubigen den auserlesenen Wein des Lebens trinken, ist Gnade. Die Polytheïsten trinken von dem brennenden Wasser Hameen und wenn ihnen diese Worte Gottes vorgelesen werden, entbrennt das Feuer des Hasses in ihrer Brust; also haben sie ihre eigene Person der Gnade Gottes vorangestellt und zählen zu den Unbesonnenen.
Tretet, o Völker, in den Schutz des Wortes! Dann trinket den köstlichen Wein der tiefinneren Bedeutung dessen, was geoffenbart ist, denn darin ist das Kawther (Lebenswasser) des Glorreichen enthalten, welches aus den Höhen des Willens eures Herrn, des Barmherzigen, in wundervoller Klarheit herabkam.
Sprich: Wahrlich, der Ozean der Präexistenz ist abgezweigt von diesem allergrößten Meer. Gesegnet ist darum jeder, der an seinen Ufern bleibt und zu denen zählt, welche sich dort dauernd niederlassen. Wahrlich, dieser allerheiligste Tempel Abhás — das Zweig der Heiligkeit — ist dem Sadrat-el-Muntaha (dem Geoffenbarten Gottes) entsproßt. Gesegnet ist, wer bei Ihm Schutz sucht und zu denen gehört, welche unter diesem bleiben.
Sprich: Wahrlich, der Zweig des Befehls entsprang aus dieser Wurzel, welche Gott fest in den Boden Seines Willens gepflanzt hat und deren Sproß zu einer Stellung erhoben wurde, welche die ganze Existenz umfaßt. Gepriesen sei Er für diese Schöpfung, der Erhabene, der Allmächtige.
O ihr Völker! Nahet euch Ihm und kostet von den Früchten Seines Wissens und Seiner
Weisheit, die Ihm durch den Mächtigen, Allwissenden verliehen ist. Wer nicht davon
genießen will, beraubt sich der Gnade, selbst wenn er an allem, was auf Erden ist,
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'Abdu'l-Bahá wird in Haifa am 27. April 1920 zum Ritter geschlagen.
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Anteil hat. O gehörtet ihr doch zu den Erkennenden!
Sprich: Wahrlich, ein Wort ist hervorgegangen zu gunsten des Größten Tablets, und Gott hat Ihn mit Seinem eigenen Mantel geschmückt und Ihn zum Beherrscher alles dessen gemacht, was auf Erden ist und zu einem Zeichen Seiner Größe und Allmacht unter Seinen Geschöpfen, damit durch Ihn die Menschen ihren Herrn, den Mächtigen, den Kraftvollen, den Weisen lobpreisen und durch Ihn ihren Schöpfer verherrlichen und Gott allein, der in allen Dingen zu erkennen ist, heiligen! Wahrlich, dies ist nichts anderes als eine Offenbarung von seiten des Weisen, des Ur-Ewigen! Ich sage euch, o Völker! Lobet Gott für Seinen Geoffenbarten (den Zweig) denn wahrlich, Er (der Zweig) stellt die höchste Gunst und den vollkommensten Segen für euch dar und durch Ihn wird jedes modernde Gebein belebt.
Wer sich Ihm zuwendet, hat sich gewißlich Gott zugewandt, und wer sich von Ihm abwendet, hat sich von Meiner Schönheit abgewandt, Meinen Beweis abgeleugnet und gehört zu den Verletzern des Bündnisses Gottes. Er ist unter euch das Gedächtnis an Gott, Sein Vertrauen in euch, Seine Offenbarung an euch und Sein Erscheinen unter den Dienern, die Ihm nahestehen. So ist Mir befohlen, euch die Botschaft Gottes, eures Schöpfers, zu übermitteln, und Ich habe euch den Mir erteilten Befehl überbracht, wovon Gott, Seine Engel, Seine Boten und Seine heiligen Diener Zeugen sind.
Sprecht von den Düften der Rosen Seines Gartens und stellt euch nicht zu denen, die ihrer beraubt sind. Schätzet die göttliche Gnade, die euch zuteil wird und verbergt euch nicht, denn wahrlich, Wir haben Ihn ausgesandt in Gestalt eines Menschen. So lobet denn Gott, den Schöpfer, der durch Seinen weisen und unumstößlichen Befehl nach Seinem Willen tut.
Wahrlich, wer sich selbst außerhalb des Schutzes des Zweiges stellt, verirrt sich tatsächlich in der Wildnis der Verwirrung und wird von der Glut der Selbstsucht verzehrt; er gehört zu denen, die umkommen.
Eilet, o Völker, unter den Schutz Gottes, damit Er euch beschütze vor der Hitze des „Tages“, an welchem niemand eine Zuflucht oder ein Obdach für sich finden wird, es sei denn unter dem Schutze des Namens Gottes, des Barmherzigen, des Vergebenden. Kleidet euch, o ihr Völker, mit dem Gewand der Gewißheit, damit Er euch beschütze vor den Pfeilen des Zweifels und der übergroßen Aengstlichkeit und ihr zu denen gehört, die Gewißheit erlangt haben in den Tagen, an denen niemand jemals sicher sein und keiner in der Lehre fest gegründet sein wird, es sei denn, daß er sich von allem, was die Menschen besitzen, trennt und sich nach dem heiligen und strahlenden Ausblick wendet.
O ihr Menschen! Seht ihr Jebt*) als einen weiteren Helfer außer Gott an und trachtet nach dem Taghut**) als einem Gott neben eurem Herrn, dem Allmächtigen? O Menschen, gebt deren Erwähnung auf und greifet nach dem Kelch des Lebens im Namen eures Herrn, des Barmherzigen. Wahrlich, bei Gott, die existierende Welt ist durch einen Tropfen daraus erquickt; gehörtet ihr doch zu den Wissenden!
*) Ein Götze, der von den alten Aegyptern angebetet wurde und von dem der Name Aegypter abgeleitet wird.
**) Ein weiterer Götze.
Sprich: an diesem Tag gibt es für niemanden eine Zuflucht außer im Befehl Gottes
und für keine Seele eine Erlösung ausser in Gott. Wahrlich, dies ist die Wahrheit,
und neben der Wahrheit gibt es nichts anderes als Irrtum.
Wahrlich, Gott macht es jeder Seele zur Pflicht, Seine Sache. (die Botschaft) nach bester Fähigkeit zu verkünden. So ist der Befehl durch die Hand der Macht und Kraft im Tablet der Majestät und Größe ergangen.
Wer in dieser Sache Gottes auch nur eine Seele belebt, ist gleich einem, der alle Diener belebt; der Herr wird ihn erheben am Tage der Auferstehung in den Ridwan der Einheit und ihn mit Seinem eigenen Mantel schmücken. Dies wird tun der Beschützer, der Mächtige, der Großmütige. Auf diese Weise werdet ihr eurem Herrn dienen und an diesem „Tag“ wird nichts anderes als dies erwähnt werden vor Gott eurem Herrn und dem Gott eurer Vorfahren.
Was dich betrifft, o Diener, höre auf die Anweisungen, die dir in dem Tablet gegeben
sind und suche die Gnade deines Herrn allezeit. Verbreite das Tablet unter denen, die
an Gott und an Seine Worte glauben,
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damit sie befolgen, was darin steht und sie zu denen zählen, die lobenswert sind.
Sprich: O Völker, veranlaßt kein Verderben auf Erden und streitet euch nicht untereinander, denn dies ist derer wirklich nicht würdig, die Schutz suchen bei ihrem Gott und eine Stufe einnehmen, die wirklich gesichert bleiben wird.
Wenn ihr einen Dürstenden begegnet, so gebt ihm aus dem Kelch Kawtha und Tasmeen zu trinken ‚und wenn ihr einen Achtsamen trefft, so lest ihm die Worte Gottes, des Mächtigen, des Gnadenreichen, des Mitleidigen vor. Redet in vortrefflichen Aeusserungen, und wenn ihr Menschen findet, die sich der Heiligung Gottes nähern, dann ermahnt sie; sonst überlaßt sie sich selbst und überlaßt sie dem Pfuhl der Hölle. Hütet euch, die Perlen der tiefen Bedeutung an jeden Albernen und Tauben zu verschleudern. Die Blinden sind wahrlich des Lichtes beraubt und unfähig, den Stein von der erhabenen köstlichen Perle zu unterscheiden.
Wahrlich, du könntest die machtvollsten, vortrefflichsten Worte Gottes tausend Jahre lang an einen Stein hinsprechen; würde dieser sie verstehen oder würden sie irgend einen Einfluß auf ihn ausüben? Beim Allmächtigen, dem Ewigen, niemals! Würdest du alle Worte Gottes einem Tauben vorlesen, würde er einen einzigen Buchstaben davon verstehen? Bei der Schönheit, der Macht des All-Ewigen, nein!
Damit haben Wir dir einige der Juwelen der Weisheit und der Offenbarung übermittelt, damit du nach dem Ziel, deinem Gott, aufschauen möchtest und dich von allen Geschöpfen freimachst. Möge der Geist und die Herrlichkeit mit dir sein und mit denen, die aut der Ebene der Heiligkeit weilen und in der Sache ihres Herrn in offensichtlicher Standhaftigkeit verharren.
Dieses Tablet wurde in Adrianopel für Mirza Ali Reza geoffenbart, damit er durch Gottes Gnade mit geistiger Nahrung versehen werde.
Die Sonne der Seele.
Eine Erklärung von 'Abdu'l-Bahá aus Baha’i-Scriptures, Pag. 228. Deutsch von A. Schwarz.
