Sonne der Wahrheit/Jahrgang 9/Heft 2/Text

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SONNE

DER

WAHRHEIT
 
ORGAN DER DEUTSCHEN BAHAI
 
HEFT 2 IX. JAHRGANG APRIL 1929


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Abdu’l-Bahás Erläuterung der Bahá’i - Prinzipien.


1. Die ganze Menschheit muss als Einheit betrachtet werden.

Baha’u’lláh wandte Sich an die gesamte Menschheit mit den Worten: „Ihr seid alle die Blätter eines Zweigs und die Früchte eines Baumes“. Das heißt: die Menschheit gleicht einem Baum und die Nationen oder Völker gleichen den verschiedenen Aesten und Zweigen; die einzelnen Menschen aber gleichen den Blüten und Früchten dieses Baumes. In dieser Weise stellte Baha’u’lláh das Prinzip der Einheit der Menschheit dar. Baha’u’lláh verkündigte die Einheit der ganzen Menschheit, er versenkte sie alle im Meer der göttlichen Gnade.


2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.

In religiösen Fragen sollte niemand blindlings seinen Eltern und Voreltern folgen. Jeder muß mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören und die Wahrheit suchen, denn die Religionen sind häufig nichts anderes als Nachahmungen des von den Eltern und Voreltern übernommenen Glaubens.


3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.

Alle göttlichen Verordnungen beruhen auf ein und derselben Wirklichkeit. Diese Grundlage ist die Wahrheit und bildet eine Einheit, nicht eine Mehrheit. Daher beruhen alle Religionen auf einer einheitlichen Grundlage. Im Laufe der Zeit sind gewisse Formen und Zeremonien der Religion beigefügt worden. Dieses bigotte menschliche Beiwerk ist unwesentlich und nebensächlich und verursacht die Abweichungen und Streitigkeiten unter den Religionen. Wenn wir aber diese äußere Form beiseite legen und die Wirklichkeit suchen, so zeigt sich, daß es nur eine göttliche Religion gibt.


4. Die Religion muss die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.

Die Religion ist für die Menschheit die größte göttliche Gabe, die Ursache des wahren Lebens und hohen sittlichen Wertes; sie führt den Menschen zum ewigen Leben. Die Religion sollte weder Haß und Feindschaft noch Tyrannei und Ungerechtigkeiten verursachen. Gegenüber einer Religion, die zu Mißhelligkeit und Zwietracht, zu Spaltungen und Streitigkeiten führt, wäre Religionslosigkeit vorzuziehen. Die religiösen Lehren sind für die Seele das, was die Arznei für den Kranken ist. Wenn aber ein Heilmittel die Krankheit verschlimmert, so ist es besser, es nicht anzuwenden.


5. Die Religion muss mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.

Die Religion muß mit der Wissenschaft übereinstimmen und der Vernunft entsprechen, so daß die Wissenschaft die Religion, die Religion die Wissenschaft stützt. Diese beiden müssen unauflöslich miteinander verbunden sein.


6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.

Dies ist eine besondere Lehre Baha’u’lláhs, denn die früheren Religionen stellen die Männer über die Frauen. Töchter und Söhne müssen gleichwertige Erziehung und Bildung genießen. Dies wird viel zum Fortschritt und zur Einigung der Menschheit beitragen.


7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.

Alle Propheten Gottes kamen, um die Menschen zu einigen, nicht um sie zu trennen. Sie kamen, um das Gesetz der Liebe zu verwirklichen, nicht um Feindschaft unter sie zu bringen. Daher müssen alle Vorurteile rassischer, völkischer, politischer oder religiöser Art abgelegt werden. Wir müssen zur Ursache der Einigung der ganzen Menschheit werden.


8. Der Weltfriede muss verwirklicht werden.

Alle Menschen und Nationen sollen sich bemühen, Frieden unter sich zu schließen. Sie sollen darnach streben, daß der universale Friede zwischen allen Regierungen, Religionen, Rassen und zwischen den Bewohnern der ganzen Welt verwirklicht wird. Die Errichtung des Weltfriedens ist heutzutage die wichtigste Angelegenheit. Die Verwirklichung dieses Prinzips ist eine schreiende Notwendigkeit unserer Zeit.


9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung geniessen.

Alle Menschen müssen erzogen und belehrt werden. Eine Forderung der Religion ist, daß jedermann erzogen werde und daß er die Möglichkeit habe, Wissen und Kenntnisse zu erwerben. Die Erziehung jedes Kindes ist unerläßliche Pflicht. Für Elternlose und Unbemittelte hat die Gemeinde zu sorgen.


10. Die soziale Frage muss gelöst werden.

Keiner der früheren Religionsstifter hat die soziale Frage in so umfassender, vergeistigter Weise gelöst wie Baha’u’lláh. Er hat Anordnungen getroffen, welche die Wohlfahrt und das Glück der ganzen Menschheit sichern. Wenn sich der Reiche eines schönen, sorglosen Lebens erfreut, so hat auch der Arme ein Anrecht auf ein trautes Heim und ein sorgenfreies Dasein. Solange die bisherigen Verhältnisse dauern, wird kein wahrhaft glücklicher Zustand für den Menschen erreicht werden. Vor Gott sind alle Menschen gleich berechtigt, vor Ihm gibt es kein Ansehen der Person; alle stehen im Schutze seiner Gerechtigkeit.


11. Es muss eine Einheitssprache und Einheitsschrift eingeführt werden.

Baha’u’lláh befahl die Einführung einer Welteinheitssprache. Es muß aus allen Ländern ein Ausschuß zusammentreten, der zur Erleichterung des internationalen Verkehrs entweder eine schon bestehende Sprache zur Weitsprache erklären oder eine neue Sprache als Weltsprache schaffen soll; diese Sprache muß in allen Schulen und Hochschulen der Welt gelehrt werden, damit dann niemand mehr nötig hat, außer dieser Sprache und seiner Muttersprache eine weitere zu erlernen.


12. Es muss ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.

Nach dem Gebot Gottes soll durch das ernstliche Bestreben aller Menschen ein Weltschiedsgerichtshof geschaffen werden, der die Streitigkeiten aller Nationen schlichten soll und dessen Entscheidung sich jedermann unterzuordnen hat.

Vor mehr als 50 Jahren befahl Baha’u’lláh der Menschheit, den Weltfrieden aufzurichten und rief alle Nationen zum „internationalen Ausgleich“, damit alle Grenzfragen sowie die Fragen nationaler Ehre, nationalen Eigentums und aller internationalen Lebensinteressen durch ein schiedsrichterliches „Haus der Gerechtigkeit" entschieden werden können.

Baha’u’lláh verkündigte diese Prinzipien allen Herrschern der Welt. Sie sind der Geist und das Licht dieses Zeitalters. Von ihrer Verwirklichung hängt das Wohlergehen für unsere Zeit und das der gesamten Menschheit ab.

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SONNE    DER  WAHRHEIT
Organ der deutschen Bahá’i
Herausgegeben vom Verlag des deutschen Bahá’i-Bundes, Stuttgart
Verantwortliche Schriftleitung: Alice Schwarz - Solivo, Stuttgart, Alexanderstraße 3
Preis vierteljährlich 1,80 Goldmark, im Ausland 2.– Goldmark.
Heft 2 Stuttgart, im April 1929
Jalal – Ruhm
9. Jahrgang.

Inhalt: Nachruf für Dr. jur. Ernst Kliemke. — An die Geliebten des Herrn und an die Dienerinnen des Barmherzigen im Abendland. — Worte von 'Abdu'l-Bahá. — Ich besuche die rumänische Königin. — Nachdenkliches zur Zeitgeschichte. — Das Gesetz des Gebens. — Beantwortung der Fragen aus Nr. 12 Jahrgang VIII der Sonne der Wahrheit. — Der Sinn des Lebens. — Falsche und wahre Ideale. — Frühling.


Motto: Einheit der Menschheit — Universaler Friede — Universale Religion.


Ein Gebet von Bahá’u’lláh

geoffenbart für einen Reumütigen.


O mein Gott, o mein Gott! Ich bitte Dich beim Blut Deiner Geliebten, die sich so stark von Deinen herrlichen Worten hingerissen fühlten, daß sie zu den erhabenen Höhen, der Stufe des großen Märtyrertums eilten, ich bitte Dich bei den Geheimnissen, die in Deinem Wissen liegen und bei den Perlen, die im Ozean Deiner Verleihung ruhen, mir zu verzeihen und auch meinem Vater und meiner Mutter zu vergeben.

Wahrlich, Du bist der Gnädigste der Gnädigen. Es gibt keinen Gott, denn Dich, den Vergebenden, den Barmherzigen.

O mein Gott, wahrlich Du siehst in mir die Essenz der Irrtümer, die dem Meer Deiner Gnade entgegengeht, und den Schwachen, der dem Reich Deiner Macht naht, und den Armen, der sich der Sonne Deines Reichtums nähert.

O mein Gott, enttäusche mich nicht in Deiner Großmut und Güte. Beraube mich nicht der Gnade an Deinem Tag und weise mich nicht ab von Deinem Tor, das Du vor Allen in Deinem Himmel und auf Deiner Erde aufgetan hast.

Wehe, wehe, meine Übertretungen haben mich daran verhindert, dem Hof Deiner Heiligkeit zu nahen und meine Schwäche hat mich ferngehalten, mich den Zelten Deiner Herrlichkeit zuzuwenden. Ich habe tatsächlich Deine Verbote übertreten; ich habe das vernachlässigt, was Du mir befahlst. Ich bitte Dich beim König der Namen, durch die Feder der Gnade zu verordnen, was mich Dir nahe bringt und mich von meinen Sünden reinigt, die sich zwischen mich und Deine Vergebung und Verzeihung gestellt haben.

Wahrlich, Du bist der Mächtige, der Gütige. Es gibt keinen Gott, denn Dich, den Machtvollen, den Gnädigen.



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Nachruf für Herrn Dr. jur. Ernst Kliemke

Ein mit außerordentlichen Fähigkeiten begabter Bahá’i, Dr. jur. Ernst Kliemke aus Berlin, verschied im Verlauf einer Operation, zu der er sich rasch entschließen mußte am 20. Februar. Seine letzten Worte waren: „Ich schaue Gott“.

Dr. Kliemke, ein Linguist, vortrefflicher Anwalt und weltbekannter Schriftsteller, war Vorsitzender der Esperanto-Vereinigung in Deutschland. Sein Pseudonym war Dr. Heinrich Nienkamp und sein Buch „Fürsten ohne Krone“ ist auf den fünf Erdteilen wohlbekannt.

Dr. Kliemke hörte erstmals von der Bahá’i-Lehre im Sommer 1926 in Philadelphia U.S. bei dem damaligen Jahres-Kongreß der Esperanto-Vereinigung in Nord-Amerika.

