Sonne der Wahrheit/Jahrgang 8/Heft 3/Text

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SONNE

DER

WAHRHEIT
 
Heft III VIII.JAHRG. MAI 1928
 
ORGAN DES DEUTSCHEN BAHAI-BUNDES STUTTGART


[Seite 32] Abdu’l-Bahás Erläuterung der Bahá’i - Prinzipien.


1. Die ganze Menschheit muss als Einheit betrachtet werden.

Baha’u’lláh wandte Sich an die gesamte Menschheit mit den Worten: „Ihr seid alle die Blätter eines Zweigs und die Früchte eines Baumes“. Das heißt: die Menschheit gleicht einem Baum und die Nationen oder Völker gleichen den verschiedenen Aesten und Zweigen; die einzelnen Menschen aber gleichen den Blüten und Früchten dieses Baumes. In dieser Weise stellte Baha’u’lláh das Prinzip der Einheit der Menschheit dar. Baha’u’lláh verkündigte die Einheit der ganzen Menschheit, er versenkte sie alle im Meer der göttlichen Gnade.


2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.

In religiösen Fragen sollte niemand blindlings seinen Eltern und Voreltern folgen. Jeder muß mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören und die Wahrheit suchen, denn die Religionen sind häufig nichts anderes als Nachahmungen des von den Eltern und Voreltern übernommenen Glaubens.


3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.

Alle göttlichen Verordnungen beruhen auf ein und derselben Wirklichkeit. Diese Grundlage ist die Wahrheit und bildet eine Einheit, nicht eine Mehrheit. Daher beruhen alle Religionen auf einer einheitlichen Grundlage. Im Laufe der Zeit sind gewisse Formen und Zeremonien der Religion beigefügt worden. Dieses bigotte menschliche Beiwerk ist unwesentlich und nebensächlich und verursacht die Abweichungen und Streitigkeiten unter den Religionen. Wenn wir aber diese äußere Form beiseite legen und die Wirklichkeit suchen, so zeigt sich, daß es nur eine göttliche Religion gibt.


4. Die Religion muss die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.

Die Religion ist für die Menschheit die größte göttliche Gabe, die Ursache des wahren Lebens und hohen sittlichen Wertes; sie führt den Menschen zum ewigen Leben. Die Religion sollte weder Haß und Feindschaft noch Tyrannei und Ungerechtigkeiten verursachen. Gegenüber einer Religion, die zu Mißhelligkeit und Zwietracht, zu Spaltungen und Streitigkeiten führt, wäre Religionslosigkeit vorzuziehen. Die religiösen Lehren sind für die Seele das, was die Arznei für den Kranken ist. Wenn aber ein Heilmittel die Krankheit verschlimmert, so ist es besser, es nicht anzuwenden.


5. Die Religion muss mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.

Die Religion muß mit der Wissenschaft übereinstimmen und der Vernunft entsprechen, so daß die Wissenschaft die Religion, die Religion die Wissenschaft stützt. Diese beiden müssen unauflöslich miteinander verbunden sein.


6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.

Dies ist eine besondere Lehre Baha’u’lláhs, denn die früheren Religionen stellen die Männer über die Frauen. Töchter und Söhne müssen gleichwertige Erziehung und Bildung genießen. Dies wird viel zum Fortschritt und zur Einigung der Menschheit beitragen.


7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.

Alle Propheten Gottes kamen, um die Menschen zu einigen, nicht um sie zu trennen. Sie kamen, um das Gesetz der Liebe zu verwirklichen, nicht um Feindschaft unter sie zu bringen. Daher müssen alle Vorurteile rassischer, völkischer, politischer oder religiöser Art abgelegt werden. Wir müssen zur Ursache der Einigung der ganzen Menschheit werden.


8. Der Weltfriede muss verwirklicht werden.

Alle Menschen und Nationen sollen sich bemühen, Frieden unter sich zu schließen. Sie sollen darnach streben, daß der universale Friede zwischen allen Regierungen, Religionen, Rassen und zwischen den Bewohnern der ganzen Welt verwirklicht wird. Die Errichtung des Weltfriedens ist heutzutage die wichtigste Angelegenheit. Die Verwirklichung dieses Prinzips ist eine schreiende Notwendigkeit unserer Zeit.


9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung geniessen.