Du fragst über die Menschen, (die Propheten und die Heiligen ausgenommen), ob diese nach ihrem scheinbaren Tod erhalten bleiben oder verlöschen, und wenn wir sagen, sie bleiben bestehen, ob dann die Empfindung und Wahrnehmung eines z.B. Geisteskranken oder von einer andern Art von Krankheit Heimgesuchten beendet ist. Wenn nun der Tod die Auflösung der materiellen Zusammensetzung und der Elemente bedeutet, wie kann man nach dem Tode die Art der Persönlichkeit, ihr Empfinden verstehen, begreifen oder sich ausdenken, nachdem die materielle Zusammensetzung aufgelöst ist?
Wisse, daß der Geist unvergänglich und in seiner Stufe ist, und bei diesen kranken Menschen Ohnmacht die hindernde Ursache bildet. Es kann aber eine körperliche Schwäche niemals den Geist berühren. Wenn du z.B. eine brennende Lampe betrachtest, so siehst du ihr Licht leuchten, wenn aber ein Gegenstand vor die Lampe gestellt ist, so wird das (direkte) Licht abgehalten, aber in seinem Umkreis ist es hell. Durch die Ursache der Abhaltung ist das Licht gehindert, hell aufzuscheinen. Das gleiche ist mit dem Menschen der Fall; wenn er sich in einem Krankheitszustand befindet, so ist der Ausdruck der Kraft und Macht des Geistes einer Hinderungsursache zufolge gehemmt und verhüllt. Wenn aber der Geist den Körper verlassen hat, geht dieser mit solcher Macht und Ueberlegenheit aus ihm hervor, daß alle herkömmlichen Vergleiche hiefür unzulänglich sind. — Die auserlesenen, reinen und heiligen Geister werden sich in ihrer Vollkraft und Glückseligkeit befinden.
Wenn beispielsweise eine angezündete Kerze in eine eiserne Blendlaterne gestellt wird,
so ist ihr Licht nicht sichtbar, sie brennt aber dennoch. Schaue nach der Sonne,
wenn sie von Wolken bedeckt ist, so strahlt und leuchtet sie dennoch in ihrer Weise,
aber der Wolken wegen erscheint ihre Leuchtkraft geschwächt. Nehme nun an,
daß der menschliche Geist dieser Sonne gleicht und alles andere der Körper ist, der
durch dieses Licht und seine Strahlen hell und erleuchtet wird. Dem ist so, wenn sich
kein Anstoß der Verhinderung vorfindet, um das Licht zu verhüllen. Dem Anblick
erscheint die Sonne matt hinter dem Schleier,
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wenn sich Wolken vor ihr bilden, obgleich Helle auf der Landschaft liegt. Ziehen
aber die Wolken vorüber, wird die Sonne (in ihrer vollen Pracht) wieder sichtbar.
In beiden Fällen ist die Sonne sich gleich geblieben. Dem zu vergleichen ist die
„Sonne der Seele“, die immer erwähnt und benannt werden wird als der „Geist“.
Und wiederum schaue Dir die Zartheit des Fruchtknotens an, den der Baum ansetzt, bevor er sich entwickelt. In diesem Fruchtansatz ruht der Baum selbst in einem so zarten Zustand, daß er nicht erkannt werden kann. Wenn aber der Baum zersägt wird, so ist nicht das kleinste Atom der Frucht noch ihre Form zu finden. Entwickelt sich aber der Fruchtknoten am Baum, so erscheint die Frucht in wundervollem, herrlichem und buntem Kleid in üppiger Pracht, wie es bei allen fruchttragenden Bäumen zu sehen ist.
Manche Früchte reifen erst, nachdem sie vom Baum genommen sind.
Nun sind etliche Beispiele angeführt, damit du die Beantwortung deiner Frage verstehen magst. Ziehe diese in Vergleich zu dem, was du von Gott, deinem Herrn, dem Herrn aller Geschöpfe, erbeten hast. Gott -— erhaben ist Sein Name — vermag alles unbegrenzte Wissen in einem der erwähnten Beispiele den Menschen zu offenbaren und zu erklären.
Die Hand der Macht tut sich auf, um jedes Beispiel aufzustellen und für ein jedes Wort ist die schützende Hand erhoben und niemand kann es wissen „außer dem, dem Gott es verleiht.“ Und wenn das Siegel, das das Nardengefäll verschließt, zerbrochen wird, durch die Hand der Macht, dann können die Düfte wahrgenommen werden. Der Befehl ruht in der mächtigen Hand Gottes. Er verleiht und nimmt zurück; Er schlägt mit Blindheit und Er vermag sehend zu machen. Er tut, was Er will und befiehlt, wie Er wünscht.
'Abdu'l-Bahá wird zum Ritter geschlagen.
Aus Star of the West. Deutsch von Alice Schwarz.
Folgende hübsche Beschreibung dieser Begebenheit ist durch Dr. M. Bagdadi, der zu jener Zeit in Haifa war, berichtet:
„Unter die derzeitigen Könige und Regenten in der Welt, die davon überzeugt sind, daß 'Abdu'l-Bahá der wohlmeinendste und beste Freund der Menschheit ist, ist König Georg in seiner Regierung zu zählen. Der König sandte einen Orden an 'Abdu'l-Bahá, der den Titel „Sir“ verleiht und Ihn zu einem Mitglied seines Hofes machte. Am 27. April 1920 veranstaltete der Gouverneur und die hohen Staatsbeamten in Haifa (Palästina) in einem wundervollen Garten eine hervorragende Feier für den Ritterschlag 'Abdu'l-Bahás. Bahá’i-Pilger aus Persien, Amerika und allen Teilen der Welt waren zugegen.
Mohammedaner, Christen, Juden, Geistliche, Notabeln und die lokalen Würdenträger von Haifa, Akka und naheliegenden Orten nahmen daran teil. Ein Ehrensitz war inmitten des Gartens aufgerichtet. Englisches Militär stand an beiden Seiten vom Tore ab bis zum Platz, an dem sich 'Abdu'l-Bahá befand, Spalier. Die Militärmusik spielte ihre Weisen, begleitet vom Rauschen der herrlich belaubten Bäume. Die würzige Frühlingsluft dieses sonnigen Nachmittags teilte sich mit fühlbarer Kraft dem Körper mit, ebenso wie die hohe Anwesenheit 'Abdu'l-Bahás die Seele in höhere Welten erhob. Der Gouverneur stand hinter 'Abdu'l-Bahá und überreichte Ihm nach kurzer Ansprache von Mr. Wadie Bistani den Orden im Namen des Königs. Darauf erhob sich 'Abdu'l-Bahá, erwiderte mit einigen Worten und sang ein Gebet zu Ehren der englischen Regierung.“
Die geheimnisvollen Mächte der Kultur.
In persischer Sprache von einem hervorragenden Bahá’i-Philosophen geschrieben und von Johanna Dawud ins Englische übersetzt, deutsch von Karl Klitzing, Schwerin (Meckl.). (Fortsetzung von Heft 3, Mai-Ausgabe.)
Ebenso, wie den Verkehr mit den Menschen zu meiden und zu fliehen und mit
ihnen unfreundlich zu sein, das sicherste Mittel ist, diese mit Furcht zu erfüllen, so ist
Liebe, Güte, Demut und Sanftmut die richtigste Art, die Seelen der Völker zu vereinigen
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und die Herzen anzuziehen. Wenn ein an die Einheit Gottes Glaubender bei seinem
Zusammensein mit einem Andersgläubigen diesem gegenüber abstoßend wäre
oder von seinen Lippen das schreckliche Wort „verunreinigt“ käme, so würde dies
eine Unterredung mit jenem sofort abbrechen.
Wahrlich, jene fremde Person würde nach diesen Worten so gekränkt und betrübt sein, daß sie, selbst wenn sie auch das Spalten des Mondes (Ein Wunder, welches Mohammed zugeschrieben wird.) sehen könnte, sich dennoch nie der Wahrheit nähern würde. Die Folge einer solchen Unterredung würde sein, daß, wenn in dem Herzen der fremden Person auch nur ein wenig Glauben an Gott bestände, sie auch noch diesen verlieren würde und das Ufer des Sees des Glaubens ganz verlassen und sich in die Wüste der Gleichgültigkeit und Nichtigkeit flüchten würde. Wenn dann jene Person in ihr eigenes Land zurückkehrte, würde sie diese Vorkommnisse durch die Zeitungen und auch auf andere Weise bekanntmachen und erklären, daß dem betreffenden Volk die einfachsten Regeln des Anstandes abgehen.
Wenn wir nun, inspiriert durch die Sterne des Himmels der Einheit, auch nur ein wenig über die Verse und Auslegungen des Korans und der autorisierten Bücher nachdenken, wird es klar und deutlich bewiesen, daß ein Mensch, der durch den Glauben gekennzeichnet und der Träger geistiger Tugenden ist, eine Offenbarung der unendlichen Gnade Gottes für alle Geschöpfe bedeutet und für alle Wesen ein Morgen der göttlichen Gaben sein kann. Denn die hohen Eigenschaften der Gläubigen sind Gerechtigkeit, Klugheit, Langmut, Geduld, Güte, Aufrichtigkeit, Redlichkeit, Treue, Liebe, Wohlwollen, das Eintreten für andere und Menschlichkeit.
Wenn ein Wesen wirklich rein und erhaben wäre, würde es solche Mittel anwenden, um die Herzen aller Nationen der Welt anzuziehen; durch göttliche Eigenschaften würde es die ganze Welt auf den rechten Pfad bringen und ihr von dem Kawthar (Ein Fluß im Paradiese) des ewigen Lebens zu kosten geben.
Heutzutage schließen wir leider unsere Augen für alle solche guten Bewegungen, indem wir unsere eigenen zeitlichen Interessen, der ewigen Glückseligkeit der Menschheit, voranstellen und hartnäckige Starrköpfigkeit für die passende Form halten, um unsere Position zu sichern; damit nicht zufrieden, versuchen wir sogar einander ins Unglück und ins Verderben zu bringen.
