SONNE DER WAHRHEIT | ||
ORGAN DER DEUTSCHEN BAHAI | ||
HEFT 11 | IX. JAHRGANG | JANUAR 1930 |
Abdu’l-Bahás Erläuterung der Bahá’i - Prinzipien.
1. Die ganze Menschheit muss als Einheit betrachtet werden.
Baha’u’lláh wandte Sich an die gesamte Menschheit mit den Worten: „Ihr seid alle die Blätter eines Zweigs und die Früchte eines Baumes“. Das heißt: die Menschheit gleicht einem Baum und die Nationen oder Völker gleichen den verschiedenen Aesten und Zweigen; die einzelnen Menschen aber gleichen den Blüten und Früchten dieses Baumes. In dieser Weise stellte Baha’u’lláh das Prinzip der Einheit der Menschheit dar. Baha’u’lláh verkündigte die Einheit der ganzen Menschheit, er versenkte sie alle im Meer der göttlichen Gnade.
2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.
In religiösen Fragen sollte niemand blindlings seinen Eltern und Voreltern folgen. Jeder muß mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören und die Wahrheit suchen, denn die Religionen sind häufig nichts anderes als Nachahmungen des von den Eltern und Voreltern übernommenen Glaubens.
3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.
Alle göttlichen Verordnungen beruhen auf ein und derselben Wirklichkeit. Diese Grundlage ist die Wahrheit und bildet eine Einheit, nicht eine Mehrheit. Daher beruhen alle Religionen auf einer einheitlichen Grundlage. Im Laufe der Zeit sind gewisse Formen und Zeremonien der Religion beigefügt worden. Dieses bigotte menschliche Beiwerk ist unwesentlich und nebensächlich und verursacht die Abweichungen und Streitigkeiten unter den Religionen. Wenn wir aber diese äußere Form beiseite legen und die Wirklichkeit suchen, so zeigt sich, daß es nur eine göttliche Religion gibt.
4. Die Religion muss die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.
Die Religion ist für die Menschheit die größte göttliche Gabe, die Ursache des wahren Lebens und hohen sittlichen Wertes; sie führt den Menschen zum ewigen Leben. Die Religion sollte weder Haß und Feindschaft noch Tyrannei und Ungerechtigkeiten verursachen. Gegenüber einer Religion, die zu Mißhelligkeit und Zwietracht, zu Spaltungen und Streitigkeiten führt, wäre Religionslosigkeit vorzuziehen. Die religiösen Lehren sind für die Seele das, was die Arznei für den Kranken ist. Wenn aber ein Heilmittel die Krankheit verschlimmert, so ist es besser, es nicht anzuwenden.
5. Die Religion muss mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.
Die Religion muß mit der Wissenschaft übereinstimmen und der Vernunft entsprechen, so daß die Wissenschaft die Religion, die Religion die Wissenschaft stützt. Diese beiden müssen unauflöslich miteinander verbunden sein.
6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.
Dies ist eine besondere Lehre Baha’u’lláhs, denn die früheren Religionen stellen die Männer über die Frauen. Töchter und Söhne müssen gleichwertige Erziehung und Bildung genießen. Dies wird viel zum Fortschritt und zur Einigung der Menschheit beitragen.
7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.
Alle Propheten Gottes kamen, um die Menschen zu einigen, nicht um sie zu trennen. Sie kamen, um das Gesetz der Liebe zu verwirklichen, nicht um Feindschaft unter sie zu bringen. Daher müssen alle Vorurteile rassischer, völkischer, politischer oder religiöser Art abgelegt werden. Wir müssen zur Ursache der Einigung der ganzen Menschheit werden.
8. Der Weltfriede muss verwirklicht werden.
Alle Menschen und Nationen sollen sich bemühen, Frieden unter sich zu schließen. Sie sollen darnach streben, daß der universale Friede zwischen allen Regierungen, Religionen, Rassen und zwischen den Bewohnern der ganzen Welt verwirklicht wird. Die Errichtung des Weltfriedens ist heutzutage die wichtigste Angelegenheit. Die Verwirklichung dieses Prinzips ist eine schreiende Notwendigkeit unserer Zeit.
9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung geniessen.
Alle Menschen müssen erzogen und belehrt werden. Eine Forderung der Religion ist, daß jedermann erzogen werde und daß er die Möglichkeit habe, Wissen und Kenntnisse zu erwerben. Die Erziehung jedes Kindes ist unerläßliche Pflicht. Für Elternlose und Unbemittelte hat die Gemeinde zu sorgen.
10. Die soziale Frage muss gelöst werden.
Keiner der früheren Religionsstifter hat die soziale Frage in so umfassender, vergeistigter Weise gelöst wie Baha’u’lláh. Er hat Anordnungen getroffen, welche die Wohlfahrt und das Glück der ganzen Menschheit sichern. Wenn sich der Reiche eines schönen, sorglosen Lebens erfreut, so hat auch der Arme ein Anrecht auf ein trautes Heim und ein sorgenfreies Dasein. Solange die bisherigen Verhältnisse dauern, wird kein wahrhaft glücklicher Zustand für den Menschen erreicht werden. Vor Gott sind alle Menschen gleich berechtigt, vor Ihm gibt es kein Ansehen der Person; alle stehen im Schutze seiner Gerechtigkeit.
11. Es muss eine Einheitssprache und Einheitsschrift eingeführt werden.
Baha’u’lláh befahl die Einführung einer Welteinheitssprache. Es muß aus allen Ländern ein Ausschuß zusammentreten, der zur Erleichterung des internationalen Verkehrs entweder eine schon bestehende Sprache zur Weitsprache erklären oder eine neue Sprache als Weltsprache schaffen soll; diese Sprache muß in allen Schulen und Hochschulen der Welt gelehrt werden, damit dann niemand mehr nötig hat, außer dieser Sprache und seiner Muttersprache eine weitere zu erlernen.
12. Es muss ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.
Nach dem Gebot Gottes soll durch das ernstliche Bestreben aller Menschen ein Weltschiedsgerichtshof geschaffen werden, der die Streitigkeiten aller Nationen schlichten soll und dessen Entscheidung sich jedermann unterzuordnen hat.
Vor mehr als 50 Jahren befahl Baha’u’lláh der Menschheit, den Weltfrieden aufzurichten und rief alle Nationen zum „internationalen Ausgleich“, damit alle Grenzfragen sowie die Fragen nationaler Ehre, nationalen Eigentums und aller internationalen Lebensinteressen durch ein schiedsrichterliches „Haus der Gerechtigkeit" entschieden werden können.
Baha’u’lláh verkündigte diese Prinzipien allen Herrschern der Welt. Sie sind der Geist und das Licht dieses Zeitalters. Von ihrer Verwirklichung hängt das Wohlergehen für unsere Zeit und das der gesamten Menschheit ab.
SONNE DER WAHRHEIT Organ der deutschen Bahá’i Herausgegeben vom Verlag des deutschen Bahá’i-Bundes, Stuttgart Verantwortliche Schriftleitung: Alice Schwarz - Solivo, Stuttgart, Alexanderstraße 3 Preis vierteljährlich 1,80 Goldmark, im Ausland 2.– Goldmark. |
Heft 11 | Stuttgart, im Januar 1930 Masá‘il — (Fragen) |
9. Jahrgang. |
Inhalt: Die soziale Seite der Bahá’i-Lehre. — Die geheimnisvollen Mächte der Kultur. — Gebet. — Bahá’u’lláh und Seine Botschaft. — Das geistige Bewußtsein setzt ein. — Wahrheit — Bericht aus Warnemünde
Motto: Einheit der Menschheit — Universaler Friede — Universale Religion.
Worte von 'Abdu'l-Bahá.
Heute muß jedermann geprüft werden, da der Tag für die Berufenen, um ihre Würdigkeit zu beweisen, fürwahr sehr kurz ist. Der Tag des Erreichens drängt sich für sie gar eng zusammen. Die ersten Früchte müssen im Geist gereift, voll von Liebe und erfüllt von Aufopferung und Loslösung sein. Nur diese sind als erste Früchte vollkommen, und alle Menschen die versagen, dieses Ziel durch Prüfungen zu erreichen, werden zu den „vielen Berufenen“ verwiesen.
Die soziale Seite der Bahá’i-Lehre.
Aus Essay über die Bahá’i-Lehre, ihre Geschichte und soziale Seite von Hippolyte Dreyfus, deutsch von M.L. Fack.
Die Bahá’i-Lehre und die Gesellschaft.
Der Beitu’l-Adl.
Diejenigen, welche die Geschichte dieser Bewegung nur durch ungenaue oder bruchstückweise Berichte mohammedanischer Schriftsteller kennenlernten, haben zuweilen erklärt, daß die Bahá’i-Gemeinschaft oder vielmehr die Gemeinschaft der Bábi, die allein noch ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, kommunistische Bestrebungen verfolgte und alles in allem nur eine gesetzlose Sekte sei. Trotz der Selbstverleugnung der Märtyrer, die ohne Besinnen all ihr Hab und Gut opferten, ehe sie ihr Blut für die heilige Sache vergossen, trotz der edlen Begeisterung, die sie diejenigen wie Brüder behandeln ließ, die sich zu ihnen gesellten, hatte böswillige Verleumdung alsbald das Werk der edelmütigsten Gemeinschaftlichkeit zu entstellen und ihnen sogar Beweggründe zuzuschreiben gesucht, welche der Moral nicht standhalten würden.
Wenn nun die Bahá’i-Lehre uns lehrt, daß wir unser Herz nicht an die Güter dieser Welt hängen sollen, so beruft sie sich dennoch auf die Rechtmäßigkeit des Privateigentums, welches allein den Fortschritt der Gesellschaft gewährleisten kann. Ueberdies wurde, weit davon entfernt, mit den anarchistischen Theorien zu sympathisieren, den Gläubigen stets als erste Pflicht die Achtung vor den Gesetzen und Gepflogenheiten eines jeden Landes auferlegt. Es gibt kein besseres Beispiel, um zu zeigen, wie dieses wichtige Gebot befolgt wird, als die Stellung, die mohammedanische Bahá’ifrauen gegenüber der Frage des Schleiertragens eingenommen haben. Es ist tatsächlich bekannt, daß der Báb, dadurch, daß Er Seinen Anhängern erklärte, daß bei Mohammed nur die Frauen des Propheten den Befehl erhalten hatten, ihr Angesicht zu verhüllen, die Gläubigen des peinlichen Zwangs des Schleiertragens enthoben hatte. Da nun Bahá’u’lláh diese Beachtung der Gepflogenheiten zur Pflicht gemacht hat, sehen wir die Frauen in Persien, Aegypten und Syrien sich weiterhin einer Sitte unterwerfen, deren Verletzung unnötigen Anstoß bei der Bevölkerung, unter der sie leben, hervorrufen würde,*) und dies, obgleich sie persönlich nicht mit einer veralteten Sitte einverstanden sind, deren sämtliche Nachteile sie kennen. Dieses an sich wenig bedeutende Beispiel ist aber bezeichnend, weil es einen Geist verrät, der anarchistischen Bestrebungen geradezu entgegengesetzt ist.
