SONNE DER WAHRHEIT | ||
Heft V | VIII.JAHRG. | JULI 1928 |
ORGAN DES DEUTSCHEN BAHAI-BUNDES STUTTGART |
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Abdu’l-Bahás Erläuterung der Bahá’i - Prinzipien.
1. Die ganze Menschheit muss als Einheit betrachtet werden.
Baha’u’lláh wandte Sich an die gesamte Menschheit mit den Worten: „Ihr seid alle die Blätter eines Zweigs und die Früchte eines Baumes“. Das heißt: die Menschheit gleicht einem Baum und die Nationen oder Völker gleichen den verschiedenen Aesten und Zweigen; die einzelnen Menschen aber gleichen den Blüten und Früchten dieses Baumes. In dieser Weise stellte Baha’u’lláh das Prinzip der Einheit der Menschheit dar. Baha’u’lláh verkündigte die Einheit der ganzen Menschheit, er versenkte sie alle im Meer der göttlichen Gnade.
2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.
In religiösen Fragen sollte niemand blindlings seinen Eltern und Voreltern folgen. Jeder muß mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören und die Wahrheit suchen, denn die Religionen sind häufig nichts anderes als Nachahmungen des von den Eltern und Voreltern übernommenen Glaubens.
3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.
Alle göttlichen Verordnungen beruhen auf ein und derselben Wirklichkeit. Diese Grundlage ist die Wahrheit und bildet eine Einheit, nicht eine Mehrheit. Daher beruhen alle Religionen auf einer einheitlichen Grundlage. Im Laufe der Zeit sind gewisse Formen und Zeremonien der Religion beigefügt worden. Dieses bigotte menschliche Beiwerk ist unwesentlich und nebensächlich und verursacht die Abweichungen und Streitigkeiten unter den Religionen. Wenn wir aber diese äußere Form beiseite legen und die Wirklichkeit suchen, so zeigt sich, daß es nur eine göttliche Religion gibt.
4. Die Religion muss die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.
Die Religion ist für die Menschheit die größte göttliche Gabe, die Ursache des wahren Lebens und hohen sittlichen Wertes; sie führt den Menschen zum ewigen Leben. Die Religion sollte weder Haß und Feindschaft noch Tyrannei und Ungerechtigkeiten verursachen. Gegenüber einer Religion, die zu Mißhelligkeit und Zwietracht, zu Spaltungen und Streitigkeiten führt, wäre Religionslosigkeit vorzuziehen. Die religiösen Lehren sind für die Seele das, was die Arznei für den Kranken ist. Wenn aber ein Heilmittel die Krankheit verschlimmert, so ist es besser, es nicht anzuwenden.
5. Die Religion muss mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.
Die Religion muß mit der Wissenschaft übereinstimmen und der Vernunft entsprechen, so daß die Wissenschaft die Religion, die Religion die Wissenschaft stützt. Diese beiden müssen unauflöslich miteinander verbunden sein.
6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.
Dies ist eine besondere Lehre Baha’u’lláhs, denn die früheren Religionen stellen die Männer über die Frauen. Töchter und Söhne müssen gleichwertige Erziehung und Bildung genießen. Dies wird viel zum Fortschritt und zur Einigung der Menschheit beitragen.
7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.
Alle Propheten Gottes kamen, um die Menschen zu einigen, nicht um sie zu trennen. Sie kamen, um das Gesetz der Liebe zu verwirklichen, nicht um Feindschaft unter sie zu bringen. Daher müssen alle Vorurteile rassischer, völkischer, politischer oder religiöser Art abgelegt werden. Wir müssen zur Ursache der Einigung der ganzen Menschheit werden.
8. Der Weltfriede muss verwirklicht werden.
Alle Menschen und Nationen sollen sich bemühen, Frieden unter sich zu schließen. Sie sollen darnach streben, daß der universale Friede zwischen allen Regierungen, Religionen, Rassen und zwischen den Bewohnern der ganzen Welt verwirklicht wird. Die Errichtung des Weltfriedens ist heutzutage die wichtigste Angelegenheit. Die Verwirklichung dieses Prinzips ist eine schreiende Notwendigkeit unserer Zeit.
9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung geniessen.
Alle Menschen müssen erzogen und belehrt werden. Eine Forderung der Religion ist, daß jedermann erzogen werde und daß er die Möglichkeit habe, Wissen und Kenntnisse zu erwerben. Die Erziehung jedes Kindes ist unerläßliche Pflicht. Für Elternlose und Unbemittelte hat die Gemeinde zu sorgen.
10. Die soziale Frage muss gelöst werden.
Keiner der früheren Religionsstifter hat die soziale Frage in so umfassender, vergeistigter Weise gelöst wie Baha’u’lláh. Er hat Anordnungen getroffen, welche die Wohlfahrt und das Glück der ganzen Menschheit sichern. Wenn sich der Reiche eines schönen, sorglosen Lebens erfreut, so hat auch der Arme ein Anrecht auf ein trautes Heim und ein sorgenfreies Dasein. Solange die bisherigen Verhältnisse dauern, wird kein wahrhaft glücklicher Zustand für den Menschen erreicht werden. Vor Gott sind alle Menschen gleich berechtigt, vor Ihm gibt es kein Ansehen der Person; alle stehen im Schutze seiner Gerechtigkeit.
11. Es muss eine Einheitssprache und Einheitsschrift eingeführt werden.
Baha’u’lláh befahl die Einführung einer Welteinheitssprache. Es muß aus allen Ländern ein Ausschuß zusammentreten, der zur Erleichterung des internationalen Verkehrs entweder eine schon bestehende Sprache zur Weitsprache erklären oder eine neue Sprache als Weltsprache schaffen soll; diese Sprache muß in allen Schulen und Hochschulen der Welt gelehrt werden, damit dann niemand mehr nötig hat, außer dieser Sprache und seiner Muttersprache eine weitere zu erlernen.
12. Es muss ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.
Nach dem Gebot Gottes soll durch das ernstliche Bestreben aller Menschen ein Weltschiedsgerichtshof geschaffen werden, der die Streitigkeiten aller Nationen schlichten soll und dessen Entscheidung sich jedermann unterzuordnen hat.
Vor mehr als 50 Jahren befahl Baha’u’lláh der Menschheit, den Weltfrieden aufzurichten und rief alle Nationen zum „internationalen Ausgleich“, damit alle Grenzfragen sowie die Fragen nationaler Ehre, nationalen Eigentums und aller internationalen Lebensinteressen durch ein schiedsrichterliches „Haus der Gerechtigkeit" entschieden werden können.
Baha’u’lláh verkündigte diese Prinzipien allen Herrschern der Welt. Sie sind der Geist und das Licht dieses Zeitalters. Von ihrer Verwirklichung hängt das Wohlergehen für unsere Zeit und das der gesamten Menschheit ab.
SONNE DER WAHRHEIT Organ des Bahá’i-Bundes, Deutscher Zweig Herausgegeben vom Verlag des Bahá’i-Bundes, Deutscher Zweig, Stuttgart Verantwortliche Schriftleitung: Alice Schwarz - Solivo, Stuttgart, Alexanderstraße 3 Preis vierteljährlich 1,80 Goldmark, im Ausland 2.– Goldmark. |
Heft 5 | Stuttgart, im Juli 1928 Kalimát — Worte |
8. Jahrgang |
Inhalt: An die Bahá’i-Kinder in Stuttgart. — Die Einheit der Sprachen als Mittel zum Größten Frieden. — 'Abdu'l-Bahá über die Gestaltung des Schulunterrichts. — Beantwortete Fragen. — Mashriqu’l-Adhkar. — Geistiges Erleben in Haifa und Akka. — Berichtigung.
Motto: Einheit der Menschheit — Universaler Friede — Universale Religion.
"Heutigen Tages wird Treue in dieser großen Sache Gottes mit der höchsten Gunst des barmherzigen Vaters belohnt."
"Wenn du achtsam bist, dann suche nach der unerschöpflichen Gnade und nach unaufhörlicher Erleuchtung".
'Abdu'l-Bahá
Ein Bahá’i ist zugleich Christ, Jude, Zoroastrier und Mohammedaner.
Die Bahá’i-Lehre ist wie ein Baum, an dessen Zweigen verschiedenerlei Früchte
zu finden sind. Die Bahá’i-Lehre ist das Endziel, zu dem alle Wege hinführen.
Die Geheimnisse des alten Testaments, die Evangelien, das Ziel des
Christentums, die Prinzipien des Islam und die theosophische Lehre sind in
diese Lehre eingeschlossen. Ebenso findet ihr das Hauptsächliche der göttlichen
und materiellen Philosophie darin einbegriffen. Eine Bewegung in diesem
Zeitalter muß universal sein und der Mensch muß die Universalität der Lehre
verkörpern, sonst wird sie keine Erfolge zeitigen. —
'Abdu'l-Bahá.
(Aus Tagebuchblättern von Ahmad Sohrab.)
An die Bahá’i-Kinder in Stuttgart.
Haifa, den 1. Mai 1928.
Liebe Freunde!
Unser Beschützer trug mir auf, Euch für Euren Osterbrief, den Ihr alle unterzeichnet habt, zu danken, wie auch für die Gefühle der Liebe und Anhänglichkeit, die Ihr darin zum Ausdruck gebracht habt.
Er hat sich sehr über Euren Gruß gefreut und bat mich, Euch von der aufrichtigen Liebe zu sagen, die er für Euch hegt. Er betet für Euer aller Glück und Wohlergehen und daß Ihr immer mehr hineinwachsen möget in den Dienst dieser kostbaren Sache, zum Wohle Eurer Mitmenschen und der ganzen weiten Welt.
Ihr müßt versuchen, alle Menschen auf der ganzen Welt zu lieben, wie unser Meister uns gebot, und Ihr müßt Euch bemühen, ein wahres Bahá’i-Leben zu führen. Dann wird 'Abdu'l-Bahá’s Liebe und Sein Segen mit Euch sein und Euch behüten und glücklich machen.
Mit vielen Grüßen von Shoghi Effendi
Euer Bruder in Seinem Dienst
Soheil Afnan.
Es ist meine größte Hoffnung und mein ernstlichstes Gebet, daß Ihr wachsen möchtet
an Tugend, Weisheit und Erkenntnis und daß Ihr des Segens des Allmächtigen in
Seiner ganzen Fülle teilhaftig werdet und Seines Beistandes, um würdige Diener der
Sache Bahá’u’lláhs zu werden. Ich will jedes Einzelnen von Euch am heiligen Grab in
inniger Liebe gedenken und hoffe, daß in nicht allzuferner Zeit es Euch vergönnt
sein möge, eine Pilgerfahrt ins heilige Land zu machen, um am heiligen Schrein
niederknieen zu dürfen.
Euer treuer und wohlwollender Bruder
Shoghi.
Die Einheit der Sprachen als Mittel zum Größten Frieden.
Worte 'Abdu'l-Bahá’s an Esperantisten.
(Gesprochen am 25. Mai 1912 im Hause von Mr. und Mrs. Arthur J. Parson, Washington, D.C., 1700 18th. Street, NW., nach Notizen von Joseph H. Hannen.)