Er traf sich mit den Baháis in Philadelphia. Sobald er nach zweimonatigem Aufenthalt in Amerika nach Berlin zurückgekehrt war, sprach er mit den Esperantisten über seinen Besuch in den Vereinigten Staaten. Er befaßte sich mit der Lehre und begann unverzüglich die persische Sprache zu studieren, um die Schriften Bahá’u’lláhs aus dem Persischen direkt in Deutsch zu übersetzen. Er sprach oftmals in den Bahá’i-Versammlungen in Berlin und im Jahr 1927 beim 19. Universalen Esperanto-Kongreß in Danzig, desgleichen beim 20. Kongreß der in Antwerpen tagte, in den Bahá’i-Sitzungen über die Kulturellen Prinzipien der Bahá’i-Bewegung. Seine Vorträge wurden in vielen Ländern veröffentlicht. Er sprach über das Thema: „Die Menschlichkeit in den Bahá’i-Lehren“. Es war seine Absicht, auch bei dem 21. Universalen Bahá’i-Kongreß, der im August in Budapest tagt, in einer Bahá’i-Sitzung über die Lehre zu sprechen.

Mehrmals hat er liebenswürdigerweise für Miss Martha L. Root, der internationalen Bahá’i-Rednerin, bei ihren dreimaligen Besuchen in Berlin interpretiert, und seine Absicht war, ihre Vorträge an der Berliner Universität über die Bahá’i-Bewegung am 28. Februar in Deutsch zu übersetzen.

Die Esperantisten und die Bahá’i hielten einen Trauergottesdienst am 21. Februar in seinem Hause ab und nahmen gemeinsam an der großen Trauerfeier Anteil, die am 26. Februar stattfand.

Dr. Kliemke war selbst „ein ungekrönter Fürst“. Sein Antlitz war stets leuchtend und jedermann, der mit ihm in Berührung trat, war erfreut, getragen und in hohem Maße angeregt durch seine edle Persönlichkeit.

Er wird von einer höheren Warte aus fortfahren uns zu helfen.

M.L.R.



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An die Geliebten des Herrn und an die Dienerinnen des Barmherzigen im Abendland.

Haifa Palästina, den 1. Januar 1929.

Geliebte Mitarbeiter!

Während die Bahá’i von Persien, als die überwältigende Mehrzahl der Anhänger des Bahá’i-Glaubens in den östlichen Ländern, die ersten Früchte ihrer langersehnten Befreiung kosten, ist ein nicht unbeträchtlicher Teil von Bahá’u’lláhs Nachfolgern im Osten, in den Provinzen des Kaukasus und von Turkestan, schweren Prüfungen und Leiden unterworfen, wenngleich diese auch weniger groß sind, als die so lange und heldenmütig getragene Trübsal ihrer persischen Glaubensgenossen.

In meinem letzten Schreiben an Euch habe ich versucht, die Natur und die Schnelligkeit jener befreienden Kräfte zu beschreiben, die heute in Persien durch eine erleuchtete Regierung entfesselt worden sind, die entschlossen ist, mit unverhohlener Verachtung die verhaßten Fesseln einer lang bestehenden Tyrannei zu zerbrechen. Ich glaube, daß eine Beschreibung der äußerst verworrenen Situation, der unsere Brüder in Rußland jetzt ausgesetzt sind, das Bild vervollständigt, welches verantwortungsvolle Gläubige im Westen sich von den kritischen und rasch sich ausdehnenden Veränderungen machen müssen, die das Gesicht des Ostens wandeln.

Nach der Gegenrevolution, welche über das ganze zaristische Rußland hin die Diktatur des Proletariats erklärte, u. der darauffolgenden Einverleibung der halb unabhängigen Gebiete des Kaukasus und von Turkestan in den Kreis der Sovjet-Herrschaft kamen die zahlreichen Bahá’i-Einrichtungen, die zuvor durch heroische Pioniere des Glaubens errichtet worden waren, in plötzliche und direkte Berührung mit den innern Zuckungen, die die Errichtung und Behauptung einer von dem früheren Regime Rußlands so grundlegend verschiedenen Ordnung notwendigerweise mit sich bringt. Die erklärte Absicht und Tätigkeit der verantwortlichen Köpfe der sozialistischen Sovjetregierung, die in Ausübung ihrer anerkannten Rechte nachdrücklich und kraftvoll ihre Politik unversöhnlicher Opposition gegen alle Formen von organisierter religiöser Propaganda erklärt und durchgeführt haben, hat durch ihre wahre Natur einen Zustand geschaffen, der höchst unglücklich und verwirrend für diejenigen ist, die sich verpflichtet fühlen, unaufhörlich für die Ausbreitung des Bahá’i-Glaubens zu arbeiten. In den zehn Jahren seit der Verkündigung dieser Politik brauchten durch die wunderbare Macht der Vorsehung die Bahá’i in Sovjet-Rußland die zentralen Grundgesetze in Bezug auf ihre eigenen Einrichtungen nicht einzuhalten, die die Politik des Sovjet-Staats leiten und beseelen. Obgleich wie alle russischen Bürger seit dem Ausbruch der Revolution den unglücklichen Folgen von innerem Streit und auswärtigem Krieg unterworfen, und im besondern von dem innern Aufstand berührt, welchen notwendigerweise die weitgehenden Veränderungen der Ordnung der Gesellschaft, wie die teilweise Enteignung von Privatbesitz, übermäßige Steuern, das Beschneiden der Rechte persönlicher Initiative und Unternehmung mit sich brachten, hatten sie doch in Religionssachen und in der Führung der Verwaltung und in rein unpolitischen Tätigkeiten dank der wohlwollenden Gesinnung ihrer Regierung, einer beinahe uneingeschränkten Freiheit in der Ausübung ihrer öffentlichen Pflichten sich zu erfreuen.

Kürzlich nun mußten unsere Bahá’ibrüder in jenen Ländern, durch Umstände, welche ganz außer ihrer Einwirkung waren, und ohne im geringsten in politische oder [Seite 20] umstürzlerische Tätigkeit verwickelt zu sein, die strenge Anwendung der Grundsätze über sich ergehen lassen, die von den staatlichen Autoritäten früher erlassen und allgemein allen andern religiösen Gemeinschaften unter ihrer Herrschaft aufgezwungen worden waren. Gemäß ihrer Politik, zu Gunsten des Staats alle Gebäude und Denkmäler religiöser Art zu enteignen, sind diese vor ein paar Monaten an die Bahá’i-Vertreter in Turkestan herangetreten, und nach langen Verhandlungen mit ihnen, beschlossen die Staatsvertreter, ihr Eigentumsrecht geltend zu machen u. die Staatsaufsicht über jenes so geliebte und allgemein gepriesene Bahá’i-Besitztum, den Mashriqu’l-Adhkár von Ishqábad, zu erzwingen. Die dringenden und wiederholten Einwendungen der Bahá’is, pflichtgetreu durch ihre örtlichen und nationalen Vertreter dargelegt und gebührend durch die Tätigkeit, der Nationalen Geistigen Gemeinschaft der Bahá’i von Persien unterstützt, welche den internationalen Charakter und die Geistige Bedeutung des Gebäudes und seine vertraute materielle sowohl wie geistige Beziehung zu den verschiedenen Bahá’i-Gemeinschaften im ganzen Osten und Westen betonten, haben leider keinen Erfolg gehabt. Der geliebte Tempel, welcher beschlagnahmt und enteignet und auf drei Monate mit dem Siegel der Gemeindebehörde geschlossen worden war, wurde erst wieder eröffnet und es wurde erst wieder erlaubt, Versammlungen in seinen Mauern zu halten, als von der Geistigen Bahá’i-Arbeitsgemeinschaft von Ishqábad ein durch Sovjetbeamte ausgearbeiteter Vertrag angenommen und unterzeichnet worden war, der das unbestrittene Eigentumsrecht des Staates über den Mashriqu’l-Adhkár und seine Nebengebäude anerkannte. Nach diesem Kontrakt wird der Tempel durch den Staat auf einen Zeitraum von fünf Jahren an die örtliche Bahá’i-Gemeinde dieser Stadt vermietet, und in ihm sind eine Anzahl von Verpflichtungen finanzieller und anderer Art bestimmt, die ausdrücklich Strafen und Bussen vorsehen für den Fall der Uebertretung seiner Bestimmungen.

Diesen Maßnahmen, zu welchen der Staat in der freien Ausübung seiner gesetzlichen Rechte sich entschlossen hatte, und die die Bahá’is, wie es ihrer Stellung als ergebene und gesetzestreue Bürger zukommt, erfüllt haben, folgten andere, die, obgleich anderen Charakters, doch um nichts weniger schwer die unschuldigen Bestrebungen unserer geliebten Sache geschädigt haben. Sowohl in Baku, dem Sitz der Sovjet-Regierung des Kaukasus, wie auch in Ganjih und andern benachbarten Städten wurde ein Staatsbefehl mündlich und schriftlich offiziell an die Bahá’i-Arbeitsgemeinschaften und die einzelnen Anhänger erlassen, der alle Zusammenkünfte und die Feier von Gedenktagen und von Festen verbietet, die Komitees aller lokalen und nationalen Geistigen Versammlungen unterdrückt, und der die Gründung von Fonds und ebenso die Ueberweisung von finanziellen Beiträgen an ein anderes Bahá’i-Zentrum, innerhalb oder außerhalb der Sovjet-Gerichtsbarkeit, verbietet. Ferner wurde das Recht vollständiger und häufiger Inspektion verlangt über Beschlüsse, Pläne und Tätigkeit der Bahái-Arbeitsgemeinschaften, wurden die Jungmänner-Vereine und Kinderorganisationen aufgelöst, sowie eine strenge Zensur über alle Korrespondenz der Bahá’i-Arbeitsgemeinschaften eingerichtet, die genaue Erforschung der Papiere und Dokumente der Arbeitsgemeinschaften angeordnet, alle regelmäßigen Zeitschriften und Nachrichten verboten, die Ausweisung der führenden Persönlichkeiten in der Sache, seien sie Lehrer, Redner oder Beamte der Bahá’i-Arbeitsgemeinschaften, verlangt.