*) Die Essays sind 1909 veröffentlicht worden.
Bei einer Regierung, die ihre Aufgabe so auffaßt, wie es eben dargelegt wurde, ist die erste
Pflicht der Untertanen die Beachtung der Gesetze und die Achtung vor der gesetzgebenden Gewalt.
So würden sich zivilisierte Gesellschaften bilden, bei welchen die gesetzgebende und vollstreckende
Gewalt sich vereinigte, um fortschreitend notwendig gewordene Neuerungen einzuführen; dann
würden weder die Tyrannei der Alleinherrschaft noch die Auswüchse der Volksherrschaft mehr zu
befürchten sein.
„Der dritte Glanz ist die Beachtung des Gesetzes, welche für das irdische Leben unerläßlich ist. Der Himmel der göttlichen Weisheit strahlt den Glanz zweier Sterne wieder: der Beratung und des Erbarmens; und das Zelt der Weltordnung wird aufrecht erhalten durch die beiden Pfeiler der Strafe und der Belohnung.*)
Die Verwaltung der Bahá’i-Gemeinschaft beruht auf einer Organisation, die von Bahá’u’lláh begründet wurde und Beitu’-Adl oder Haus der Gerechtigkeit genannt wird. Im Kitabu’l-Aqdas ist eine solche Errichtung für jede Stadt angeordnet. Die Gesetze, die seine Befugnisse bestimmen, der Geist, der dessen Beratungen und Handlungen leiten soll, machen ihn zum wichtigen Werkzeug für die Verbreitung der Bahá’i-Lehre in der Welt.
„Gott hat jeder Stadt anempfohlen, einen Beitu’]-Adl zu errichten, wo die Männer nach der Zahl Bahá’s zusammenkommen**); (wenn diese Zahl überschritten wird, hat dies nicht viel zu bedeuten). Sie müssen sich dessen bewußt sein, daß sie sich in der Gegenwart Gottes befinden und das sehen, was unsichtbar ist. Sie müssen göttliche Auftraggeber in dieser Welt des Zufalls sein, die Vertreter Gottes für die, welche auf Erden leben und um der Liebe Gottes willen die Interessen Seiner Diener verteidigen, als ob es ihre eigenen wären.“ So steht es im Kitabu’l-Aqdas. (Kitabu’l-Aqdas Seite 11)
*) Die Gebote der Bahá’i-Lehre Seite 55. franz. Text.
**) Bahá ergibt nach der vom „Abdjad“ vorgeschriebenen Bewertung 9.
Jede Bahá’i-Gemeinschaft wählt also die Mitglieder, einen Rat von mindestens neun Personen,
die am würdigsten erachtet werden, die sozialen, wie die privaten Interessen der Ortsgemeinschaft
wie auch des Einzelnen zu vertreten. Wenn es sich bei den Gläubigen um materielle Schwierigkeiten
handelt oder um die Auslegung einer Stelle der
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Der Berg Karmel.
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Lehre oder wenn es sich darum handelt, die Untergebenen und Arbeitsunfähigen zu schützen, so
ist dies Aufgabe dieses Rates.
Es gibt zahlreiche Texte, welche seine Rechte festlegen, und wir werden sehen, daß die Bezeichnung Beitu’l-Adl im Sinne Bahá’u’lláhs sich nicht nur auf eine Art Familienrat bezieht, so wie er eben besprochen wurde, sondern daß es sich vielmehr um einen Gattungsnamen handelt, welcher vor allem den heiligen Charakter bezeichnet, den alle gesetzgebenden und verwaltenden Räte zu erkennen geben sollten.
„Die Mitglieder des Beitu’l-Adl müssen Tag und Nacht alles beobachten, was vom Aufgangsort des Himmels der Erhabenen Feder herniederstrahlt zum Wohl der Erziehung der Menschheit, zum Ausbau der Städte, zum Schutz der Persönlichkeit und zur Verteidigung ihrer Ehre. (Die Gebote der Bahá’i-Lehre Seite 53)
Dieser Text geht noch weiter. Es wird diesem Rat als Hauptkompetenz gegenüber der Bürgerschaft die sorgfältige Ueberwachung der Erziehung auferlegt. Die Werke Bahá’u’lláhs und die Unterweisungen 'Abdu'l-Bahás lassen nicht den geringsten Zweifel aufkommen über die Bedeutung, die die Bahá’i-Lehre der Frage der Erziehung beimißt. Während den Religionen bisher mit mehr oder weniger Berechtigung Kulturfeindlichkeit vorgeworfen werden konnte, während keine von ihnen die Vernunft gänzlich von den Fesseln des Dogmas befreit hat, lehrt die Bahá’i-Lehre im Gegensatz dazu, daß der Mensch nur dann zu Gott gelangen kann, wenn er seine intellektuellen Fähigkeiten entwickelt hat, die ihn befähigen, sich die Fülle des im Verlauf von Jahrhunderten erworbenen Wissens zu eigen zu machen. Dann wird er in dem Buch der Natur lesen können und nicht nur dank der Unterweisung geistiger Erzieher sondern auch durch die Bemühungen der eigenen Betrachtung die großen geistigen und sittlichen Wahrheiten finden, in welchen sich das Göttliche offenbart.
Ehe er dieses Stadium seiner Entwicklung nicht erreicht, hat der Mensch seine erhabene Stufe auf der Leiter der Schöpfung nicht gerechtfertigt und es nicht verstanden, sein Selbst zu entfalten. So ist die erste Aufgabe, die den Eltern obliegt, ihren Kindern eine möglichst vollständige Erziehung zuteil werden zu lassen, ob Knabe oder Mädchen, ihre Aufgabe ist genau dieselbe.
„Es ist jedem Vater befohlen, seinen Sohn wie seine Tochter in Wissenschaften, in der Literatur, in allem, was das Tablet vorschreibt, unterweisen zu lassen. Und wenn jemand das, was ihm befohlen ist, vernachlässigt, so ist es den Bevollmächtigten des Beitu’l-Adl vorgeschrieben, wenn der Betreffende reich ist, die für diese Erziehung erforderliche Summe bei ihm zu erheben. Andernfalls fallen diese Ausgaben dem Beitu’l-Adl zu, den wir zu einer Zufluchtsstätte für Arme und Unglückliche gemacht haben. (Kitabu’l-Aqdas Seite 18)
Die Bedeutung, die Bahá’u’lláh der Aufgabe des Erziehers beimißt, ist auch daraus erkennbar, daß dieser nach dem Kitabu’l-Aqdas denen beigerechnet wird, welche berufen sind, die ohne Testament hinterlassene Erbschaft einzuziehen (Kitabu’l-Aqdas Seite 9). Wer uns die Erziehung gab, gab uns das intellektuelle Leben; ihm gebührt unsere Zuneigung und Verehrung in einer Weise wie sie bisher noch vielfach verkannt wurde, und indem sie ihm ein gewisses Erbrecht zuerkennt, schafft die Bahá’i-Lehre eine Neuerung, deren Annahme das Gesetz der Zukunft sich sehr angelegen lassen sein sollte.
'Abdu'l-Bahá kommt in den Briefen, die Er an die Gläubigen in allen Ländern richtet, immer wieder auf diesen Punkt zurück; und Er besteht vor allem auf der Notwendigkeit, die Mädchen zu erziehen, nicht nur weil allein die Erziehung die Frau im Orient von ihrem schrecklichen Dasein in den Harems des Islam oder den Zamanas der Brahmanen befreit, sondern auch, weil selbst im Abendland die Frauen oft eine ungenügende Erziehung erhalten, die sie in keiner Weise dazu vorbereitet, ihre Aufgabe im Leben zu erfüllen. Ist nicht die Mutter die erste Erzieherin des Menschen? Wer will den Einfluß abstreiten, den die ersten Prinzipien, die sich der kindlichen Seele einprägen, späterhin haben? Wie kann man hoffen, eine höhere Kultur zu erlangen, wenn die Hälfte der Menschheit in der Finsternis der Unwissenheit verharrt? Niemand zweifelt im übrigen an dem beträchtlichen Einfluß, den Frauen in Zukunft auf die Verwirklichung von Ideen, die sich bisher nicht entfalten konnten, und die für den Fortschritt der Gemeinschaft von Wichtigkeit sind, haben können; die Mehrheit der Soziologen erkennt, daß der Kampf gegen den Krieg, den Alkohol, die mangelhafte Arbeitsregelung und gegen alle die Uebel, die den zehnten Teil der Menschheit treffen, nicht erfolgreich sein kann, wenn nicht Frauen zu deren Bekämpfung gerüstet sind.
Und es handelt sich nicht, braucht das überhaupt betont zu werden, um die einfach wörtliche
Unterweisung; es würde nicht genügen, dem Kind die verschiedensten Begriffe aller für es
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erreichbaren Wissenschaften einzuprägen. Es ist vielmehr notwendig, seine Moral zu bilden, es zu
lehren, seine Seele zu erkennen, sich seines Selbst und seiner Würde bewußt zu werden und ihm zu
zeigen, wie innig die Entwicklung der Gesellschaft mit seiner eigenen Entwicklung zusammenhängt,
weil es ja nur ein Glied der unendlichen Kette der Schöpfung ist. Sehr oft haben die Erschütterungen,
welche die Menschheit heimsuchen und sie auf ihrem Weg des Fortschritts hemmen, keine andere
Ursache als eben den Mangel an Erziehung zur Moral, welcher den Menschen
daran hindert, die Kenntnisse, die er sich erworben hat und nicht richtig anzuwenden versteht,
zu seinem Wohl anzuwenden. So verursachen die neuen wissenschaftlichen Entdeckungen, durch
welche die Lebensbedingungen verändert werden mitunter empfindliche soziale Erschütterungen,
wenn die Gemütskräfte nicht gleichen Schritt halten. Deshalb wird vorwiegend die religiöse Seite
der Erziehung diesem Uebel abhelfen können, ohne welche sie vergeblich sein würde.
„Die Schulen müssen den Kindern zuerst die religiöse Unterweisung erteilen, damit die Gebote und Verbote der heiligen Bücher sie davon abhalten, zu tun, was nicht erlaubt ist und sie sich mit dem Schmuck dessen, was erlaubt ist, zieren; aber dies darf bei ihnen nicht zu Fanatismus oder blindem Eifer werden.“*)
*) Die Gebote der Bahá’i-Lehre S. 46, Man muß die Kinder über die sinnbildliche Bedeutung der heiligen Schriften belehren, damit sie nicht zu Fanatikern werden.
Es ist nicht zu befürchten, daß eine Vorschrift, die von solch einer Autorität ausgeht, je
mißverstanden wird, und daß die im Bahá’i-Geist erzogenen Generationen jemals fanatisch werden
können. Im übrigen haben die Bahá’i-Gemeinschaften im Orient schon bei verschiedenen Gelegenheiten
Beweise ihrer Mäßigkeit und ihrer liberalen Gesinnung erbracht.