Die größte Notwendigkeit für die Menschheit ist heute, die bestehenden Mißverständnisse unter den Völkern zu beseitigen. Dies kann durch Einheit der Sprache erreicht werden. Ehe die Spracheneinheit nicht zu Stande gekommen ist, kann der größte Friede und die Einheit der Menschenwelt nicht Form erhalten und verwirklicht werden, denn die Aufgabe der Sprache ist es, die Geheimnisse und Verborgenheiten des Menschenherzens aufzuzeichnen. Das Herz ist gleich einem Schrein und die Sprache der Schlüssel dazu. Wir können den Schrein nur öffnen, indem wir uns des Schlüssels bedienen, und dann die Steine schauen, die darin sind. Deshalb ist die Frage einer internationalen Hilfssprache von größter Bedeutung. Durch dieses Mittel wird internationale Bildung und Erziehung ermöglicht, können Erscheinungen und Geschichte der Vergangenheit festgehalten werden. Die Verbreitung der Kenntnisse in der menschlichen Welt hängt von der Sprache ab. Die Erklärung göttlicher Lehren kann nur durch dieses Mittel erfolgen. So lange die Verschiedenheit der Sprachen und der Mangel an Verständnis anderer Sprachen fortbestehen, können diese herrlichen Ziele nicht erreicht werden. Deshalb ist der allererste Dienst an der Menschheit die Einführung dieses internationalen Hilfsmittels der Verbindung. Es wird zur Ursache der Sicherheit für die menschliche Gemeinschaft werden. Wissenschaften und Künste werden dadurch unter den Völkern verbreitet werden, und es wird sich als das Mittel zum Fortschritt und der Entfaltung aller Rassen erweisen. Wir müssen uns mit aller Kraft bemühen, diese internationale Hilfssprache in der ganzen Welt durchzuführen. Ich hoffe, daß sie durch die Güte Gottes vervollkommnet werden wird, und daß intelligente Menschen aus den verschiedenen Ländern der Welt ausgewählt werden, um einen internationalen Kongress abzuhalten, dessen Hauptziel die Einführung dieses internationalen Sprachmittels sein wird.
(Promulgation of Universal Peace, Vol. 1, 1921, S. 57 f. Deutsch von Dr. H. Gr.)
'Abdu'l-Bahá über die Gestaltung des Schulunterrichts.
Das nachfolgende Tablet, das von 'Abdu'l-Bahá an Jenabi Haji Rahim am Bahá’i-Institut in Aschkabad (Turkmenistan) geschrieben wurde, ist ein interessanter Beitrag zur Frage der Schulreform im Sinne der Bahái-Lehre. Es knüpft an die besonderen Verhältnisse jenes sprachlichen Mischgebietes an, doch lassen sich die Ausführungen unschwer auch auf unsere Verhältnisse übertragen.
„Du hast über die Ausbildung der Kinder u. die Entwicklung der Jugend angefragt. Die
Kinder, die im Schatten des Gesegneten Baumes geboren und in der Wiege der Führung
und an der Brust der Gnade genährt worden sind, müssen von Anfang an durch
ihre Mütter göttlich erzogen werden. Das heißt, daß die Mütter nach und nach Gott
erwähnen, von Gottes Größe sprechen und
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die Notwendigkeit der Gottesehrfurcht dem Kinde vor Augen führen müssen. Mit größter
Zartheit, Güte und Liebe müssen sie für das Kind sorgen, so daß schon ganz kleine
Kinder den Duft der Gottesliebe von Anfang an atmen und durch den Hauch der
göttlichen Führung geweckt werden. Diese Führung ist die Grundlage jeder Erziehung
wie aller Dinge überhaupt.
Wenn ein Kind in das Alter kommt, in dem es Recht u. Unrecht zu unterscheiden vermag, muß es in den Religionsunterricht eintreten, in dem zuerst die Worte Gottes gelesen und ihm die religiösen Lehren beigebracht werden. In dieser Schule muß das Kind lesen und schreiben lernen und einiges Grundwissen sich aneignen, soweit es hier erlernbar ist. Der Lehrer muß folgendermaßen verfahren: er muß die Kinder den Griffel führen lehren und sie in Gruppen einteilen, in denen er sie nach Begabung und Fähigkeit gruppenweise ausbildet und erzieht. Die Kinder sollten hier in Reihen gesetzt werden, die Feder in der Hand und das Papier vor sich liegen haben, ebenso sollte der Lehrer eine schwarze Tafel vor der Klasse stehen haben. Er schreibt darauf mit Kreide einen Buchstaben, und die Kinder tun es ihm nach und zeichnen diesen Buchstaben nach. Er schreibt z.B. ein A (Alif) und spricht dazu „dies ist ein A“ die Kinder schreiben gleichfalls und sagen: „dies ist ein A“. So sollte mit allen Buchstaben des Alphabets verfahren werden. Haben die Kinder sie gelernt, so sollten die Buchstaben vom Lehrer zusammengestellt werden, die Kinder es ihm nachtun und auf ihr Papier schreiben, so daß sie die Worte kennen lernen.
Dann schreibt der Lehrer einen Satz, den die Kinder nachschreiben. Er macht den Sinn des Satzes verständlich, und wenn die Kinder einigermaßen im Persischen fortgeschritten sind, so sollten die Lehrer zunächst einsilbige Worte übersetzen und die Schüler nach der Bedeutung dieser Worte fragen. Hat ein Kind die Bedeutung des Wortes erfaßt und kann es übersetzen, so lobe es der Lehrer. Kann keines übersetzen, so schreibe der Lehrer die Uebersetzung in irgend einer anderen Sprache unter das Wort. Er schreibe z.B. „sama“ (arabisch: Himmel) und frage nach der Bedeutung dieses Wortes auf persisch. Sagt ein Kind, die persische Bedeutung sei „asma“ (persisch: Himmel), so lobe und ermutige es der Lehrer. Ist keines zur Wiederholung imstande, tue er es selbst und lasse es die Kinder schreiben. Dann sollte er nach der Bedeutung des gleichen Wortes auf Russisch, Französisch oder Türkisch fragen. Kennen sie das Wort zufällig, so ist es umso besser, und wenn sie es nicht kennen, so muß es der Lehrer ins Russische oder Französische übersetzen und an die Wandtafel schreiben, und die Kinder sollen es nachschreiben.
Haben die Kinder einigermaßen Uebung in der Uebersetzung einfacher Worte, so stelle der Lehrer sie zusammen, schreibe einen Satz an die Wandtafel und frage die Kinder nach seiner Bedeutung. Ist diese ihnen nicht bekannt, erkläre der Lehrer die Bedeutung. Werden mehrere Sprachen angewandt, so ist es sehr gut (je mehr, desto besser), denn dadurch werden die Kinder in einer kurzen Zeit, d. h. in drei Jahren, durch Schreiben Uebung in den Sprachen erlangen und fähig sein, einen Aufsatz aus einer Sprache in die andere zu übersetzen.
Das Gebet.
Wenn die Kinder darin Fähigkeiten erworben haben, mögen sie mit dem Studium der Elementarwissenschaften beginnen und ihre Studien vervollständigen. Dann mag jeder, der es wünscht und kann, das Studium der verschiedenen Fächer in den höheren Schulen fortsetzen, aber nicht alle können ihrer Begabung nach die höheren Fächer und höhere Wissenschaft studieren.
Nach diesem Elementarunterricht müssen die Kinder in die Kunst- oder Gewerbeschule
geschickt werden, in denen sie Kunstgewerbe oder Handwerke erlernen können. Sind
sie mit einem der Kunstgewerbe oder Handwerke vertraut, so muß der Wunsch und die
Neigung eines jeden Kindes berücksichtigt werden. Hat es Sinn und Interesse für den
Handel, so muß es für diesen ausgebildet werden, hat es Begabung zum Studium, so
muß seine Ausbildung die Grundlage dafür schaffen, und steht sein Wunsch nach einem
andern Beruf, soll es für diesen Zweck erzogen werden. Jedem muß gestattet sein,
sich nach eigenen Wünschen und der Begabung entsprechend auszubilden; die
Grundlage aller Grundlagen aber ist göttlich und besteht in dem Ausdruck edler
menschlicher Eigenschaften und hoher Gesinnung. Das muß vor allem andern beachtet werden.
Wenn jemand ungebildet, aber mit göttlichen Eigenschaften ausgestattet und vom
Hauch des Heiligen Geistes belebt ist, so tut ihm seine Unbildung keinen Abbruch,
auch gereicht eine solche Seele allen zum Wohl. Aber wenn ein Mensch alle Wissenszweige
studiert hat und weder vertrauenswürdig noch mit göttlichen Eigenschaften
ausgestattet ist oder keine edlen Absichten
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hegt, so wird er in seiner Eigensucht untergehen und andern durch sein Dasein
unbedingt schaden. Ein solcher Mensch wird auch durch Wissen und Lernen nichts
erreichen als Schädigung und Unehre. Wenn dagegen seine Eigenschaften göttlich, seine
Fähigkeiten rühmlich, sein Verhalten edel und sein Tun lobenswert ist und er sich
zugleich alle erdenkbaren Wissenschaften aneignet, so wird er leuchten und innerlich
strahlen, sein Herz ist empfänglich, seine Gedanken erhaben, seine Erkenntnis tief
und sein Zustand herrlich. Gesegnet ist, wer diese hohe Stufe erreicht!
(Aus dem Persischen von Chodsea Ashraf, 1915 Magaz. o. t. Ch. III, 1, S. 20 ff, aus dem Englischen von Dr. H. Gr.)
Beantwortete Fragen.
Worte 'Abdu'l-Bahás
gesammelt und aus dem Persischen übersetzt von Laura Clifford Barney. Autorisierte und überprüfte deutsche Uebersetzung von Wilhelm Herrigel.
(Fortsetzung.)
72. Kapitel.
Heilung durch geistige Mittel.
Frage: Manche Menschen heilen Kranke durch geistige Mittel, d. h. ohne Medizin. Wie geht dies vor sich?
Antwort: Wisset, daß es vier Arten von Heilung ohne Medizin gibt. Zwei von ihnen sind materiellen und zwei geistigen Ursachen zuzuschreiben.
Von den zwei Arten materieller Heilung ist eine der Tatsache zuzuschreiben, daß bei den Menschen sowohl Gesundheit als Krankheit ansteckend ist. Die Ansteckung der Krankheit wirkt heftig und rasch, während die der Gesundheit äußerst schwach und langsam wirkt. Wenn zwei Körper miteinander in Verbindung gebracht werden, so ist es gewiß, daß sehr kleine Teilchen von dem einen auf den andern übergehen. Wie die Krankheit durch schnell und heftig wirkende Ansteckung von einem Körper auf einen andern übertragen wird, so ist es auch möglich, daß die gute Gesundheit eines Gesunden eine leichte Krankheit eines andern Menschen mildern kann. Das heißt, die Ansteckung der Krankheit wirkt heftig und rasch, während die der Gesundung sehr langsam vor sich geht und nur eine schwache Wirkung hat und zwar lediglich in leichten Krankheitsfällen. Die starke Kraft eines gesunden Körpers kann die leichte Schwäche eines kranken Körpers überwinden und die Gesundheit wieder herstellen. Dies ist eine Art der Heilung.