Wenn wir unser Wissen über Themen verwickelter Natur zeigen, uns unserer Mäßigkeit, Frömmigkeit und Gottesfurcht brüsten wollen, so fangen wir an, dies und jenes zu tadeln und zu versetzen, indem wir sagen: „Dies und jenes Dogma beruht auf Irrtum, diese und jene Handlung läßt viel zu wünschen übrig. Zaid’s religiöse Verehrung ist zu oberflächlich und Amr’s Leben ist vom religiösen Standpunkt aus betrachtet, ungesund. Jemands Begriffe sind europäisiert, jemands privates Leben schadet seinem guten Ruf. X., Y. und Z. sind bei dem Gottesdienste nicht zugegen gewesen, und bekunden keine Gastfreundschaft. Es ist schade, daß der reiche Kaufmann... in diesem Monat nicht in die immerwährenden Gärten hinüberging (d.h. nicht starb) und an der Schwelle des Sitzes der Prophezeiung keine Geschenke, noch irgend welche Almosen zu seinem Seelenheil geopfert wurden! Daher ist die Grundlage unseres Gesetzes zerstört, und keine Kraft mehr im Glauben und in der Frömmigkeit!
„Die Welt ist in großen Irrtum geraten! Ein Widerstand wird wegen der Teilnahme, den die Geistlichkeit an den Gewalttätigkeiten der Statthalter hat, nicht mehr aufgebracht. Das Ende der Welt ist da! Es gibt noch einige Gutsherren, die im Besitz dessen verblieben, was sie zuvor hatten! In der Stadt X. gab es acht verschiedene Richter. Ihre Zahl ging beständig zurück, und es blieben nur fünf davon übrig. Ein jeder von ihnen hatte die Macht, 200 verschiedene Urteile und kontradiktorische Entscheidungen an einem Tage zu fällen, und heute sind es keine 50 mehr. Eine Menge von den Dienern Allah’s pflegten dadurch beunruhigt zu werden, und jetzt leben sie in Frieden. Früher war an einem Tage der Kläger im Recht, am folgenden Tage der Beklagte. Jetzt ist dieser alte Brauch gleichfalls aufgehoben. Welch eine Religion der Ungläubigen! Welch eine Unwissenheit der Götzendiener! Unglückselige Religion! Unglückseliger Glaube! Welch ein Elend! Was für eine falsche Frömmigkeit! Was für ein Abgrund von Unglauben! Wehe! wehe! wehe! Wo ist der Glaube zu finden?... .“
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O Glaubensgenossen! Dies ist die Zeit des Endes, und der Tag des Gerichtes ist nahe!*)
*) Der Tag des Gerichts, die Zelt des Endes sind Ausdrücke, die für einen Bahá’i die Zeit, zu welcher der Welt eine neue Verkündigung gewährt wird, andeuten.
“Durch solche Worte wie ich sie anführte, wird der Geist aller Schwachen erschüttert
und verwirrt, und die Herzen, die arm sind, entsetzen sich. Unwissend‚ wie sie über die
wirklichen Tatsachen sind, vergegenwärtigen sie sich nicht die Beweggründe, die solchen
Aeußerungen zugrunde liegen und wissen nicht, daß hunderttausend persönliche hinter dem
Schleier vorurteilsvoller Worte irgendeiner Person stehen. Sie denken daher,
der Sprecher sei zu solchen Aeußerungen durch religiöse Begeisterung u. durch Ehrfurcht
vor Gott veranlaßt worden, wo hingegen eine solche Person den eigenen Untergang, durch die
Erhebung der Massen vermutet, und seine Aeußerungen darnach richtet. Wenn er dann seine
eigene Blindheit wahrnimmt, und den klaren Blick anderer Menschen erkennt, fängt er an, laut
zu seufzen, zu wehklagen und zu jammern.
Aber es bedarf eines kritischen Blicks, um zu erkennen, daß, wenn solche Herzen die wahre Offenbarung der Gottesfurcht wären, ihre harmonischen Ausstrahlungen sicherlich die Welt erfüllt haben würden, gleich wie es der „Moschus der Seele“ tut.
Worte können in der Welt nur durch Taten bewiesen werden.
Ist dem nicht so, so sind die Unken falsch belehrt,
sie haben nur den Ruf der weißen Falken gehört.
Wenn der Quata**) das Lied des Wiedehopfs***) erlernen wollte,
was aus dem Geheimnis des Wiedehopfs und der Botin Saba’s werden sollte?
**) Ein Vogel von der Gattung des Birkhuhnes, welcher in großen Scharen fliegt und auf eine große Entfernung weiß wo Wasser gefunden werden kann. Sein Ruf lautet Quata! Quata! nach dem er geheißen wird.
***) Der Wiedehopf war der Bote der Königin von Saba an Salomon.
Die Göttlichen, die aus den Büchern von Gottes Offenbarung die Bedeutungen, die Kenntnisse und das unendliche Wissen von der Gottheit haben, diejenigen, deren Herzen die aufnahmefähigen Stellen der Eingebungen der göttlichen Geheimnisse sind, sollten mit aller Beharrlichkeit bei der Behauptung der Ueberlegenheit von Gottes glänzendem Volke***) über die anderen verbleiben.
****) D. h.: rechtschaffenem Volke.
Es steht ihnen zu, nach Mitteln und Wegen zu forschen, was zur Erleuchtung der
Nation beitragen könnte. Wenn irgendeine Seele solche guten Absichten geringschätzt,
wird sie sicherlich am Hofe Gottes nicht angenommen; sie ist gleich denen, die voller
Mängel sind, während sie äußerlich vollkommen erscheinen; sie ist gänzlich verarmt,
wenn sie auch vom Ueberfluß an Reichtümern sprechen würde.
Es ist hierüber gesagt:
„Wenn ein blinder Mensch träge und dabei unfreundlich ist,
sieh ihn einfach wie einen Klumpen Fleisch an, der keine Augen hat.“
Es ist ein großer Unterschied zwischen einer maßgebenden Persönlichkeit und einem, der diese nachahmt. Der erste ist David selbst, der letztere ist nur wie der Klang seiner Stimme.
Kenntnis und Weisheit, Reinheit, Aufrichtigkeit und Freiheit der Seele sind bisher nicht nach äußerer Erscheinung und Kleidung zu beurteilen gewesen und werden dies auch künftig nicht sein.
Denken wir ernster über den treffenden Ausspruch nach, den ich einst auf Reisen von einer hochgestellten Persönlichkeit vernahm: „Nicht jeder Turban*) ist ein Beweis für Frömmigkeit und Weisheit‚ und auch nicht jede Kopfbedeckung ist ein Beweis für Unwissenheit und Unvollkommenheit.“
*) Die Geistlichen in Persien tragen breite Turbane um ihren Fez.
Ja! Manch einer, der eine Kopfbedeckung trug, hat das Banner des Wissens hochgehalten,
und leider hat mancher, der einen Turban trug gesetzliches Recht ungültig gemacht.
Drittens fordern die heiligen Worte: „Dem sinnlichen Verlangen nicht nachzugeben.“
Welch’ wichtige Bedeutung ist hierin enthalten! Worte sind unzulänglich und durch
einfache Ausführungen kann dies nicht erklärt werden. Sie bilden die natürliche
Grundlage aller guten Eigenschaften der Menschheit. Sie gleichen wahrlich einem
Lichte in der Welt und sind die wertvollste Grundlage der höchsten geistigen Sittlichkeit
der Menschheit! Es scheint dies auch alle Veranlagungen auszugleichen und ist das
Mittel, allen Gebräuchen der Menschen, die dem Vergnügen dienen, Schranken zu setzen,
denn sinnliches Begehren ist gleich einem Feuer, das tausende von Gebäuden, die
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durch einsichtsvolle Menschen erbaut sind, zerstört. Selbst das Meer ihrer Wissenschaften
und ihrer Künste war nicht fähig, diesen lodernden Brand zu löschen.
Wie oft hat es sich ereignet, daß ein Mensch, der mit den besten Eigenschaften ausgestattet und mit dem Schmuck der Gelehrsamkeit begünstigt war, einem sinnlichen Verlangen nachging, seinen auf den Genuß gerichteten Neigungen nicht mehr Einschränkung und Mäßigkeit gebieten konnte und sich Ausschweifungen hingab, so daß sich seine reinen und ehrlichen Absichten in lasterhafte Neigungen umwandelten, und seine Eigenschaften, die weit davon entfernt sind, sich im richtigen Lichte zu zeigen, wurden vom rechtschaffenen, geraden Pfade auf den falschen und gefährlichen gelenkt. Gute Sitten sind sowohl vor Gott als auch vor Seinen Geliebten, die an Seinem Hofe in Seiner Nähe sind, und in den Augen derer, die Einsicht besitzen, angenehm und lobenswert.
Aber es ist Bedingung, zu beachten, daß die Grundlagen der Sitten, Weisheit und Erkenntnis sei, und daß der Mensch von wahrer Mäßigung beherrscht werden soll.
Wenn dieser Punkt ernstlich ausgelegt und erörtert würde, würde dies Buch über den vorgesehenen Umfang weit hinausgehen und dessen eigentlicher Zweck würde unter der Menge des Hinzukommenden in den Hintergrund treten. Es muß dies daher bis auf weiteres unterbleiben.
Wie dem auch sei, so soll damit gesagt sein ‚daß alle Völker Europas trotz ihrer Zivilisation und ihres Ruhmes ganz und gar von den schrecklichen Wogen sinnlicher Begierden verschlungen und untergegangen sind, so daß das Ergebnis ihrer Zivilisation nichtig und fruchtlos ist.