Die wichtigste Kompetenz des Beitu’l-Adl neben der Ueberwachung der Erziehung ist der Schutz der Untergebenen und Arbeitsunfähigen und die oberste Leitung des Unterstützungswesens:
„Wir empfehlen den Mitgliedern des Beitu’l-Adl und wir befehlen ihnen, die Diener Gottes zu hüten und zu beschützen, desgleichen ihre Frauen und Kinder und in allen Fällen das allgemeine Interesse zu wahren. Gesegnet sei der Edle, der seine Hand einem Gefangenen reicht, der Reiche, der sich den Armen zuwendet, der Gerechte, der das Recht der Unterdrückten gegen die Ungerechtigkeit verteidigt.(Die Gebote der Bahá’i-Lehre)
Dieser Teil der Kompetenzen des Beitu’l-Adl ist gewiß einer der wichtigsten, der wohl am deutlichsten zeigt, wie genau Bahá’u’lláh mit den Bedürfnissen der Volksgemeinschaften unserer Zeit vertraut war. Die erstaunliche Entwicklung, welche die Menschheit seit den letzten Jahrhunderten in geistiger und materieller Hinsicht genommen hat und der Stillstand, in dem während dieser Zeit die Moral verharrte, haben verursacht, daß die niederen Schichten der Bevölkerung in eine noch viel mißlichere Lage gerieten. Daher die gebieterische Notwendigkeit, wirksamer als das Gesetz dies tun kann, alle diese Untergebenen und Arbeitsunfähigen zu schützen.
Ein dringliches, soziales Problem, unseres modernen Gesellschaftslebens ist, dem immer beträchtlicher werdenden Fortschritt der Jugendverbrechen Einhalt zu tun. Es scheint, daß in einer Zeit, in der die Frühreife eine Notwendigkeit für den Kampf ums Dasein ist, auch das Verbrechen dem allgemeinen Gesetz folgt. Und die Justizreform der meisten kultivierten Staaten sucht, einem solchen Zustand zu steuern. Da die einfache Anwendung von Strafbestimmungen des Gesetzes sich nicht empfiehlt, wenn es sich um jugendliche Verbrecher handelt, scheint man sich mehr und mehr der Einsetzung einer Art Vormundschaftsrat zuzuwenden, der damit betraut werden soll, den Jugendlichen der Umgebung zu entziehen, in der er zum Verbrecher werden konnte und ihn in eine andere Umgebung zu verpflanzen; in eine Familie, Schule, oder unter ein Patronat, wo er unter der Beaufsichtigung dieses Vormundschaftsrats erzogen wird, bis er wie jeder andere seine sozialen Aufgaben erfüllen kann.
Diese Aufgabe fällt dem Beitu’l-Adl als dem Vertreter der Gesellschaft in ihren pädagogischen Obliegenheiten und ihrer Verantwortlichkeit für den Schutz der Gemeinschaft gegen die Antisozialen zu. Es genügt in der Tat nicht, die Einzelnen, die infolge ihrer Jugend, ererbter Mängel oder des Einflusses ihrer Umgebung zum Verbrecher wurden, als unverantwortlich freizusprechen, um damit der Billigkeit zu genügen. Man muß dem Uebel so weit als möglich zuvorkommen durch eine ganze Reihe von Sicherungs- und Besserungsmaßnahmen. Eben das hat 'Abdu'l-Bahá in einem Seiner Tischgespräche dargelegt, die von Laura Clifford Barney in dem Buch „Beantwortete Fragen“, gesammelt wurden.
Es ist klar, daß, wie wir nun gehört haben, im zukünftigen Staat, d. h., wenn die Bahá’i-Lehre
allgemein angenommen sein wird, zu den
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Kompetenzen des Beitu’l-Adl, die ihn zu einer Art Familienrat in der Gemeinschaft stempeln, auch
fast die ganze Verwaltung der Stadt unter seine Hand erfolgt, und daß er naturgemäß die Stelle
unserer Gemeinderäte einnimmt. Es bleibt kein Zweifel darüber, daß, wie schon oben erwähnt
wurde, dies in der Tat die Absicht Bahá’u’lláhs gewesen ist. Noch mehr, in anderen Stellen
Seiner Werke weist Er deutlich nicht nur auf einen Gemeinde-Beitu’l-Adl hin, sondern sogar auf einen
gesetzgebenden Beitu’l-Adl, der als nationales Parlament in Funktion tritt und vor allem auf einen
internationalen Beitu’l-Adl, der als oberstes Gericht das Völkerrecht vertritt. So soll der
Beitu’l-Adl gemeinsam mit den Staatsoberhäuptern sich auch mit der Einführung der universalen
Sprache beschäftigen.
„Außerdem obliegt die Schlichtung der Streitigkeiten zwischen den Völkern den Mitgliedern des göttlichen Beitu’l-Adl. Sie sind die Vertrauensleute Gottes unter den Dienern und die Morgenröte der heiligen Sache in dieser Welt. O Volk Gottes! Die Gerechtigkeit ist die Stütze der Welt, denn sie ruht auf den beiden Säulen der Strafe und der Vergeltung. Diese beiden Säulen sind die Urquellen des Lebens für die Völker der Erde, denn für jeden Tag passen ihre Befehle, und für jeden Augenblick ihre Weisheit. Ebenso kommen alle Geschäfte vor den Beitu’l-Adl, der das verfügt, was er als für den Augenblick geeignet erachtet. Die Fragen der Politik kommen vor den Beitu’l-Adl wie die religiösen Fragen von dem abhängen, was Gott in Seinem Buch enthüllt hat.“ (Die Gebote der Bahá’i-Lehre)
Die verschiedenen Aussprüche, die hier angeführt sind, zeigen die ganze Bedeutung, die der Beitu’l-Adl im Bahá’i-Staat haben wird. Der Kitabu’l-Aqdas legt ebenso dar, welches die finanziellen Einkünfte sein werden, die ihm die Erfüllung seiner Aufgaben gewährleisten. (Kitabu’l-Aqdas, Seite 9 und folgende) Außer den freiwilligen Spenden, die ihm gemacht werden‘ können, besteht seine Haupteinnahme in der Beerbung derer, die ohne Testament verscheiden. Das Erbfolgegesetz der Bahá’i bestimmt eine Teilung der Erbschaft unter die Nachkommen und Seitenverwandten, Blutsverwandte und Ehegatten in einem bestimmten Verhältnis. Wenn jemand verscheidet, ohne auf einer dieser Linien Erben zu hinterlassen, geht der Anteil des Fehlenden auf den Beitu’l-Adl über, der auch das Erbe der Enterbten einzieht. Dies macht den größten Teil seiner Einnahmen aus. In bescheidenem Verhältnis, wie es bei einer Gemeinschaft, die auf derartigen Prinzipien aufgebaut ist, zu erwarten ist, kommt dazu noch der Ertrag aus Geldstrafen; ferner eine einmalige Steuer von dem neunzehnten Teil des Kapitals, die jedermann als persönlichen Beitrag zur Gesellschaftsabgabe bezahlt.*)
*) Jede Vermehrung des Kapitals ist entsprechend dieser Steuer unterworfen.
Es gibt eine weitere Macht, welche, ohne daß sie den amtlichen Charakter der Verfassung oder des
Beitu’l-Adl zu erkennen gibt, in allen Ländern des Abendlandes zu beträchtlichem, bisher völlig
ungeahntem Einfluß gelangt ist.
Ich spreche von der Presse, welche anfänglich nur der Spiegel der öffentlichen Meinung war und inzwischen einer der wichtigsten Faktoren ihrer Bildung geworden ist. Die Ereignisse, welche sich seit einigen Jahren in verschiedenen Ländern des Morgenlands abspielen, sind Zeugen, daß ihr Einfluß in allen Breitegraden derselbe ist. Bahá’u’lláh konnte Sich einer solchen Macht nicht verschließen. Mit sicherem Blick erkannte Er, welches Unheil die Presse anrichten kann, wenn sie nicht der Wahrheit allein dient, weil die große Menge, die lieber schon vorhandene Meinungen vorfindet, anstatt sich mit deren Erwägung abzumühen, meistens unfähig ist, Wahres und Falsches zu unterscheiden. Dennoch wäre die Presse, die jedermann die Neuigkeiten aus aller Welt übermittelt, Gedanken und Entdeckungen verbreitet und den Gedankenaustausch zwischen Gesellschaftsklassen, die unter sich keine Fühlung haben, gestattet, ein wunderbares Werkzeug zur Bildung und Einigung, wenn ihre Redakteure den erhabenen Charakter ihrer Mission verstehen könnten.
„Die Journalisten sollten persönlich frei von aller Leidenschaft und allen Wünschen sein und sich mit dem Schmuck der Gerechtigkeit und Billigkeit zieren. Sie sollten alles daran setzen, solange über eine Frage nachzuforschen, bis sie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen und erst dann schreiben.“ (Die Gebote der Bahá’i-Lehre, S. 34)
Eine Presse, die eine solche Methode befolgen würde, wäre die tatkräftigste Vermittlerin der
Vereinigung der Nationen. Weit davon entfernt, sie gegeneinander aufzuwiegeln, um irgend einer
zweifelhaften Interessenspolitik zu dienen, würde sie mit aller Kraft zur Aufrichtung guter
Beziehungen zwischen den Völkern beitragen. Sie würde die Ermahnungen in den
„Worten des Paradieses" beherzigen:
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„Uebet Gemeinschaftlichkeit und haltet Euch an das, was Ruhe und Frieden zwischen den Nationen der Erde schafft, denn diese Spanne Erde ist nur ein Vaterland und nur ein Aufenthaltsort.... Die Bahá’i erringen den Sieg durch Wissen, gute Handlungen, gute Eigenschaften und Gelehrsamkeit, nicht durch das Vaterland, das man bewohnt, oder die Stellung, die man bekleidet.“ (Die Gebote der Bahá’i-Lehre S. 45)
Wenn die Volksschichten von diesem Prinzip durchdrungen wären, würde die Bahá’i-Lehre triumphieren: ihr einziges Ziel ist, diesen Umschwung in der Welt zu vollbringen. Sie verlangt von ihren Anhängern keine feierliche Bekehrung. Ihre Vermehrung kann nur daran festgestellt werden, daß die Verbreitung ihrer Ideen mehr und mehr sichtbar wird und das, was gestern Utopie war, morgen verwirklicht ist. So werden von Tag zu Tag neue Beziehungen zwischen den Nationen angeknüpft; der Austausch des Handels wird vermehrt; durch geistige und wissenschaftliche Höchstleistung eines jeden Landes wird seine Arbeit und seine Entdeckungen den Mitmenschen in andern Ländern übermittelt und die neuen Erfindungen werden nicht mehr zur Vervollkommnung der Werkzeuge der Zerstörung verwendet werden. Eine bessere Verteilung nationaler Kräfte wird es jedem Staat ermöglichen, Nutzen aus all seinen Reichtümern zu ziehen und die gierige und unloyale Konkurrenz wird durch fruchtbringenden Wetteifer ersetzt werden, zum Segen eines Friedens, den keine Kriegsursache mehr zerstören wird.