Die andere Art von Heilung ohne Medizin geschieht durch magnetische Kraft, die von einem Körper auf einen andern wirkt und so zur Ursache der Heilung wird. Diese Kraft hat ebenfalls nur eine geringe Wirkung. Zuweilen kann jemand einem Kranken dadurch nützen, daß er ihm die Hand auf den Kopf oder auf das Herz legt. Warum? Wegen der Wirkung des Magnetismus und des geistigen Einflusses, der dadurch auf den Kranken ausgeübt wird. Dies verursacht, daß die Krankheit verschwindet. Aber auch diese Wirkung ist nur eine schwache.
Von den zwei andern Arten der Heilung, die geistiger Natur sind, d. h. deren
Heilmittel in einer geistigen Kraft besteht, ist zu sagen: Die eine besteht in der
gänzlichen Konzentration des Geistes eines starken Menschen auf einen Kranken; wenn der
Kranke in völligem Glauben erwartet, daß er von der geistigen Kraft des starken
Menschen Heilung erlangt, so wird in dem Maße, als er darauf vertraut, eine belebende
Verbindung zwischen dem Gesunden und dem Kranken hergestellt. Der Gesunde
macht jede nur mögliche Anstrengung, um den Kranken zu heilen und der Kranke
glaubt bestimmt, daß er dadurch geheilt wird. Durch die Wirkung dieses geistigen
Einflusses wird eine Anregung der Nerven erzielt, und dieser Einfluß und die
Nervenanregung werden zur Ursache der Wiederherstellung des Kranken. Wenn z. B.
ein Kranker einen lebhaften Wunsch hegt und eine bestimmte Hoffnung auf etwas
setzt und er hört plötzlich, daß ihm dieser Wunsch erfüllt wird, so wird dadurch eine
Anregung der Nerven verursacht, die bewirkt, daß die Krankheit gänzlich verschwindet.
So kann auch bei einem gesunden Menschen eine Reizung der Nerven durch
einen plötzlichen Schrecken verursacht werden, was dann eine sofortige Krankheit
herbeiführen kann. Diese Krankheit wird aber
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durch keinen materiellen Anlaß verursacht, denn der Patient hat weder etwas Schädliches
gegessen noch berührt; die Reizung der Nerven ist daher in einem solchen Fall die
einzige Ursache der Krankheit. So mag auch die plötzliche Erfüllung eines lebhaften
Wunsches eine solche Freude verursachen, daß dadurch die Nerven angeregt werden und
Genesung erzielt wird.
Kurz gesagt, die vollständige und vollkommene Verbindung zwischen dem geistigen Heiler und dem Patienten verursacht eine Anregung der Nerven, wodurch die Gesundheit wiederhergestellt wird. Dies muß aber eine derartige Verbindung sein, daß sich der geistige Heiler gänzlich auf den Patienten konzentriert und der Kranke seine ganze Aufmerksamkeit dem geistigen Heiler zuwendet, von dem er seine Heilung erwartet. Dies alles hat aber nur eine Wirkung bis zu einem gewissen Grad und nicht einmal in allen Fällen; denn wenn jemand von einer sehr heftigen Krankheit befallen wird oder eine Verletzung erleidet, so wird diese Behandlung weder die Krankheit beseitigen noch die Wunden schließen und heilen. Das heißt, diese Heilweise hat keine Macht bei ernsten Krankheiten, sofern nicht die Konstitution des Patienten mithilft, denn eine kräftige Konstitution überwindet oftmals die Krankheit. Dies ist die dritte Art der Heilung.
Aber die vierte Art der Heilung wird durch die Macht des Heiligen Geistes bewirkt. Diese ist unabhängig von Berührung, Blick, Anwesenheit oder irgend einer Bedingung. Die Krankheit mag leichter oder ernster Natur sein, es kommt nicht darauf an, ob eine Berührung des Körpers oder eine persönliche Verbindung zwischen dem Kranken und dem Heiler besteht oder nicht. Diese Heilung geht allein durch die Macht des Heiligen Geistes vor sich.
73. Kapitel.
Heilung durch materielle Mittel.
Gestern sprachen wir an dieser Tafel über verschiedene Heilweisen und über geistige Heilungen. Heute wollen wir über materielle Heilung reden.
Die medizinische Wissenschaft befindet sich noch in einem Zustand der Kindheit, sie hat die Reife noch nicht erlangt. Wenn sie aber diese Stufe einmal erreicht hat, dann werden Heilungen zustande kommen durch Mittel, die weder den Geruchsinn noch den Geschmacksinn des Menschen beleidigen, d. h. die Heilmittel werden aus Früchten und Pflanzen bestehen, die dem Geschmack des Menschen angenehm sind und Wohlgeruch haben. Die Ursache der Krankheit, d. h. das, was die Krankheit im menschlichen Körper veranlaßt, ist entweder eine physische Ursache oder es ist die Wirkung einer Ueberreizung der Nerven.
Die Hauptursachen der Krankheiten sind aber physischer Natur, denn der menschliche Körper ist zusammengesetzt aus zahlreichen Elementen, aber nach Maßgabe eines besonderen Gleichgewichts. Solange dies Gleichgewicht erhalten bleibt, ist der Mensch gesund, wenn aber dies notwendige Gleichgewicht, der Drehpunkt der Konstitution, gestört wird, dann gerät die Konstitution in Unordnung und unvermutet tritt Krankheit ein.
Es kommt z. B. vor, daß ein Bestandteil des menschlichen Körpers abnimmt und ein
anderer sich vermehrt; dadurch wird das richtige Gleichgewicht gestört und Krankheit
ist die Folge. Um das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten, muß z. B. ein Bestandteil
vielleicht 1000 Gramm, ein anderer nur fünf Gramm wiegen. Wenn sich nun der
Teil, der 1000 Gramm wiegt, auf 700 Gramm vermindert und der andere, der nur fünf
Gramm wiegt, vermehrt, bis das Gleichgewicht gestört ist, dann tritt Krankheit ein.
Wenn es nun gelingt, das Gleichgewicht durch Heilmittel und Behandlung
wiederherzustellen, dann ist die Krankheit beseitigt. Vermehrt sich z. B. der Zuckergehalt
des Körpers, wird sich die Gesundheit vermindern; wenn aber der Arzt süße und
stärkehaltige Speisen verbietet, so vermindert sich der Zuckergehalt, das Gleichgewicht
wird wiederhergestellt und die Krankheit beseitigt. Diese Wiederherstellung des
Gleichgewichts in den Bestandteilen des menschlichen Körpers wird auf zweierlei
Art erlangt, durch Medizin oder durch Nahrungsmittel, und wenn das Gleichgewicht
der Konstitution wiederhergestellt ist, dann verschwindet die Krankheit. Alle
Elemente, aus denen der Mensch zusammengesetzt ist, sind auch in den Pflanzen
vorhanden; wenn sich daher einer der Bestandteile des menschlichen Körpers vermindert
und der Mensch genießt solche Speisen, die viel von diesem Bestandteil enthalten, dann
wird das Gleichgewicht wiederhergestellt und die Gesundheit wiedererlangt. Solange die
Wiederherstellung der einzelnen Körperbestandteile angestrebt wird, kann sie auch
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erlangt werden, durch Medizin oder durch richtige Nahrung.
Die meisten Krankheiten, von denen der Mensch befallen wird, kommen auch bei dem Tier vor, aber das Tier wird nicht durch Arznei geheilt. In den Bergen, in der Wildnis ist der Geruch und der Geschmack des Tieres Arzt. Das kranke Tier riecht die Pflanzen, die in der Wildnis wachsen, es frißt diejenigen, die seinem Geruch und Geschmack bekommen, und dadurch wird es geheilt. Wenn sich der Zuckergehalt im Körper des Tieres vermindert hat, fängt das Tier an, sich nach süßer Nahrung zu sehnen; deshalb frißt es süße Kräuter, denn die Natur drängt und leitet es hierzu. Solche Kräuter sagen dann seinem Geruch und Geschmack zu und es frißt sie. Die zuckerhaltigen Bestandteile in seinem Körper vermehren sich und die Gesundheit wird wiederhergestellt.
Daraus geht klar hervor, daß es möglich ist, mit Nahrungsmitteln und Früchten zu heilen. Da aber heute die medizinische Wissenschaft noch unvollkommen ist, so ist diese Tatsache noch nicht völlig erfaßt. Wenn sich die medizinische Wissenschaft weiter vervollkommnet, werden die Krankheiten mit Nahrungsmitteln, wohlschmeckenden Früchten und Pflanzen sowie mit verschiedenem Wasser, heiß und kalt in der Temperatur, behandelt werden.
Diese Erklärung ist nur kurz, aber — so Gott will — werde ich die Frage ein andermal ausführlicher erklären.
V. Teil.
Verschiedene Themen.
74. Kapitel.
Die Nichtexistenz des Bösen.
Dies Thema genau zu erklären, ist sehr schwierig. Wisset, daß es zweierlei Arten von Wesen gibt, materielle und geistige, solche, die durch die Sinne und solche, die durch den Geist wahrnehmbar sind.
Mit den Sinnen wahrnehmbare Dinge können wir nur mit den fünf physischen Sinnen entdecken. So werden diese äußeren Daseinsformen, die das Auge sieht, „mit den Sinnen wahrnehmbare“ genannt. Intellektuelles aber hat keine äußere Existenz, sondern es wird von der Vernunft wahrgenommen. Die Vernunft selbst z. B. ist etwas intellektuelles, das keine äußere Daseinsform hat. Alle Charaktereigenschaften des Menschen haben eine geistige Existenz und keine mit den Sinnen wahrnehmbare.
Kurz gesagt‚ die geistigen Wesenheiten, wie die gesamten Eigenschaften und bewundernswerten Vorzüge des Menschen sind absolut gut und tatsächlich vorhanden. Das Böse ist lediglich ihr Nichtvorhandensein. So ist Unwissenheit Mangel an Wissen, Irrtum Mangel an rechter Führung, Vergeßlichkeit Mangel an Gedächtnis und Dummheit Mangel an Verständnis. Dies alles hat keine wirkliche Existenz.
So sind auch die mit den Sinnen wahrnehmbaren Wesenheiten absolut gut, und das Uebel ist nur ihrem Nichtvorhandensein zuzuschreiben. Blindheit ist also Mangel an Gesicht, Taubheit Mangel an Gehör, Armut Mangel an Reichtum, Krankheit Mangel an Gesundheit, Tod Mangel an Leben und Schwachheit Mangel an Kraft.
Aber die Vernunft möchte dies bezweifeln, denn es wird gesagt: Skorpione und Schlangen seien giftig. Sind sie nun gut oder böse? Sie sind doch auch lebendige Geschöpfe! Ja, in seinem Verhältnis zum Menschen ist ein Skorpion böse, und auch eine Schlange ist in ihrem Verhältnis zum Menschen böse, aber an sich sind sie nicht böse, denn ihr Gift ist nur ihre Waffe und mit ihrem Stachel und ihren Zähnen verteidigen sie sich. Da sich aber die Elemente ihres Gifts nicht mit unseren Elementen vertragen, d. h. weil zwischen diesen verschiedenen Elementen ein Gegensatz besteht, so ist es dieser Gegensatz, der böse ist; aber an sich sind auch Skorpione und Schlangen gut.