Niemand soll sich über diese Feststellung wundern, noch deswegen besorgt sein, denn die hauptsächlichste, ja die universale Absicht ist, durch erhabene Gesetze die Grundsätze und Grundlagen aller Art von Zivilisation herbeizuführen, was den Menschen Glückseligkeit bringt. Das menschliche Glück beruht darin, der „Schwelle des Allmächtigen Gottes“ nahe zu sein, und im Wohlwollen gegen alle Menschen, sowohl des hohen als auch des niederen Standes; die Veredlung der menschlichen Moral ist das Hauptmittel zu diesem Ziele. Der äussere Schmuck der Zivilisation ohne innere moralische Fortentwicklung können mit verworrenen Träumen, die nicht zu deuten sind, verglichen werden, und sinnliche Freude auf Kosten der geistigen Fortentwickelung ist gleich der Fata Morgana, die der Durstige für Wasser hält.
Die Erfüllung des Willens und das Wohlgefallen Gottes, die Förderung des Friedens und der Wohlfahrt der Menschen kann nicht durch äußere Zivilisation allein erreicht werden. Die Nationen Europas haben in der moralischen Zivilisation noch keine hohe Stufe erreicht, denn alle haben es durch ihre Denkweise und Handlungen bewiesen.
Wir brauchen z.B. nur daran zu erinnern, daß heute die Hauptabsicht der verschiedenen Staaten darin besteht, von den Gebieten anderer Besitz zu ergreifen und sich gegenseitig zu vernichten, und obgleich sie hierzu durch große innere Feindschaft veranlaßt werden, geben sie sich dabei den Anschein und die Versicherung größten Wohlwollens, wahrer Liebe und Bruderschaft. Es wird allgemein gesagt, daß der König, der Frieden schafft und Verständigung liebt, mehr bewirkt, als Könige, die in ihren Herzen Kriegsgedanken hegen und große Schlachtschiffe bauen, die Rüstungen vermehren, unter dem Vorwand, daß Verständigung und Friede ohne Waffengewalt nicht erreicht werden könne.“
Unter diesem Vorwande machen sie fortwährend, tagaus, tagein, große Anstrengungen,
um umfangreiche Vorkehrungen und Vorbereitungen für den Krieg zu treffen.
Das arme Volk, die armen Untertanen, die ihren Lebensunterhalt im Schweiße ihres
Angesichtes verdienen und die Mühen ihres Berufs tragen müssen, sind genötigt, einen
größeren Teil ihres schwer erworbenen Verdienstes für diesen Zweck, für die Anhäufung
von Kriegsbeständen und für die Ausbildung von Militär abzugeben. Es gibt Tausende
von Männern, die, anstatt sich der nützlichen Beschäftigung des Friedens zu
widmen, ihren Eifer und Fleiß täglich auf die Erfindung neuer todbringender
Kriegsmittel konzentrieren, die dazu dienen sollen, das Blut ihrer Mitmenschen rascher
und reichlicher zu vergießen. Jeden Tag werden einige neue todbringende Waffen erfunden,
und da die alten mit den neuen nicht
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wetteifern können, sind die europäischen Regierungen fortwährend genötigt, die älteren
Kriegsausrüstungen wieder abzuschaffen und neue anzuschaffen. Jetzt, im Jahre 1292
der Hedschra*) hat man in Deutschland ein neues Gewehr und in Oesterreich
eine neue Kanone erfunden, die besser als das Martini-Gewehr und die Krupp-Kanonen sind,
mehr Menschenleben vernichten, weil sie in ihrer Wirkung schneller sind. Die außerordentlichen
Kosten der Ausrüstung mit diesen neuen Waffen müssen von den unglücklichen Untertanen eines
jeden Staates getragen werden. (Fortsetzung folgt)
*) D.i.: A.D. 1875. d.h., dreißig Jahre früher, als in Persien eine Verfassung eingeführt wurde. Der Text, aus welchem dies vorliegende Werk übersetzt worden ist, wurde im Jahre 1299 (d.i. 1882) in Bombay lithographiert.
(Anmerkung des deutschen Uebersetzers: In „The Oriental Rose" von Mary Hanford Ford, Seite 11, wird 'Abdu'l-Bahá als der Verfasser dieses Textes genannt.)
Freude!
Erlebtes aus der Neunten Symphonie Ludwig van Beethoven’s.
Von H. Hienerwadel.
Im festlichen Saale — tausende andächtig gestimmter Menschen, der Töne Macht lauschend, Sonntag im Herzen — Freude!
So lebensnotwendig zum Hämmern, zum Schmieden, zum Schaffen und Ringen. Zarte Melodien für die Seele — du Seele des Weltalls, o Sonne!
Ein Wirbel der Töne fegt durch das Schicksal der Menschen und schließlich formen sich die Accorde zur Symphonie des Lebens. Wie der Frühwind über die Felder säuselt, so spannen die Herztöne ihre Schwingen zum großen Lied des Erlebens. Es formt sich der Geist aus dem Leben für das Leben zu der Erkenntnis, zur stillen Offenbarung und nur der Geist des Menschen ist es, der aus dem Chaos der Fülle in das Gefäß der irdischen Erkenntnis zu schöpfen vermag.
Seit Jahrtausenden waren die Menschen erfüllt von der Sehnsucht nach dem Licht, den Wogen gebietend des unendlichen Fluidums, das die Welt umbraust, das Tobende zwingend, das Aufwallende meisternd wie die Orkane des Meeres. Und das erlösende Wort — die Freude. — In diesen Tagen von der Freude sprechen, von der Freude singen, heißt sich einfinden in den Geist des unsterblichen Ludwig van Beethoven. Er hat sein ganzes Leben lang gesucht nach der Quelle des Lichtes, versucht seinem Leid, seinem Schicksal in der Töne Wunderkraft Ausdruck zu geben, und er hat es glücklich geformt und wohl gestaltet in seiner letzten und größten Symphonie. Wenn wir draußen im Frühlingsahnen das Singen des neuen Werdens vernehmlich hören, wenn wir hören wie die Lerche über den Feldern singt, dann sind wir vermählt mit dem also schaffenden Geist des Wortes und des Liedes
Freude schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium.
Wir betreten feuertrunken
Himmlische dein Heiligtum...
Freude ist ein großes Stück Lebensinhalt im gesunden Geist, das Elixier alles Lebens, und
sei es noch so armselig! Aus ihr erschafft sich das Neue und das Schöne in ihr schafft sich das
Ideal der Menschenrechte, in ihr allein — Freude.
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt,
Alle Menschen werden Brüder
Wo dein sanfter Flügel weilt!
Den Geist Beethovens zitieren bedeutet in diesem vom Wellenschlag des harten Ringens
begleiteten Erdenwallens Umschau und Einkehr halten, sich frei machen von dem Schematischen,
von dem nur Ringenden. Freude dem Leben abgewinnen, Kraft und Stärke für die dornenreichen
Wege, die dem Menschenlauf noch vorbehalten. Wir gehen alle eine Lebensstraße, wir finden
Dornen und Rosenhecken, blühende Aecker, saftgrüne Wiesen und vom Orkane zerstörte Kornfelder.
Im Angesicht des Ewigen, des Unfaßlichen kommt der fromme Glaube wie eine liebe
Symphonie!
Wenn es wahr ist, daß nur die Kunst eine echte Freude zu schaffen vermag, dann armes Volk,
arme Menschenseele du liegst am Erdboden wie jenes zerstörte Kornfeld. Dann blicke nach der
Sonne und wärme dein bedrücktes Herz an den Strahlen, die dir vom Himmel gegeben. Nicht
nur die Kunst ist wahre Freude, alles Schöne ist Freude, alles Edle und Große. Wir sind zu sehr
abhängig von persönlichen geistigen Einstellungen, zu sehr in Lebenskompromisse eingezwängt,
um nur einzig und allein aus der Kunst des Lebens einzige Freude zu schöpfen. Freiheit — Gleichheit — Brüderlichkeit, nicht im Sinne des französischen Kulturgedankens, nein im Geiste der
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christlichen Nächstenliebe, die alle verbindet, formen wir unser Leben, zu dem wir hoffnungsvoll
aufblicken, und aus dem wir Kraft sammeln für die Werke des Lebens, für unser werktägiges
Schaffen und Ringen. Denn Sinn frei halten von allem Häßlichen, die Freude als ein himmlisches
Geschenk betrachten, die in ihrer Reinheit nur der aufbauende, niemals der zerstörende Geist
schaffen kann, das sind die Wege zur wahren Freiheit, zur echten Freude.
Ist es nicht beinahe unfaßbar, daß der große Komponist in seinem kümmerlich irdischen u. einsamen Leben an der Wiege des Grabes noch so Urgewaltiges schaffen konnte in seinem letzten Satz der Neunten Symphonie. Klingt es nicht wie eine Mahnung an die Ueberlebenden, eine Mahnung aus tiefer Herzensnot geboren, versenkt und ausgegraben aus dem innersten Quell höchster Gefühle.
Träumend hören wir das wunderbare Adagio im dritten Satz und mit Paukenschlag und Trompetenschall werden wir im Folgenden gleichsam erweckt in die Sphäre des jubelnden Freudengesanges.
Wenn wir uns so einfühlen in dies gewaltige Meer der Töne, finden wir den Weg zum Frieden, kleines wird hinweggefegt, großes ersteht und wurzelt wie der Eichbaum und wird nie auszurotten sein. Der Eichbaum grünt und wenn die Kunst, die klingende Harmonie des Ewigen in die Seele dringt, dann jauchzt die Seele gleich himmlischen Accorden. Höhepunkte des Lebens für das Leben, blühende Rosen im Garten der Hoffnung und des Friedens.