Die geheimnisvollen Mächte der Kultur.
In persischer Sprache von einem hervorragenden Bahá’i-Philosophen geschrieben und von Johanna Dawoud ins Englische übersetzt, deutsch von K. Klitzing.
Alle bedeutenden Geschichtsschreiber Europas, die die Zustände, Verhältnisse, Gebräuche, Staatseinrichtungen, das Erziehungswesen und die allgemeine Zivilisation der früheren Jahrhunderte, des Mittelalters und der Neuzeit, behandelten, haben erklärt, daß während der zehn Jahrhunderte des Mittelalters, vom Anfang des sechsten bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, die Länder Europas sich in einem sehr bedauernswerten Zustande befanden und alles zur Zivilisation Notwendigen ermangelten.
Die Hauptursache dessen war, daß die Mönche, wie die Europäer die geistigen Führer der Religion nannten den ewigen Ruhm, den heiligen Vorschriften und himmlischen Lehren des Evangeliums zu gehorchen, außer Acht ließen, mit den Stützen der weltlichen Regierung, den Staatsministern jener Zeit, die die Sachwalter der Bedrückung und des Aufruhrs waren, in Verbindung standen, und daß sie ihre Augen für die ewige Herrlichkeit schlossen und sich gegenseitig in ihren Bestrebungen unterstützten, sich nur vergängliche Vorteile und sinnliche Freuden zu verschaffen. Dadurch erreichten jene Zustände zuletzt einen solchen Höhepunkt, daß das Volk den Staatsministern und Mönchen ganz verfallen war, mit dem Resultat, daß die Hauptgrundlagen der Religion vergessen blieb und die Zivilisation und die Wohlfahrt der Nationen Europas im argen lagen.
Und dann dämmerte der Morgen der Hoffnung, die Zeit des göttlichen Frühlings nahte,
der Regen der Gnade strömte hernieder, und die Leben gebenden Winde der Gunst
wehten über die Menschheit hin. Die Sonne der Güte, die am Horizont von Hijaz (Mekka) und
Yathreb’ (Medina) aufging, offenbarte sich durch die Heiligkeit des Propheten Muhammed und
schenkte der Welt das Licht ewigen Ruhmes. Es vollzog sich eine Veränderung in
den Ländern und große Talente wurden wahrnehmbar, und der Sinn des Verses
„...erleuchtete die Erde mit dem Lichte des Herrn...“ fand dadurch seine Erklärung,
daß die Welt eine neue Welt und der tote Körper der Welt abermals von einem mächtigen
Lebensgeist erfüllt wurde. Unterdrückung und Unwissenheit wurden an ihren
Wurzeln ausgerottet, und das Tor des Wissens und der Gerechtigkeit tat sich auf und
wurde weit und erhaben. Das Meer des Fortschrittes floß über, und die Lichter des
Wissens strahlten auf. Die wilden Stämme und Völker aus den Ländern von Hijaz waren
vor dem Erscheinen des strahlenden Lichts des großen Propheten in der Landschaft
Batha’ die primitivsten Völker und die
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barbarischsten Stämme der Erde. Von ihren schlimmen Gewohnheiten und schrecklichen
Sitten, ihrer Blutdürstigkeit, Streitsucht und Feindseligkeit erzählen die Berichte und
die Geschichte jener Zeit. Die zivilisierten Nationen anerkannten die arabischen
Stämme von Jathreb und Batha nicht als menschliche Wesen. Aber nach dem Aufleuchten des
Lichtes der Welt in jenem Lande und in jener Gegend, wurden sie
durch die Lehre aus jener Quelle der Vollkommenheit und aus jenem Kelch der Offenbarung
Gottes, des Ruhmreichen, und durch den Einfluß des heiligen göttlichen
Gesetzes in kurzer Zeit unter dem beschützenden Schatten des Wortes der göttlichen
Einheit vereint. Und jene wilden Völker machten auf den Stufen der Menschheit und
der idealen Vollkommenheit so große Fortschritte, daß alle übrigen Nationen jener
Zeit erstaunt und von Bewunderung für sie erfüllt waren.
Dieselben Stämme, Rassen und Völker, welche die Araber zu verachten und zu meiden gewohnt waren, und sie als ein Volk ohne Bedeutung ansahen, verlangten nun darnach, in die Heimat und das Reich der Araber zu gelangen, um daselbst Staatswissenschaften und die verschiedenen Zweige der Gelehrsamkeit und des Wissens zu studieren, in Künsten und Handfertigkeiten belehrt und mit anderen Ergebnissen der Zivilisation bekannt zu werden. Bedenket, was der wirkliche Faktor bei der Erziehung dieser arabischen Völker war, deren Grausamkeit und Unwissenheit während der Zeit ihres Heidentums so groß war, daß sie ihre überzähligen Töchter bis zum Alter von sieben Jahren lebendig begruben, — eine Handlungsweise, die selbst ein Tier unterlassen würde, die sie aber in ihrer größten Unwissenheit verherrlichten und für ein Zeichen vornehmer Gesinnungsart hielten. Ein Volk, das so grenzenlos unwissend war, wurde durch den Einfluß der Lehre des großen Propheten zu einer Macht erhoben, die sich Aegypten, Syrien, Damaskus, Chaldäa, Arabien und Persien eroberte. In den Händen dieses Volks lag die Verwaltung aller wichtigsten Angelegenheiten aus den vier Himmelsrichtungen der Welt.
Die Araber wurden das führende Volk der Erde in Wissenschaft und in der Kunst, Erziehung, Philosophie, in Staatswissenschaften, Sitten, Handfertigkeiten und Erfindungen. Wahrlich, die Entwicklung seiner zerstreuten wilden Stämme zu der höchsten Stufe menschlicher Vollkommenheit innerhalb kurzer Zeit ist der deutlichste Beweis von der wirklichen Macht und Prophetenschaft Muhammeds, dem Haupt der Schöpfung. In den ersten Jahrhunderten unter dem Einfluß des Islam, übernahmen alle Nationen Europas ihren Begriff von Sittlichkeit und die Kunst der Zivilisation vom Islam und von den Bewohnern des spanischen Reiches. Ein Studium der Werke über die Weltgeschichte wird beweisen und dartun, daß die hauptsächliche Kultur Europas vom Islam ausgegangen ist. Die Europäer sammelten allmählich die Bücher der Philosophen, der Weisen, Theologen und gelehrten Männer des Islam und lasen und erörterten sie in ihren wissenschaftlichen Instituten und Universitäten mit dem größten Eifer und zogen großen Nutzen daraus.
Ja, es gibt sogar in Bibliotheken europäischer Länder verschiedentlich Abschriften von all denjenigen Büchern der gelehrten Männer des Islam, die in ihrer eigenen Heimat selten sind.
Wenn nicht die Gefahr bestände, daß diese Abhandlung unnötig lang wird, würde ich beweisen, wie sehr die islamitischen Werke über Theologie und Rechte und die darin enthaltenen Gedanken und Grundsätze jener Gelehrten in den verschiedenen Ländern Europas Geltung und Beeinflussung fanden.
Der Beginn der gegenwärtigen europäischen Zivilisation fällt in das siebente
Jahrhundert der Hedschra.*) Sie kam ungefähr in folgender Weise
zustande. In der letzten Hälfte des fünften Jahrhunderts erhob der
Papst, das Haupt der Christenheit, ein grosses Jammern und Wehklagen, weil die
heiligen Stätten der Christen, wie zum Beispiel Jerusalem, Bethlehem und Nazareth,
unter der Herrschaft des Islams standen. Seine Ermunterung und Ermahnung bewegte die
große Mehrheit der europäischen Nationen dazu, einen Religionskrieg zu beginnen. So
groß war sein Jammern und Wehklagen, daß alle Reiche Europas zu den Waffen
griffen. Die Fürsten in christlichen Ländern führten Heere über den Meerbusen von
Konstantinopel nach Asien. Zu jener Zeit herrschte das Kalifat über die Provinz
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Aegypten und über einige der arabischen Reiche; die Könige von Turkestan, d. h.
die Saldjuken aus der syrischen Wüste, standen ebenfalls ganz unter ihrer
Herrschaft und waren ihnen gehorsam.
*) Die Hedschra. (Der Flucht Muhammeds, 622 n. Chr. Der deutsche Uebersetzer.)
Es fielen die Könige Europas mit einem großen Heere in die syrische Wüste und
in Aegypten ein, und während eines Zeitraumes von 203 Jahren fanden dauernd
Kämpfe zwischen den Beherrschern Syriens und den europäischen Königen statt, und
fortwährend trafen Verstärkungen aus Europa ein. Die Könige Europas eroberten
wiederholt jede Festung und jedes Bollwerk in Syrien, und die Könige des Islams
übergaben sich. Nach Solah ed Din vertrieb der König Mansoor Ayooby im Jahre 693 der
Hedschra alle Könige und Truppen Europas aus den Ländern und von den Küsten Syriens
und Aegyptens, und sie kehrten besiegt und entmutigt nach Europa zurück. In diesen
Kriegen, die als Kreuzzüge bekannt sind, wurden Millionen Menschen getötet.
So war es für die Könige, Generäle und Offiziere Europas vom Anfang des Jahres 490 der Hedschra bis zum Jahre 693 ein beständiges Kommen und Gehen zwischen den Ländern Syriens und Aegyptens. Als sie endlich nach Europa zurückkehrten, führten sie dort die Staatswissenschaften, Zivilisation, Erziehung, höhere Lehranstalten, Schulen und auch die ausgezeichneten Gebräuche und Gewohnheiten der islamitischen Reiche, die sie im Verlauf jener 203 Jahre gesehen und erfahren hatten, ein. Der Beginn der europäischen Zivilisation stammt aus jener Zeit.
O Ihr Perser! Wie lange wollt ihr nachlässig und träge bleiben? Ihr, die ihr Herren der Welt waret und an der Spitze der Menschheit standet, wie kommt es, daß ihr euren alten Ruhm verloren und in dem Winkel der Finsternis geschlafen habt? Ihr, die ihr einst die Ursache der Unterweisung und der Quell des Fortschrittes der Menschheit waret, warum seid ihr jetzt so träge, entartet und nachlässig geworden? Ihr, die ihr die Quelle des Lichtes für die Menschheit waret, wie kommt es, daß ihr in die Finsternis der Nachlässigkeit und Geistesarmut zurückgefallen seid?