Diesem allem haben sich die Anhänger des Glaubens an Bahá’u’lláh mit Gefühlen unsäglicher Pein und heldenhafter Stärke einmütig unterworfen, immer eingedenk der Haupt-Prinzipien des Bahá’i-Lebens, daß in [Seite 21] Verbindung mit ihrer verwaltenden Tätigkeit, ohne Rücksicht darauf, wie schwer die Ausbreitung der Bewegung geschädigt wird, und ohne Rücksicht auf die Aufhebung der Sache, die ja keine Abkehr von dem Prinzip der Treue zu ihrem Glauben ist, das Urteil und der gesetzliche Beschluß ihrer verantwortlichen Regierung durchaus respektiert und loyal befolgt werden müssen, wenn sie Bahá’u’lláhs und ’Abdu’l-Bahas ausdrücklichen Befehlen die Treue bewahren wollten. In Sachen aber, die die Reinheit und Ehre des Glaubens Bahá’u’lláhs wesentlich angreifen und gleichbedeutend sind mit einer Widerrufung ihres Glaubens und einer Ablehnung ihres innersten Glaubens, sind sie überzeugt, und ohne Zögern bereit, bis zu ihrem letzten Atemzug für die Aufrichtigkeit ihrer Ueberzeugung einzutreten, daß es keine Macht auf Erden gibt, weder die Künste des so überaus tückischen Gegners, noch die blutigen Waffen des so überaus tyrannischen Unterdrückers, die im Stande wären, ihnen ein Wort oder eine Tat abzuzwingen, die die Stimme ihres Gewissens übertönen oder die Reinheit ihres Glaubens beflecken könnte. Obwohl sie mit unerschütterlicher Festigkeit an der unbezwingbaren Wahrheit ihres geliebten Glaubens hängen, haben unsere schwer geprüften Brüder im Kaukasus und Turkestan trotzdem, wie es gesetzestreuen Bahá’i-Bürgern zukommt, beschlossen, nachdem sie alle gesetzlichen Mittel zur Erleichterung der ihnen auferlegten Einschränkung erschöpft hatten, dem ergangenen Urteil ihrer anerkannten Regierung sich endgültig zu fügen und es gewissenhaft auszuführen. Sie haben mit einer Hoffnung, die keine irdische Macht trüben kann, und mit einer wirklich erhabenen Ergebung ihre Sache dem wachenden, dem allmächtigen Göttlichen Befreier anheimgestellt, der, sie glauben es zuversichtlich, mit der Zeit den Schleier, der die Einsicht ihrer Regierung verdunkelt, lüften, und den Adel ihres Ziels, die Unschuld ihres Zwecks, die Redlichkeit ihrer Führung und die menschenfreundlichen Ideale offenbaren wird, welche die kleinen, aber innerlich mächtigen Bahá’i-Gemeinden in jedem Land und unter jeder Regierung charakterisieren.

Sollten die Einschränkungen an Zahl und Stärke zunehmen, sollte eine Situation erwachsen, die die Lage des Mashriqu’l-Adhkár in Ishqabád gefährden würde, so daß ein Eingreifen der Bahá’i-Welt nötig wäre, dann will ich die nationalen u. lokalen Geistigen Bahá’i-Gesellschaften im Osten u. Westen aufrufen, sich einmütig zu erheben und ihre Brüder zu unterstützen, deren besondere Aufgabe und besonderes Vorrecht es ist, über diesem geheiligten Boden zu wachen, auf dem der zentrale Bau von Bahá’u’lláhs Erstem Allgemeinem Gotteshaus errichtet ist. Ich will sie dringend bitten, zu jeder gebotenen Aktion zu greifen, um die Solidarität der Nachfolger Bahá’u’lláhs zu erweisen, alle Zweifel und Besorgnisse der Staatsbeamten jenes Landes zu beseitigen und die Achtung und das Vertrauen der Regierung zu den verdächtigten Brüdern wieder herzustellen. Ich will sie besonders bitten, in ihren schriftlichen Darlegungen an die Behörden die absolute Verwerfung irgend eines weiteren Motivs oder einer politischen Absicht, die ihre böswilligen Gegner ihnen zur Last legen, festzustellen, und in unzweideutigen Ausdrücken, die rein humane und geistige Natur der Arbeit, in welcher die Bahá’i’s jeden Landes und jeder Rasse einheitlich sich betätigen, zu bekräftigen. Ferner will ich sie bitten, den internationalen Charakter des Bahá’i-Gebäudes in Ishqábád zu betonen und die engen Bande materiellen Interesses und geistiger Kameradschaft zu festigen, die die Bahá’i-Gemeinden der Welt an einen Bau bindet, der den Vorzug für sich in Anspruch nehmen kann, daß es Bahá’u’lláhs Erstes Universales Gotteshaus ist, daß sein Bauplan von 'Abdu'l-Bahá selbst entworfen wurde, und daß es in Seinen Tagen, unter Seiner Aufsicht [Seite 22] gebaut und vollendet wurde, und daß dazu die gesammelten Beiträge der Gläubigen in der ganzen Welt beigetragen haben. — Die Stunde zu einem solchen großen, vereinigten Aufruf ist noch nicht gekommen, aber es geziemt sich, während wir von der Ferne dem aufregenden Schauspiel von dem ringenden Glauben Bahá’u’lláhs aufmerksam zuschauen, bleibenden Trost und Kraft zu suchen in dem Gedanken, daß was auch die Sache befällt, wie schmerzlich und demütigend die Prüfungen sind, die von Zeit zu Zeit das organische Leben des Bahá’iglaubens heimzusuchen scheinen, oder die Funktionen seiner Verwaltung stören, solche Widerwärtigkeiten möglichenfalls eine verborgene Segnung einer uns allen unerforschlichen Weisheit sind, um die Herrschaft Bahá’u’lláhs auf dieser Welt zu errichten und zu befestigen.

Was wir bereits in Zusammenhang mit den letzten Entwicklungen über den Fall des Hauses von Bahá’u’lláh in Bagdad mitgeteilt haben, verlangt eine genaue Darlegung der Wahrheit von etwas, was dabei beobachtet werden konnte. Während nämlich der Rechtsfall in seinem Anfangsstadium dem oberflächlichen Beobachter wie ein unbedeutender Streit erschien, der einem obskuren, veralteten Shiitengericht unterbreitet wurde, hat der Fall sich nach und nach zu einer großen Sache entwickelt, der die Aufmerksamkeit des höchsten Gerichtshofs des Iraq auf sich zog. In seinem letzten Stadium hat er eine solche Kraft entwickelt, wurde er so bekannt und erhielt er solche Stütze von den offiziellen Kanzleien Europas, daß er ein Gegenstand der Erwägung wurde nicht nur für die besondere internationale Kommission, die letzthin verantwortlich ist für die Verwaltung der Mandatsgebiete, sondern auch für die führenden Signatarmächte des Völkerbundes, die im Völkerbundsrat selbst vertreten sind.

Wenige von denen, die mit dem Fall näher vertraut sind, glaubten zuerst, oder erwarteten gar, daß Wohnungen, nach außen nur ein Komplex unscheinbarer alter Gebäude, verloren in den dunklen u. winkligen Gassen des alten Bagdad, jemals eine solche Bedeutung bekommen sollten, um der Gegenstand der Beratung des höchsten internationalen Gerichtshofs zu werden, den die Hand des Menschen so hoch gestellt hat zur friedlichen Erledigung seiner Angelegenheiten. Was auch der Beschluß des höchsten Gerichtshofs der Welt sein mag betreffs der Bitte der Bahá’i von Iraq — und niemand kann leugnen, daß wenn die Entscheidung zu unseren Gunsten ausfällt, ein in seiner Größe nie dagewesener Triumpf für unsern geliebten Glauben erreicht wäre — das bereits Erreichte ist in sich selbst ein genügender Beweis der stützenden Bestätigungen, welche den Bannerträgern der Sache von den himmlischen Mächten zuteil geworden ist.

Ich kann nicht unterlassen, in diesem Zusammenhang meine Gefühle höchster Anerkennung zum Ausdruck zu bringen über die unermüdliche Sorgfalt und bemerkenswerte Bestimmtheit, mit welcher unser edler Bruder und Mitarbeiter Mr. Mountfort Mills diese heilige und historische Mission unternommen hat, und immer noch auf sich nimmt. Seine beharrliche Arbeit, trotz Krankheit und häuslicher Schwierigkeiten und Sorgen, sind des höchsten Lobes würdig und werden dankbar in den Annalen der unsterblichen Sache verzeichnet werden.

Sicher können wir, wenn wir die Geschichte dieses Falles richtig lesen, nur die Wirkung der entfesselten Kräfte darin finden, die folgende prophetische Aeußerungen Bahá’u’lláhs aus der Zeit vor 60 Jahren auslösten, und welche bestimmt sind, die etwaige Lösung dieses wichtigen Falles in sich zu schließen:

„In Wahrheit erkläre ich, es (nämlich das Haus) wird so erniedrigt werden in den Tagen, die kommen, daß in jedem erkennenden Auge die Tränen fließen werden... Und in [Seite 23] der Fülle der Zeiten wird es der Herr durch die Kraft der Wahrheit in den Augen der ganzen Welt erhöhen, wird machen, daß es zur mächtigen Standarte Seiner Herrschaft wird, zum Schrein, um den sich die Getreuen sammeln.“

Euer getreuer Bruder Shoghi.

Überprüfte Übersetz. von F. Neuburger.



Worte von 'Abdu'l-Bahá.

Frage: Was ist die Bedeutung der Worte: „Er ist Gott“, welche als Ueberschrift von jedem Sendschreiben und Brief geschrieben steht?

Antwort: Es ist dies eine Sitte der Orientalen, sie wird auf den Islam zurückgeführt. Ihre Absicht ist, daß alles Beginnen im Namen Gottes sein sollte — d. h., alles was wir tun, soll im Namen Gottes geschehen. Was ihre Anführung in den göttlichen Sendschreiben betrifft, so ist der Sinn dieser:

Die Wirklichkeit des göttlichen Wesens ist über alle unsere Begriffe heilig, sie geht über unsere Erklärung hinaus und steht über dem Reich der Einbildung, denn das was eingebildet ist, ist endlich vom Menschen, aber Gott ist unendlich, und sicherlich ist das Unendliche größer als das Endliche. Daher ist es augenscheinlich, daß die Einbildung eine menschliche Schöpfung ist, und nicht Wirklichkeit, denn das Wesen der Gottheit steht hoch erhaben über menschlicher Einbildung. Der menschliche Verstand ist begrenzt und endlich, das göttliche Wesen ist unbegrenzt, daher kann der Mensch, der begrenzt ist, Gott, das Unendliche, nicht begreifen. Des Menschen Vorstellung von Gott ist seine eigene Schöpfung, damit begreift er Ihn. Darüber hinaus ist er gänzlich unfähig, das Unendliche zu erfassen.“

In einem Sendschreiben an einen japanischen Bahá’i ist folgendes gesagt:

Alle Menschen haben in der Gedankenwelt sich einen Gott geschaffen, und sie beten das Gebilde ihrer eigenen Einbildung an, während es Tatsache ist, daß die eingebildete Idee von dem Geist verstanden wird, welcher ihn hervorgebracht hat. Sicher ist, daß das, was versteht, größer ist, als das, welches verstanden wird; denn die Einbildung ist unwesentlich, während der Geist wesentlich ist. Sicherlich ist das Wesentliche größer als das Unwesentliche. Deshalb bedenke, alle Konfessionen und Völker beten ihre eigenen Gedanken an. Sie erschaffen sich einen Gott in ihrem Sinn und anerkennen ihn als den Schöpfer aller Dinge, während dieses Gedankenbild ein Aberglaube ist. So beten die Menschen eine Einbildung oder Illusion an und verehren dieselbe. Das Wesen der göttlichen Wirklichkeit und das Unsichtbare des Unsichtbaren ist über alle Einbildungskraft heilig und übersteigt das Denkvermögen. Das Bewußtwerden erreicht sie nicht. In der Fassungskraft jeder erschaffenen Wirklichkeit kann jene urewige Wirklichkeit nicht enthalten sein. Jenes ist eine gedanklich nicht zu erreichende Welt, von ihr haben wir keine Informationen, es ist unmöglich, sie zu erreichen, die menschliche Fähigkeit dazu ist unzulänglich. Daß diese Wirklichkeit existiert, ist wohl bekannt, und ihre Existenz ist gewiß und bewiesen; aber ihre Beschaffenheit ist unbekannt. Alle Philosophen und Gelehrten wissen, daß sie besteht, aber was den Inbegriff ihrer Existenz betrifft, befanden sie sich in Verwirrung und verzweifelten zuletzt und in großen Zweifeln verließen sie diese Welt.