In die Mysterien des Geschehenen sich ganz versenken, aus dem Unbegreiflichen ins lebendige Leben zu schaffen, den Menschen in Tönen zu formen, was mit Worten nie zu sagen ist, das war der Wille des großen Tondichters. Seine Töne umbrausen uns, sein Werk wird Generationen überdauern. Wir verneigen uns vor der Größe seines Fühlens und danken den Künstlern, die uns die Werke immer wieder schenken, damit sie Allgemeinheit werden für alle Menschen, die sich den Sinn frei gehalten haben für die göttliche Kunst im Reiche der Töne Allgewalt.
Wir aber rufen in die ganze Welt das Schlüsselwort aller Glückseligkeit Freude!
Aus 'Abdu'l-Bahá und das verheißene Zeitalter, von Ruth White.
Deutsch von H. Küstner. Fortsetzung.
Wir nehmen das Leben unendlich wichtiger, wenn wir es als eine Schule betrachten, deren
Zweck ist, daß wir unserer Aufgaben Herr werden, statt ihnen auszuweichen. Es mag anfangs
nicht so verlockend erscheinen, das macht aber in der Tat durchaus nichts aus, sondern je
weiter Fortschritte wir machen, desto wunderbareres Interesse wird in uns erweckt werden. Kinder
weichen vermöge ihrer geistigen Unreife ebenfalls gerne der Zucht aus, die ihrer Entwicklung
notwendig ist. Sie würden lieber ein Leben führen voll Süßigkeit, Näschereien und Spiel; aber
dies würde geistigen und physischen Rückschritt für sie bedeuten. Es ist schade, daß wir nicht
mehr darauf achten, daß es für uns ebenfalls in noch schwerwiegenderem Maße Rückschritt
bedeutet. Dies ist auch der Grund, daß wir denken, Gott sei ungerecht, wenn uns unsere Wünsche
durchkreuzt werden. Aber der geistig Reife sieht in der scheinbaren Ungerechtigkeit des
Schicksals die göttliche Weisheit; er sieht in den Prüfungen und Härten, oder auch in der
Armut schwere Rechenprobleme der Lebensschule, die man lösen muß, statt ihnen aus dem
Wege zu gehen oder sich vergeblich mit ihnen herumzuschlagen. Er stellt sich daher ganz
anders zu Armut und Krankheit als die Anhänger der verschiedenen Heilungsgemeinschaften und
Neugeistrichtungen von heute. Er strebt nicht danach, sich den Wohlstand sicher zu erhalten,
sondern er stellt sich darauf ein, daß die Seele, deren Zustand Gott ja kennt, vielleicht mit der
ihr gestellten Aufgabe am besten in der Armut fertig wird. In Unglück oder Krankheit erblickt
er ein Mittel zur Seelenerziehung. Er weiß, daß er sonst nicht in Harmonie mit Gottes Gesetzen
leben kann, und daß seine Leiden einen Zweck haben. Er nimmt Krankheit und Unglück hin als
heilsamen Unterricht, den ihm Gott erteilt, um ihn zu höherer geistiger Entwicklung zu führen,
und macht sich froh daran, der Aufgabe gerecht zu werden, statt sein Heil anderwärts zu suchen
oder gar dagegen anzukämpfen. Gelingt es ihm, so erlangt er eine weit bessere Stufe, nicht nur
von natürlicher Gesundheit, sondern auch von seelischer, sittlicher und geistiger. Er erkennt,
daß Gesundheit, Wohlstand und andere weltlichen Ziele im Leben voranzustellen für geistige
Entwicklung geradeso abträglich ist, wie für die geistige Entwicklung eines Kindes es wäre, wenn
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es alle Tage spielen dürfte und nicht zur Schule ginge.
Die Gründer von Geistesrichtungen werden geehrt und geachtet und werden fast immer reich, weil sie den Leuten etwas lehren, was ihnen bequem und anziehend erscheint, wie man z.B. Gott mit dem Mammon in Einklang bringt, oder wie man in dieser Welt rasch zu Besitztum, zu Gesundheit, zu geheimen Kräften kommt. Die Religionsgründer dagegen werden immer verfolgt und gequält, weil die Religion der Eigensucht der Menschen entgegentritt. Erscheint aber auch die Religion manchmal dem Eigeninteresse der Menschen entgegengesetzt, so bereichert sie doch, wenn sie richtig verstanden und richtig gelebt wird, den, der sich an sie hält, physisch, seelisch, moralisch sowohl als geistig, denn die geistige Ebene schließt alle andern Ebenen ein! Wenn auch manche Geistesrichtungen und Reformen universalen Frieden und die Bruderschaft der Menschen lehren, so können sie doch diese Prinzipien nicht verwirklichen, weil sie diese Eigenschaften des höheren Reichs erlangen wollen, während sie zu gleicher Zeit Gottlosigkeit lehren oder wie man Gott mit dem Mammon in Einklang bringen könnte.
Was man von den Geistesrichtungen zur Zeit Christi sagt, gilt heute noch. Die Geistesrichtungen von heute kommen zur Religion, nicht um ihre Sprache zu lernen, die Sprache der Entsagung, sondern suchen sie zu zwingen, ihre Sprache, die Sprache des Eigennutzes in irgend einer Form zu reden.
Die verschiedenen Geistesrichtungen verleiten den Menschen, zu glauben, die unmögliche Kunst vollbringen zu können, gleichzeitig im Menschenreich zu bleiben und sich doch an einer ganz dünnen Schnur in das Reich des universalen Friedens und der Bruderschaft der Menschen zu erheben. Die Bahá’i-Religion dagegen lehrt, wie alle andern Religionen, daß der Mensch sich nur durch die Kraft der Manifestation Gottes, dieser Kraft über aller menschlichen Kraft, in das höhere Reich erheben kann, in das Reich, wo allein universaler Friede möglich ist. 'Abdu'l-Bahá führt dies folgendermaßen aus:
„Ein geringer Mensch, ungelehrt, aber voll heiligen Geistes, übt mehr Macht aus, als ein noch so hoch geborener Gelehrter, dem die Inspiration des Heiligen Geistes abgeht. Wer sich unter die Zucht des heiligen Geistes begibt, kann gleichzeitig andere des gleichen Geistes teilhaftig machen.“
Manchen Leuten selbstwilliger, individualistischer Art sagen die meisten Prinzipien der Bahái-Religion zu, so die von der rassischen, politischen und religiösen Einheit der Menschheit; aber sie werden zuschanden an den Haupteigenschaften, die es ermöglichen, daß diese Prinzipien in die Welt der Wirklichkeit übertragen werden, nämlich dem Verzicht auf Widerstand gegen den höheren Willen und dem Verzicht auf unsern Willen zugunsten des höheren Willens.
„Der menschliche Wille muß fähig gemacht und geübt werden, sich in Gottes Willen zu schicken. Einen starken Willen zu haben, ist eine große Kraft; eine noch größere Kraft gehört dazu, diesen Willen Gott zu opfern.“...
„Opfere deinen Willen dem Willen Gottes. Wer seiner selbst vergißt, erlangt das Königreich. Alles wird euer, wenn ihr allem entsaget.“
'Abdu'l-Bahá.
Der Geist, der Moderne, wie 'Abdu'l-Bahá die Bahá’i-Religion nennt, besteht in der Ausübung des Gegenteils von dem, was heute so sehr Brauch ist, die Verherrlichung des Ichs und des Eigenwillens.
„Wer von sich selbst eingenommen ist, wandert in der Wüste der Achtlosigkeit und der späteren Reue. Der Hauptschlüssel zur Selbstbemeisterung ist, sein Selbst zu vergessen. Die Straße zum Palast des Lebens ist der Pfad der Entsagung.“
'Abdu'l-Bahá.
Religion, in welchem Zeitalter auch sie geoffenbart wird, ist immer übermodern. Sie ist tatsächlich so modern, daß es Hunderte von Jahren, und manchmal Tausende, braucht, bis die Menschen zu ihrer Modernität erwachen. Der Menschen Verstand ist so gestört vom Selbstinteresse, daß es ihnen scheint, sie würden, wenn sie den Vorschriften der Religion folgten, gegen ihr Interesse handeln. Dies und die von Menschen gemachten, der Religion angehängten Dogmen sind für sie Steine des Anstoßes.
Heute herrscht mehr oder weniger Chaos in der Welt, weil die Leute sich um die unwichtigen Dinge wehren, die sie für wichtig halten, und weil man die wichtigen Dinge als unwichtig beiseite läßt. Solche unwichtigen Dinge sind Liebe zur Führerschaft, Eigenwille, Vergöttlichung des Ichs, Stolz, Individualismus, die Hochachtung vor der Geldmacht, Weltlichkeit, gesellschaftliche Macht und geheime Macht. Wichtige Dinge sind Nichtwiderstreben, Selbstverneinung, Achtlosigkeit gegenüber weltlichen Dingen und vor allem Glauben. Vor 2500 Jahren verstand der Chinese diese Dinge besser als wir heute. Lao-tse sagt:
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„Nichts ist wie Wasser so schwach und leichter auszutilgen,
Um aber zu bewältigen, was hart und fest, kommt nichts ihm gleich.“
„Daß das Schwache überwindet das Feste, daß das Schwache fertig wird mit dem Starken.
Das ganze Weltbild weiß es, aber wer kann in der Tat darnach handeln?“
Auch Christus schärfte das Gleiche ein, aber es ist mehr oder weniger eine der am wenigsten
bekannten Wahrheiten im Christentum. Heute erneuert die Bahá’i-Religion die Kraft, die in
der praktischen Ausübung des Nichtwiderstehens und der Entsagung liegt.