Oeffnet die Augen, um beurteilen und wahrnehmen zu können, was ihr notwendig braucht. Umgürtet die Lenden mit Entschlossenheit und Begeisterung und strebet nach den Mitteln der Erziehung und des Fortschrittes. Geziemt es sich, daß fremde Stämme und Nationen die Tugenden der Menschheit und Erziehung aus der von euren Ahnen und Vorfahren hinterlassenen Lehre übernommen und erwarben, während ihr, ihre Kinder und Erben, ohne solche Vorzüge seid? Schickt es sich für euch, daß ihr, während benachbarte Nationen Tag und Nacht mit vollem Herzen und ganzer Seele bemüht sind, die Mittel des Fortschrittes, des Ansehens und der Wohlfahrt zu besitzen, im finstren Aberglauben versunken seid und in Streitigkeiten, Auseinandersetzungen, Zank, Sinnlichkeit und selbstsüchtigen Wünschen verbleiben solltet? Ist es rühmlich und lobenswert, daß ihr eure natürliche Veranlagung, eure angeborene Fähigkeit und euren schaffenden Verstand mit Trägheit und Nichtigkeit vergeudet und von diesen Eigenschaften keinen Gebrauch macht? Da wir sonst vom Thema abweichen, wollen wir nur noch erwähnen, daß alle gelehrten und gebildeten Männer Europas, denen die Tatsachen der alten Geschichte bekannt sind, und die durch ihre Wahrheitsliebe und ihr Urteilsvermögen in Ansehen stehen, überzeugt sind und glauben, daß ihre Zivilisation in jeder Einzelheit vom Islam abgeleitet wurde.
Da ist zum Beispiel Ducoudray,*) der bedeutende französische Geschichtsschreiber, dessen Wissen, Ansehen und Erfahrung von allen Gelehrten und Gebildeten Europas anerkannt ist.
*) G. Ducoudray, Geschichte der Zivilisation, Seite 1104, Paris (1886).
In seinem „Der Fortschritt der Nationen in Menschenwürde, Höflichkeit und Gelehrsamkeit"
betitelten Buch, das eines seiner bedeutenden Werke ist, hat er sehr ausführlich
darüber geschrieben, daß die europäischen Nationen die Gesetze der Zivilisation
und die Grundlagen des Fortschrittes und Wohlergehens vom Islam übernommen
haben. Er hat so ausführlich darüber geschrieben, daß es nicht möglich ist,
bei dem Umfang des vorliegenden Buches eine Uebersetzung seiner Ausführungen
einzuschalten. Der Leser, der Näheres hierüber zu erfahren wünscht, muß auf
das Buch selbst zurückkommen.
Kurzum, Ducoudray hat erklärt und bewiesen, daß die ganze Zivilisation Europas
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auf die Gesetze, Verordnungen, Grundsätze, Literatur, Philosophie und Wissenschaften,
auf die ausgezeichneten Gewohnheiten und Gebräuche, auf die Kunst, die
Handfertigkeiten, Lebensweisen, Einrichtungen und die Moral des Islams aufgebaut ist,
ja sehr oft auch die in der französischen Sprache gebrauchten Worte aus dem
Arabischen abgeleitet sind. Er ist zu einer ausführlichen Untersuchung von jedem
dieser Punkte geschritten und hat sogar die Daten nachgewiesen und belegt, wann
diese Erwerbungen vom Islam im Einzelnen gemacht wurden, wie die Araber in das
Abendland, in das heutige Königreich Spanien, eindrangen, wie sie dort in kurzer Zeit eine
vollkommene Zivilisation schufen, wie vollkommen ihr Staats- und Erziehungswesen
war, wie sorgfältig sie Schulen und höhere Lehranstalten gründeten und Wissenschaften,
Künste, Philosophie und Handfertigkeiten förderten, wie weit ihr Ansehen und
ihre Größe reichte, und wieviele Söhne des Adels der europäischen Länder die
Universitäten von Qartaba (Karthageno), Gharnata Ashbeellan (Sevilla) und
Toolid (Toledo) besuchten und dort die Kunstwissenschaften studierten. Er erwähnt
auch, daß ein Europäer, namens Cuthbert, der das arabische Reich aufsuchte und die
Universität Kordova als Student der Wissenschaft und Kunst bezog, nach seiner
Rückkehr nach Europa so berühmt wurde, daß er später als Papst auf dem Stuhl der
römisch-katholischen Kirche saß.
Der Sinn dieser Erörterung ist klar und deutlich, daß die wirklichen Quellen, sowohl unserer geistigen als auch materiellen Vollkommenheit in den göttlichen Religionen begründet sind, und daß sie die Ursache für die Wohlfahrt und universale Erziehung der Menschheit sind. Jedem, der das Leben mit gerechten und vorurteilsfreien Augen betrachtet, wird es klar sein, daß alle staatsbürgerlichen Gesetze in den folgenden herrlichen Worten enthalten sind:
„Die an Gott und den Jüngsten Tag glauben, die Gerechtigkeit lieben, das Böse meiden und nach dem Guten trachten, sind das auserwählte Volk.“ (Koran II 110.)
Und weiter heißt es: „Wahrlich, Gott gebietet euch Gerechtigkeit und Güte zu lieben, euren Verwandten zu geben, und untersagt euch Sünde, Laster und Aufruhr. Er erleuchte euch, daß ihr erkennen möget.“ (Desgl. XVI 92.)
Und über die sittliche Zivilisation heißt es: „Bemühe dich, zu vergeben, tue das Gute und meide den Toren.“ (Desgl. VII 198.)
Ferner ist gesagt: „...Die ihre Einkünfte für mildtätige Zwecke und zur Linderung von Not verwenden, die ihren Zorn mäßigen und den Menschen vergeben. Und Gott liebt den Gerechten.“ (Desgl. III 128.)
Und wiederum heißt es: „Nicht die sind tugendsam, die ihr Antlitz dem Osten oder Westen zuwenden, sondern tugendhaft ist der an Gott, den Jüngsten Tag, die Engel, das Buch und die Propheten Glaubende, der aus Liebe zu Gott Geld an seine Verwandten, die Waisen, die Bedürftigen, Reisenden, Bettler und zur Befreiung der Gefangenen, Schuldner und Sklaven gibt, und der das Gebet verrichtet, die vorgeschriebenen Almosen entrichtet, aber auch die ihre übernommene Verpflichtung Erfüllenden und die, die sich in Prüfungen, Not und in Zeiten der Gewalt ruhig verhalten. Diese sprechen die Wahrheit, fürchten Gott und stellen sich unter Seinen Schutz." (Koran II 177.)
Wiederum heißt es: „Und den Menschen, die anderen vor sich den Vorzug geben, auch wenn unter ihnen Armut herrscht, und den von ihrer Habsucht Befreiten soll es wohl ergehen." (Desgl. LIX 9.)
(Fortsetzung folgt.)
Gebet.
Nur nach Dir steht mein Verlangen,
Ewig möcht ich bei Dir sein,
Mit Dir wandern durch die Zeiten
Ueber Land und Meer, aus und ein.
Nimmer rasten, ohn Ermüden,
Mit Dir kreisen durch das All,
Und in liebevollem Wirken
Stets dem Ganzen dienen überall.
So in stetem Tun und Lassen
Meine Seele zu Dir strebt,
Laß mein Streben nicht ermatten,
Bis es einst mit Dir verwebt.
Paul Häcker.
Bahá’u’lláh und Seine Botschaft.
Von Dr. J. E. Esslemont. Aus dem Englischen übersetzt von Karl Klitzing, Schwerin.
'Abdu'l-Bahá: Der Diener Gottes.
Bahá’u’lláh’s ältester lebender Sohn, ‘Abbas Effendi, der besser unter dem Namen 'Abdu'l-Bahá (d. h. Diener der Herrlichkeit) bekannt ist, folgte Ihm in der Leitung der Bewegung. Abbas war acht Jahre alt, als die Familie aus Persien verbannt wurde, und von dieser Zeit an teilte Er alle Gefangenschaft und Leiden Seines Vaters. Während Er noch Knabe war, wurde Er schon die Hauptstütze der Familie, indem Er Seinem Vater soviel wie möglich alle häuslichen Sorgen und Verantwortlichkeiten abnahm, um Ihn dadurch für die besonders wichtige Arbeit der Schriftstellerei und des Lehrens freizumachen. ‘Abbas übernahm frühzeitig die Aufgabe der Unterredung mit den zahlreichen Besuchern, welche kamen, um Seinen Vater zü sehen. Wenn Er fand, daß es reine Wahrheitssucher waren, ließ Er sie zu Seinem Vater, andernfalls erlaubte Er ihnen nicht, Bahá’u’lláh zu stören. In Adrianopel lehrte Er viel und wurde allgemein als „der Meister" bekannt. Als in Akka fast alle Gefährten infolge der ungesunden Beschaffenheit der Baracken an Typhus, Malaria und Dysenterie erkrankt waren, wusch Er die Kranken, pflegte und versorgte sie und wachte über sie bis Er, gänzlich erschöpft, selbst an Dysenterie erkrankte und sich etwa einen Monat lang in großer Gefahr befand. Später, als die Gefangenschaft gemildert wurde, machte Er sich durch Sein edles und gütiges Leben bei den Bewohnern der Stadt beliebt; und alle Klassen, vom Gouverneur bis zum einfachsten Bettler, lernten Ihn lieben und achten.
Bahá’u’lláh hinterließ in verschiedenen Schriften, besonders in Seinem letzten Willen und Testament, die ausdrückliche Anordnung, daß nach Seinem Tode sich alle Bahái 'Abdu'l-Bahá zuwenden und Ihm gehorchen sollten. Bedenken über die Auslegung der Lehren sollten Ihm unterbreitet werden, und was Er auch sagen würde, sollte dieselbe Glaubwürdigkeit haben, wie die Worte von Bahá’u’lláh selbst. Er sprach gewöhnlich von 'Abdu'l-Bahá als „dem Meister“, und in einem von Seinen Tablets beschrieb Er Ihn als „den größten und erhabensten Zweig Gottes und das beständigste und mächtigste Geheimnis Gottes“. Nach dem Hinscheiden Bahá’u’lláhs übernahm 'Abdu'l-Bahá die Stellung, welche Sein Vater Ihm deutlich vorgezeichnet hatte, als Haupt der Bewegung und bevollmächtigter Ausleger der Lehren. Bei gewissen Verwandten und einigen anderen wurde das übel aufgenommen, sie stellten sich Ihm erbittert entgegen und versuchten, unter den Gläubigen Uneinigkeit zu erregen. Als dieser Versuch fehlschlug, erhoben sie bei der türkischen Regierung falsche Beschuldigungen gegen Ihn. Infolgedessen wurde 'Abdu'l-Bahá, dem seit mehr als 20 Jahren die Bewegungsfreiheit im Umkreise von einigen Meilen in der Gegend von Akka eingeräumt worden war, vom Jahre 1901 an wieder für 7 Jahre strenge innerhalb der Festungsmauern gehalten, und erst 1908, als die Jungtürken die Regierungsgewalt übernahmen und alle politischen und religiösen Gefangenen im Türkischen Reiche freigelassen wurden, erhielt Er endlich die völlige Freiheit.