Der Sinn dieser Erklärung ist, daß ein Wesen in seiner Beziehung zu einem andern Wesen böse sein mag, aber gleichzeitig innerhalb seiner eigenen Grenzen nicht böse zu sein braucht. Damit ist bewiesen, daß es im Dasein nichts Böses gibt; alles, was Gott erschuf, erschuf Er gut. Somit ist das Böse ein Nichts und der Tod die Abwesenheit des Lebens. Wenn dem Menschen das Leben entzogen wird, stirbt er. Finsternis ist nur die Abwesenheit des Lichts. Wenn kein Licht vorhanden ist, herrscht Dunkelheit. Das Licht hat Existenz, aber die Finsternis ist etwas Nichtexistierendes. Der Reichtum hat Existenz, aber die Armut ist etwas Nichtexistierendes.
Es ist also offenbar, daß alles Böse in die Nichtexistenz versinkt. Das Gute existiert,
das Böse hat keine Existenz.
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75. Kapitel,
Es gibt zwei Arten von Qual.
Wisset, daß es zwei Arten von Qual gibt, eine feinere und eine gröbere. Unwissenheit z. B. ist an sich eine Qual, aber eine der feineren Art. Gleichgültigkeit gegenüber Gott ist an sich eine Qual, ebenso Falschheit, Grausamkeit und Verrat. Alle Unvollkommenheiten sind Qualen, aber sie gehören zu den feineren Qualen. Ein kluger Mensch sieht den Tod sicherlich für besser an als Sünde und eine abgeschnittene Zunge erscheint ihm besser als Lüge oder Verleumdung.
Die andere, größere Art von Qual besteht in Bestrafung, Gefangenschaft, Mißhandlung, Vertreibung und Verbannung. Für das Volk Gottes aber ist die Trennung von Gott die größte aller Qualen.
76. Kapitel.
Die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes.
Gerecht zu sein heißt, jedermann nach seinem Verdienst zu geben. Wenn z.B. ein Arbeiter von morgens bis abends arbeitet, so erfordert es die Gerechtigkeit, daß er seinen Lohn dafür empfängt; wenn er aber nichts gearbeitet und sich keine Mühe gegeben hat und dennoch etwas erhält, so ist dies ein Geschenk, eine Wohltat. Wenn ihr einem armen Menschen, der nichts für euch gearbeitet und somit nichts verdient hat, Almosen und Gaben verabreicht, so ist dies eine Wohltat. So bat Christus um Vergebung für Seine Mörder, dies ist eine Wohltat genannt.
Die Frage, ob gut oder böse wird entweder durch die Vernunft oder durch das Gesetz entschieden. Manche glauben, sie werde nur durch das Gesetz entschieden. Die Juden z. B. glauben, daß alle Gebote im Pentateuch absolut obligatorisch seien, sie halten dies für Fragen des Gesetzes und nicht der Vernunft. So sagen sie, nach einem Gebot des Pentateuch sei es ungesetzlich, an einem Mahl teilzunehmen, das aus Fleisch und auch aus Butter bestehe, weil dies „taref“ sei, und „taref" bedeutet im Hebräischen unrein, wie das Wort „koscher“ rein bedeutet. Sie sagen, dies sei eine Frage des Gesetzes und nicht der Vernunft.
Die Theologen aber glauben, Gutes und Böses hänge von beiden, von Vernunft und Gesetz ab. Die Hauptgrundlage für das Verbot des Diebstahls, des Verrats, des Betrugs, der Heuchelei und der Grausamkeit ist die Vernunft. Jeder denkende Mensch begreift, daß Mord, Diebstahl, Verrat, Betrug, Heuchelei und Grausamkeit böse und tadelnswert sind; denn, wenn ihr einen Menschen auch nur mit einem Dorn stecht, so wird er schreien, klagen und weinen. Daher versteht er ohne weiteres, daß gemäß der Vernunft ein Mord etwas Böses und Tadelnswertes ist. Wenn er einen Mord begeht, so wird er dafür verantwortlich, einerlei ob ihn der Ruf des Propheten erreicht hat oder nicht, denn schon die Vernunft erkennt den tadelnswerten Charakter der Tat. Wenn jemand eine böse Tat begeht, so ist er auch dafür verantwortlich.
Wo aber die Gebote eines Propheten nicht bekannt sind, und wo die Menschen nicht in Uebereinstimmung mit den göttlichen Unterweisungen handeln, wie z. B. nach dem Befehl Christi, Böses mit Gutem zu vergelten, sondern wo sie handeln gemäß ihrer natürlichen Wünsche, indem sie die wieder quälen, die sie quälen, sind sie vom religiösen Standpunkt aus entschuldigt, weil ihnen die göttlichen Gebote nicht bekannt waren. Obwohl sie keine Gnade und Wohltat verdienen, läßt ihnen Gott doch Barmherzigkeit widerfahren und vergibt ihnen.
Auch die Rache ist schon gemäß der Vernunft tadelnswert, weil der Rächer durch Rache niemals ein gutes Resultat erzielt. Welcher Vorteil wird wohl erlangt, wenn ein Mensch einen andern schlägt und der Geschlagene gibt ihm die Schläge zurück? Wird dies für seine Wunden ein Balsam oder ein Heilmittel für seine Schmerzen sein? Nein, wahrlich nicht! In Wirklichkeit sind sich diese zwei Handlungen gleich, denn beide sind unrecht; der einzige Unterschied zwischen ihnen ist der, daß der eine zuerst schlug und der andere hernach. Wenn dagegen der Mißhandelte vergibt, ja sogar dem, der ihn mißhandelte, Gutes erweist, so ist dies lobenswert. Das Landesgesetz wird den Angreifer bestrafen, aber keine Rache an ihm nehmen. Diese Bestrafung hat den Zweck, die Menschen zu warnen, sie zu schützen und Grausamkeit und Gesetzesübertretungen zu bekämpfen, damit die Menschen nicht gewalttätig seien.
Wenn aber der Mißhandelte verzeiht und vergibt, so erzeigt er damit die größte
Barmherzigkeit. Eine solche Handlung ist bewundernswert.
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77. Kapitel.
Die richtige Behandlungsweise der Verbrecher.
Frage: Soll ein Verbrecher bestraft werden oder soll man ihm vergeben und den Fehler übersehen?
Antwort: Es gibt zwei Arten vergeltender Bestrafung. Die eine Art ist Rache, die andere Strafe. Der Mensch hat kein Recht, Rache zu nehmen, aber die Gesellschaft hat das Recht, den Verbrecher zu bestrafen, und diese Bestrafung soll dazu dienen, andere vor Begehung eines gleichen Verbrechens abzuschrecken. Eine solche Bestrafung soll die Rechte des Menschen schützen, sie ist aber keine Rache. Die Rache stillt den Zorn des menschlichen Herzens dadurch, daß man einem Uebel mit einem andern begegnet. Dies ist nicht statthaft, denn der Mensch hat nicht das Recht, Rache zu üben. Wenn aber den Verbrechern gänzlich vergeben würde, so würde dadurch die Ordnung der Welt gestürzt. Für die Sicherheit der menschlichen Gesellschaft ist daher die Bestrafung der Verbrecher unbedingt notwendig; aber der, dem von einem Uebertreter ein solches Unrecht zugefügt wird, hat kein Recht, Rache zu nehmen, im Gegenteil, er sollte vergeben und verzeihen, denn dies ist menschenwürdig.
Die menschliche Gesellschaft, d. h. das Gesetz, muß die Bedrücker, die Mörder und Uebeltäter bestrafen, um damit andere zu warnen und sie vom Begehen ähnlicher Verbrechen abzuhalten. Weit wichtiger aber ist es, die Menschen so zu erziehen, daß keine Verbrechen mehr begangen werden. Und es ist möglich, die Massen so zu erziehen, daß sie sich vor dem Begehen von Verbrechen hüten, ja, daß ihnen sogar das Verbrechen selbst als die größte Strafe, als äußerste Verdammung und als Qual erscheint. Alsdann wird kein Verbrechen mehr begangen werden, das Bestrafung erfordern würde.
Unsere Aufgabe ist es, darüber zu sprechen, was in dieser Welt ausführbar ist. Ueber dies Thema gibt es so viele Theorien und hohe Ideen, die aber nicht durchführbar sind. Deshalb müssen wir von dem sprechen, was wirklich möglich ist. Wenn z. B. ein Mensch einen andern unterdrückt, ihm Schaden zufügt und Unrecht tut und dieser es ihm vergilt, so ist dies Rache und daher tadelnswert. Wenn der Sohn Amrus den Sohn des Zaid tötet, so hat Zaid kein Recht, den Sohn Amrus zu töten; tut er es aber doch, so übt er Rache. Wenn Amrus den Zaid beschimpft, so hat letzterer kein Recht, den Amrus ebenfalls zu beschimpfen; tut er es dennoch, so übt er Rache, und dies ist sehr tadelnswert. Nein! Er muß das Böse vielmehr mit Gutem vergelten, und nicht nur vergeben, sondern wenn irgend möglich, seinem Bedrücker noch gute Dienste leisten. Ein solches Benehmen ist des Menschen würdig. Und welchen Vorteil hat er davon, wenn er Rache nimmt? Beide Handlungen sind sich gleich; wenn die eine Handlung tadelnswert ist, so ist es die andere auch. Der einzige Unterschied besteht darin, daß die eine Handlung früher und die andere später begangen wurde.
Aber die Gesamtheit hat das Recht, sich zu verteidigen und zu schützen; sie hegt aber weder Haß noch Erbitterung gegen den Mörder, sie hält ihn nur gefangen und bestraft ihn zum Schutz und zur Sicherheit der andern. Dies geschieht aber nicht in der Absicht, an dem Mörder Rache zu nehmen, sondern um eine Strafe über ihn zu verhängen, wodurch die Gesamtheit geschützt wird. Wenn sowohl die Gesamtheit als die Angehörigen eines Ermordeten dem Mörder nachsehen und ihm Gutes für Böses erweisen würden, dann würde der Grausame in seinem schlechten Tun fortfahren und Mord und Totschlag würden kein Ende nehmen. Lasterhafte Menschen würden gleich Wölfen die Schafe Gottes vernichten. Mit der Bestrafung will die menschliche Gesellschaft keinen bösen Willen oder Haß gegen den Mörder zum Ausdruck bringen, noch den Zorn des Herzens stillen; ihre Absicht ist nur, andere durch diese Bestrafung derart zu schützen, daß weitere grausame Taten nicht mehr begangen werden.
Wenn z. B. Christus sagte: „So dich jemand schlägt auf deinen rechten Backen, dem biete den linken auch dar“, so geschah dies in der Absicht, die Menschen zu lehren, keine persönliche Rache zu üben. Er wollte damit nicht sagen, daß man einen Wolf, der in eine Schafherde einfällt, um sie zu vernichten, noch dazu ermutigen sollte. Nein, wenn Christus gewußt hätte, daß ein Wolf in Seine Herde eingefallen wäre, um die Schafe zu vernichten, so würde Er dies ganz sicher verhindert haben.