Alle Menschen müssen erzogen und belehrt werden. Eine Forderung der Religion ist, daß jedermann erzogen werde und daß er die Möglichkeit habe, Wissen und Kenntnisse zu erwerben. Die Erziehung jedes Kindes ist unerläßliche Pflicht. Für Elternlose und Unbemittelte hat die Gemeinde zu sorgen.


10. Die soziale Frage muss gelöst werden.

Keiner der früheren Religionsstifter hat die soziale Frage in so umfassender, vergeistigter Weise gelöst wie Baha’u’lláh. Er hat Anordnungen getroffen, welche die Wohlfahrt und das Glück der ganzen Menschheit sichern. Wenn sich der Reiche eines schönen, sorglosen Lebens erfreut, so hat auch der Arme ein Anrecht auf ein trautes Heim und ein sorgenfreies Dasein. Solange die bisherigen Verhältnisse dauern, wird kein wahrhaft glücklicher Zustand für den Menschen erreicht werden. Vor Gott sind alle Menschen gleich berechtigt, vor Ihm gibt es kein Ansehen der Person; alle stehen im Schutze seiner Gerechtigkeit.


11. Es muss eine Einheitssprache und Einheitsschrift eingeführt werden.

Baha’u’lláh befahl die Einführung einer Welteinheitssprache. Es muß aus allen Ländern ein Ausschuß zusammentreten, der zur Erleichterung des internationalen Verkehrs entweder eine schon bestehende Sprache zur Weitsprache erklären oder eine neue Sprache als Weltsprache schaffen soll; diese Sprache muß in allen Schulen und Hochschulen der Welt gelehrt werden, damit dann niemand mehr nötig hat, außer dieser Sprache und seiner Muttersprache eine weitere zu erlernen.


12. Es muss ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.

Nach dem Gebot Gottes soll durch das ernstliche Bestreben aller Menschen ein Weltschiedsgerichtshof geschaffen werden, der die Streitigkeiten aller Nationen schlichten soll und dessen Entscheidung sich jedermann unterzuordnen hat.

Vor mehr als 50 Jahren befahl Baha’u’lláh der Menschheit, den Weltfrieden aufzurichten und rief alle Nationen zum „internationalen Ausgleich“, damit alle Grenzfragen sowie die Fragen nationaler Ehre, nationalen Eigentums und aller internationalen Lebensinteressen durch ein schiedsrichterliches „Haus der Gerechtigkeit" entschieden werden können.


Baha’u’lláh verkündigte diese Prinzipien allen Herrschern der Welt. Sie sind der Geist und das Licht dieses Zeitalters. Von ihrer Verwirklichung hängt das Wohlergehen für unsere Zeit und das der gesamten Menschheit ab.

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SONNE    DER  WAHRHEIT
Organ des Bahá’i-Bundes, Deutscher Zweig
Herausgegeben vom Verlag des Bahá’i-Bundes, Deutscher Zweig, Stuttgart
Verantwortliche Schriftleitung: Alice Schwarz - Solivo, Stuttgart, Alexanderstraße 3
Preis vierteljährlich 1,80 Goldmark, im Ausland 2.– Goldmark.
Heft 3 Stuttgart, im Mai 1928
Yamál (Schönheit)
8. Jahrgang

Inhalt: Die Weisheit in den Prüfungen. — Einheit. — Beantwortete Fragen. — Der Weg zur Erkenntnis.


Motto: Einheit der Menschheit — Universaler Friede — Universale Religion.



"Sucht mit ganzem Herzen willig die Kanäle für Gottes Güte zu sein. Wendet euer Angesicht von den Betrachtungen eines begrenzten ‚Ich‘ hinweg und richtet eure Augen auf die Strahlen des ewigen Lichts. Keine Fähigkeit hat Schranken, wenn sie durch den göttlichen Geist getragen ist."

'Abdu'l-Bahá.


O ihr, von der Schönheit Abhás innig Geliebten!

Heutigen Tages wächst die Sache Gottes über die ganze Welt hin mit Macht und breitet sich Tag für Tag mehr aus, bis in die fernsten Regionen. Ihre Feinde jedoch — die verschiedensten Menschen — treten ihr entgegen und zeigen eine feindliche Gesinnung. Den von Gott Geliebten liegt es ob, die größte Sorgfalt und Vorsicht in allen Dingen walten zu lassen, im Großen und im Kleinen, sich untereinander zu besprechen und einmütig den Angriffen der Feinde und Widersacher zu begegnen. Sie müssen eine freundliche Gesinnung jedermann entgegenbringen, sie müssen sich guter Führung befleißigen, gegenseitig Rücksicht auf einander nehmen und Hochachtung voreinander haben, Liebe üben und die Menschen zu verstehen suchen. Sie müssen geduldig und langmütig sein, damit sie sich weiter entwickeln und reine Träger des Königreiches Abha’s und der dynamischen Kraft des Herrschers des ewigen Königreiches werden.