Für den Inbegriff des Zustandes und des Geheimnisses jener Wirklichkeit der Wirklichkeiten, des Geheimnisses der Geheimnisse ist eine andere Macht und ein anderer Sinn nötig. Jene Macht und jenen Sinn besitzen die Menschen nicht, deshalb haben sie irgend eine Erklärung darüber nicht gefunden. Zum Beispiel wenn ein Mensch die Kraft zum Hören, Schmecken, Riechen, Fühlen, aber nicht zum Sehen besitzt, so kann er nicht sehen. Daher ist, obgleich die Kräfte und Sinne im Menschen vorhanden sind, ein Sichklarwerden über jene unsichtbare Wirklichkeit, welche über alle Bereiche der Zweifel rein und erhaben ist; unmöglich. Es sind andere Mächte nötig und andere Sinne erforderlich. Wenn diese Mächte und Sinne erlangt werden, kann eine Belehrung erfolgen, andernfalls nicht.

Alle Menschen beten nur eine Einbildung an, denn sie haben sich einen Gott im Reich ihrer Einbildung geschaffen, und diesen beten sie an. Wenn du eine Seele fragst, wenn sie betet — wen betest du an? So wird sie [Seite 24] sagen „Gott.“ Welchen Gott? den Gott meiner Vorstellung. Da in Wahrheit das, was sie sich einbilden, nicht Gott ist, so sind alle Menschen Anbeter von Einbildungen und Idealen.

Folglich gibt es keinen Weg oder keine Zuflucht für den Menschen, außer den hl. Manifestationen, denn wie wir sagten, ist die Essenz der Gottheit rein und heilig und kann nicht in die Ideenwelt hineingetragen werden. Das, was in ideale Verwirklichung gebracht werden kann, sind die heiligen und göttlichen Manifestierten. Ein höheres Ziel der Konzentration als diese hat der Mensch nicht.

Was diese Grenze überschreitet, wird zur Einbildung.



Ich besuche die rumänische Königin.

Von Karin Michaelis.

Das Schloß legt in einem Park. In einem Vorhof stolzieren ein Dutzend Soldaten, stehen habacht wie bei einer Puppenparade. Aber der Wagen fährt an ihnen vorbei, ganz hinein. Die Königin empfängt. Die Vorhalle ist voll von schrecklich vornehmen Kavalieren (oder sind es vielleicht Lakaien?), die sicher nur da sind, um den Fremden Respekt einzuflößen. Durch Marmor und wieder Marmor. In eine Bibliothek, deren Fenster in den winterverzauberten Garten hinausgehen, wo die Sandsteinfiguren, wenig bekleidet und ohne eine Miene zu verziehen, frieren. Im Saal herrscht eisige Kälte. Im Kamin ist alles so nett vorbereitet — ein Zündhölzchen, und das Feuer brennt. Aber mir fehlt das Zündhölzchen und die dazugehörige Erlaubnis. So friere auch ich mit Anstand. Erst kommt die „große Oberhofmeisterin“ — sie heißt wirklich so, weil sie so groß ist — und sagt mir ein paar freundliche Worte, wobei ich ganz genau weiß, daß sie nur hereinguckt, um mich zu begutachten.






Königin Marie von Rumänien.


Dann kommt die „kleine Oberhofmeisterin“ zum Vorschein - heißt die kleine, weil sie so dünn und zerbrechlich ist wie eine feine Nähnadel. Ihr Lächeln ist warm, wärmt aber nicht mehr als ein Talgflämmchen. Dann friere ich wieder ein wenig in Einsamkeit. Die unzähligen Bücher in den kostbaren königlichen Einbänden reichen fast bis an die Decke, stauen sich hinter den Säulen und lassen alle Diebsgelüste in einem kribblig werden. Der Zeremonienmeister führt mich wieder durch Marmor und Marmor in einen Raum von solchen Dimensionen, wie man es eben bei fürstlichen Persönlichkeiten erwartet, die Wohnung und [Seite 25] Heizung gratis bekommen. In der äußersten Ecke, die in gedämpften Hyazinthenfarben wie eine kleine Kajüte für sich eingerichtet ist, sitzt die Königin vor dem Kamin. In tiefer Trauer, eine Trauer, wie man sie sich tiefer überhaupt nicht vorstellen kann. Sie ist in Trauer gebunden wie mein Konfirmationsbuch in schwarzen Samt. So gehört es sich auch, denn sie ist ja Witwe. Aber die Trauer steht ihr. Steht ihr unerhört. Zwischen dem Bild draußen und der Königinwitwe hier dürfte ein gutes Menschenalter liegen, doch die Augen, diese Loreleyaugen, sind die gleichen, sie haben ihr Vergißmeinnichtblau nicht verloren, ziehen immer noch alles Licht aus ihrer Umgebung.

Etwas läßt mich stutzen, so daß ich beinahe zu grüßen vergesse — jedenfalls grüße ich nicht so, wie eine Königin es gewohnt oder erwartet. Es ist das Feuer im Kamin. Mag sein, daß ich sehr ungebildet bin, ich habe ja keine großen Erfahrungen, wie es bei Hof zugeht, aber so ein Feuer hatte ich noch nie gesehen. Aus den flammenden Scheiten lodert ein Feuer, nicht in sieben, nein, in siebentausend Farben, rascher wechselnd als Gedanken fliegen. Es ist, als starrte man in eine zauberhafte Blütenwelt, und sollte man das Augenlicht verlieren, man starrt doch hinein, starrt immer weiter.

„Was ist das?“ frage ich, ehe ich noch etwas anderes hervorbringe. Die Königin lächelt: „Ich nenne das meine „Seifenblasen“. Sie steht auf, hinter ihr eine Schleppe von Trauer — greift nach einer kleinen Schale mit türkisblauem Staub, nimmt ein wenig zwischen die Finger und wirft es ins Feuer. Die Blütenflammen steigen höher, lodern noch berauschender auf. Sie hätte mir wirklich sagen können, was das war, oder mir ein Schächtelchen von diesem Hexenzauber schenken können. Aber fällt ihr gar nicht ein! Ich reiße meinen Blick los und gleich darauf hängt er nicht weniger bezaubert an der trauerverschleierten Gestalt mit dem engelsgleichen Mona-Lisa-Lächeln. Und ich denke ganz still, sollte sie nicht doch aus derselben Familie sein wie die Königin von Saba, Sulamit, Kleopatra und Messalina?

Die Trauerkleider umfließen sie wie schwarzer Schaum, nur über der Stirn erhebt sich ein weißer Rand, um unter dem Kinn abzuschließen. In zwei Minuten plappern wir buchstäblich um die Wette. Sie ist nicht nur die königlichste, sie ist auch die weiblichste Frau, die ich je gesehen habe. Sie ist Lady Diana Manners in eine Sprache übersetzt, Pola Negri in eine andere, sie ist ach Gott, es ist wohl am besten, ich rede nicht weiter.

Wir sind ganz allein und ohne Zeugen, ich kann also sagen, was ich will, und sie kann von der Leber weg sprechen. Angst vor Mißverständnissen gibt es nicht. Ich frage, was mir einfällt, sie antwortet, als spräche sie mit sich selbst.

Welche Natürlichkeit!... Wenn es Natürlichkeit ist. Sie sagte, als ich ihr ein vielleicht etwas ungeschicktes Kompliment über ihr Aeußeres machte: „Ja, das war einmal.“

„Nein, gar nicht, „das war einmal“. Das ist jetzt. Vielleicht sogar mehr denn je.“

Sie aber fährt fort, „Ja, mein Gesicht. Aber das Gesicht ist nur wie der Eingang in ein Haus. Ist das Haus innen wertlos und häßlich, so nützt es nichts, wenn das Portal noch so schön ist.“

„Uebrigens“, sagte sie dann aufrichtig, „hat mein Gesicht mir wirklich viel geholfen. Es machte es mir leicht, mit den Menschen in Kontakt zu kommen.“

Wir sprechen davon, welch’ eine Gottesgabe es doch ist, sich natürlich geben zu können. Die Königin lächelt mit einer Süße, daß es mich wundern sollte, wenn die Biene im Schloßgarten zur Sommerszeit ihre Augen nicht mit duftenden blauen Blumen verwechseln wollten: „Wissen Sie, ein Freund sagte einmal zu mir: Du bist die größte Schauspielerin. Niemand spielt mit solcher Virtuosität Natürlichkeit, wie du.“

Ich denke ganz still für mich: dieser Freund kannte dich gar nicht, du Königin. Du gibst dich ja genau so, wie du bist.

Als hätte sie meine Gedanken erraten, fährt sie fort: „Ich habe den Mut, ich selbst zu sein. Aber das wird mißverstanden. Man ist es bei Frauen in meiner Position nicht gewöhnt!“ Und gleich darauf erzählt sie mir etwas, daß alle die kolibrifarbenen Flammen und Flämmchen die Hälse recken, um zu lauschen, etwas, das ich mich auch nicht voll und ganz wiederzugeben getraue.

Wir sprechen von einem gewissen Verwandten von ihr, einem großen gekrönten Haupt: „Er kann nie vergessen, daß ich ihm einen Korb gegeben habe... Jetzt kritisiert er alles, was ich mache — auf Entfernung. Sind wir zusammen, so streiten und vertragen wir uns. Ich sage immer: Was für dein Land und deine Königin das richtige ist, paßt nicht auch für Rumänien. Herrgott, lasse mich doch, wie ich bin. Ich glaube, daß ich auf meine Art am meisten für mein Land und mein Volk ausrichten kann.

Dann sprechen wir von dem Krieg und seinen Greueln und der einzigen Möglichkeit, einen neuen [Seite 26] Weltkrieg zu verhindern: daß nämlich wir Frauen uns alle zusammenschließen und „Halt!“ sagen, „jetzt bestimmen wir“. Wie ich einen grossen Plan erwähne, der aber einstweilen noch in Schwebe ist, erklärt sie sich bereit, alles liegen und stehen zu lassen, um an dem unblutigen Kampf gegen das Blutvergießen teilzunehmen.

Natürlich kommen wir auch auf die Religion - von was sprechen zwei Frauen nicht, wenn sie allein unter vier Augen sind? Wir brauchen ja, Gott sei Dank, nicht nach Männerart jedes Thema bis zu Ende zu besprechen. Und wenn die Logik dabei hie und da zu einem kleinen Schläfchen kommt, so macht das auch nichts.