Wie das Verzeihen eine Eigenschaft des Barmherzigen ist, so ist auch die Gerechtigkeit
eine Eigenschaft des Herrn. Das Zelt der Existenz ist aufgerichtet auf dem Pfeiler
der Gerechtigkeit und nicht auf dem der Verzeihung. Der Fortbestand der Menschheit ist
abhängig von Gerechtigkeit und nicht von
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Vergebung. Wenn z. B. gegenwärtig das Gesetz der Verzeihung in allen Ländern
angewendet würde, so würde die Welt in kurzer Zeit in Unordnung geraten und die
Fundamente des menschlichen Lebens würden zerbröckeln. Wenn die Regierungen
Europas dem berüchtigten Attila nicht Einhalt geboten hätten, so würde er keinen
einzigen Menschen am Leben gelassen haben.
Manche Menschen sind wie blutdürstige Wölfe; wenn sie keine Bestrafung zu befürchten hätten, würden sie die Menschen zum Vergnügen und zum Zeitvertreib töten. Einer der Tyrannen Persiens tötete einen Hofmeister lediglich aus Uebermut und zum Spaß. Der berüchtigte Mutawakkil, der Abbasside, versammelte seine Minister, Räte und Beamten um sich und ließ eine Schachtel, gefüllt mit Skorpionen, in dieser Versammlung öffnen, dabei verbot er ihnen, sich irgendwie von der Stelle zu rühren. Als dann die Anwesenden von Skorpionen gestochen wurden, lachte er aus vollem Halse.
Kurz wiederholend können wir sagen, die richtige Beschaffenheit der menschlichen Gesellschaft ist von Gerechtigkeit und nicht von Verzeihung abhängig. Wenn Christus von Vergebung und Verzeihung sprach, so meinte Er damit nicht, daß ihr ruhig zusehen und die Grausamkeiten und Unterdrückungen tyrannischer Feinde dulden sollt, die euch angreifen, eure Heimstätten verbrennen, eure Habe plündern, eure Frauen, Kinder und Verwandten überfallen und eure Ehre schänden. Nein, die Worte Christi beziehen sich auf das Verhalten von Mensch zu Mensch; wenn ein Mensch einen andern angreift, so soll der Angegriffene verzeihen. Aber die Gesamtheit muß die Rechte des Menschen schützen. Würde z. B. jemand mich überfallen, verletzen, bedrücken und verwunden, so würde ich ihm keinerlei Widerstand leisten und ich würde ihm vergeben. Wenn aber jemand Seyyid Manschadi*) angreifen wollte, so würde ich ihn sicherlich daran hindern. Obwohl dem Uebeltäter ein Nichteingreifen meinerseits offenbar eine Gefälligkeit wäre, so wäre es doch gleichzeitig eine Härte gegenüber Manschadi. Wenn jetzt ein wilder Araber mit einem gezogenen Schwert hier eindringen würde und euch überfallen, verwunden und töten wollte, so würde ich ihn sicherlich daran hindern. Würde ich euch der Willkür dieses Arabers überlassen, so wäre dies nicht gerecht, sondern ungerecht. Wenn er aber mich selbst verletzen würde, so würde ich ihm verzeihen.
*) Ein bei der Tafel anwesender Bahá’i.
Etwas muß aber noch gesagt werden: Die menschliche Gesellschaft ist Tag und Nacht damit beschäftigt, Strafgesetze zu erlassen und Mittel und Wege zur Bestrafung zu ersinnen. Sie baut Gefängnisse, macht Ketten und Fesseln, richtet Verschickungs- und Verbannungsorte ein, ersinnt verschiedene Arten von Härten und Foltern und glaubt mit diesen Mitteln die Verbrecher erziehen und bessern zu können, während sie in Wirklichkeit mit diesen Mitteln die Moral vernichtet und den Charakter verdirbt. Die menschliche Gesellschaft sollte im Gegenteil mit größtem Eifer Tag und Nacht danach streben, die Erziehung der Menschen zu vervollkommnen, sie zu veranlassen, Tag für Tag Fortschritte zu machen, sich in Wissenschaft und Erkenntnis zu vervollkommnen, Tugenden und gute Sitten zu erlangen und das Laster zu meiden, damit Verbrechen überhaupt nicht mehr begangen werden. Heute ist das Gegenteil der Fall, die menschliche Gesellschaft denkt an Verschärfung der Strafgesetze, an neue Bestrafungsmittel, sie ersinnt Hinrichtungs- und Züchtigungswerkzeuge, erbaut Gefängnisse und richtet Verbannungsorte ein — sie erwartet, daß Verbrechen begangen werden. Dies hat aber eine demoralisierende Wirkung.
Wenn sich aber die menschliche Gesellschaft bemühen würde, die Massen zu erziehen, dann würde sich Erkenntnis und Wissen Tag für Tag vergrößern, das Verständnis würde erweitert, das rechte Empfinden entwickelt, die Gebräuche würden gut und die Moral mustergültig werden. Mit einem Wort, die Menschheit würde in allen Tugenden Fortschritte machen und dadurch würden weniger Verbrechen begangen werden.
Es steht fest, daß bei den unzivilisierten Völkern mehr Verbrechen begangen werden als bei den zivilisierten, d. h. bei denen, die wahre Zivilisation erlangt haben, nämlich göttliche Zivilisation, die Zivilisation derer, die alle geistigen und materiellen Vortrefflichkeiten vereinen. Da Unwissenheit die Ursache von Verbrechen ist, so werden sich die Verbrechen in dem Maße vermindern, wie sich Erkenntnis und Wissen vermehren. Bedenket, wieviele Mordtaten unter den Wilden Afrikas begangen werden, sie töten sogar einander, um das Fleisch und Blut ihrer Mitmenschen zu verspeisen. Warum kommen solche barbarische Taten nicht in der Schweiz vor? Die Antwort ist einfach, weil Erziehung und Tugend die Bewohner der Schweiz daran hindern.
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Deshalb muß die menschliche Gesellschaft mehr darauf bedacht sein, die Verbrechen
zu verhindern, als sie rücksichtslos zu bestrafen.
78. Kapitel.
Streiks.
Ihr habt mich über Streiks gefragt. Diese Frage ist augenblicklich und wohl noch für eine lange Zeit der Gegenstand großer Schwierigkeiten. Streiks sind zweierlei Ursachen zuzuschreiben. Die eine besteht in der außerordentlichen Härte und Habgier der Kapitalisten und Fabrikanten, die andere in den Ausschreitungen, der Gier und der Mißgunst der Arbeiter und Handwerker. Es ist daher notwendig, diese beiden Ursachen zu beseitigen.
Aber die Hauptursache all dieser Schwierigkeiten liegt in den Gesetzen der heutigen Zivilisation. Diese verhelfen einer kleinen Anzahl von Menschen zur Anhäufung großer Reichtümer, die weit über ihre Bedürfnisse hinausgehen, während die Mehrzahl der Menschen des Notwendigsten beraubt, in kümmerlichen Verhältnissen und oft im größten Elend verbleibt. Dies widerspricht der Gerechtigkeit, der Menschenfreundlichkeit und der Billigkeit; es ist die Höhe der Ungerechtigkeit, das Gegenteil von dem, was himmlische Zufriedenheit verursacht.
Diese Gegensätze sind aber nur unter der Menschheit zu finden, denn nahezu in der ganzen Tierwelt gibt es eine Art von Gerechtigkeit und Gleichheit. Bei einer Schafherde, bei einem Rudel Rotwild sowie bei den Vögeln des Waldes, der Ebenen, der Berge und der Gärten hat fast jedes Tier einen gerechten Anteil an Gleichheit. Unter ihnen ist kein solcher Unterschied in den Existenzmitteln zu finden, und darum leben sie im vollkommenen Frieden und in höchster Freude.
Ganz anders ist es bei den Menschen, die im größten Irrtum und in absoluter Ungerechtigkeit verharren. Betrachtet einen Menschen, der sich durch das Kolonisieren eines Landes Schätze gesammelt hat. Er kam zu einem unvergleichlichen Vermögen und sicherte sich ein Einkommen, das fließt wie ein Fluß, während andererseits hunderttausend unglückliche, schwache und machtlose Menschen oft den nötigen Bissen Brot entbehren. In solchen Zuständen herrscht weder Gleichheit noch Brüderlichkeit. Ihr seht also, daß der allgemeine Friede und die Freude unter solchen Umständen nicht aufkommen können. Die Wohlfahrt der Menschheit ist zum Teil vernichtet, und ein solches Gemeinschaftsleben ist fruchtlos. In der Tat, das Wohlergehen, das Ansehen, der Handel und die Industrie liegen in den Händen einiger Industrieller, während viele andere Menschen einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten und grenzenlosen Mühsalen unterworfen sind und weder Gelegenheit zum Vorwärtskommen noch Nutzen haben, weder Bequemlichkeit noch Frieden kennen.
Daher müssen Verordnungen und Gesetze geschaffen werden, wonach die übermäßigen
Besitztümer gewisser Menschen ausgeglichen und das Elend der Millionen von Armen
begrenzt und aufgehoben wird. Auf diese Weise würde dann ein gewisser Ausgleich zustande
kommen. Völlige Gleichheit herzustellen ist aber geradezu untunlich, denn eine
vollständige Gleichheit im Vermögen, im Ansehen, im Handel, in der Industrie und in
der Landwirtschaft würde das nötige Streben aufheben, in Entmutigung, Zerrüttung
der Existenzmittel sowie in einer allgemeinen Enttäuschung endigen. Die Ordnung der
menschlichen Gesellschaft würde gänzlich vernichtet werden. Es liegt also eine große
Weisheit darin, daß Gleichheit nicht durch das Gesetz auferlegt ist. Daß Mäßigung
hier einsetzt, ist vorzuziehen. Das Hauptaugenmerk ist darauf zu richten, die Anhäufung
unmäßiger Reichtümer einiger weniger Menschen durch gesetzliche Mittel zu
verhindern und die Lebensbedürfnisse der Massen zu schützen. Die Fabrikanten z. B.
sammeln sich täglich gewisse Schätze, und die armer Arbeiter bekommen kaum ihren
nötigsten Lebensunterhalt. Dies ist die Höhe der Ungerechtigkeit, und kein gerechter
Mensch kann es gutheißen. Deshalb sollten Gesetze erlassen werden, nach denen den
Arbeitern je nach Stand der Fabrik neben einem gewissen Lohn der vierte oder fünfte
Teil des Gewinns zukommt. Oder die Arbeiter und Fabrikanten sollten den Gewinn
gleichmäßig teilen, denn die Direktion und Verwaltung liegt in den Händen der
Fabrikbesitzer und die Arbeit wird von den Arbeitern verrichtet. Mit andern Worten,
die Arbeiter sollten eine Bezahlung empfangen, die ihnen einen angemessenen Lebensunterhalt
sichert, und wenn sie hilflos und schwach werden, sollten sie von den Fabrikbesitzern
eine genügende Pension erhalten. Die Entlohnung sollte hoch genug sein, um die notwendigen
Ansprüche der Arbeiter zu befriedigen, so daß es ihnen möglich wäre, für
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Zeiten der Not und der Hilflosigkeit etwas zurückzulegen.