Die fliehenden Stunden des menschlichen Lebens auf dieser Erde gehen rasch vorüber und die kurze Zeit, die noch verbleibt, wird bald zu Ende sein; aber das, was immerdar währet, ist die Frucht, die der Mensch erntet im Dienste an der heiligen Schwelle. Erkennet die Wirklichkeit dieses Ausspruchs! Wie reich und erhaben sind die Beweise davon in der Welt des Seins! Die Herrlichkeit aller Herrlichkeit ruhe auf den Kindern Bahá's.

'Abdu'l-Bahá Abbá's.


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Die Weisheit in den Prüfungen.

Aus den Schriften von 'Abdu'l-Bahá.

„Was die Prüfungen (Proben auf dem Pfade Gottes) betrifft, so sind sie wahrlich nötig... Es liegt eine große Weisheit darin, welche niemand außer dem Weisen und Kundigen gewahr wird.

Könnte man es nicht prüfen, so könnte reines Gold nicht von der falschen Münze unterschieden werden. Gäbe es keine Prüfungen, so könnte der Mutige nicht von dem Feigling unterschieden werden. Wäre es nicht durch die Prüfungen, so könnte das Volk der Treue nicht von demjenigen der Selbstsucht unterschieden werden. Wären die Prüfungen nicht, so würden die Verstandeskräfte und Fähigkeiten der Schüler in den höheren Lehranstalten nicht entwickelt werden. Nur durch die Prüfungen, können die funkelnden Edelsteine gegenüber den weitlosen Kieseln erkannt werden.“

(Star of the West, Band 8, Seite 239.)

„Wenn der Regen nicht herniederströmte, wenn der Wind nicht wehte, wenn der Sturm und das Unwetter nicht tobten, so würde die beglückende Frühlingszeit nicht nahen. Wenn die Wolken keinen Regen spenden, werden die Wiesen nicht lachen. Der Sturmwind und der Orkan, der Wirbelsturm und die Bö sind die Vorläufer des Frühlings.

Ebenso, wenn es keine Proben und Prüfungen, Ungemach und Leiden gäbe, so könnte die Anziehungskraft des Herzens nicht wahrgenommen werden, die geistigen Düfte könnten nicht zu uns gelangen, noch könnte himmlisches Glück erworben werden, und die Schönheiten der himmlischen Frühlingszeit würden nimmer entdeckt“.

(Star of the West, Band 8, Seite 239.)

„Du hast über Prüfungen und Schwierigkeiten und schlimme Schicksalswendungen angefragt: ,Sind diese uns von Gott gesandt, oder sind sie das Ergebnis der eigenen bösen Taten des Menschen?'

Wisse, daß es zwei Arten von Prüfungen gibt: die eine Art ist eine Prüfung für die Seele, die andere bedeutet eine Bestrafung für begangene Handlungen. („Wie ein Mensch säet, so soll er auch ernten.“) Die erstere ist erzieherisch und fördernd, die andere eine unerbittliche Vergeltung.

Der Vater und der Lehrer sind den Kindern zuweilen willfährig, und dann wieder züchtigen sie diese. Diese Züchtigung geschieht zum Fortschritt in der Erziehung und ist tatsächlich ihrem wahren Glück förderlich; sie geschieht aus lauter Güte und ist wahre Vorsehung. Obgleich sie nach äußerem Ansehen als Zorn erscheint, ist sie in Wirklichkeit dennoch Güte. Obgleich sie nach außen hin eine harte Prüfung ist, so ist sie doch innerlich läuterndes Wasser.

Wahrlich, in beiden Fällen müssen wir flehen und bitten und an der Göttlichen Schwelle die Bestätigung empfangen, um Prüfungen geduldig zu tragen.“

(Star of the West, Band 8, Seite 235.)