Manche Leute sind geneigt, über die Ausdrücke „Entsagung“, „Sichbescheiden“, „Nichtwiderstehen“ in dem Sinne zu denken, als ob sie nur für das Mittelalter gegolten hätten, das heißt, als ob sie Trägheit und Mangel an Fortschritt bedeutet hätten. Aber Entsagung und Sichbescheiden weit entfernt, Eigenschaften der Schwäche zu sein, die Allem unter allen Umständen unterliegen, statten im Gegenteil die Menschen mit übermenschlichem Mut und mit unbedingt sicherer Erkenntnis aus. Sie sind Kräfte entwickelnd und sind die Eigenschaften des Ultra-Fortschritts, denn sie bringen den Block des Eigenwillens zum Wanken, der Gottes Willen verhindert, sich durch uns zu ergießen. Ehe dieser Block nicht ins Wanken kommt, bewegen wir uns auf der selbstgewollten und niederen Ebene‚ statt uns zur Ebene des Gottesbewußtseins zu erheben. Wankt dieser Block, erlangen wir Leben aus „strahlender Ergebung“ und suchen unser Bestes an jedem Punkt des Pfades zu tun, auf den wir gestellt sind.
'Abdu'l-Bahás Auffassung über die 40 jährige Gefangenschaft, die er in der Festung Akka zubrachte, wie sie aus den folgenden Worten zutage tritt, ist ein vollkommenes Beispiel des Sichbescheidens, oder der „strahlenden Ergebung“, wie Er es nennt. (Die drei Ausdrücke „strahlende Ergebung“, "Sichbescheiden“, „Entsagung“ besagen alle dasselbe.)
„Freiheit ist nicht von einem Ort abhängig, sie ist ein Zustand. Ich war dankbar für das Gefängnis, und der Mangel an Freiheit war durchaus keine Last für mich, denn diese Tage verflossen im Pfade des Dienstes und trugen unter ihren übergroßen Schwierigkeiten und Leiden Früchte und Resultate.
Ehe man nicht schreckliche Umstände hinnehmen kann, wird man nicht zur Freiheit gelangen. Für mich ist Gefängnis Freiheit, Störungen beruhigen mich, Tod ist Leben und verspottet zu werden ist Ehre. Deshalb war ich im Gefängnis die ganze Zeit glücklich. Wenn man vom Gefängnis des Selbst erlöst ist, ist man in Wahrheit erlöst, denn dies ist das grössere Gefängnis. Wenn diese Erlösung da ist, kann man äußerlich nicht gefangen gesetzt werden. Als man meine Füße in den Stock legte, sagte ich zum Gefängniswärter: „Ihr könnt mich nicht gefangen setzen, denn ich habe hier Licht und Luft und Brot und Wasser. Es wird eine Zeit kommen, wo mein Körper in der Erde ruht, und ich weder Luft noch Licht, weder Nahrung noch Wasser haben werde, aber selbst dann werde ich nicht gefangen sein“. Die Anfechtungen, die von Zeit zu Zeit über die Menschen kommen, sollen ihnen die Beschränkungen zum Bewußtsein bringen. Diese sind ein wirkliches Gefängnis. Erlösung kommt, wenn der Wille eine Tür öffnet, durch die die Bestätigungen des Heiligen Geistes eintreten können.
Die Bestätigungen des Heiligen Geistes sind alle Kräfte und Gaben, mit denen manche geboren werden (und die man manchmal Genie nennt), um welche aber andere mit unendlicher Mühe ringen. Sie kommen zu dem Mann oder zu der Frau, die sich ihnen und einem Leben von strahlender Ergebung öffnen.“
(Fortsetzung folgt.)
Die Frau des Morgenlandes.
Von Dr. Käthe Schirmacher.
Eine Welle westlicher Zivilisation (sehr viel seltener Kultur) fegt über die Erde, bricht in alle nicht europäischen Zivilisationen ein und erzwingt Veränderungen, ja Umwälzungen des Daseins bei den verschiedensten Rassen und Völkern. Die moderne Technik und ihre Maschinen brechen in den nahen und fernen Orient, durch Afrika, Amerika, bis ins fernste Polynesien. —
Wie wirkt dieser Einbruch auf das Leben der Frau? Margarethe Driesch, die ihren Mann, einen
deutschen Gelehrten, für mehrere Jahre nach dem fernen Osten begleitete und über die Vereinigten
Staaten heimkehrte, gibt in „Frauen jenseits der Ozeane“ (Niels Kampmann,
Heidelberg, geheftet 9, geb. 11 RM.) eine Sammlung Berichte, denen ich das Hauptsächlichste
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entnehme, es durch Angaben Dr. Nansens ("Betrogenes Volk“, Brockhaus, Leipzig) ergänzend.
Die Reihe eröffnet die Abessinierin, dargestellt von Dr. med. Alexandra Dabbert, einer russischen Emigrantin, die in Adis Abbeba praktiziert. Sie beginnt mit der grundlegenden Feststellung, daß die Abessinierin eigentlich keine Orientalin ist: sie lebt in einem rauhen Hochland, ist Christin und steht zum mindesten gleichberechtigt neben dem Manne. „Sie steht neben ihm, als Lebensgefährtin und Kameradin, mit ihrem eigenen freien Willen.“ Seit zwei Jahrtausenden hält sie ihre hohe Stellung. Sie heiratet früh (Einehe), das Eherecht sieht Gütertrennung mit Errungenschaftsgemeinschaft im Scheidungsfall vor. Scheidungen sind sehr häufig, fast selbstverständlich, so daß Frauen durch mehrfache Scheidungen vermögend werden können. In einem verwickelten, händelreichen Leben erwachsend, besitzt die Abessinierin einen Juristenverstand für alle Lebenslagen und führt ihre zahlreichen Prozesse ohne Rechtsbeistand. Sie ist (wie der Abessinier) sehr kinderlieb und Beschränkung der Kinderzahl ist unbegreiflich. Auch ihre unehelichen Kinder gehören in ihre Familie und niemand hat ihr darein zu reden. — Abessinien besaß und besitzt bedeutende Herrscherinnen seit den Tagen der Königin von Saba, wird zurzeit von Kaiserin Zauditu regiert, deren Vorgängerin Taitu, Meneliks Gattin, des Kaisers Tod 7 Jahre zu verheimlichen wußte. — Dr. Dabbert begnügt sich leider mit diesen Tatsachenangaben. Eine Vertiefung der Arbeit durch Geschichte und Kulturgeschichte, eine Verbindung mit Frobenius’ Angaben wäre sehr erwünscht, denn diese alten christlichen Kulturen sind wenig bekannt, sehr wertvoll und überliefern uns den heldischen, tätigen, führenden Frauentyp der Vergangenheit.
Die Armenierin und Georgierin bilden, mit der Abessinierin, die Gruppe der christlichen Frauen des nahen Ostens, die sich durch Einehe und Wertung der Frau als Persönlichkeit vor Gott, als seelenbegabter Mensch mit eigenem Schicksal und Willen von vornherein und dauernd einer höheren Stellung erfreuten, als die Frau des nicht christlichen Orients. Gleich Abessinien bringen Armenien und Georgien den weiblichen Herrschertyp hervor, der durch ihre Geschichte glänzt, aber verschwindet, sobald Ostasiens Horden diese christlichen Länder verheeren und dem Islam erobern. (Mongolen, Seldschucken.)
Die Türkin und Aegypterin sind in Drieschs Sammelwerk leider nicht behandelt. In der Türkei, die sich einerseits unter Kemal Pascha zum Nationalstaat entwickeln soll (rücksichtslose Aussiedelung der Griechen und Armenier, halbwegs geduldet werden nur Juden und Franzosen) wird andererseits nationale Sitte und Kleidung, auch der Frau, gewaltsam preisgegeben. Die an den Schleier Gewöhnte soll plötzlich darauf verzichten. Ein Teil, besonders der Stadtbevölkerung, tut das gern und freudig, in den weiten Schichten der kleinasiatischen Landbevölkerung herrscht aber erbitterter Widerstand der Männer. Diese Uebergänge und Kämpfe gründlich zu studieren, wäre eine notwendige und fesselnde Aufgabe.
Ueber die Afghanin berichtet Dr. med. Charlotte Lehn, Chefärztin eines der Kabuler Krankenhäuser.