Ich vertraue ihr an, was eine liebe verstorbene Freundin von mir einmal gesagt hat: die drei gefährlichsten Dinge auf der Welt sind Religion, Politik und Nationalitätsgefühl. Sie sind die Hauptursache von Haß und Unverträglichkeit unter den Menschen.

Die Königin nickte nachdenklich: „In meiner engsten Familie gibt es nicht weniger als drei Religionen, katholisch, orthodox und episkopal. Aber ich meine doch, daß man mit Takt und Achtung für die Gefühle der anderen darüber hinwegkommen kann...“

Die jüngste Tochter, ein süßes, frisches, langbeiniges, schwarzgekleidetes Mädchen kommt herein, knickst vor dem Gast und zeigt, daß es wirklich einigermaßen in menschlicher Freiheit erzogen wurde.

Dann aber erfahre ich mit Staunen, daß die rumänische Königin sich zu keiner der drei Familienreligionen bekennt: „Ich habe mich selbständıg gemacht“, sagt sie, „ich bin eifrige Anhängerin der schönen Bahá’i-Lehre“.

Das ist wirklich eine Ueberraschung für mich. Denn die persische Bahá’i-Lehre ist die einzige Art von Religion, in der die Böcke nicht von den Schafen geschieden werden, sondern die alle Sekten, alle Rassen, alle Religionen in sich vereinigt, wenn sie nur von dem Hauptgrundsatz des Christentums ausgehen: Gehet hin und werdet alle Brüder! Vor ein paar Jahren lebte ich einige Zeit als Gast des Vorsitzenden des Geistigen Nationalrats der Bahá’i in Stuttgart und konnte so einigen Einblick in diese milde, alles umfassende, liebe-erfüllte Religion gewinnen. Man kann sein, was man will, Jude oder Christ, Mohammedaner oder Buddhist, und trotzdem Bahá’i sein. Deshalb interessiert es mich, zu hören, mit welchem Stolz die schwarzgekleidete Frau vor mir sagt: „Ich bin die erste Bahá’i-Königin der Welt!“ Nimmt sie die Bahá’i-Lehre wirklich ernst, dann muß sie toleranter sein als alle ihre fürstlichen Mitschwestern, dann erfahre ich sicher bald, daß die Siguranza in Rumänien endgültig abgeschafft ist...

Im Nebenzimmer warten verschiedene Deputationen. Die große Oberhofmeisterin steckt den Kopf durch eine Tapetentür und gibt ein Zeichen. Wir lassen sie dieses Zeichen noch mehrmals geben, zuletzt aber muß ich doch aufbrechen. Wir beklagen es beide und versprechen einander, daß dieses unser erstes Gespräch nicht das letzte sein darf.



Nachdenkliches zur Zeitgeschichte.

Es ist etwas eigentümlich Packendes in dem Gedanken, den uns Bahá’u’lláh lehrt, daß alles in der Welt in einem: ständigen Wachstum begriffen ist. Nicht nur die Pflanze, das Tier und der einzelne Mensch haben ein Wachstum, sondern auch die Menschheit als solche, das ganze Weltgeschehen ist von einem gewaltigen Gesetz, das uns als Entwicklung erscheint, beherrscht. An sich ist der Gedanke nicht neu, daß wir Menschlein es letzten Endes gar nicht sind, die das große Weltgeschehen machen. In neuerer Zeit finden wir ihn in Hegels Geschichtsphilosophie und Spenglers pessimistischer Lehre vom untergehenden Abendland, und doch fehlte allen diesen Gedanken ganz der organische Zusammenhang mit dem einzelnen Geschehen. Manches davon wirkte überzeugend, wenn man es las, aber ein Blick in den Alltag genügte in der Regel, um es wieder als bloßen fatalistischen Unkenruf erscheinen zu lassen. Weil der Zusammenhang mit dem Alltag, der uns doch offensichtlich die Herrschaft des freien Willens im Weltengestalten zeigte, fehlte, haben diese Ideen, wenigstens im Abendland, wo immer sie aufgetaucht sein mögen, keinen bestimmenden Einfluß auf die Geschehnisse zu nehmen vermocht. Selbst der Sozialismus, der durch Lassalle aus der Hegelschen Geschichtsphilosophie geschöpft hat, hat wenig von dieser philosophischen Grundlage behalten.

Hier nun kommt Bahá’u’lláh und läßt uns erkennen, in welchem innigen Zusammenhang alle Schöpfung, der Einzelne wie die Gesamtheit, miteinander steht. Er zeigt uns die brüderliche Verwandtschaft mit allem Sein, mit dem Blatt, mit [Seite 27]EEE dem Mineral, mit den Gestirnen, die alle nur Aeusserungen eines großen Schöpfungsprinzips sind. Und eines der Kennzeichen dieses Schöpfungsprinzips ist das Wachstum. Es gibt keinen Stillstand im Erschaffenen, Stillstand ist gleichbedeutend mit Tod. Irgendwo in der Welt taucht ein neuer Gedanke auf, ein einzelner Mensch ist es, der ihm zuerst Ausdruck gibt, hunderte und tausende greifen ihn auf, verkünden ihn und pflanzen ihn fort. So entsteht eine neue Bewegung, und wir glauben, daß es jener eine Mensch gewesen ist, von dem sie ausgegangen ist. In Wirklichkeit aber war er selber nichts anderes als ein Werkzeug des schaffenden Zeitgeistes, eine Antenne, deren sich der Geist bedient hat, um seine Wachstumswellen in die Welt auszusenden. In den großen Manifestationen Moses, Buddha, Christus, Mohammed, Bahá’u’lláh usw. hat der Geist jeweils seine mächtigen Sendestationen gefunden, die die großen Epochen bestimmten, und von diesen Sendestationen aus wirkte sich der Geist innerhalb der Epoche auf viele kleine menschliche Sendestationen aus, so mehr und mehr den Gedanken der Manifestationen zur Verwirklichung verhelfend.

Einheit ist das Gebot, das die Kraftquelle Bahá’u’lláh als das Lebenserfordernis unserer Zeit sendet, und tausend kleine Stationen greifen das Gebot bewußt und unbewußt auf und senden es, in seine einzelnen Bestandteile zerlegt, weiter. Paneuropa, Völkerbund, soziale Reformbestrebungen, die kulturellen Kämpfe und Umwandlungen in den islamischen Ländern, Türkei, Persien, Afghanistan, der Siegeszug des Esperanto sind Beispiele dafür, wie das Gebot der Einheit seiner Erfüllung entgegendrängt. Wir müssen nur die Augen aufmachen, um zu erkennen, mit welch ungeheurer Stärke diese Entwickelung den gesamten Erdball, jedes Volk, die verschiedensten Geistesrichtungen und Gemeinschaften erfaßt hat. Da erscheint einem plötzlich all das, was bisher ein unentwirrbares Geschehen geschienen hatte, als ein machtvolles planmäßiges neues Werden.

Allein dieses Werden ist keineswegs ein Geschehen, das uns dazu verleiten darf, die Hände fatalistisch in den Schoß zu legen, vielmehr liegt es gerade an jedem Einzelnen, mitzugestalten und dem Zeitgeist zum Sieg zu verhelfen, denn nur dadurch, daß jeder sein Bestes daran gibt, den Gedanken der Einheit zu verwirklichen, wird es möglich sein, die Schmerzen und Kämpfe zu verringern, die im Anfang jeder neuen Weltepoche über die Menschheit gekommen sind, Schmerzen und Kämpfe, die aus der Blindheit und der Leidenschaft derjenigen geboren sind, die sich der neuen Zeit und dem neuen Gedanken entgegenstellen, sei es, weil sie sie nicht erkennen wollen oder weil sie noch nicht reif sind, sie zu erkennen. Für uns Bahá’i aber, die wir in Bahá’u’lláh klar das rettende Leuchtfeuer in der Brandung der Ereignisse erkennen, ergibt sich eine ganz besondere Verantwortung, daß wir nicht müde werden, den andern den sichern Weg durch die Klippen zu zeigen, und damit wir ihn zeigen können, daß wir unsern Blick schärfen, um das Feuer der Rettung, die Lehre Bahá’u’lláhs immer klarer zu erkennen und ihre Prinzipien und Gebote in uns zu verwirklichen.

Alláh’o’Abhá!

Dr.H G.




Das Gesetz des Gebens.

Von Katharine E. Hall.

Aus dem englischen übersetzt von Karl Klitzing, Schwerin M.

Der Weg zum höchsten und vollkommensten Leben in dieser Welt ist, Gottes unabänderliche, universale Gesetze zu erkennen und in Uebereinstimmung mit ihnen zu handeln, zu wissen, daß uns nichts vorenthalten wird, das zu besitzen, gut für uns ist und auf unseren geistigen Fortschritt in keiner Weise störend einwirkt, denn was dem Wachstum des einen Menschen dienlich ist, kann demjenigen eines anderen hinderlich sein, und Gott hält Seine Gabe nur dort zurück, wo er weiß, daß sie einer Seele eher Hindernis als Hilfe sein würde.

Eines dieser großen und wesentlichen Gesetze, und zwar eines, das alle kennen sollten, ist das „Gesetz des Gebens“. Geben bezieht sich nicht nur auf materielle Dinge, sondern auch auf die Erweisung von Liebe, Gefälligkeit und gutem Willen. Wenn ein Händedruck oder ein Lächeln auch unwichtig erscheinen, so sind sie es in Wirklichkeit doch nicht und finden in den Augen Gottes, der Seine Geschöpfe dementsprechend belohnt, hohes Ansehen. „Geben ist seliger denn nehmen“ (Apostelgeschichte 20, 35): Wir finden viele Anweisungen zur völligen Erfüllung dieses Gesetzes, die aber nicht so bedeutungsvoll sind, wie diejenige des hebräischen Volkes, das von seinen geistigen Lehrern angewiesen war, ein Zehntel seines Einkommens für einen rein geistigen Zweck, zu dem sich kein Eigennutz gesellen konnte, und bei dem durchaus keine Aussicht auf eine Rückerstattung oder Belohnung vorhanden war, zu geben. Die geistigen Gesetze arbeiten immer mit [Seite 28] völliger Genauigkeit, u. dieses Volk hatte in allen Unternehmungen Erfolg. Dieses Zehntel oder dieser Zehnte, wie er genannt wurde, wurde von selbst und aus völlig freien Stücken seitens des Gebers, nicht durch Ueberredung oder Beeinflussung irgend welcher Art außer durch die Eingebungen der eigenen Seele, entrichtet. So lange dieses Volk seine freiwilligen Gaben getreulich darbrachte, hatte es in jeder Hinsicht Erfolg, denn ein solches Geben ruft große seelische und geistige Ergebnisse hervor und bringt den Menschen in Einklang mit geistigen Kräften, die die Seele reinigen und erneuern, aber wenn das göttliche Gebot ihrer geistigen Lehrer nicht befolgt wurde, waren Armut und Mangel an geistiger Kraft die Folge.