Wenn die Angelegenheiten auf diese Weise geregelt würden, dann wäre es dem Fabrikanten nicht mehr möglich, sich täglich Schätze anzusammeln, die er gar nicht nötig hat. (Dabei ist auch noch in Betracht zu ziehen, daß ein Kapitalist, der ein unverhältnismäßig großes Vermögen besitzt, den schweren Bürden unterliegt und in die größten Schwierigkeiten und Sorgen gerät, denn die Verwaltung eines übermäßig großen Vermögens ist sehr schwierig und erschöpft des Menschen natürliche Kraft.) Andererseits werden die Arbeiter künftig nicht mehr unter dem größten Elend und Mangel zu leiden haben und an ihrem Lebensabend nicht mehr den schlimmsten Entbehrungen ausgesetzt sein.
Daß es eine Unbilligkeit und Ungerechtigkeit ist, wenn übermäßige Reichtümer auf eine Minderheit verteilt sind, während die Massen im Elend darben, ist klar. Ebenso würde aber auch völlige Gleichheit ein Hindernis für das Leben, für die Wohlfahrt, für die Ordnung und den Frieden der Menschheit sein. In allen diesen Fragen ist ein gerechter Mittelweg vorzuziehen. An den Kapitalisten liegt es, in der Erwerbung ihres Gewinns Mäßigkeit walten zu lassen und die Wohlfahrt der Armen und Bedürftigen ins Auge zu fassen; d. h. Arbeiter und Handwerker sollten neben einem festen Lohn einen Teil des allgemeinen Gewinns, den die Fabrik abwirft, empfangen.
Mit Rücksicht auf die sozialen Rechte der Fabrikanten und der Arbeiter wäre es gut, wenn Gesetze erlassen würden, die den Fabrikanten einen mäßigen Gewinn und den Arbeitern die nötigen Existenzmittel und eine Sicherheit für die Zukunft gewährleisteten. Wenn sie alt und schwach werden und bei ihrem Tod minderjährige Kinder hinterlassen, so werden ihre Kinder nicht in Armut umkommen, denn von dem Einkommen der Fabrik, auf das sie ein Recht haben, wird etwas für ihren Lebensunterhalt ausgesetzt.
Andererseits sollten aber die Arbeiter nicht länger rebellieren und revoltieren, noch Forderungen stellen, die über ihre Rechte hinausgehen. Sie sollten nicht mehr streiken, sondern gehorsam und ergeben sein und keine ungebührlichen Lohnforderungen stellen. Die gegenseitigen Rechte beider Parteien werden durch gerechte und unparteiische Gesetze festgelegt und gewahrt werden. Falls eine der beiden Parteien diese Gesetze übertritt, haben die Gerichtshöfe ihr Urteil zu fällen und solche Uebertretungen durch wirksame Geldstrafen zu ahnden. Auf diese Weise wird Ordnung hergestellt und die Schwierigkeiten werden beseitigt. Erheben sich Schwierigkeiten zwischen den Fabrikanten und den Arbeitern, so hat der Gerichtshof zusammen mit der Regierung gesetzmäßig einzugreifen und die Angelegenheiten zu ordnen, denn der Rechtsgrund zwischen Arbeitern und Fabrikanten ist ein anderer als der zwischen Privatpersonen, an deren gewöhnlichen Angelegenheiten die Oeffentlichkeit kein Interesse hat und mit denen die Regierung sich nicht beschäftigen sollte. Wenn auch Schwierigkeiten zwischen Fabrikanten und Arbeitern den Anschein haben können, als seien sie Privatangelegenheiten, so rufen sie doch in Wirklichkeit Nachteile für die Allgemeinheit hervor, denn Handel, Industrie, Landwirtschaft und das Allgemeinwohl sind aufs engste miteinander verbunden, und wenn eines von ihnen unter einem Fehlgriff leidet, so wirkt dies schädlich auf die Masse. Aus diesem Grunde werden Schwierigkeiten, die zwischen den Arbeitern und den Fabrikanten entstehen, zum Schaden für die Allgemeinheit.
Der Gerichtshof und die Regierung haben daher das Recht, einzuschreiten. Wenn sich irgendeine Streitfrage in Bezug auf Privatrechte zwischen zwei Menschen erhebt, so muß ein dritter die Frage beilegen. Dies anzuordnen ist Pflicht der Regierung. Wie könnte alsdann die Streikfrage vernachlässigt werden, die oft mit großen Unruhen der Arbeiter verbunden ist und die Habgier der Fabrikanten aufstachelt?
O gütiger Gott! Kann ein Mensch in Ruhe und Bequemlichkeit in seiner luxuriösen Wohnung leben, wenn er einen seiner Mitmenschen in bitterer Not und von allem entblößt sieht? Kann sich der Mann, der einen andern im größten Elend sieht, seines Reichtums erfreuen? Aus diesem Grunde ist in der Religion Gottes vorgeschrieben, daß die Reichen jedes Jahr einen bestimmten Teil ihres Vermögens zur Unterstützung der Armen und Unglücklichen geben sollen. Dies ist die Grundlage der Religion Gottes und das wichtigste Gebot.
Wenn sich nun jemand heute, da er noch nicht von der Regierung dazu gezwungen
noch verpflichtet ist, aus eigenem Antrieb seines guten Herzens und im wahren geistigen
Sinn, entschließt, diese Abgabe für die Armen zu leisten, so ist dies sehr lobenswert,
gut und erfreulich.
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Dies ist die Bedeutung der guten Werke, von denen in den göttlichen Büchern und in den Sendschreiben die Rede ist.
Wassalam.*)
*) Mein Gruß sei mit Euch.
79. Kapitel.
Die Wirklichkeit der irdischen Welt.
Gewisse Sophisten glauben, das Dasein sei eine Einbildung, jedes Geschöpf sei eine absolute Einbildung, die keine Existenz habe, mit andern Worten, das Dasein der Geschöpfe gleiche einer Luftspiegelung oder dem Widerschein eines Bildes im Wasser oder in einem Spiegel, die aber nur Erscheinungen seien, ohne an sich ein Prinzip, ein Fundament oder eine Wirklichkeit zu haben.
Diese Theorie ist ein Irrtum, denn wenn auch die Existenz der Geschöpfe im Vergleich zu der Existenz Gottes eine Illusion ist, so haben sie in ihrem Zustand als Geschöpfe doch eine wirkliche und bestimmte Existenz. Dies zu leugnen hat keinen Wert. Das Dasein des Minerals ist z. B. im Vergleich zu dem des Menschen Nichtexistenz, denn selbst wenn der Körper des Menschen schon offensichtlich aufgelöst ist, sind seine Bestandteile noch Mineralien, aber auf der Stufe des Mineralreichs hat auch das Mineral Existenz. Daher ist es klar, daß Erde in Bezug auf die Existenz des Menschen nichtexistierend ist, aber als Mineral betrachtet, existiert sie doch.
So ist auch die Existenz der Geschöpfe im Vergleich zu der Existenz Gottes Einbildung und ein Nichts; sie gleicht offenbar einem Spiegelbild. Wenn auch das Bild in einem Spiegel nur eine Illusion ist, so ist doch die Quelle und Wirklichkeit dieses Bildes der widergespiegelte Mensch, dessen Antlitz in dem Spiegel erscheint. Kurz gesagt, im Vergleich zu dem widergespiegelten Menschen ist die Widerspiegelung selbst nur Illusion. Ebenso klar ist es, daß auch die Geschöpfe, wenn sie auch im Vergleich zu der Existenz Gottes keine Existenz haben, sondern lediglich einem Spiegelbild gleichen, auf ihrer eigenen Stufe doch existieren.
Daher sagte man auch von denen, die Gott nicht achteten und Christus leugneten, sie seien tot, obwohl sie offenbar lebendig waren, aber im Vergleich zu dem Volk des Glaubens waren sie tot, blind, taub und stumm. So sind auch die Worte Christi zu verstehen, als Er sagte: „Laßt die Toten ihre Toten begraben.“
80. Kapitel.
Wirkliche Präexistenz.
Frage: Wieviel Präexistenz- und Erscheinungs-Arten gibt es?
Antwort: Manche Weisen und Philosophen glauben, daß es zwei Arten von Präexistenz gibt: eine wesentliche, unbedingt notwendige und eine zeitlich begrenzte Präexistenz. Ebenso gibt es zweierlei Erscheinungsarten, eine wesentliche und eine zeitliche.
Die wesentliche Präexistenz ist eine Existenz ohne jegliche Ursache, aber der wesentlichen Erscheinung gehen Ursachen voraus. Die Präexistenz der Zeit hat keinen Anfang, aber die Erscheinung der Zeit hat Anfang und Ende, denn das Dasein eines jeden Dinges hängt von vier Ursachen ab, von der bewirkenden Ursache, vom Stoff, von der Form und von der entscheidenden Ursache. Dieser Stuhl z. B. hat einen Hersteller, den Tischler, einen Stoff, das Holz, eine Form, nämlich die eines Stuhls, und schließlich auch einen Zweck, nämlich den, als Sitz gebraucht zu werden. Daher ist dieser Stuhl eine wesentliche Erscheinung, denn seine Entstehung und sein Dasein hängen von verschiedenen Ursachen ab. Dies nennt man die wesentliche und wirkliche Erscheinung.
In Bezug auf ihren Schöpfer ist diese Welt des Daseins eine wesentliche Erscheinung. Da nun der Körper durch den Geist erhalten wird, so ist er in Bezug auf den Geist eine wesentliche Präexistenz. Obwohl die Sonnenstrahlen nie von der Sonne getrennt werden können, so ist dennoch die Sonne die präexistierende und die Strahlen sind der Erscheinung angehörig. Die Existenz der Strahlen hängt ab von der Sonne, aber die Existenz der Sonne ist nicht abhängig von der Existenz der Strahlen, denn die Sonne ist die Gebende und die Strahlen sind die Gaben.
Die zweite Lesart lautet, daß beide, Existenz und Nichtexistenz, abhängig sind. Wenn
man sagt, dies oder jenes komme aus der Nichtexistenz in die Existenz, so bezieht sich
dies nicht auf absolute Nichtexistenz, sondern es bedeutet, daß ein früherer Zustand
im Vergleich zu seinem jetzigen Zustand Nichtexistenz war; denn absolute Nichtexistenz
kann keine Existenz erlangen, weil sie nicht die Fähigkeit der Existenz hat.
Der Mensch wie das Mineral existieren,
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aber im Vergleich zu der Existenz des Menschen ist die des Minerals ein Nichts, denn
der Körper des Menschen ist selbst in seiner Auflösung noch Staub und Mineral. Tritt
aber der Staub in die Menschenwelt ein und dieser tote Körper wird lebendig, dann
kommt der Mensch ins Dasein. Obwohl der Staub, d. h. das Mineral, in seiner eigenen
Stufe Existenz hat, so ist er doch im Vergleich zum Menschen ein Nichts. Beide
existieren, aber die Existenz des Staubes und Minerals ist im Vergleich zum Menschen ein
Nichts, denn erst wenn der Mensch stirbt, kehrt er zum Staub und Mineral zurück.