„Es ist Meine Hoffnung, daß du während der Zeit der Prüfungen unerschütterlich fest und standhaft verbleiben möchtest, so daß du gleich einer Lampe durch das Glas geschützt seist und nicht durch die Windstöße ausgelöscht werden möchtest... Sei entschlossen und standhaft. Wenn der Baum fest gewurzelt ist, wird er Früchte tragen, es ist daher nicht angängig, sich durch irgend welche Prüfung beunruhigen zu lassen. Sei nicht verzagt! Sei nicht entmutigt! Gott sendet viele Prüfungen, wenn aber der Mensch fest und standhaft bleibt, ist die Prüfung selbst ein Weg für den Fortschritt der Menschheit.“

(Aus „Tablets an amerikanische Gläubige.“)

„Wir leben in einer Zeit, in der so viele Menschen sich ganz oder zum großen Teil auf das Materielle stützen. Sie bilden sich ein, daß die Beschaffenheit eines großen Schiffes die Vollkommenheit der Maschinerie oder die Erfahrenheit eines Kapitäns die Sicherheit eines Fahrzeuges gewährleistet. Diese Dinge, (wobei ich auf den kürzlichen Untergang des prächtigen Dampfers, des Titanic, durch den Zusammenstoß mit einem Eisberge verweise) finden zuweilen statt, damit die Menschen gemahnt seien, daß ein Beschützer lebt, und das ist Gott. Wenn Gott den Menschen beschützt, wenn es Sein Wille ist, so entgeht ein kleines Schiff zuweilen dem Untergange, aber wenn er sich nur auf ein Schiff verlassen sollte, auch wenn es das größte, stolzeste Schiff ist, und vorzüglich gebaut sein mag, auch wenn der Kapitän der beste Kapitän ist, so kann es doch einer Gefahr, wie sie damals auf dem Ozean bestand, nicht trotzen oder entrinnen. Die Menschen in aller Welt [Seite 35]. müssen wissen, daß sie sich dem Einen wahren Beschützer zuwenden müssen. Die Seelen müssen auf ihre Erhaltung durch Gott bauen und wissen, daß Er der wirkliche Beschützer ist, Diese Vorfälle ereignen sich zuweilen aus solchen Gründen, wie den oben erwähnten; sie finden statt, damit des Menschen Glaube wachsen möge.



Hirten in Palästina.


Aber laßt diese Worte den Menschen nicht zu dem Gedanken verleiten, daß er in seinen Unternehmungen nicht seine beste Kraft anwenden müsse. Gott hat den Menschen mit Intelligenz ausgestattet, damit er diese Intelligenz gebrauche. Er muß sich daher mit allem, was die Wissenschaft ihm bieten kann, befassen. Er muß höchst bedachtsam und auf das sorgfältigste vorgehen. Er muß in seinen Unternehmungen stets das Vollkommenste leisten. Er muß einen Gegenstand aufs vollendetste herstellen, z. B. das beste Schiff erbauen, wie es sein Scharfsinn ihm eingibt, und den erfahrensten Kapitän [Seite 36] dafür anstellen, aber laßt ihn mit all diesem auf Gott bauen. Laßt ihn Gott als seinen Beschützer betrachten.“

('Abdu'l-Bahá, Star of the West, Band 3, Nr. 3, Seite 15.)

„Geistige Genüsse bringen immer Freude. Die Liebe Gottes bringt unendliche Glückseligkeit. Diese sind Freuden, die über allem Irdischen stehen. Das Leben der Tiere ist einfacher, als das des Menschen. Die Tiere haben alles, dessen sie bedürfen. Alle die Gräser der Wiesen sind für sie vorhanden. Die Vögel bauen ihre Nester in den Aesten der Bäume, die herrlicher sind als die Paläste der Könige. Wenn die irdischen Bedürfnisse das Höchste sind, dann ist für die Tiere besser gesorgt als für die Menschen. Aber der Mensch hat eine andere Nahrung, das himmlische Manna, die Kenntnis von Gott. Alle die göttlichen Propheten und Manifestierten erschienen in der Welt, daß dies himmlische Manna dem Menschen gegeben werde. Dies ist die Nahrung, welche geistiges Wachstum und Stärke fördert und reine Erleuchtung in der Seele der Menschen hervorruft.“

(Star of the West, Band 7, Seite 155.)

„Die Seele des Menschen muß glücklich sein, ganz abgesehen davon, wo er sich befindet. Man muß die Eigenschaft innerer Seligkeit und Ruhe erlangen, dann werden äußere Umstände des Menschen geistige Ruhe und Glückseligkeit nicht verändern... Wenn der Geist durch die Bestätigung des Heiligen Geistes gestärkt und getragen ist, dann wird er seine Wirkung in jeder Lage seiner Mitwelt beweisen.“

(Star of the West, Band 7, Seite 161, 177.)