Nach Seiner Freilassung begann 'Abdu'l-Bahá wieder Sein früheres Leben der
ununterbrochenen Tätigkeit im Lehren, im Briefwechsel und in der Fürsorge für die
Armen und Kranken, nur mit einem Aufenthaltswechsel von Akka nach Haifa und von
dort nach Alexandrien, bis zum Jahre 1911. Dann brach Er zu Seinem ersten Besuche
nach dem Westen auf. Während Seiner Reisen dort traf Er mit Männern und Frauen
der verschiedenartigsten Meinungen zusammen und erfüllte in vollem Maße den
Befehl Bahá’u’lláhs: "sich mit allen Menschen in Freude und Harmonie zu verbinden“.
Schon im September 1911 erreichte Er London und blieb hier einen Monat. Die erste
öffentliche Zuhörerschaft, zu welcher Er je sprach, war die Gemeinde der Rer. R.I.
Campbell im City-Temple in London. Er redete auch in der Westminsterkirche St.
John, sprach in verschiedenen anderen Versammlungen, großen und kleinen, und hatte
täglich Besprechungen mit Fragestellern. Er reiste dann nach Paris weiter, und im
Dezember kehrte Er nach Aegypten zurück. Im Frühling 1912 ging Er nach Amerika
und brachte dort acht oder neun Monate zu, indem Er von Küste zu Küste reiste und zu
Menschen aller Klassen und Anschauungen
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sprach: Studenten der Universitäten, Sozialisten, Mormonen, Juden, Christen, Agnostiker
(Leugner übersinnlicher Erkenntnismöglichkeiten) Esperantisten, Friedensgesellschaften,
Neugeistlern, Gesellschaften für Frauenstimmrecht — und immer redete Er so, wie es der
Zuhörerschaft und den Umständen angepaßt war. Am 5. Dezember 1912 schiffte Er sich nach
Großbritannien ein, wo Er sechs Wochen blieb. Dann reiste Er nach einem zweimonatlichen
Aufenthalt in Paris nach Stuttgart, Budapest und Wien weiter und kam im Mai 1913 in Aegypten
und am 5. Dezember 1913 wieder in Haifa an.
Während des Krieges kam eine neue Zeit harter Bedrängnis. Die Verbindung mit Freunden und Gläubigen außerhalb Syriens war fast vollständig abgeschnitten, und Er und Seine kleine Anhängerschar sahen sich wieder beschränkten Verhältnissen, Nahrungsmangel und großen Gefahren und Belästigungen ausgesetzt. Während dieser schrecklichen Jahre zeigte sich die reiche und kluge Menschenliebe 'Abdu'l-Bahás in besonderem Maße. Er organisierte persönlich ausgedehnte landwirtschaftliche Unternehmungen in der Nähe von Tiberias, indem Er Land kultivieren ließ, das jahrhundertelang unbebaut gewesen war. Dadurch sicherte Er einen großen Erntevorrat an Weizen, durch welchen eine Hungersnot verhütet wurde, und zwar nicht nur für die Bahá’i, sondern auch für viele Arme aller Religionen, für deren Bedürfnisse Er freigebig sorgte. Während der Kriegszeit versammelte Er täglich die Gläubigen, ermutigte und tröstete alle und linderte ihre Leiden auf mancherlei Art und Weise.
Nach Einstellung der Feindseligkeiten waren die britischen Beamten 'Abdu'l-Bahá durch Seinen Charakter und Einfluß und durch Seine Bemühungen für die Aufklärung und Wohlfahrt des Volkes so günstig gesonnen, daß Ihm im April 1920 die Würde eines Ritters (Sir) des Britischen Reiches verliehen wurde.
'Abdu'l-Bahá liebte es, mit Menschen verschiedener Rassen, Farben, Nationen und Religionen in Eintracht und aufrichtiger Freundschaft an Seinem gastfreien Tisch versammelt zu sein, und pflegte sie sowohl mit vollendetem Witz und scherzhaften Erzählungen, als auch mit weisen Ratschlägen und belehrenden Gesprächen über die verschiedensten Gegenstände zu erfreuen.
Er setzte Seine mannigfaltige Tätigkeit mit wenigen Unterbrechungen fort bis einen oder zwei Tage vor Seinem friedvollen Hinscheiden ins Jenseits am 28. November 1921 im Alter von 77 Jahren. Sein Trauerzug am nächsten Tage war begleitet von Tausenden aus allen Ständen, von dem High Commissioner von Palestina und dem Gouverneur von Jerusalem bis hinab zu dem ärmsten Bettler aus Haifa. Neun Redner, alles hervorragende Vertreter der moslemitischen, christlichen und jüdischen Gemeinschaften, schilderten in beredter und eindrucksvoller Weise ihre Liebe und Bewunderung für das reine und edle Leben, welches eben beendet worden war. Dies war sicherlich ein angemessener Tribut für einen, der jeden Tag Seines Lebens für die Einheit der Religionen, Rassen und Völker gearbeitet hatte; ein Tribut und auch ein Beweis, daß Sein Leben nicht umsonst gewesen war, daß die Ideale Bahá’u’lláhs, welche Seine Inspiration, ja Sein wirkliches Leben gewesen waren, bereits anfingen, die Welt zu durchdringen und die Schranken niederzureißen, die Jahrhunderte lang Moslems, Christen und Juden und die anderen verschiedenen Parteien, in welche die Menschheit zerrissen war, getrennt hatten.
'Abdu'l-Bahás Nachfolger in der Leitung der Bewegung wurde Sein ältester Enkel Shoghi Effendi, der unter dem Namen „Hüter der Sache" bekannt ist.
Die Bahá’i-Lehren.
Nachdem wir einen kurzen Blick auf das Leben der drei großen Leuchten der Bahá’i-Bewegung geworfen haben, wollen wir jetzt einige der Grundlehren Bahá’u’lláhs betrachten.
Die Einheit Gottes und die Einheit der Religion.
Nach Bahá’u’lláh hat es immer nur eine Religion in der Welt gegeben und wird es immer
nur die eine geben. Es gibt nur einen Gott, wie die Moslems, Christen, Juden und
Zoroastrier alle behaupten, und die Anbetung, Liebe und Verehrung dieses einen
Gottes ist Religion. Die Begründer all der großen Religionsgemeinschaften haben
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dieselbe Religion gelehrt, aber jeder hat sie in Uebereinstimmung mit den Anforderungen,
welche die Zeit und die Fassungskraft des Volkes, zu dem sie kamen, an sie stellte,
gelehrt. Jeder hat Seinen Anteil zu der Erziehung und Höherentwicklung der Menschheit
beigetragen, aber niemals hat es eine endgültige Offenbarung gegeben. Die
Wahrheit ist unendlich, aber ihre Offenbarung in der begrenzten menschlichen
Ausdrucksweise, so wie sie den Menschen verständlich ist, kann nicht vollständig,
erschöpfend und abschließend sein. Die Absicht jeder prophetischen Offenbarung ist die,
die menschlichen Herzen und Seelen für höhere, zukünftige Offenbarungen vorzubereiten.
Die Ehrfurcht vor allen Propheten ist die Grundlage der wahren Religion und das
beste Mittel, die Einheit der Menschheit zustande zu bringen. Bahá’u’lláh sagt in Seinem
letzten Willen und Testament: „O, du Volk der Welt! Die Religion ist eine Sache
der Liebe und Einigkeit. Macht sie nicht zur Ursache von Feindschaft und Streitigkeit...
Wir hegen die Hoffnung, daß das Volk Bahás sich immer dem gesegneten
Worte: „Alle sind von Gott“ zuwenden wird, dem herrlichsten Wort, das gleich dem
Wasser das Feuer des Hasses und Grolles auslöscht, welches in den Herzen und Seelen
flackert! Durch dieses schlichte Wort werden die verschiedenen Glaubensformen
der Welt zu dem Lichte der wirklichen Einheit gelangen.“ Die äußeren Formen der
Religionen müssen sich von Zeit zu Zeit ändern, gleich dem Wandel der Knospe, Blüte
und Frucht. Aber durch alle diese äußeren Veränderungen wird das eine Leben
nur in vollständigeren und vollkommeneren Formen ausgedrückt.
Das geistige Bewußtsein setzt ein.
Star of the West. August 1928. Deutsch von E.H. und M. Sch.
„Wenn die göttliche und grundlegende Wahrheit in die menschlichen Herzen eindringt und gelebt wird, erhält und beschützt sie alle Stufen und Zustände der Menschheit und errichtet jene wahre Einheit der menschlichen Welt, die nur durch die Macht des hl. Geistes ins Dasein eindringen kann.“
Ein bemerkenswerter Artikel von einem ungenannten Schreiber in „The Century Magazine“ weist auf die in unseren Tagen unbedingte Notwendigkeit der Schaffung einer religiösen Organisation hin, die weltumfassend und auf der wesentlichen Einheit der geistigen Gedanken in allen großen Weltreligionen gegründet sein soll. Er sieht in der Religion der Vergangenheit allzusehr die Ursache für Sekten, Glaubensgemeinschaften, Spaltungen und Unterspaltungen. Eins wider das andere verkünden sie alle der Welt mit viel Geräusch Einigkeit und Liebe, einer Welt, die sie im Lauf der Jahrhunderte mit ihrem Zank, mit ihren Verfolgungen und mit ihrer Uneinigkeit in Aufruhr hielten.
Diesen Eigentyp religiöser Organisation haben wir überlebt, meint der Verfasser. „Die religiösen Zentren der Zukunft können nimmer auf verschiedenen Glaubensbekenntnissen begründet werden, denn der menschliche Geist ist darüber hinaus fortgeschritten. Ein wahrer geistiger Mittelpunkt muß ein Mittelpunkt sein für jede Form des Lichtes und Lebens, die dem menschlichen Geist. Halt, Wachstum und Entfaltung verleiht.“
Die Unterschiede und Gegensätze in den Weltreligionen haben ihren Ursprung nicht in den Lehren ihrer Gründer. Denn wenn wir uns von den religiösen Organisationen weg zu den Lehren der großen Propheten und Religionsgründer selbst wenden, finden wir anstatt der krassen Unterschiede bei ihren Nachfolgern eine überraschende Aehnlichkeit.... Ich las kürzlich in einer mohammedanischen Zeitung: „Wenn die wahren Vertreter jeder Religion zusammengebracht werden könnten, wäre es schwer, Unterschiede zwischen ihnen zu finden.“
Solch ein Artikel zeigt, wie schnell sich die Welt zu jener Gedankenfreiheit und zu jener
Geneigtheit der Anerkennung der Wahrheit in jeder Form hinbewegt, die das Gepräge des
gegenwärtigen Jahrhunderts sein werden. Genau so wie in den Tagen des alten Rom eine
bemerkenswerte Duldsamkeit und Glaubensvermischung ein fruchtbares Feld bereiteten, auf dem
der von Christus ausgestreute göttliche Same wurzeln und zur Reife gelangen konnte, so sind
heute Geist und Herz der Menschheit dank der schnellen Entwicklung der Duldsamkeit und des
Eklektizismus*)
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für jene Lehren Bahá’u’lláhs reif, die im Begriff sind, die Grundlagen der neuen Welt-Zivilisation
zu werden.