So ist auch die irdische Welt, wenn sie auch existiert, im Vergleich zu der Existenz Gottes nichtexistierend, ein Nichts. Sowohl der Mensch als der Staub existieren, aber wie groß ist der Unterschied zwischen der Existenz des Minerals und der des Menschen. Ersteres ist im Vergleich zu letzterem Nichtexistenz. Ebenso ist auch die Existenz der Schöpfung im Vergleich zu der Existenz Gottes Nichtexistenz. Es ist also völlig klar, daß die Geschöpfe, obwohl existierend, im Vergleich zu Gott und dem Wort Gottes nichtexistierend sind. Dies ist der Inbegriff des Wortes Gottes: „Ich bin das Alpha und das Omega“, denn Er ist der Anfang und das Ende, der Mildtätige, der Barmherzige. Der Schöpfer hat immer eine Schöpfung, die Strahlen leuchteten noch immer von der Wirklichkeit der Sonne hervor, denn ohne die Strahlen der Sonne würde undurchdringliche Finsternis herrschen. Die Namen und Eigenschaften Gottes erfordern das Dasein der Geschöpfe, und die ewige Mildtätigkeit hört nie auf. Wenn sie jemals aufhörte, würde dies der Vollkommenheit Gottes entgegen sein.
81. Kapitel.
Reïnkarnation.
Frage: Was ist Wahres an der Reïnkarnation, an die so viele glauben?
Antwort: Der Zweck unserer Worte ist, die Wirklichkeit zu erklären, nicht aber den Glauben anderer Menschen zu verspotten. Unsere Absicht ist lediglich, Tatsachen zu erklären, weiter nichts. Wir treten den Ideen der andern nicht entgegen, noch beabsichtigen wir, irgendwelche Kritik zu üben.
So wisset, daß diejenigen, die an Reïnkarnation glauben, in zwei Klassen geteilt werden können. Die eine Klasse glaubt nicht an die geistige Bestrafung und Belohnung überhaupt. Sie glaubt, Himmel und Hölle seien auf diese Welt beschränkt, und spricht nicht von der Existenz der andern Welt. Diese Klasse ist auch wieder in zwei Gruppen geteilt. Die Anhänger der einen Gruppe glauben, der Mensch kehre zuweilen in diese Welt zurück in der Gestalt eines Tieres, um strenge Bestrafungen zu erdulden. Wenn er diese Plagen erduldet habe, werde er wieder von der Tierwelt befreit, um von neuem in die Menschenwelt zurückzukehren. Dies wird Seelenwanderung genannt. Die Anhänger der andern Gruppe glauben, der Mensch kehre immer wieder in die Menschenwelt zurück, um durch diese Wiederkehr Belohnung oder Bestrafung für ein früheres Leben zu empfangen. Dies ist sogenannte Reïnkarnation. Keine dieser beiden Gruppen spricht von einer andern als von dieser Welt.
Die zweite Klasse der an Reïnkarnation glaubenden Menschen bejaht die Existenz der andern Welt und betrachtet die Reïnkarnation als Mittel, um vollkommen zu werden. Sie glaubt, daß sich der Mensch dadurch, daß er diese Welt verläßt und wieder in sie eintritt, allmählich vervollkommnet, bis er die höchste Vollkommenheit erlangt. Mit andern Worten, der Mensch sei aus Materie und Kraft zusammengesetzt; die Materie in ihrem Anfang, d. h. der erste Kreis, sei unvollkommen, wenn aber der Mensch wiederholt in diese Welt komme, mache er Fortschritte und erlange Verfeinerung, bis er werde wie ein polierter Spiegel, und die Kraft, die nichts anderes sei als Geist, sei alsdann in ihrer ganzen Vollkommenheit in ihm verwirklicht.
Dies ist die Vorstellung derer, die an Reïnkarnation und an Seelenwanderung glauben. Wir haben ihre Anschauung kurz zusammengefaßt, denn wenn wir auf Einzelheiten eingehen wollten, so würde es zu viel Zeit erfordern. Diese summarische Erklärung genügt uns. Ueber diese Fragen sind jedoch noch keine logischen Beweisgründe beigebracht worden, es sind einzig Voraussetzungen und Folgerungen, die auf Vermutungen beruhen und nicht auf überzeugenden Beweisen. Beweise müssen beigebracht werden von denen, die an Reïnkarnation glauben, und nicht nur Vermutungen, Voraussetzungen und Einbildungen.
Forts. folgt.
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RESUME XX
Mashriqu’l-Adhkar.
Von Charles Mason Remey, Washington (U.S.A.)
Der Mashriqu’l-Adhkar, was wörtlich aus dem persischen übersetzt „Aufgangspunkt der Erwähnung Gottes" bedeutet, ist der Bahá’i-Tempel der Gottesverehrung und des Dienstes an der Menschheit. Er besteht aus einem zentralen Bau, dem eigentlichen Tempel, der der Andacht dient, und der umgeben ist von Schulen, Krankenhäusern und Hospizen, Heimen und Asylen für Waisen, unheilbare Kranke und alte Leute, von Akademien und Hochschulen. Der Tempel des Mashriqu’l-Adhkar ist Vorlesungen aus den heiligen Büchern, der Meditation und dem Gebet gewidmet. Er ist seinem Wesen nach eine Stätte der Anbetung, die den Geist zu Gott emporheben soll. So wird er ein Mittelpunkt geistiger Kraft und Anziehung, der einen göttlichen Einfluß auf die Welt ausübt.
Seine zahlreichen Einrichtungen gelten dem praktischen, sittlichen und gesundheitlichen Dienst an der Menschheit. Die Bahá’i schätzen das Wort: Daß der Mensch Gott in Taten wie auch in Worten verherrlichen soll. Dieser Grundsatz ist darum in seiner vollsten Bedeutung in ihren Tempeln verkörpert.
Vor einigen Jahren wurde der erste große Mashriqu’l-Adhkar in der Stadt Askabad in Turkmenistan gebaut, wo sich eine große Anhängerschar der Bahá’i-Bewegung befindet und wo die russische Regierung unter dem alten wie auch unter dem neuen Regime der Bewegung gegenüber eine freundliche Haltung eingenommen hat. Zuerst wurde der Tempel selbst, ein imposanter Bau in persisch-indischer Architektur mit einem großen Portal, das nach dem heiligen Lande zu liegt, errichtet. Später kamen dazu eine Schule und ein Hospiz. Nun werden allmählich nach Möglichkeit und den verfügbaren Mitteln entsprechend weitere der vorgesehenen Gebäude errichtet.
Gegenwärtig helfen die Freunde der Bah+a’iSache einander in der Errichtung eines Mashriqu’l-Adhkar in Amerika. Beiträge kommen aus den fernsten Teilen der Welt von Angehörigen verschiedener Länder, Rassen und Religionen für den Bau dieses großen universalen Tempels, in welchem Menschen jeder Rasse und aller Religionen willkommen sein werden und wo sie im Geist und mit der Tat anbeten können. Ein sehr hübsch gelegener Platz wurde dafür in der Stadt Wilmette im Norden von Chicago erworben, wo das Fundament und das untere Stockwerk dieses Bauwerks bereits errichtet worden sind. Obwohl der Tempel erst zum Teil erbaut ist, wird er bereits zu religiösen Veranstaltungen benutzt. Wir wollen hoffen, daß sein Oberbau und die umgebenden Gebäude mit ihren Einrichtungen auch bald fertiggestellt werden können, so daß der Mashriqu’l-Adhkar in seiner vollendeten Form als ein Sinnbild dastehen wird, das die Aufmerksamkeit der Welt hervorruft und alle diejenigen zu sich zieht, die den großen universalen Geist der Gottes-Sache suchen.
Von diesem Tempel sagte ’Abdu’l-Bahá:
„Wenn alle geplanten Einrichtungen, wie Schule, Krankenhaus, Hospitz und Anstalten für unheilbare Kranke, die Universität zum Studium höherer Wissenschaften und zu Fortbildungskursen und andere Bauten zu menschenfreundlichen Zwecken errichtet sein werden, so sollen ihre Pforten allen Nationen und Religionen offenstehen. Es wird nicht der geringste Trennungsstrich gezogen, ihre Wohltaten werden ohne Ansehen der Farbe oder Rasse allen zugute kommen. Ihre Pforten sollen weit für die Menschheit aufgetan werden; Vorurteil gegen keinen, Liebe für alle. Das Zentralgebäude wird dem Gebet und der Gottesverehrung gewidmet sein, und so werden zum ersten Male Religion und Wissenschaft in Harmonie miteinander arbeiten, und die Wissenschaft wird die Dienerin der Religion sein. Dadurch werden sie beide zum materiellen und geistigen Segen für die ganze Menschheit werden.“
(The Universal Consciousness, 1925, S. 41 ff., deutsch v. Dr.H.Gr. u. Hildergard William).
Geistiges Erleben in Haifa und Akka.
Von Emil Traunecker.
Haifa und Akka — diese Namen genügen, um das Gefühl freudigster Erwartung in der Seele
eines Bahá’i wach zu rufen. Es ist, wie wenn schon beim Nennen dieser Namen unsere Seele in
Schwingung geriete. In dieser geistigen Verfassung trat ich Anfang Dezember vorigen Jahres
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meine Pilgerreise über Triest, Alexandrien, Port-Said und Jaffa nach Haifa an. Als ersten Beweis
wahrer Bahá’i-Liebe und Freundschaft streckte mir bei meiner Landung in Haifa der Japanerfreund
Mr. Fugeta seine Hände entgegen mit herzlichem Alláh’o’Abhá und erwies mir sogleich seine
Dienste durch seinen freundlichen Beistand bei der Erledigung der üblichen Formalitäten, wie
Zollkontrolle, Impfzwang und dergl. Ein Wagen des heiligen Haushalts brachte uns alsdanı rasch
ans Ziel, und zwar an das Pilgerheim, das nach dem Plan von Prof. Remey, Washington, unserem
verehrten Bahá’ifreund, erbaut wurde. Der Empfang der Leiterin des Heims, Miss Baker, war ein
sehr herzlicher. Beim Mittagsmahl sah ich zum erstenmal Shoghi Effendi, unseren geliebten
Führer und Hüter der heiligen Sache, der mich mit großer Herzlichkeit willkommen hieß und Soheil
Afnan, seinen liebenswürdigen Sekretär. In der dort herrschenden, geistigen Sphäre fühlt man sich
so recht zu Hause, d. h. im Vaterhause. Unser geliebter Meister 'Abdu'l-Bahá sagte ja zu allen
Pilgern: „Hier ist deine wahre Heimat!“ Wie sehr gelten diese Worte heute noch!
Wer Shoghi Effendi geistig erlebt, dem werden diese Worte des Erhabenen Meisters heute noch mit demselben Impuls, wie damals aus Seinem Munde entgegenklingen, denn von ihm kann man wirklich sagen: — Wer ihn sieht, sieht den Meister, sieht Bahá’u’lláh. Von ihm als Bruder umarmt zu werden, ist ebenso, wie von unseren Meistern umarmt zu werden, als ein Jünger, als ein Sohn im Geiste El-Abhás. Diese Umarmung, diese brüderliche Liebe galt nicht allein mir, sondern sie gilt jedem der Freunde. Das Gesetz der Einheit stellt die Bahá’i-Lehre als erste Leuchte auf. Unser geliebter Meister 'Abdu'l-Bahá sagte nicht umsonst immer wieder: „Wenn ein Freund aus Deutschland hier zu Besuch weilt, dann ist es ebensogut, wie wenn alle Freunde aus jenem Lande hier wären.“ Mit diesen Worten sehen wir diesen wunderbaren Einheitsgedanken deutlich genug ausgedrückt von unserem Meister selbst. Einer repräsentiert alle. Er bringt die Grüße aller, die Liebe aller, das Sehnen aller, die Gebete aller, und nun ist es ganz selbstverständlich, daß dieser neue Freund, den eine gnädige Vorsehung für eine solche Reise, für solch großes Erleben, bestimmte, auch allen Freunden in seiner Heimat die empfangene Liebe und den Segen Gottes überbringen möchte. Er bekommt, wenn er genügend aufnahmefähig ist, ein solch reich gerütteltes Maß an geistigen Schätzen, die er mit den zurückgebliebenen Freunden am liebsten teilen möchte.