„Bringet aber die Zehnten ganz in Mein Kornhaus, auf daß in Meinem Hause Speise sei und prüfet Mich hierin,“ spricht der Herr Zebaoth, „ob. Ich euch nicht des Himmels Fenster auftun werde und Segen herabschütten die Fülle.“ (Maleachi 3, 10).

„Gebt, so wird euch gegeben. Ein voll, gedrückt, gerüttelt und überflüssig Maß wird man in euren Schoß geben, denn eben mit dem Maß, da ihr mit messet, wird man euch wieder messen.“ (Lukas 6, 38.)

Mildtätigkeit bedeutet Vermehrung. „Einer teilet aus und hat immer mehr. Ein anderer karget, da er nicht soll und wird doch ärmer.

Die Seele, die da reichlich segnet, wird gelabt, und wer reichlich tränket, der wird auch getränket werden.

Wer Korn innehält, dem fluchen die Leute, aber Segen kommt über den, so es verkauft. (Sprüche 11, 24—26.)

Geben wird nicht arm machen, wenn es in der Erkenntnis erfolgt, daß Gott die unerschöpfliche Quelle aller Dinge ist. In Wirklichkeit scheint es, daß wir wie ein Magnet werden, um aus den sichtbaren und unsichtbaren Reichen das, was nach einem Grundsatze göttlicher Gerechtigkeit und Weisheit unser ist, anzuziehen. „Ich meine aber das: Wer da kärglich säet, der wird auch kärglich ernten; und wer da säet im Segen, der wird auch ernten im Segen.

„Ein jeglicher nach seiner Willkür, nicht mit Unwillen oder aus Zwang, denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.

Gott aber kann machen, daß allerlei Gnade unter euch reichlich sei, daß ihr in allen Dingen volle Genüge habt und reich seid zu allerlei guten Werken.

Wie geschrieben stehet: „Er hat ausgestreuet und gegeben den Armen. Seine Gerechtigkeit bleibet in Ewigkeit.“

Der aber Samen reichet dem Sämann, der wird auch das Brot reichen zur Speise und wird vermehren euren Samen und wachsen lassen das Gewächs eurer Gerechtigkeit. (2. Korinther 9, 6-10.)

Geben in seinem höchsten Grade macht zur Aufopferung fähig, und wenn es auch wertvoll und lobenswert ist, zu geben, wenn Ueberfluß vorhanden ist, wieviel edler ist es doch, zu geben, wenn ein Opfer gebracht werden muß, wie in dem folgenden Gleichnis von dem Heller der Witwe gezeigt wird. „Und Jesus setzte sich gegen den Gotteskasten und schaute, wie das Volk Geld einlegte in den Gotteskasten, und viel Reiche legten viel ein. Und es kam eine arme Witwe und legte zwei Scherflein ein; die machen einen Heller. Und Er rief Seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: „Wahrlich, Ich sage euch, diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt, denn alle, die eingelegt haben. „Denn sie haben alle von ihrem übrigen eingelegt. Diese aber hat von ihrer Armut alles, was sie hatte, ihre ganze Nahrung eingelegt.“ (Markus 12, 41—44.)

Das Vorstehende zeigt deutlich, wie angesehen vor Gott die unbedeutende Gabe ist, wenn dabei ein Opfer dargebracht worden ist, und bringt die Tatsache zum Ausdruck, daß niemand zu arm ist, um zu geben. In diesen größten Tagen werden wir durch die folgenden bedeutungsvollen Worte 'Abdu'l-Bahás in ähnlicher Weise ermahnt: „Lebe nach dem Grundsatz der Aufopferung. Alles wird durch Loslösung von allem das Eurige. Die Eigenschaft des Glaubens erfordert, daß der Mensch sich zur Stufe der Selbstaufopferung erhebt und auf derselben verharrt.

„Geben und Wohltun gehören zu Meinen Eigenschaften. Glücklich ist derjenige, der sich mit Meinen Tugenden schmückt.“ (Bahá’i-Scriptures, Seite 180.)

„Die Bahá’i sehen es als gesegneter und als größeres Vorrecht an, zu geben, als zu empfangen. Sie glauben, daß die jemandem andern erwiesene Wohltat das beste Mittel ist, beiden zu helfen.“ (Bahá’i-Scriptures, Seite 446.)

„O Freunde 'Abdu'l-Bahás! Der Herr hat als ein Zeichen Seiner unendlichen Güte Seine Diener gnädig begünstigt, sich eine bestimmte Summe als Abgabe (auf persisch: Huquq) aufzuerlegen, um es Ihm gehorsam darzubringen, obgleich Er, der Wahre, und Seine Diener zu allen Zeiten unabhängig von allen erschaffenen Dingen gewesen, und Gott wahrlich der Allbesitzende ist, der über die Notwendigkeit irgendeiner Gabe von Seiten Seiner Geschöpfe erhaben ist. Dieses auferlegte [Seite 29] Geldopfer veranlaßt die Menschen jedoch, fest und standhaft zu werden und bringt himmlischen Segen auf sie. Dies soll durch den Hüter der Sache Gottes dargetan, werden, damit es zur Verbreitung der Düfte Gottes und zur Erhöhung Seines Wortes für wohlwollende Bestrebungen und für die allgemeine Wohlfahrt Verwendung finden kann.“ (Aus dem Willen und Testament 'Abdu'l-Bahás.)

Shoghi Effendi, der Hüter der Bahá’i-Sache, spricht auch von diesem „Gesetz des Gebens“, welches in den folgenden Zeilen so schön ausgedrückt wird, und schließt mit der Feststellung, daß „dies das Geheimnis der gerechten Lebensführung ist.“ (Bahá’i-Nachrichten, Sept. 1926.)

Es heißt dort:

„Wir müssen gleich dem Springbrunnen oder der Quelle sein, die sich fortwährend von allem entleeren, was sie haben und fortwährend von einer unsichtbaren Quelle wieder gefüllt werden. Fortwährend für die Wohlfahrt unserer Mitmenschen zu geben, nicht durch Furcht vor Armut beeinflußt und voll Vertrauen auf die unfehlbare Güte der Quelle allen Wohlstandes und allen Glückes zu sein, das ist das Geheimnis des rechtschaffenen Lebens.“

Wenn die Menschheit dieses Gesetz und seine Wirkung vollkommen versteht, dann werden Armut und Mangel von der Erde verschwinden, denn Gott ist der Großmütige, der Gütige und der Gebende, während Armut und Mangel die Folge sind, wenn die Erfüllung der Forderungen dieses „Gesetzes des Gebens“ durch Seine Geschöpfe unterlassen wird.



Beantwortung der Fragen in Nr. 12 Jahrgang VIII der Sonne der Wahrheit.

1. Was hat Sie anfänglich am meisten an der Lehre Bahá’u’lláhs angezogen?

Die erste Kenntnis von der Bahá’i-Bewegung bekam ich von meinem Vetter aus Chicago kurz nach der Beendigung des Weltkrieges durch die Frage, „Kennst Du die Bahá’i-Bewegung?“ Sie sollte mir ein Trost für die erlittenen Kriegsnöte sein. Ich hatte von ihr keine Ahnung, wußte aber, daß mein Vetter einer religiösen Sekte angehörte und antwortete ihm etwa folgendes: „Die Bahá’i-Bewegung kenne ich nicht, ich kann mich auch durchaus nicht mit dem Sektenwesen befreunden, denn was die Christenheit braucht, ist die Einheit, und diese wird gerade durch die Sekten zerrissen." Als Antwort darauf bekam ich das Büchelchen „Die Geschichte der Bahá’i-Bewegung. Ich stutzte, denn gerade das, was ich bei der Christenheit verwarf, die Sonderbündelei, ist in der Lehre Bahá’u’lláhs unmöglich, sie einigt nicht nur die Christenheit, sondern die ganze Menschheit. Diese Tatsache war für mich Grund genug, der Bahá’i-Bewegung näher zu treten. Diese kleine Mühe hat mich überreich beglückt, ich habe mehr gefunden, als ich zu hoffen wagte. Es war also der Gedanke der Weltverbrüderung, der mich zur Bahá’i-Lehre hinzog.


2. Inwiefern unterscheidet sich Bahá’u’lláhs Lehre von der der früheren Gottgesandten?

Während die früheren Gottgesandten - infolge der Isolierung der einzelnen Völkerstämme durch die schwierigen Verkehrsmöglichkeiten nur die Botschaft Gottes einer Nation oder einem Volksstamm brachten und bei der ungleichen Bildung der Nationen die Gottgesandten die Lehre dem Bildungsgrade der betreffenden Nationen anpassen mußten, konnte die Botschaft Bahá’u’lláhs eine universale, eine für alle Nationen und Rassen annehmbare werden. Sie vereinigt die ganze Menschheit zu einer Brüdergemeinde, und erfüllte dadurch das höchste Ziel aller bisherigen Relegionslehren.


3. Wodurch beweist sich die Notwendigkeit einer neuen Gotteslehre?

Die Notwendigkeit einer neuen Gotteslehre beweist sich aus der Verflachung und Zersplitterung der Lehren der vorangegangenen Gottgesandten in Konfessionen und Sekten, die sich sogar befehdeten. Die Einigung der Menschheit war eine unerläßliche Notwendigkeit.


4. Weiche besonderen Ziele verfolgt die Bahá’i-Bewegung und wo setzt sie in der Jetztzeit am wirkungsvollsten ein?

Das Ziel der Bahá’i-Bewegung ist zunächst das Ziel eines jeden Gottgesandten, nämlich der Menschheit Kunde von einem höheren Wesen dem Schöpfer des Weltalls, Gott, zu bringen, sie mit dem Geiste Gottes zu beseelen, damit sie das richtige Verständnis von dem Zwecke ihres Erdendaseins bekommt und darüber hinaus die Zusammenfassung aller Menschen unter der Einheit „Gott“ zu einer Herde unter dem einen Hirten. In der Jetztzeit setzt sie am wirkungsvollsten bei den Gottsuchern ein, die in der Vielgestaltigkeit und der Verweltlichung der bestehenden Religionslehren nicht mehr volle Befriedigung finden.

[Seite 30]

5. Kann ein reiner Materialist seine Zwecke und Ziele in der Lehre Bahá’u’lláhs finden?

Nein! Ein reiner Materialist ist nie für das Ideale und Göttliche zu haben, er bleibt stets ein Egoist und kann als solcher die Liebe gar nicht verstehen, die nichts für sich, alles aber für den Mitmenschen übrig hat. Dagegen verlangt die Bahá’i-Lehre durchaus keine Enthaltung vom Besitz, sie heißt ihn im Gegenteil gut, wenn er richtig für die eigene Familie und die Mitmenschen angewendet wird.


6. Welche Prinzipien Bahá’u’lláhs sind für das Abendland am bedeutsamsten?

Die Prinzipien Bahá’u’lláhs sind durchweg so tief und bedeutsam, daß ich mich nicht entschliessen kann, dem einen oder dem anderen eine grössere Wichtigkeit für das Abendland zuzusprechen. Sie sind alle gleich wichtig, sowohl für das Abendland wie für das Morgenland.