*) Eklektizismus ist das Streben, aus verschiedenen philosophischen Systemen das Zusagendste zu wählen und zu einem Ganzen zu verbinden; wer ihm huldigte, ihm gemäß auch verallgemeint, ist Eklektiker.
Wir müssen uns jedoch in dieser Beziehung klar sein, daß Wahrheit nicht durch Eklektizismus,
sondern durch Offenbarung begründet wird. Alle Duldsamkeit der Welt zusammen bringt es nicht
zuwege, eine Religion zu schaffen. Nur die Worte eines göttlich inspirierten Lehrers können dies
vollbringen. Laßt uns z. B. erwägen, was das geistige Ergebnis für die Welt gewesen wäre,
wenn es in den Tagen Roms keine Offenbarung Christi gegeben hätte, um die suchenden Seelen zu
führen, sondern nur den eklektischen Versuch der frei-geistigen Römer im Mithras-, Magna Mater-,
Isis-Kult und zahllosen anderen.
Nicht Geneigtheit zum Erkennen der Wahrheit in diesen verschiedenen Kulten war es, was die alte Welt reformierte und vergeistigte, sondern die Lehren Christi, das direkte Licht, das aus der göttlichen Quelle hervorging. Das Gleiche kann man deutlich in allen großen Weltreligionen erkennen. Das Zoroastertum, der Buddhismus, Tavismus, Islam und Konfuzianismus waren nicht das Ergebnis von Duldsamkeit und gleichzeitigem Gedankengang, sondern, einzig und allein das Ergebnis der inspirierten Lehren Zoroasters, Buddhas, Laotses, Muhammeds und Konfuzius’. Nur offenbarte Wahrheit allein kann die Menschheit führen und erretten.
„Die Menschheit braucht zu ihrer Belebung eine universale treibende Macht. Der inspirierte Bote, der unmittelbar von der göttlichen Macht unterstützt wird, bringt universale Resultate zustande.“ Und wieder sagt uns 'Abdu'l-Bahá:
„Was auch der Mensch sich aneignet an materiellen Tugenden, er wird doch nicht fähig sein, die höchsten Fähigkeiten des Lebens zu verwirklichen und auszudrücken ohne die geistige Gnade. Die Menschheit kann nicht durch bloße physische Kräfte und verstandesmäßige Talente Fortschritte machen, nein — etwas anderes, der Heilige Geist ist wesentlich. Der göttliche Vater muß die menschliche Welt unterstützen, damit sie die Reife erreicht.“
Der Zweck und die Mission der göttlichen Boten ist Erziehung und. Fortschritt der Menschheit, Anbau göttlicher Früchte im Garten der menschlichen Herzen, Widerspiegelung himmlischer Strahlen in den Spiegeln menschlicher Seelen, Belebung geistiger Fähigkeit und Vermehrung geistiger Empfänglichkeit. Wenn diese Ergebnisse und Erfolge in der Menschheit sichtbar werden, dann ist das Amt und die Mission der Offenbarungen unverkennbar.“
Der irische Dichter und Philosoph, Georg Russel, der unter dem Namen AE in „The Saturday Review of Literature“ schreibt, erzählt von seinem letzten Besuch in den Vereinigten Staaten, daß er bei den Menschen dieses Landes eine nur ihnen eigene Schönheit und Eleganz und einen entschiedenen Rassencharakter in der Entwicklung fand. „Was für eine Laune ist dort im Begriff fundamental zu werden“, fragt er, und seine Antwort lautet: "Ich halte es für irgend eine Laune planetarischen Bewußtseins.“ Er vermutet, daß dieses planetarische Bewußtsein wachsen wird, bis die Zeit kommt, da „in den erhabenen Gemütern in den Staaten ein edles Gefühl von Weltpflicht, ein Weltbewußtsein mit gewaltiger Mentalität kämpfen und allmählich durchdringen wird.“
Wenn dies wahr wird, ist es eine unser Volk inspirierende Erscheinung — ein strahlendes Endziel, das wir erreichen sollten. Gibt es eine edlere Bestimmung für irgend ein Land als diese, ein Wegbereiter zu sein für die universelle Entwicklung dieses planmäßigen Bewußtseins, von dem AE schreibt? Die Zeit ist dahin, wo Völker meinen, ihr Ruhm liege in materieller Eroberung und Weltbeherrschung durch Gewaltmittel. Die Reiche der Vergangenheit, die durch selbstsüchtige Angriffe gegründet wurden mit dem Zweck, soviel als möglich von der Erdoberfläche zu beherrschen, sind Regelwidrigkeiten in diesem glorreichen Zeitalter der Freiheit. Selbst wenn nicht schon das geistige Bewußtsein eines höheren nationalen Ausdrucks dämmerte, so hat doch die unwiderlegbare Lehre des Weltkriegs ihre bestimmte Wirkung dahin gezeitigt, daß Gewalt niemals irgend welchen dauernden Nutzen bringt und daß in einer Zeit, in der sowohl rassischer als persönlicher Selbstbeherrschung eine so vorherrschende Bedeutung zukommt, alle durch bloße Gewalt zusammengehaltenen Gebietsanhäufungen vor einer drohend nahen Auflösung stehen.
Das Wachsen der Intelligenz der Massen, das Streben nach Rassen-Ausdruck, die Zunahme der Gelehrsamkeit in der ganzen Welt lassen es schnell als unmöglich erscheinen, daß eine beständige Regierung auf Gewalt aufgebaut werden kann. Gerechtigkeit, Zusammenwirken und gegenseitige Hilfe zur Erlangung eines höheren durchschnittlichen Wohlstands müssen die herrschenden Faktoren einer beständigen Regierung der Zukunft sein. Sowohl zwischen den Nationen als auch innerhalb der Nationen selbst muß diese gerechte und gegenseitige segensreiche Verwandtschaft regieren.
[Seite 175]
So entfaltet sich vor unseren Augen ein Jahrhundert, das im Begriff ist, eher durch ein
Welttraumbild charakterisiert zu werden, als durch selbstsüchtigen Nationalismus. Und die
vereinigten Staaten, durch die wahre Natur ihres Ursprungs und Wachstums frei von
jahrhundertealten Fesseln des Hasses nationalistischer Vorurteile und Eifersüchteleien,
die die Psychologie der Alten Welt vergiften, haben eine bemerkenswerte
Fähigkeit, groß zu werden, weil sie in letzter Zeit in jenem weiten Sinn eines Weltbewußtseins
zu wachsen schienen, das sie veranlassen wird, ihren unermeßlichen Reichtum, ihre Intelligenz und
ihre Energie der großmütigen Unterstützung aller Menschen der Welt zu weihen, damit auch sie
zu ihrem bestmöglichen Vorteil wachsen und gedeihen.
„Sollte die Welt bleiben, wie sie heute ist,“ sagte 'Abdu'l-Bahá, „so würde sie großer Gefahr ausgesetzt. Doch, wenn Versöhnung und Einigkeit zustandekommen, wenn Zuversicht und Vertrauen einkehren, wenn wir mit Herz und Seele streben, daß die Lehren Bahá’u’lláhs erfolgreich die Wirklichkeiten der Menschheit durchdringen und Brüderschaft und Einklang verursachen, die Herzen der verschiedenen Religionen verbinden und die verschiedengearteten Menschen vereinigen, dann wird die Welt der Menschheit Frieden und Ruhe erlangen, der Wille Gottes wird der Wille des Menschen werden, und die Erde wird eine wahre Wohnstätte von Engeln sein. Seelen werden erzogen werden, Laster werden vertrieben, die Tugenden der Welt der Menschheit werden herrschen, der Materialismus wird verschwinden, die Religion wird erstarken und wird beweisen, daß sie das Band ist, das die Herzen der Menschen zusammenhält.“
In einem andern Tablet an die Freunde in Amerika sagte 'Abdu'l-Bahá: „O ihr Freunde Gottes! Befleißigt euch mit Herz und Seele, daß Vereinigung, Liebe, Einigkeit und Uebereinstimmung zwischen den Herzen erlangt werde, daß alle Absichten in dem einen Ziel verschmelzen, alle Gesänge zu einem Gesang werden und die Macht des heiligen Geistes so überwältigend siegreich werde, daß sie alle Mächte der Welt der Natur überwindet. Arbeitet! Das ist das große Werk. Solltet ihr darin Unterstützung erhalten, so wird Amerika der Stützpunkt barmherziger Empfänglichkeit werden, und der Thron des Königreiches Gottes wird auf Erden errichtet werden mit größter Freude und Majestät.“
Wahrheit.
„Verachtet von den Großen,
Von den Kleinen heiß geliebt,
Sagt: Ob es für die Wahrheit
Einen andern Weg wohl gibt?
Verraten von den als Wache
Berufenen am Tor,
Sagt: Steigt nicht immer wieder
Die Wahrheit so empor?
Erst wie ein leises Sausen
Im Sommerkern-Gefild’,
Das dann zu mächtigem Brausen
Im Waldes-Dickicht schwillt,
Als Meeres-Donnerrollen
Zum Schluß die Welt durchdröhnt
Und siegend alles —
Alles gewaltig übertönt.“
Biörnstjerne Björnson.
Bericht aus Warnemünde.
von Emil Jörn.
Unsere Weihnachtsfeier im Sinne der Heilerziehung war wieder ein Ineinandergreifen von Liebe und Leid, ein Gewebe von Andacht, Mitarbeit und Freude. Nicht durch irgend eines Menschen Verdienst, sondern durch die helfende und erziehende Gnade Gottes, die wir in allem preisen. Er ist der Gütige, der Allmächtige!
Liebe heilt und verbindet die Herzen. „Das Ineinanderweben der Gemüter“ (Hilfsschüler, Gärtleinkinder, Jugendliche, Eltern, Freunde) war deutlich spürbar. Nichts ist schöner als dies leise Knospen und Sprießen im Sinne des Geistes. Dafür sind wir sehr dankbar.
Auch in äußern Dingen hatten manche Freunde mitgeholfen. Auch die Ortsverwaltung mit einem Geldbetrag. Nun konnten sechs Kinder das Hemd bekommen, das sie sich gewünscht hatten, der Ernst seine Pudelmütze, Hans Heini den Turneranzug, Erich den Sweater usw. Wie strahlte die Hilde, die wegen ihres gebrechlichen Körpers abgemeldet wurde, im letzten Augenblick aber doch noch erschien, weil ein Auto sie abholte! Wieder machten die Kinder einige geistorthopädische Uebungen, sangen, deklamierten (auch die Allerschwächsten), daß es eine Lust war. Gärtleinkinder und Hilfsschüler erfreuten sich gegenseitig — soweit sie dazu die Reife haben.