Von diesem Gesichtspunkte aus kann ich es verstehen, daß ich Großes und Wunderbares an Bestätigungen des Geistes erleben durfte. Die weihevollsten Augenblicke sind ohne Zweifel diejenigen der Anbetung am heiligen Schrein Bahá’u’lláhs in Akka, und unseres geliebten Meisters 'Abdu'l-Bahás und des Báb in Haifa im Mausoleum auf halber Höhe des Berges Karmel. Jeden Sonntag-Nachmittag von 4 Uhr an versammeln sich die Freunde an letzterem Orte erst im persischen Pilgerheim, das in der Nähe des Grabgebäudes liegt, unter der Führung Shoghi Effendis, der dann in dieser geheiligten Atmosphäre mit Seiner weihevollen Stimme ein Gebet in Persisch oder Arabisch singt. Dies ist wahre Anbetung im Geist und in der Wahrheit. Hier strömen Gedanken der Liebe und Freundschaft nicht nur allen Freunden auf der ganzen Erde zu, nein — diese geheiligten Wogen der Liebe Gottes sollen die ganze Menschheit erreichen, denn alle sind die Kinder des Einen Vaters.
Ich hatte das große Vorrecht, die heilige Grabstätte Bahá’u’lláhs in Akka in Begleitung der liebenswürdigen Miss Rouhani, der Schwester Shoghi Effendis und einer amerikanischen Freundin Mrs. von Patten aus New York besuchen zu dürfen. Am heiligen Grabe Bahá’u’lláhs betete ich, indem ich beide Hände hoch hielt: Fülle mich mit Deinem Geiste, nachdem ich zuvor fürbittend aller Freunde gedacht hatte. Die Bestätigung hiefür durfte ich kurz darauf deutlich ersehen. Auch manche andere Ereignisse im Alltagsleben sind mir an dieser heiligen Stätte zum Erlebnis geworden und haben dazu beigetragen, mir diese Tage unvergeßlich zu machen.
Berichtigung.
Die auf Seite 51 oben in der Juniausgabe veröffentlichte Ansicht ist das Pilgerhaus für die Freunde des Abendlands, das nach einem Bauplan von Mason Remey erbaut wurde. Es ist dort irrtümlich als Mausoleum bezeichnet.
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Geschichte und Bedeutung der Bahá’ilehre.
Die Bahai-Bewegung tritt vor allem ein für die „Universale Religion" und den „Universalen Frieden“ — die Hoffnung aller Zeitalter. Sie zeigt den Weg und die Mittel, die zur Einigung der Menschheit unter dem hohen Banner der Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit führen. Sie ist göttlich ihrem Ursprung nach, menschlich in ihrer Darstellung, praktisch für jede Lebenslage. In Glaubenssachen gilt bei ihr nichts als die Wahrheit, in den Handlungen nichts als das Gute, in ihren Beziehungen zu den Menschen nichts als liebevoller Dienst.
Zur Aufklärung für diejenigen, die noch wenig oder nichts von der Bahaibewegung wissen, führen wir hier Folgendes an: „Die Bahaireligion ging aus dem Babismus hervor. Sie ist die Religion der Nachfolger Bahá’u’lláhs. Mirza Hussein Ali Nuri (welches sein eigentlicher Name war) wurde im Jahre 1817 in Teheran (Persien) geboren. Vom Jahr 1844 an war er einer der angesehensten Anhänger des Bab und widmete sich der Verbreitung seiner Lehren in Persien. Nach dem Märtyrertod des Bab wurde er mit den Hauptanhängern desselben von der türkischen Regierung nach Bagdad und später nach Konstantinopel und Adrianopel verbannt. In Bagdad verkündete er seine göttliche Sendung (als „Der, den Gott offenbaren werde") und erklärte, daß er der sei, den der Bab in seinen Schriften als die „Große Manifestation", die in den letzten Tagen kommen werde, angekündigt und verheißen hatte. In seinen Briefen an die Regenten der bedeutendsten Staaten Europas forderte er diese auf, sie möchten ihm bei der Hochhaltung der Religion und bei der Einführung des universalen Friedens beistehen. Nach dem öffentlichen Hervortreten Bahá’u’lláhs wurden seine Anhänger, die ihn als den Verheißenen anerkannten, Bahai (Kinder des Lichts) genannt. Im Jahr 1868 wurde Bahá’u’lláh vom Sultan der Türkei nach Akka in Syrien verbannt, wo er den größten Teil seiner lehrreichen Werke verfaßte und wo er am 28. Mai 1892 starb. Zuvor übertrug er seinem Sohn Abbas Effendi ('Abdu'l-Bahá) die Verbreitung seiner Lehre und bestimmte ihn zum Mittelpunkt und Lehrer für alle Bahai der Welt.
Es gibt nicht nur in den mohammedanischen Ländern Bahai, sondern auch in allen Ländern Europas, sowie in Amerika, Japan, Indien, China etc. Dies kommt daher, daß Bahá’u’lláh den Babismus, der mehr nationale Bedeutung hatte, in eine universale Religion umwandelte, die als die Erfüllung und Vollendung aller bisherigen Religionen gelten kann. Die Juden erwarten den Messias, die Christen das Wiederkommen Christi, die Mohammedaner den Mahdi, die Buddhisten den fünften Buddha, die Zoroastrier den Schah Bahram, die Hindus die Wiederverkörperung Krischnas und die Atheisten — eine bessere soziale Organisation.
In Bahá’u’lláh sind alle diese Erwartungen erfüllt. Seine Lehre beseitigt alle Eifersucht und Feindseligkeit, die zwischen den verschiedenen Religionen besteht; sie befreit die Religionen von ihren Verfälschungen, die im Lauf der Zeit durch Einführung von Dogmen und Riten entstanden und bringt sie alle durch Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Reinheit in Einklang. Das einzige Dogma der Lehre ist der Glaube an den einigen Gott und an seine Manifestationen (Zoroaster, Buddha, Mose, Jesus, Mohammed, Bahá’u’lláh).
Die Hauptschriften Bahá’u’lláhs sind der Kitab el Ighan (Buch der Gewißheit), der Kitab el Akdas (Buch der Gesetze), der Kitab el Ahd (Buch des Bundes) und zahlreiche Sendschreiben, genannt „Tablets“, die er an die wichtigsten Herrscher oder an Privatpersonen richtete. Rituale haben keinen Platz in dieser Religion; letztere muß vielmehr in allen Handlungen des Lebens zum Ausdruck kommen und in wahrer Gottes- und Nächstenliebe gipfeln. Jedermann muß einen Beruf haben und ihn ausüben. Gute Erziehung der Kinder ist zur Pflicht gemacht und geregelt.
Streitfragen, welche nicht anders beigelegt werden können, sind der Entscheidung des Zivilgesetzes jeden Landes und dem Bait’ul’Adl oder „Haus der Gerechtigkeit“, das durch Bahá’u’lláh eingesetzt wurde, unterworfen. Achtung gegenüber jeder Regierungs- und Staatseinrichtung ist als einem Teil der Achtung, die wir Gott schulden, gefordert. Um die Kriege aus der Welt zu schaffen, ist ein internationaler Schiedsgerichtshof zu errichten. Auch soll neben der Muttersprache eine universale Einheits-Sprache eingeführt werden. „Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die Tropfen eines Meeres“ sagt Bahá’u’lláh.
Es ist also weniger die Einführung einer neuen Religion, als die Erneuerung und Vereinigung aller Religionen, was heute von 'Abdu'l-Bahá erstrebt wird. (Vgl. Nouveau, Larousse, illustré supplement, p. 66.)
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In unserem Verlag sind erschienen:
1. Die Geschichte der Bahai-Bewegung, von S. S. Deutsch von Wilhelm Herrigel. Dritte Ausgabe . . . -.20
2. Bahai-Perlen, Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . . -.20
3. Ehe Abraham war, war Ich, v. Thornton Chase. Deutsch v. W.Herrigel . . . . -.20
4. Das heilige Tablet, ein Sendschreiben Baha’o’llahs an die Christenheit. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . -.20
5. Die Universale Weltreligion, Ein Blick in die Bahai-Lehre von Alice T. Schwarz . . . . -.50
6. Die Offenbarung Baha’u’llahs, von J.D. Brittingham. Deutsch von Wilhelm. Herrigel . . . -.50
7. Verborgene Worte von Bahá’u’lláh. Dtsch. v. A. Schwarz u. W. Herrigel . . . 1.--
8. Baha’u’llah, Frohe Botschaften, Worte des Paradieses, Tablet Tarasat, Tablet Taschalliat, Tablet Ischrakat. Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Halbleinen gebunden . . . 2.50
in feinstem Ganzleinen gebunden . . . . . 3.--
9. Einheitsreligion. Ihre Wirkung auf Staat, Erziehung, Sozialpolitik, Frauenrechte und die einzelne Persönlichkeit, von Dr. jur. H. Dreyfus, Deutsch von Wilhelm Herrigel. Neue Auflage . . . -.50
10. Die Bahaibewegung im allgemeinen und ihre großen Wirkungen in Indien, von Wilhelm Herrigel . . . . -.50
11. Eine Botschaft an die Juden, von Abdul Baha Abbas. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . -.20
12. Abdul Baha Abbas, Ansprachen über die Bahailehre. Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Halbleinen gebunden . . . . . 3.--
in feinstem Ganzleinen gebunden. . . . . 3.50
13. Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahaireligion, von Mirza Abul Fazl. Deutsch von W. Herrigel, in Halbleinen geb. . . . . 4.50
In Ganzleinen gebunden . . . . 5.--
14. Abdul Baha Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps. Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Ganzleinen gebunden . . . . 4.--
15. Das Hinscheiden Abdul Bahas, ("The Passing of Abdul Baha") Deutsch von Alice T. Schwarz . . . -.50
16. Das neue Zeitalter von Ch. M. Remey. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . . —.50
17. Die soziale Frage und ihre Lösung im Sinne der Bahailehre von Dr. Hermann Grossmann . . . . . —.20
18. Die Bahai-Offenbarung, ein Lehrbuch von Thornton Chase, deutsch von W. Herrigel, kartoniert M. 4.--, in Halbleinen gebunden M. 4.60
19. Bah’u’lláh und das neue Zeitalter, ein Lehrbuch von Dr. J. E. Esslemont, deutsch von W. Herrigel und H. Küstner. In Ganzleinen gebunden . . . . . 4.50
20. Sonne der Wahrheit, Jahrgang 3 - 6 in Halbleinen gebunden . . . . . 6.50
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