7. Welche Parallelen sind zu ziehen zwischen den vorangegangenen Manifestationen und Bahá’u’lláh, sowohl in ihren Lehren, als in ihrem Schicksal?

Die Lehren aller Manifestationen laufen parallel, sie vermitteln alle der Menschheit das Wesen und die Liebe Gottes, etwa derart, „Die Liebe zu Gott zeigt sich nur in der Liebe zum Mitmenschen. (Wie kannst Du Gott lieben, den Du nicht siehst, wenn Du Deinen Bruder nicht liebst, den Du siehst)? Auch die Lehre Bahá’u’lláhs macht hierin keine Ausnahme. Gleichlaufend aber ist auch das Schicksal aller Propheten, einschließlich der gesegneten Vollkommenheit Bahá’u’lláhs. Auf Erden mißverstanden, verachtet und verfolgt, setzen sie sich erst nach ihrem Scheiden von der Erde durch. Möge Gott uns beistehen, daß die Menschheit recht bald die herrliche Bahá’i-Lehre versteht und annimmt.


8. Was ist unumstößliche Wirklichkeit?

Gott ist der Schöpfer aller Kreaturen; Er kann nie von den Menschen völlig erkannt und verstanden werden. Alle Manifestationen bringen uns nur einen Strahl der Herrlichkeit Gottes, der uns die Größe und die Liebe Gottes nur unvollkommen ahnen läßt. Gott gibt seine Liebe nicht nur an eine bevorzugte Nation ab, sondern an jeden Menschen, der Gott aufrichtig sucht.


9. Was erfolgt erfahrungsgemäß auf das Auftreten eines Gottgesandten?

Zunächst die Verfolgung und Unterdrückung seiner Lehre durch brutale Gewalt; dann aber die Veredelung des Menschen und der Nation, die den Gottgesandten erkannt und seine Lehre angenommen hat.


10. Wird die Bahá’i-Lehre auch späterhin wieder verflachen und veräußerlicht werden?

Nein! Die Lehre Bahá’u’lláhs ist so korrekt und klar und niemand wird Bahá’i durch seine Geburt, sondern nur durch sein freies Erkennen der Größe und Wahrheit Seiner Lehre. Der Geist der Lehre kann nur verflachen, wenn die Lehre dem Menschen aufgedrängt und zur Gewohnheit wird. Von der Bahá’i-Lehre kann ich mir dies aber gar nicht denken.

Rambold-Großstrelitz.



Der Sinn des Lebens.

Eine Gärtleinstunde.

„Was ist aber der Sinn des Lebens?“ — Seltsam ergreift es mich, als ein Vierzehnjähriger in der Gärtleinstunde diese Frage stellt. Weiß er, wie wichtig die Frage ist, die er ausspricht? Da ich in seine großen suchenden Augen sehe, glaube ich, daß die Kinder in diesem Augenblick davon ahnen.

Ich hatte klargemacht, wie den Menschen das Leben ist: man kommt in die Welt, lebt, manchmal glücklich und froh, manchmal unglücklich, einmal in gutem Einvernehmen mit der Umwelt, einmal in Unfrieden, und in Wirklichkeit ist es so, daß wir mit jedem Tag, mit jeder vergangenen Sekunde unaufhaltsam dem Punkte entgegengehen, wo es zu Ende ist mit dem Erdenleben, unwiederbringlich zu Ende, und mit ihm mit allen Gelegenheiten, die es uns bietet.

Vielleicht fragen sich alle Menschen einmal: „Was ist der Sinn des Lebens?“ Die wenigsten werden die Frage zu Ende durchdenken, die allerwenigsten ziehen den Schluß aus der Antwort. Heute wollen wir der Frage nicht aus dem Wege gehen. „Wozu leben wir?“

Die Manifestationen lehren uns, daß wir das irdische Leben leben, damit die Seele zum Licht geboren werde. Was ist die Seele? Wir wissen durch die Manifestationen, daß die Seele ein vom Schöpfer verliehenes Prinzip ist, das die Fähigkeit hat, die von Ihm ausgehenden belebenden großen Kräfte aufzufangen, umzuformen und so im Menschen Unvergängliches aufzubauen.

Das düstere Lebensbild, daß alles Leben nur wird, um endlich wieder zu vergehen, ist dadurch gebannt, ein anderes ist an seine Stelle getreten, ein Vorwärtsschreiten zu unendlichen Möglichkeiten. Freilich wird uns dieses Glück nicht ohne unser Zutun geschenkt. Bahá’u’lláh sagt:

„Liebe Mich, damit ich Dich liebe. Wenn du [Seite 31] mich nicht liebst, kann Meine Liebe dich niemals erreichen, wisse dies, o Diener!

Wir müssen also zuerst wollen und dann Anstrengungen machen, daß die schöpferischen Kräfte uns erreichen.

Wie die Blumen sich öffnen, den Tau und die Sonne zu erlangen, so müssen wir unsere Seele erschließen. Jeder hat wohl schon beim Betrachten der Natur, des unendlichen Sternenhimmels oder einer sonnenbeschienenen Landschaft sein Inneres geweitet gefühlt von wunderbaren Kräften. Wir sagen: das Herz geht uns auf. Es ist nicht das Herz, die Seele ist es, die sich öffnet. Und diesen Zustand des Oeffnens unserer Seele sollten wir dauernd und bewußt zu erlangen bemüht sein. Auf welche Art aber ist das möglich? Wie wir schon sahen, erlangen wir es durch die Aeußerungen des Schöpfers, und diese sind in erster Linie die durch seine Manifestationen geäußerten Worte. Nehmen wir das Gotteswort uns zu Hilfe durch Lesen, Versenkung oder Gebet, wie es dem einzelnen Menschen am meisten liegt. Lassen wir die Kräfte des Gotteswortes auf uns wirken, bis wir es verstehen, und suchen wir dann die Verwirklichung durch die Tat. Vergessen wir auch nicht den Wert der Gemeinschaft. In einer Versammlung der Freunde sind viele Seelen beisammen mit dem gleichen Willen, die großen Kräfte anzuziehen. Dadurch werden diese in viel stärkerem Maße angezogen als es durch einen einzelnen Menschen allein möglich ist. Gerade für den Menschen, dem es noch schwer fällt, sich herauszureißen aus dem herkömmlichen Zustand der mangelnden inneren Anteilnahme und der Zugeschlossenheit, ist diese Stunde der Belebung unentbehrlich, will er weiterkommen in seiner geistigen Entwickelung. Versäumen wir, wo es nötig ist, lieber andere Dinge, als diese Stunde der Gemeinschaft, denn weniges hat die gleiche Bedeutung für unser Leben als sie.

Wenn wir so bemüht sind, uns fortgesetzt den göttlichen Kräften zu öffnen, so haben wir den Sinn des Lebens erfaßt, und dann werden sie uns in immer stärkerem Maße auch füllen und uns zu wahren Kindern des Lichtes machen.

Annel Großmann-Wandsbek.



Falsche und wahre Ideale.

Ideale, Träume von einer besseren Zeit und einer besseren Menschheit haben die Menschen seit alters her erfüllt und beschäftigt. Aber nie hatten die Ideale bisher in der Geschichte eine Verwirklichung gefunden. Selbst religiöse Ideale konnten wohl eine gewisse Veredelung aber keine wirklich edlen Verhältnisse hervorbringen. Diese Tatsache hat vielfach zur Hoffnungslosigkeit geführt, zu der nur allzuoft vertretenen Meinung, daß eine Verwirklichung überhaupt nie möglich sein würde, weil der Begriff des Ideals die Vorstellung des Vollkommenen in sich schließt, während die Welt durch Unvollkommenheit gekennzeichnet ist. So können wir auch verstehen, daß sich in verschiedenen Religionen, z. B. im Christentum, unter deren Anhängern mehr und mehr die Auffassung herausgebildet hat, als bezögen sich die Verheißungen von einer besseren Zeit, Begriffe wie Himmel, Seligkeit usw. nicht auf die physische Welt, sondern auf eine „jenseitige“ Welt nach dem Tode. Und doch lehrt uns die Bahá’i-Lehre sie völlig auch auf dieses Erdenleben zu beziehen. Dabei erkennen wir, warum bisher der Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit klaffen mußte und warum alle Versuche zur Umsetzung der Ideale in die Tat immer wieder gescheitert sind.

Eine grundlegende Erkenntnis in Bezug auf die Realisierbarkeit der Ideale gewinnen wir aus der Lehre, daß die uns aus der Naturwissenschaft geläufigen Gesetze der Entwickelung auch für den Geist gelten, oder, genauer ausgedrückt, daß auch die Herrschaft des Geistes in der physischen Welt eine aufsteigende Veränderung erfährt, gleichsam wie sich an einem Nebeltag die Wolkenschleier allmählich lichten, bis schließlich die Sonne in ihrem vollen Glanzen sichtbar wird. Infolgedessen können wir die Verwirklichung eines Ideals, irgend einer Vollkommenheitsvorstellung nicht in einem Stadium der Entwickelung erwarten, in dem die Voraussetzungen dafür noch nicht geschaffen sind. So können wir vom Baum auch nicht erwarten, daß er Früchte hervorbringt, wenn er nicht vorher zur Blüte gekommen ist. Viele Ideale sind nur deshalb untergegangen und vergessen worden, weil sie zu früh, ehe die Zeit für sie reif war, erschienen, und sie bleiben oder blieben vergessen, bis eine neue Epoche sie weckt, die ihrer bedarf. Auch der Traum vom Völkerfrieden ist keine bloße Utopie, aber er konnte so lange nicht Wirklichkeit werden, weil die räumliche Trennung zu groß war. Im Zeitalter der Flugzeuge, der Autos und der Weltwirtschaft wird dagegen seine Umsetzung in die Tat zur gebieterischen Lebensnotwendigkeit.

Von großem Schaden für den geistigen Fortschritt ist die oft geradezu phantastische Vorstellung, die wir vielfach mit unseren Idealen [Seite 32] verbinden, der Hang so vieler Menschen, in ihren Ideen den Boden der Wirklichkeit zu verlassen und sich in Märchenwelten zu begeben. So ist zwar z. B. der Gedanke des Völkerfriedens an sich keineswegs phantastisch, er wird es aber, wenn wir damit die Vorstellung verbinden, daß er plötzlich von heute auf morgen von der Menschheit Besitz zu ergreifen vermöchte. Auch hier wieder ist Entwickelung nötig, auch dann, wenn die Reife der Zeit vorhanden ist, denn zahllose Mittel und Wege müssen zuvor gesucht und gefunden werden, ehe alle Gegensätze überbrückt und alle Hindernisse beseitigt werden können. Nur wenn wir zugleich Realpolitiker sind, das heißt, uns die jeweiligen Möglichkeiten und Verhältnisse klar zu erkennen und zu verwerten bemühen, werden wir die Wege finden, auf denen unsere Ideale wirklich zur Tat werden können. Wir sollten auch stets daran denken, daß es in der erschaffenen Welt keine absolute Vollkommenheit, sondern nur eine fortschreitende Vervollkommnung gibt. Wenn wir dann ein hohes Ideal haben, so werden wir von Vollkommenheit zu Vollkommenheit schreiten müssen, ehe es erreicht werden kann, so wie das Kind in der Schule von der Vervollkommnung des einen Schuljahrs zu der der nächsten geführt wird, bis es schließlich den höchsten Grad der Vervollkommnung erreicht hat, den ihm die Schule zu geben vermag, und auch sie ist nur ein Grad, denn weiter schreitet die Vervollkommnung von Grad zu Grad in der Schule des Lebens.