„Das überstürzte, wahllose Eindringen der westlichen Zivilisation im letzten Jahrzehnt hat
einen Uebergangszustand geschaffen, der für den kritischen Beobachter außerordentlich interessant
ist,“ sagt Dr. Lehn und fügt hinzu: „Der Modernismus führt die islamische Frauenwelt in eine
schwere Krisis“ — Nach Dr. Lehn lebt die Nomadenfrau heute noch genau wie vor 1000 Jahren. Sie
hat drei Kleidungsstücke, Hose, Kittel, Kopftuch, das im Notfall als Schleier dient, etwas Schmuck,
führt als Frau, Mutter und Lasttier des Haushalts ein höchst mühseliges Dasein, lebt in
Vielehe (Dr. Lehn nennt dies bei den Nomaden „eine wirtschaftliche Notwendigkeit") und
wird durch 15 bis 20 Wochenbetten (trotz Vielweiberei!) früh verbraucht. Auch die Frau des
Kabuler Mittelstandes ist noch „ein sehr einfaches und anspruchsloses Wesen“. Sie darf jetzt
allerdings, dem Gesetze nach, nicht mehr gekauft werden. Ihr Streben in der Ehe ist, einzige Frau
zu bleiben, danach streben die Frauen aller Stände in den Städten heftig, denn eine zweite Frau
bedeutet Einbußen aller Art auf allen Gebieten des Ehelebens. Daher spielt Liebeszauber jeder Art
eine große Rolle. Die Afghanin des Mittelstandes ist körperlich und geistig träge, die wenigsten
können lesen, europäische Fremdsprachen lernen auch die Gebildeten selten. Außerhäusliche
Berufsarbeit ist ihnen ungewohnt, den Anforderungen europäischer Berufsarbeit sind die afghanischen
Städterinnen zurzeit nicht gewachsen, es fehlen Aktivität, Zucht, Pflichtgefühl, doch nicht die
Gescheitheit. — Die vornehmen und reichen Frauen können oder lernen außer persisch, ihrer
Muttersprache, noch arabisch, türkisch, sowie afghanische oder indische Dialekte; sind im Kochen
und Handarbeiten gewandt, für Sport (außer Reiten) aber zu träge. „Schön sein und es bequem haben,
sind die Lebensideale“, weshalb keine vornehme Afghanin ihre Kinder selbst nährt, so daß die
Kindersterblichkeit sehr hoch ist. Der vornehme
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Harem, der weder die männlichen Verwandten noch das Interessante des Lebens ausschließt,
schützt die Afghanin vor dem modernen Daseinskampf der Europäerin, dem sie nicht gewachsen
wäre, und von dem sie sich gar keine Vorstellung macht. Das Leben der Europäerin ist ihr ein
reizendes Gemisch aus Flirt, Tanz, Sport, Shopping und Freiheit für Erfüllung jedes Wunsches,
ein bißchen Arbeit ist vielleicht auch dabei, nun ja, das kann doch nicht so schwer sein. — Sie
hassen Harem und Parda (Schleier) und lächeln ungläubig, wenn Dr. Lehn ihnen sagt, „daß sie
sich nach wenigen Geschlechtern danach zurück sehnen werden.“
König Aman Ullah und seine Gemahlin (eine 28 jährige, hübsche, sehr liebenswürdige Frau) erstrebten den Uebergang von morgenländischer zu moderner Zivilisation. Dr. Lehn hält ihn für unvermeidlich, das Ergebnis aber für unklar, nicht vorauszusehen und erst nach Kämpfen und Irrungen erreichbar.
Die Afghanin ist Mohammedanerin, wie Millionen indischer Frauen. Drieschs Sammlung berücksichtigt daher nur die Hindu- und die Parsifrau. Da die Inder arischen Ursprungs waren, besaß die Inderin der alten Zeit (vedische Religion) eine hohe Stellung, die sie mit dem Aufkommen nichtarischer Religionen verlor; sie wurde noch tiefer erniedrigt als im Islam, der z. B. keine Witwenverbrennung kennt und völlig entpersönlicht, dem Manne gänzlich untergeordnet. Erfüllte sie dann alle ihr aufgebürdeten Pflichten der Hingabe und Aufopferung, so konnte sie als Frau und vor allem Mutter allerdings zu einer Art Bedeutung, Macht und Ansehen gelangen. Gegen die äußersten Formen der Frauensklaverei trat die englische Regierung, und treten heute mit ihr die Herrscher der nördlichen Eingeborenenstaaten auf (ganz besonders der Maharadscha von Boroda und seine Gemahlin). Da diese Reformen aber vom englischen Bedrücker kommen und oft mit nationaler und religiöser Entfremdung vom Hindutum enden, begegnen sie dem Widerstand auch der Inder, die solche Reformen in der Sache billigen, während andere Inder England dafür Dank wissen. Alle Reformen in Indien hindert das System der Großfamilie (40 bis 50 Familienmitglieder müssen, ob ledig ob verheiratet, zusammenleben und gemeinsame Kasse machen. Das Leben der Frauen ist endlose Haus- und Muttersklaverei). Die Narrheit des Kastensystems (Lebensenge, Inzucht), die Kinderehe (die eine Unzahl Kinderwitwen zur Folge hat, die nicht wieder heiraten dürfen, für die aber niemand sorgt, und die daher elendster Fabrikarbeit oder der Straße anheimfallen; Rassenverschlechterung, Frauen- und Kindersterben sind die Folge); die Abschließung der Frau im Zenana und hinter dem Schleier (in Nordindien und Bengalen; Purdasystem).
Die Parsen = Perser, die im siebenten Jahrhundert vor dem Islam flüchteten, brachten die (arische) Gleichstellung der Frau in Religion und Haus mit (wie die Veden der Inder, die Lehre Zoroasters, die Griechen Homers und die Germanen bei ihrem Eintritt in die Geschichte sie kennen). Die Parsen, heute meist angesehene Kaufleute, leben in und um Bombay. Die Parsifrau, frei von Großfamilie, Kaste und Schleier, ist eines der beweglichsten und bildungsfähigsten Elemente Indiens. Ihre Ehe ist strenge Einehe, ihre Lebensaufgabe: Reinheit der Gedanken, der Rede und der Tat.
Moderne Frauenerziehung, Bekämpfung der Kinderehe, Verbot der Witwenverbrennung sind Etappen auf dem Wege zu europäischer Zivilisation und Kultur, die diesen indischen Greueln gegenüber durchaus ein Fortschritt ist. Die Masse des Volkes jedoch lebt noch so primitiv, wie vor Jahrhunderten, die Probleme sind erst am Rande angefaßt. Während eine Minderzahl indischer Frauen studiert, sich zur modernen Berufsfrau entwickelt, im politischen Leben der Städte und des Landes steht, Beamte und Hochschullehrer wird, lastet auf der Mehrzahl dieser Millionen die Haus- und Ehesklaverei dunkelster Vergangenheit.
Für die Stellung der Chinesin und der Japanerin gelten die gleichen Grundlagen, die Lehren
des Konfutse und des Buddhismus: Auf zwei Prinzipien ruht die Welt, dem aktiven (männlichen),
dem passiven (weiblichen), letzteres gilt praktisch als das untergeordnete. So ist das vom
Mann aufgestellte und der Frau vor Augen gehaltene Ideal (wie in Indien) Zwangsaufopferung
im Dienste der Familie (Großfamilie), im Dienste der Eltern, im Dienste des Mannes, sei
er Vater (Schwiegervater), Bruder, Sohn. Da sich der ostasiatische Familienkult aus Mannes- und
Alterskult zusammensetzt, hat jedoch die ältere und alte Frau als Mutter teil daran und ihrem Sohn,
als dem jüngeren Mann, braucht die Chinesin nicht zu gehorchen, sie muß ihn sogar nötigenfalls dem
Vater ihres Mannes opfern. Wie in Indien, gilt es als Sünde, eine Tochter unverheiratet zu lassen.
Chinesin wie Japanerin sind daher, in ihren Massen, auch heute noch völlig geschlechtsgebunden
und hausgebunden und begegnen, besonders die Japanerin, dem Mann mit einer zuvorkommenden
Rücksicht, die ihm ihrer (und seiner) Ansicht
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nach zusteht, auch dem eigenen Sohn. — Die Frauen Chinas wie Japans kannten einst andere,
bessere Zeiten; daß bei ihnen „naturgegebene Anlagen unterdrückt wurden“, ist das Urteil eines
Berichterstatters; daß die Frau „die ihr vom Manne vorenthaltenen Persönlichkeitsrechte wieder
gewinnen müsse“, war das Streben Sunjatsens (und seiner hochbegabten Frau). Die Kuomintang
(die nationale Umsturzorganisation in China) erhielt seit 1924 durch Sun eine Abteilung
für Frauenbewegung und die modernen Chinesinnen waren und sind begeisterte Kämpferinnen
für Chinas nationale Freiheit. Ihr Programm fordert: moderne Bildung, wirtschaftliche
Selbständigkeit, keine Nebenfrau, keine doppelte Moral (in Ostasien ist Treue nur für die
Frau verbindlich) und China den Chinesen.
Die Engländer, Amerikaner und alle christlichen Missionen brauchten in China gegen keine Witwenverbrennung einzuschreiten, wohl aber gegen Kindestötung (meist Mädchen), Frühehen und Fußverkrüppelung. Träger des modernen Bildungswesens sind vor allem die Amerikaner und die Vereinigten Staaten für Neu-China, „das Land der Freiheit“. Die Massen bleiben, wie in Indien, von der Moderne so lange unberührt, bis die moderne Technik auch deren Leben in neue Bahnen zwingt. Die moderne Technik will China sich aneignen, seine alte Kultur aber, als überlegen, behalten.
Japan, seit 50 Jahren von seinen Herrschern bewußt europäisiert oder amerikanisiert, ist China in westlicher Zivilisation weit voraus, ja es unterliegt bereits ihren Zersetzungs- und Entartungserscheinungen. Die Japanerin ist schon in moderne Berufsarbeit eingedrungen, zum Teil aber unter kläglichsten Bedingungen (800.000 Fabrikarbeiterinnen unter 15 Jahren, von denen 50000 eingeschriebene Dirnen sind). Die Frauenprobleme wechseln also eigentlich nur die Form, gelöst werden sie nicht, und die Mehrheit der Frauen bleibt überzeugt „von der Ueberlegenheit freiwilliger Unterwerfung“. In ihrem so oft unbarmherzigen Dasein bleibt Kwannon, die Göttin der Barmherzigkeit (die sie an der Familie ohne Gegenleistung üben), ihr Ideal.
Nachschrift zu dem Artikel von Fr. Dr. Schirmacher: Die Frau des Morgenlandes.
Es ist überaus erfreulich, zu beobachten, wie viel allgemeines Interesse der Frau im Orient, die jahrhundertelang ein unbeachtetes Dasein führte, entgegengebracht wird. Es wundert uns dies durchaus nicht, denn 'Abdu'l-Bahá spricht von unserer Zeit, als vom Jahrhundert der Frau. Der vorstehende Artikel zeigt uns ein Bild des heutigen Zustandes. Die Türkei ist als erster Staat im Morgenland unter europäischem Einfluß befreiend für die Frau vorangegangen, und der Tag, an dem der Frau aus jedem Volk mehr und mehr Konzessionen gemacht werden müssen, ist nicht mehr ferne. Wohl wehrt sich heute noch, nach kürzlich erfolgten Zeitungsberichten ein Teil der Einwohnerschaft Persiens gegen die Europäisierung und demonstriert in der Oeffentlichkeit dagegen. Es wird aber nicht viel helfen und letzten Endes wird sich die Reform unweigerlich vollziehen, denn sie ist eine von Gott eingesetzte Weltordnung, daß die Frau sich zu einem gleichwertigen Mitglied der menschlichen Gesellschaft entwickle wie der Mann.