„Die Göttlichen Ideale sind Ergebenheit, Demut, Ueberwindung des Selbst, völlige Loslösung, Güte und liebevolle Freundlichkeit. Du mußt in dir selbst sterben und in Gott leben. Du mußt außerordentlich mitleidig zu jedem anderen und zu allen Menschen der Welt sein. Liebe die Menschheit und diene ihr nur um der Sache Gottes willen und nicht um anderer Dinge. Die Grundlage eurer Liebe zur Menschheit muß geistiger Glaube und göttliche Zuversicht sein... Der Mensch muß losgelöst und selbstverleugnend sein. Dann werden alle Schwierigkeiten und Kümmernisse dieser Welt ihn nicht berühren. Er muß gleich einem Meer sein, auf dessen Oberfläche die Stürme wüten, und sich die ungeheueren Wogen erheben, das aber in seinen Tiefen völlig ruhig ist.“

(Star of the West, Band 7, Seite 184, 185.)

(Star of the West, Januar 1927, Seite 303, 304.

Uebersetzt von Karl Klitzing, Schwerin.)



Einheit.

Dr. H. Großmann.

„Die Einheit in ihrem wahren Sinn bedeutet, daß Gott allein als die einzige Macht gedacht werden soll, die alle Dinge belebt und beherrscht, die ja nur Offenbarungen Seiner Schöpfung sind.“

(Bahá’u’lláh, Verborgene Worte.)

Aus diesem kurzen Satz spricht das Wesentliche der Bahá’i-Lehre zu uns. Wenn die augenblicklich bedeutendsten Religionen der vielen rituellen Gebräuche und Dogmen, die an sich mit der reinen Lehre nichts zu tun haben, entledigt würden, so daß die reine Wahrheit übrigbliebe, würden sie in dieser sämtlich übereinstimmen. Da es nur eine Wahrheit gibt, ist sie in allen Religionen die gleiche, wie ja auch alle Manifestationen nie die Lehren der ihnen vorangegangenen umgestoßen, sondern sie in evolutionärem Sinne erweitert und ausgebaut haben. Es kommt eben darauf an, daß man Religion von Kirchenlehren unterscheidet und die wechselseitigen Zusammenhänge der Kirchen und ihrer Priesterschaften klar erkennt. — Das Wort „Ein Gott, eine Religion“ ist daher keine Utopie, sondern eine durchaus durchführbare Idee. Mit dem Weg dazu ist es wie mit der von Bahá’u’lláh erstrebten Einheitssprache: Jeder Mensch soll neben seiner Muttersprache auch eine Welteinheitssprache lernen, also im weiteren Sinne außer ein Kind seines Volkes zu sein, auch ein Glied der ganzen Menschheit sein, und in der Religion ein guter Christ, Jude, Buddhist, Muhammedaner usw. und darüber hinaus ein Bahá’i.

Daß Rassen, Klassen und Geschlechtsvorurteile fortfallen müssen und auch hierin eine Einheit zu erzielen ist, ergibt sich für tolerante Menschen von selbst. Gewiß ist der Bildungsgrad bei den verschiedenen Völkern sehr verschieden. Ob aber nicht auch augenblicklich auf niedriger Stufe stehende Menschen bei gleichen Erziehungs- und Ausbildungsmethoden und freien menschlichen Verhältnissen auf die gleiche Stufe mit den sich überlegen Fühlenden zu heben wären? [Seite 37] Sicherlich. Es gibt überall Intelligenz und Begabung. Dessen wollen wir stets eingedenk sein und bescheiden wirklich vorhandene Vorgaben dankbar anerkennen und darnach streben, auch andere weiter zu bringen. Vor Vorurteilen und Ueberhebung sollten wir uns hüten und unser Herz weit öffnen für die Liebe zu allen Menschen in Gottes Schöpfung, Uneigennützig sollen wir immer nur der Verbreitung der Lehre dienen, und dazu gehört vor allem, sie selber zu leben, sie richtig zu erkennen zu suchen in ihrem wahren Geiste. Das macht tolerant und bescheiden. Wir sollen nicht nur Bahá’u’lláh anbeten, sondern Seine Lehre achten und erfüllen, die uns gebietet:

„Verkehret mit allen Menschen in Liebe und Eintracht. Eine freundschaftliche Gesinnung ist die Ursache der Einigkeit, und Einigkeit ist die Quelle der Ordnung in der Welt. Gesegnet sind die, die gütig sind und einander in Liebe dienen.“



Morgenlied.