Dreierlei ist es somit, was die Bahá’i-Lehre uns in Bezug auf die Verwirklichung der Ideale lehrt:

1. An die Verwirklichung zu glauben, auch wenn sie im Augenblick unmöglich erscheint, denn unsere Kenntnisse der herrschenden Gesetze im Weltall, nach denen sie sich zu vollziehen vermag, sind unendlich gering und beschränkt.

2. Die Verwirklichung der Ideale genau so sachlich und nüchtern zu durchdenken, wie wir alle übrigen Fragen des täglichen Lebens durchdenken. Sie verlieren dadurch nicht im geringsten von ihrer geistigen Kraft.

3. Uns nicht auf einen bestimmten Vollkommenheitsgrad unseres Ideals festzulegen, sondern jedes Ideal nur als Stufe zu betrachten, die uns ermuntert, weiter voran zu eilen, da nur so eine fortschreitende Vervollkommnung möglich ist, während wir im anderen Falle im Gewonnenen erstarren würden.

Dr. H. Gr.



Frühling.


Laß Frühling werden

über dem Lande

Herr, löse die Bande,

die Winterkälte mit starrer Gebärde

der Welt ums pochende Herz gelegt,

sprich Du Dein „Werde“

über die Erde,

das sie zu neuem Leben erweckt.

Ach gib uns wieder

der Vöglein Lieder

und junges Grün,

laß durch die Wiesen

die Bächlein fließen

und Blumen blühn,

laß in Wäldern und Auen

Dein Wirken uns schauen

und in Feldern und Fluren

die deutlichen Spuren

Dessen, der alles Leben bewegt.

Laß Frühling werden auch in den Herzen

Herr, löse von Schmerzen

die heute noch trauern

und unter Schauern

dunkler Gewalten und Irrungen gehn

Gib allen Zagenden

Sehnsucht Tragenden

neue Kräfte

laß heilige Säfte

die Welt durchfluten

hilf siegen dem Guten,

und gib aller Schöpfung durch Nacht und Tod

Auferstehung in Dir, o Gott.


M.L.F.




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Druck von W. Heppeler, Stuttgart.


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Geschichte und Bedeutung der Bahá’ilehre.

Die Bahai-Bewegung tritt vor allem ein für die „Universale Religion" und den „Universalen Frieden“ — die Hoffnung aller Zeitalter. Sie zeigt den Weg und die Mittel, die zur Einigung der Menschheit unter dem hohen Banner der Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit führen. Sie ist göttlich ihrem Ursprung nach, menschlich in ihrer Darstellung, praktisch für jede Lebenslage. In Glaubenssachen gilt bei ihr nichts als die Wahrheit, in den Handlungen nichts als das Gute, in ihren Beziehungen zu den Menschen nichts als liebevoller Dienst.

Zur Aufklärung für diejenigen, die noch wenig oder nichts von der Bahaibewegung wissen, führen wir hier Folgendes an: „Die Bahaireligion ging aus dem Babismus hervor. Sie ist die Religion der Nachfolger Bahá’u’lláhs. Mirza Hussein Ali Nuri (welches sein eigentlicher Name war) wurde im Jahre 1817 in Teheran (Persien) geboren. Vom Jahr 1844 an war er einer der angesehensten Anhänger des Bab und widmete sich der Verbreitung seiner Lehren in Persien. Nach dem Märtyrertod des Bab wurde er mit den Hauptanhängern desselben von der türkischen Regierung nach Bagdad und später nach Konstantinopel und Adrianopel verbannt. In Bagdad verkündete er seine göttliche Sendung (als „Der, den Gott offenbaren werde") und erklärte, daß er der sei, den der Bab in seinen Schriften als die „Große Manifestation", die in den letzten Tagen kommen werde, angekündigt und verheißen hatte. In seinen Briefen an die Regenten der bedeutendsten Staaten Europas forderte er diese auf, sie möchten ihm bei der Hochhaltung der Religion und bei der Einführung des universalen Friedens beistehen. Nach dem öffentlichen Hervortreten Bahá’u’lláhs wurden seine Anhänger, die ihn als den Verheißenen anerkannten, Bahai (Kinder des Lichts) genannt. Im Jahr 1868 wurde Bahá’u’lláh vom Sultan der Türkei nach Akka in Syrien verbannt, wo er den größten Teil seiner lehrreichen Werke verfaßte und wo er am 28. Mai 1892 starb. Zuvor übertrug er seinem Sohn Abbas Effendi ('Abdu'l-Bahá) die Verbreitung seiner Lehre und bestimmte ihn zum Mittelpunkt und Lehrer für alle Bahai der Welt.

Es gibt nicht nur in den mohammedanischen Ländern Bahai, sondern auch in allen Ländern Europas, sowie in Amerika, Japan, Indien, China etc. Dies kommt daher, daß Bahá’u’lláh den Babismus, der mehr nationale Bedeutung hatte, in eine universale Religion umwandelte, die als die Erfüllung und Vollendung aller bisherigen Religionen gelten kann. Die Juden erwarten den Messias, die Christen das Wiederkommen Christi, die Mohammedaner den Mahdi, die Buddhisten den fünften Buddha, die Zoroastrier den Schah Bahram, die Hindus die Wiederverkörperung Krischnas und die Atheisten — eine bessere soziale Organisation.

In Bahá’u’lláh sind alle diese Erwartungen erfüllt. Seine Lehre beseitigt alle Eifersucht und Feindseligkeit, die zwischen den verschiedenen Religionen besteht; sie befreit die Religionen von ihren Verfälschungen, die im Lauf der Zeit durch Einführung von Dogmen und Riten entstanden und bringt sie alle durch Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Reinheit in Einklang. Das einzige Dogma der Lehre ist der Glaube an den einigen Gott und an seine Manifestationen (Zoroaster, Buddha, Mose, Jesus, Mohammed, Bahá’u’lláh).

Die Hauptschriften Bahá’u’lláhs sind der Kitab el Ighan (Buch der Gewißheit), der Kitab el Akdas (Buch der Gesetze), der Kitab el Ahd (Buch des Bundes) und zahlreiche Sendschreiben, genannt „Tablets“, die er an die wichtigsten Herrscher oder an Privatpersonen richtete. Rituale haben keinen Platz in dieser Religion; letztere muß vielmehr in allen Handlungen des Lebens zum Ausdruck kommen und in wahrer Gottes- und Nächstenliebe gipfeln. Jedermann muß einen Beruf haben und ihn ausüben. Gute Erziehung der Kinder ist zur Pflicht gemacht und geregelt.

Streitfragen, welche nicht anders beigelegt werden können, sind der Entscheidung des Zivilgesetzes jeden Landes und dem Bait’ul’Adl oder „Haus der Gerechtigkeit“, das durch Bahá’u’lláh eingesetzt wurde, unterworfen. Achtung gegenüber jeder Regierungs- und Staatseinrichtung ist als einem Teil der Achtung, die wir Gott schulden, gefordert. Um die Kriege aus der Welt zu schaffen, ist ein internationaler Schiedsgerichtshof zu errichten. Auch soll neben der Muttersprache eine universale Einheits-Sprache eingeführt werden. „Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die Tropfen eines Meeres“ sagt Bahá’u’lláh.

Es ist also weniger die Einführung einer neuen Religion, als die Erneuerung und Vereinigung aller Religionen, was heute von 'Abdu'l-Bahá erstrebt wird. (Vgl. Nouveau, Larousse, illustré supplement, p. 66.)


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In unserem Verlag sind erschienen:


Bücher:

Verborgene Worte von Baha’u’llah. Deutsch von A. Schwarz und W. Herrigel, 1924 1.--

Baha’u’llah, Frohe Botschaften, Worte des Paradieses, Tablet Tarasat, Tablet Taschalliat, Tablet Ischrakat. Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1921, in Halbleinen gebunden . . . 2.50

in feinstem Ganzleinen gebunden . . . . . 3.--

Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahaireligion, von Mirza Abul Fazl. Deutsch von W. Herrigel, 1921, in Halbleinen geb. . . . . 4.50

In Ganzleinen gebunden . . . . 5.--

Abdul Bahá Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps. Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1922, in Ganzleinen gebunden . . . . 4.--

Die Bahai-Offenbarung, ein Lehrbuch von Thornton Chase, deutsch von W. Herrigel, 1925, kartoniert M. 4.--, in Halbleinen gebunden M. 4.60

Bah’u’lláh und das neue Zeitalter, ein Lehrbuch von Dr. J. E. Esslemont, deutsch von W. Herrigel und H. Küstner. 1927. In Ganzleinen gebunden . . . . . 4.50


Broschüren:

Bahai-Perlen, Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1922 . . . . -.20

Ehe Abraham war, war Ich, v. Thornton Chase. Deutsch v. W.Herrigel, 1911 . . . . -.20

Die Universale Weltreligion, Ein Blick in die Bahai-Lehre von A. T. Schwarz, 1919. . . . -.50

Die Offenbarung Baha’u’llahs, von J.D. Brittingham. Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1910 . . . -.50

Einheitsreligion. Ihre Wirkung auf Staat, Erziehung, Sozialpolitik, Frauenrechte und die einzelne Persönlichkeit, von Dr. jur. H. Dreyfus, Deutsch von Wilhelm Herrigel. 2. Auflage 1920 . . . -.50

Die Bahaibewegung im allgemeinen und ihre großen Wirkungen in Indien, nach Berichten eines Amerikaners zusammengestellt und mit Vorwort versehen von Wilhelm Herrigel, Stuttgart 1922 . . . . -.50

Eine Botschaft an die Juden, von Abdul Baha Abbas. Deutsch v. W. Herrigel, 1912 . . . -.20


Das Hinscheiden Abdul Bahas, ("The Passing of Abdul Baha") Deutsch von Alice T. Schwarz, 1922 . . . -.50

Das neue Zeitalter von Ch. M. Remey. Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1923 . . . . —.50

Die soziale Frage und ihre Lösung im Sinne der Bahailehre von Dr. Hermann Grossmann-Wandsbel . . . . —.20

Religiöse Lichtblicke, Einige Erläuterungen zur Bahá’i-Botschaft, aus dem Französ. übersetzt von Albert Renftle, 2. erweiterte Auflage, 1928 . . . . --.30

Die Bahá’i-Bewegung, Geschichte, Lehren und Bedeutung. von Dr. Hermann Großmann-Wandsbek . . . . . --.20

Sonne der Wahrheit, Jahrgang 3 - 8 in Halbleinen gebunden à . . . . 9.--

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