'Abdu'l-Bahá sagt, daß Mann und Frau den Schwingen eines Vogels gleichen, der nur zu den höchsten ihm erreichbaren Höhen gelangen kann, wenn seine Schwingen gleich stark sind. Er verheißt der Frau einen gewaltigen Aufstieg. Der Anfang ist immer schwer, und die Frau im Morgenland muß sich erst hineinleben in den weiteren Kreis ihrer Entwicklungsmöglichkeit, bis sie die Stufe der Europäerin erreicht, aber der Zeitgeist wirkt sich unaufhaltsam aus. Vielleicht ist die Frauenfrage das sich am raschesten vollziehende Gebot Bahá’u’lláhs und in ihr erkennen wir wieder nicht zuletzt die Universalität der Größten Manifestation durch Bahá’u’lláh in allem Geschehen."
A.Sch.
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Druck von W. Heppeler, Stuttgart.
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Geschichte und Bedeutung der Bahá’ilehre.
Die Bahai-Bewegung tritt vor allem ein für die „Universale Religion" und den „Universalen Frieden“ — die Hoffnung aller Zeitalter. Sie zeigt den Weg und die Mittel, die zur Einigung der Menschheit unter dem hohen Banner der Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit führen. Sie ist göttlich ihrem Ursprung nach, menschlich in ihrer Darstellung, praktisch für jede Lebenslage. In Glaubenssachen gilt bei ihr nichts als die Wahrheit, in den Handlungen nichts als das Gute, in ihren Beziehungen zu den Menschen nichts als liebevoller Dienst.
Zur Aufklärung für diejenigen, die noch wenig oder nichts von der Bahaibewegung wissen, führen wir hier Folgendes an: „Die Bahaireligion ging aus dem Babismus hervor. Sie ist die Religion der Nachfolger Bahá’u’lláhs. Mirza Hussein Ali Nuri (welches sein eigentlicher Name war) wurde im Jahre 1817 in Teheran (Persien) geboren. Vom Jahr 1844 an war er einer der angesehensten Anhänger des Bab und widmete sich der Verbreitung seiner Lehren in Persien. Nach dem Märtyrertod des Bab wurde er mit den Hauptanhängern desselben von der türkischen Regierung nach Bagdad und später nach Konstantinopel und Adrianopel verbannt. In Bagdad verkündete er seine göttliche Sendung (als „Der, den Gott offenbaren werde") und erklärte, daß er der sei, den der Bab in seinen Schriften als die „Große Manifestation", die in den letzten Tagen kommen werde, angekündigt und verheißen hatte. In seinen Briefen an die Regenten der bedeutendsten Staaten Europas forderte er diese auf, sie möchten ihm bei der Hochhaltung der Religion und bei der Einführung des universalen Friedens beistehen. Nach dem öffentlichen Hervortreten Bahá’u’lláhs wurden seine Anhänger, die ihn als den Verheißenen anerkannten, Bahai (Kinder des Lichts) genannt. Im Jahr 1868 wurde Bahá’u’lláh vom Sultan der Türkei nach Akka in Syrien verbannt, wo er den größten Teil seiner lehrreichen Werke verfaßte und wo er am 28. Mai 1892 starb. Zuvor übertrug er seinem Sohn Abbas Effendi ('Abdu'l-Bahá) die Verbreitung seiner Lehre und bestimmte ihn zum Mittelpunkt und Lehrer für alle Bahai der Welt.
Es gibt nicht nur in den mohammedanischen Ländern Bahai, sondern auch in allen Ländern Europas, sowie in Amerika, Japan, Indien, China etc. Dies kommt daher, daß Bahá’u’lláh den Babismus, der mehr nationale Bedeutung hatte, in eine universale Religion umwandelte, die als die Erfüllung und Vollendung aller bisherigen Religionen gelten kann. Die Juden erwarten den Messias, die Christen das Wiederkommen Christi, die Mohammedaner den Mahdi, die Buddhisten den fünften Buddha, die Zoroastrier den Schah Bahram, die Hindus die Wiederverkörperung Krischnas und die Atheisten — eine bessere soziale Organisation.
In Bahá’u’lláh sind alle diese Erwartungen erfüllt. Seine Lehre beseitigt alle Eifersucht und Feindseligkeit, die zwischen den verschiedenen Religionen besteht; sie befreit die Religionen von ihren Verfälschungen, die im Lauf der Zeit durch Einführung von Dogmen und Riten entstanden und bringt sie alle durch Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Reinheit in Einklang. Das einzige Dogma der Lehre ist der Glaube an den einigen Gott und an seine Manifestationen (Zoroaster, Buddha, Mose, Jesus, Mohammed, Bahá’u’lláh).
Die Hauptschriften Bahá’u’lláhs sind der Kitab el Ighan (Buch der Gewißheit), der Kitab el Akdas (Buch der Gesetze), der Kitab el Ahd (Buch des Bundes) und zahlreiche Sendschreiben, genannt „Tablets“, die er an die wichtigsten Herrscher oder an Privatpersonen richtete. Rituale haben keinen Platz in dieser Religion; letztere muß vielmehr in allen Handlungen des Lebens zum Ausdruck kommen und in wahrer Gottes- und Nächstenliebe gipfeln. Jedermann muß einen Beruf haben und ihn ausüben. Gute Erziehung der Kinder ist zur Pflicht gemacht und geregelt.
Streitfragen, welche nicht anders beigelegt werden können, sind der Entscheidung des Zivilgesetzes jeden Landes und dem Bait’ul’Adl oder „Haus der Gerechtigkeit“, das durch Bahá’u’lláh eingesetzt wurde, unterworfen. Achtung gegenüber jeder Regierungs- und Staatseinrichtung ist als einem Teil der Achtung, die wir Gott schulden, gefordert. Um die Kriege aus der Welt zu schaffen, ist ein internationaler Schiedsgerichtshof zu errichten. Auch soll neben der Muttersprache eine universale Einheits-Sprache eingeführt werden. „Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die Tropfen eines Meeres“ sagt Bahá’u’lláh.
Es ist also weniger die Einführung einer neuen Religion, als die Erneuerung und Vereinigung aller Religionen, was heute von 'Abdu'l-Bahá erstrebt wird. (Vgl. Nouveau, Larousse, illustré supplement, p. 66.)
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In unserem Verlag sind erschienen:
Bücher:
Verborgene Worte von Baha’u’llah. Deutsch von A. Schwarz und W. Herrigel, 1924 1.--
Baha’u’llah, Frohe Botschaften, Worte des Paradieses, Tablet Tarasat, Tablet Taschalliat, Tablet Ischrakat. Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1921, in Halbleinen gebunden . . . 2.50
in feinstem Ganzleinen gebunden . . . . . 3.--
Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahaireligion, von Mirza Abul Fazl. Deutsch von W. Herrigel, 1921, in Halbleinen geb. . . . . 4.50
In Ganzleinen gebunden . . . . 5.--
Abdul Bahá Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps. Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1922, in Ganzleinen gebunden . . . . 4.--
Die Bahai-Offenbarung, ein Lehrbuch von Thornton Chase, deutsch von W. Herrigel, 1925, kartoniert M. 4.--, in Halbleinen gebunden M. 4.60
Bah’u’lláh und das neue Zeitalter, ein Lehrbuch von Dr. J. E. Esslemont, deutsch von W. Herrigel und H. Küstner. 1927. In Ganzleinen gebunden . . . . . 4.50
Broschüren:
Bahai-Perlen, Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1922 . . . . -.20
Ehe Abraham war, war Ich, v. Thornton Chase. Deutsch v. W.Herrigel, 1911 . . . . -.20
Die Universale Weltreligion, Ein Blick in die Bahai-Lehre von A. T. Schwarz, 1919. . . . -.50
Die Offenbarung Baha’u’llahs, von J.D. Brittingham. Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1910 . . . -.50
Einheitsreligion. Ihre Wirkung auf Staat, Erziehung, Sozialpolitik, Frauenrechte und die einzelne Persönlichkeit, von Dr. jur. H. Dreyfus, Deutsch von Wilhelm Herrigel. 2. Auflage 1920 . . . -.50
Die Bahaibewegung im allgemeinen und ihre großen Wirkungen in Indien, nach Berichten eines Amerikaners zusammengestellt und mit Vorwort versehen von Wilhelm Herrigel, Stuttgart 1922 . . . . -.50
Eine Botschaft an die Juden, von Abdul Baha Abbas. Deutsch v. W. Herrigel, 1912 . . . -.20
Das Hinscheiden Abdul Bahas, ("The Passing of Abdul Baha") Deutsch von Alice T. Schwarz, 1922 . . . -.50
Das neue Zeitalter von Ch. M. Remey. Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1923 . . . . —.50
Die soziale Frage und ihre Lösung im Sinne der Bahailehre von Dr. Hermann Grossmann-Wandsbel . . . . —.20
Religiöse Lichtblicke, Einige Erläuterungen zur Bahá’i-Botschaft, aus dem Französ. übersetzt von Albert Renftle, 2. erweiterte Auflage, 1928 . . . . --.30
Die Bahá’i-Bewegung, Geschichte, Lehren und Bedeutung. von Dr. Hermann Großmann-Wandsbek . . . . . --.20
Sonne der Wahrheit, Jahrgang 3 - 8 in Halbleinen gebunden à . . . . 9.--
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