Alle, die wir Menschen sind,

Bitten Gottes Segen,

Daß uns Leiden, Sonn’ und Wind

Heute dienen mögen.


Treuer Vater, mach’ uns weit

Deinem Lieben offen,

Laß uns in der Morgenzeit

Guten Tag erhoffen


Himmelswunder, Sonne du,

Licht aus großen Höhen

Führ uns Du zu Deiner Ruh’

Ueber Lust und Wehen.


Paul Häcker.



Beantwortete Fragen.

Worte 'Abdu'l-Bahás

gesammelt und aus dem Persischen übersetzt von Laura Clifford Barney. Autorisierte und überprüfte deutsche Uebersetzung von Wilhelm Herrigel.

(Fortsetzung.)


56. Kapitel.

Die physischen und die geistigen Kräfte.

Der Mensch besitzt fünf Sinneskräfte, die die Wahrnehmung übermitteln, d. h. durch diese fünf Sinne nimmt der Mensch das Materielle wahr. Diese fünf Sinne sind das Gesicht, das sichtbare Formen wahrnimmt, das Gehör, das Laute vernimmt, der Geruch, der die Düfte empfindet, der Geschmack, der die Speisen unterscheidet, das Gefühl, das in allen Teilen des Körpers vorhanden ist und alles Fühlbare verspürt. Mit diesen fünf Sinnen nimmt der Mensch das irdische Dasein wahr.

Der Mensch besitzt aber auch geistige Kräfte: Die Einbildungskraft, die sich die Dinge vorstellt, die Gedankenkraft, die über die Wirklichkeit nachdenkt, das Begriffsvermögen, das die Wirklichkeit versteht, die Erinnerungskraft, die das festhält, was der Mensch sich vorstellt, denkt und erfaßt. Der Vermittler zwischen den fünf äußeren und den inneren Kräften ist jener Sinn, den sie gemeinsam haben. Der Sinn nämlich, der zwischen den äußeren und inneren Kräften wirkt, übermittelt den inneren Kräften was die äußeren wahrnehmen. Er ist der gemeinsame Sinn genannt, weil er die Verbindung zwischen den äußeren und den inneren Kräften herstellt und somit beiden gemeinsam ist.

Das Gesicht ist z. B. eine der äußeren Kräfte, es sieht diese Blume und übermittelt seine Wahrnehmung der inneren Kraft, dem gemeinsamen Sinn, der diese Wahrnehmung auf die Einbildungskraft überträgt. Letztere empfängt und formt dieses Bild und überträgt es auf die Gedankenkraft. Die Gedankenkraft denkt darüber nach und nachdem sie die Wirklichkeit erfaßt hat, übermittelt sie das Ergebnis dem Begriffsvermögen, wenn das Begriffsverögen es verstanden hat, übermittelt es das Bild des wahrgenommenen Gegenstandes auf die Erinnerungskraft, und diese hält es fest.

Aeußere Sinne gibt es ihrer fünf: die Macht des Gesichts, des Gehörs, des Geruchs und des Gefühls.

[Seite 38] Innere Kräfte gibt es ebenfalls fünf: Den gemeinsamen Sinn und die Kräfte der Vorstellung, der Gedanken, des Begreifens und der Erinnerung.


57. Kapitel.

Die Ursachen der Verschiedenheit in den Charakteren der Menschen.

Frage: Wieviele Charakterarten gibt es beim Menschen und was verursacht die Verschiedenheit der Menschen?

Antwort: Der Mensch besitzt den angeborenen, den ererbten und den durch Erziehung erlangten Charakter.

Die göttliche Schöpfung ist absolut gut, aber doch sind schon die angeborenen Charaktere verschieden. Diese Verschiedenheit der natürlichen Eigenschaften in den Menschen rührt von dem Unterschied in ihrer Stufe her. Alle haben vortreffliche Gaben, aber je nach ihrer Stufe mehr oder weniger. So besitzen alle Menschen Intelligenz und Fähigkeiten, aber es steht fest, daß die Intelligenz, die Fähigkeit und der Wert der Menschen verschieden sind.