„Aber nun, meine kleinen Freunde, wollen wir einen Augenblick alles vergessen, nichts mehr sagen und singen. Wollen ein Weilchen nur an Gott denken, nur an Ihn, nur an Ihn. Jeder von uns Erwachsenen denke an ein besonderes Kind, dessen Leid er still vor Gottes Thron trägt.“ —
Dann sagten wir, um den brennenden Christbaum stehend, unsern 19 fachen Lobgesang, jeder seinen Vers;
„Alle Himmel, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
„Alle Diener Gottes, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
„Alle Engel, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
„Sonne und Mond, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
„Alle Sterne, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
„Alle grünen Bäume, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
„Alle Diener, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
„Alle wilden Tiere, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
„Alle Winde, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
„Regen und Schnee, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
„Eis und Frost, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
„Meer und Wasserströme, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
„Alle Fische, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
„Donner und Blitz, lobet den Herrn, preiset und lobet Ihn ewiglich.“
„Licht und Finsternis, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
„Alle Blumen, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
„Alle Vögel, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
„Alle Kinder, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
„Alle Menschen in aller Welt, lobet den Herrn, preiset und rühmet Ihn ewiglich.“
Das erste und das letzte Wort sagt der Leiter. Zusammengestellt ist das Ganze nach dem
„Gesang der Männer im feurigen Ofen“.
Das ist ja alles leicht gelernt, weil sich die Worte immer wiederholen. Unser ganzes Wesen, unser tägliches Beisammensein und Arbeiten, unser Atmen und Lieben soll Ihn loben. Auch durch das Lallen schwächster Kinder läßt Er sich ein Lob bereiten. Des sind wir gewiß.
„O Schöpfer! Obwohl wir nur unnützes Gras sind, so sind wir doch von Deinem Garten. Wir sind wie junge Bäume, blätter- und blütenlos, doch wir sind von Deinem Fruchtgarten. Deshalb nähre das Gras mit dem Regen Deiner Gnade, erfrische und belebe diese jungen schmachtenden Obstbäume mit der ewigen Frühlingszeit. Erwecke uns, erleuchte uns, gib ewiges Leben und nimm uns auf in Dein Königreich.“
In der Sonne der Wahrheit finden nur solche Manuskripte Veröffentlichung, bezüglich deren Weiterverbreitung keine Vorbehalte gemacht werden.
Anfragen, schriftliche Beiträge und alle die Schriftleitung betreffenden Zuschriften beliebe man an die Schriftleitung: Stuttgart, Alexanderstr.3 zu senden
Bestellungen von Abonnements, Büchern und Broschüren sowie Geldsendungen sind an den Verlag des deutschen Bahá’i-Bundes G.m.b.H., Stuttgart, Alexanderstr.3, Nebengebäude, zu richten.
Druck von W. Heppeler, Stuttgart.
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Geschichte und Bedeutung der Bahá’ilehre.
Die Bahai-Bewegung tritt vor allem ein für die „Universale Religion" und den „Universalen Frieden“ — die Hoffnung aller Zeitalter. Sie zeigt den Weg und die Mittel, die zur Einigung der Menschheit unter dem hohen Banner der Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit führen. Sie ist göttlich ihrem Ursprung nach, menschlich in ihrer Darstellung, praktisch für jede Lebenslage. In Glaubenssachen gilt bei ihr nichts als die Wahrheit, in den Handlungen nichts als das Gute, in ihren Beziehungen zu den Menschen nichts als liebevoller Dienst.
Zur Aufklärung für diejenigen, die noch wenig oder nichts von der Bahaibewegung wissen, führen wir hier Folgendes an: „Die Bahaireligion ging aus dem Babismus hervor. Sie ist die Religion der Nachfolger Bahá’u’lláhs. Mirza Hussein Ali Nuri (welches sein eigentlicher Name war) wurde im Jahre 1817 in Teheran (Persien) geboren. Vom Jahr 1844 an war er einer der angesehensten Anhänger des Bab und widmete sich der Verbreitung seiner Lehren in Persien. Nach dem Märtyrertod des Bab wurde er mit den Hauptanhängern desselben von der türkischen Regierung nach Bagdad und später nach Konstantinopel und Adrianopel verbannt. In Bagdad verkündete er seine göttliche Sendung (als „Der, den Gott offenbaren werde") und erklärte, daß er der sei, den der Bab in seinen Schriften als die „Große Manifestation", die in den letzten Tagen kommen werde, angekündigt und verheißen hatte. In seinen Briefen an die Regenten der bedeutendsten Staaten Europas forderte er diese auf, sie möchten ihm bei der Hochhaltung der Religion und bei der Einführung des universalen Friedens beistehen. Nach dem öffentlichen Hervortreten Bahá’u’lláhs wurden seine Anhänger, die ihn als den Verheißenen anerkannten, Bahai (Kinder des Lichts) genannt. Im Jahr 1868 wurde Bahá’u’lláh vom Sultan der Türkei nach Akka in Syrien verbannt, wo er den größten Teil seiner lehrreichen Werke verfaßte und wo er am 28. Mai 1892 starb. Zuvor übertrug er seinem Sohn Abbas Effendi ('Abdu'l-Bahá) die Verbreitung seiner Lehre und bestimmte ihn zum Mittelpunkt und Lehrer für alle Bahai der Welt.
Es gibt nicht nur in den mohammedanischen Ländern Bahai, sondern auch in allen Ländern Europas, sowie in Amerika, Japan, Indien, China etc. Dies kommt daher, daß Bahá’u’lláh den Babismus, der mehr nationale Bedeutung hatte, in eine universale Religion umwandelte, die als die Erfüllung und Vollendung aller bisherigen Religionen gelten kann. Die Juden erwarten den Messias, die Christen das Wiederkommen Christi, die Mohammedaner den Mahdi, die Buddhisten den fünften Buddha, die Zoroastrier den Schah Bahram, die Hindus die Wiederverkörperung Krischnas und die Atheisten — eine bessere soziale Organisation.
In Bahá’u’lláh sind alle diese Erwartungen erfüllt. Seine Lehre beseitigt alle Eifersucht und Feindseligkeit, die zwischen den verschiedenen Religionen besteht; sie befreit die Religionen von ihren Verfälschungen, die im Lauf der Zeit durch Einführung von Dogmen und Riten entstanden und bringt sie alle durch Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Reinheit in Einklang. Das einzige Dogma der Lehre ist der Glaube an den einigen Gott und an seine Manifestationen (Zoroaster, Buddha, Mose, Jesus, Mohammed, Bahá’u’lláh).
Die Hauptschriften Bahá’u’lláhs sind der Kitab el Ighan (Buch der Gewißheit), der Kitab el Akdas (Buch der Gesetze), der Kitab el Ahd (Buch des Bundes) und zahlreiche Sendschreiben, genannt „Tablets“, die er an die wichtigsten Herrscher oder an Privatpersonen richtete. Rituale haben keinen Platz in dieser Religion; letztere muß vielmehr in allen Handlungen des Lebens zum Ausdruck kommen und in wahrer Gottes- und Nächstenliebe gipfeln. Jedermann muß einen Beruf haben und ihn ausüben. Gute Erziehung der Kinder ist zur Pflicht gemacht und geregelt.
Streitfragen, welche nicht anders beigelegt werden können, sind der Entscheidung des Zivilgesetzes jeden Landes und dem Bait’ul’Adl oder „Haus der Gerechtigkeit“, das durch Bahá’u’lláh eingesetzt wurde, unterworfen. Achtung gegenüber jeder Regierungs- und Staatseinrichtung ist als einem Teil der Achtung, die wir Gott schulden, gefordert. Um die Kriege aus der Welt zu schaffen, ist ein internationaler Schiedsgerichtshof zu errichten. Auch soll neben der Muttersprache eine universale Einheits-Sprache eingeführt werden. „Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die Tropfen eines Meeres“ sagt Bahá’u’lláh.
Es ist also weniger die Einführung einer neuen Religion, als die Erneuerung und Vereinigung aller Religionen, was heute von 'Abdu'l-Bahá erstrebt wird. (Vgl. Nouveau, Larousse, illustré supplement, p. 66.)
Verlag des Deutschen Bahá’i-Bundes G.m.b.H., Stuttgart
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In unserem Verlag sind erschienen:
Bücher:
Verborgene Worte von Baha’u’llah. Deutsch von A. Schwarz und W. Herrigel, 1924 1.--
Baha’u’llah, Frohe Botschaften, Worte des Paradieses, Tablet Tarasat, Tablet Taschalliat, Tablet Ischrakat. Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1921, in Halbleinen gebunden . . . 2.50
in feinstem Ganzleinen gebunden . . . . . 3.--
Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahaireligion, von Mirza Abul Fazl. Deutsch von W. Herrigel, 1921, in Halbleinen geb. . . . . 4.50
In Ganzleinen gebunden . . . . 5.--
Abdul Bahá Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps. Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1922, in Ganzleinen gebunden . . . . 4.--
Die Bahai-Offenbarung, ein Lehrbuch von Thornton Chase, deutsch von W. Herrigel, 1925, kartoniert M. 4.--, in Halbleinen gebunden M. 4.60
Bah’u’lláh und das neue Zeitalter, ein Lehrbuch von Dr. J. E. Esslemont, deutsch von W. Herrigel und H. Küstner. 1927. In Ganzleinen gebunden . . . . . 4.50
Broschüren:
Bahai-Perlen, Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1922 . . . . -.20
Ehe Abraham war, war Ich, v. Thornton Chase. Deutsch v. W.Herrigel, 1911 . . . . -.20
Die Universale Weltreligion, Ein Blick in die Bahai-Lehre von A. T. Schwarz, 1919. . . . -.50
Die Offenbarung Baha’u’llahs, von J.D. Brittingham. Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1910 . . . -.50
Einheitsreligion. Ihre Wirkung auf Staat, Erziehung, Sozialpolitik, Frauenrechte und die einzelne Persönlichkeit, von Dr. jur. H. Dreyfus, Deutsch von Wilhelm Herrigel. 2. Auflage 1920 . . . -.50
Die Bahaibewegung im allgemeinen und ihre großen Wirkungen in Indien, nach Berichten eines Amerikaners zusammengestellt und mit Vorwort versehen von Wilhelm Herrigel, Stuttgart 1922 . . . . -.50
Eine Botschaft an die Juden, von Abdul Baha Abbas. Deutsch v. W. Herrigel, 1912 . . . -.20
Das Hinscheiden Abdul Bahas, ("The Passing of Abdul Baha") Deutsch von Alice T. Schwarz, 1922 . . . -.50
Das neue Zeitalter von Ch. M. Remey. Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1923 . . . . —.50
Die soziale Frage und ihre Lösung im Sinne der Bahailehre von Dr. Hermann Grossmann-Wandsbel . . . . —.20
Religiöse Lichtblicke, Einige Erläuterungen zur Bahá’i-Botschaft, aus dem Französ. übersetzt von Albert Renftle, 2. erweiterte Auflage, 1928 . . . . --.30
Die Bahá’i-Bewegung, Geschichte, Lehren und Bedeutung. von Dr. Hermann Großmann-Wandsbek . . . . . --.20
Sonne der Wahrheit, Jahrgang 3 - 8 in Halbleinen gebunden à . . . . 9.--
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