Nehmt z. B. eine Anzahl Kinder von einer Familie, von einer Art, von einer Schule, belehrt von ein und demselben Lehrer, ernährt mit derselben Nahrung, in demselben Klima lebend, mit der gleichen Kleidung gekleidet und mit den gleichen Aufgaben beschäftigt, so werdet ihr sicherlich finden, daß es unter diesen Kindern einige gibt, die besonders begabt sind, andere, die mittelmäßig und wieder andere, die unbegabt sind. Daher ist es klar, daß es in der ursprünglichen Natur des Menschen eine Verschiedenheit in der Stufe und verschiedene Werte und Fähigkeiten gibt. Dieser Unterschied bedeutet weder Gutes noch Böses, er ist nur ein Unterschied in der Stufe. Der eine nimmt eine sehr hohe, ein anderer eine mittlere und wieder ein anderer eine sehr niedrige Stufe ein. So existiert der Mensch, das Tier, die Pflanze und auch das Mineral, aber die Stufen dieser vier Daseinsformen sind sehr verschieden. Welch ein Unterschied besteht z. B. zwischen der Daseinsform des Menschen und der des Tieres! Und doch sind sie beide Formen des Daseins. Es ist also offensichtlich, daß es im Dasein verschiedene Stufen gibt.

Die Verschiedenheit der ererbten Eigenschaften rührt von starker und schwacher Konstitution her. Wenn z. B. beide Eltern schwach sind, werden die Kinder auch schwach sein; wenn aber die Eltern stark sind, werden die Kinder auch kräftig sein. So ist auch die Wirkung eines reinen Blutes außerordentlich groß, denn der reine Keim gleicht dem vorzüglichen Stamm bei Pflanzen und Tieren. Ihr könnt z. B. sehen, daß Kinder, die von schwachen Eltern abstammen, auch eine schwache Konstitution und schwache Nerven haben. Sie sind gewöhnlich leidend und haben weder Geduld noch Ausdauer, weder Entschlossenheit noch Beharrlichkeit, auch sind sie gern heftig, denn die Kinder erben die Nervenschwäche und Kraftlosigkeit ihrer Eltern.

Andererseits ist aber auch manchen Familien und manchen Generationen ein besonderer Segen verliehen. So war es ein besonderer Segen, daß alle Propheten Israels von den Nachkommen Abrahams kommen sollten. Dies ist ein Segen, den Gott Mose von seinem Vater und seiner Mutter her und Christus von Seiner Mutter her verlieh; auch Muhammad, dem Báb und allen Propheten und heiligen Manifestationen Israels wurde dieser Segen zuteil.

Ohne Zweifel gibt es also auch einen ererbten Charakter, und zwar in einem solchen Grade, daß Familienglieder, deren Charaktere nicht mit denen ihrer Abkunft im Einklang stehen, geistig nicht mehr als Glieder der Familie betrachtet werden, obgleich sie physisch zur betreffenden Linie gehören, so wie Kanaan *) nicht mehr als zum Geschlecht Noahs gehörend gerechnet wurde.

*) Vergleiche 1. Mose 9, 25.

Sehr groß aber ist der Unterschied in den Eigenschaften, die unter dem Gesichtswinkel der Erziehung betrachtet werden müssen, denn die Erziehung hat einen großen Einfluß. Durch die Erziehung werden die Unwissenden gelehrt, die Feigen tapfer, durch Kultivierung wird der krumme Zweig gerade, die saure, bittere Frucht der Berge und Wälder wird süß und köstlich, und die fünfblättrige Blume wird hundertblättrig. Durch die Erziehung werden wilde Nationen zivilisiert und selbst die Tiere dem Menschen dienstbar gemacht. Die Erziehung muß als das Wichtigste betrachtet werden, denn wie die körperlichen Krankheiten sehr ansteckend sind, so sind die Eigenschaften des Geistes und des Herzens ebenfalls [Seite 39] außerordentlich ansteckend.. Die Erziehung hat einen universalen Einfluß und die von ihr verursachten Unterschiede sind sehr groß.

Mancher wird vielleicht sagen, die Verschiedenheit der Charaktere werde gewiß dadurch verursacht, daß der Wert und die Fähigkeit der Menschen verschieden seien.*) Aber dies trifft nicht zu, denn es gibt zweierlei Arten von Fähigkeit, die natürliche und die erworbene Fähigkeit. Erstere, eine Schöpfung Gottes, ist absolut gut, denn in Gottes Schöpfung gibt es nichts Böses, aber die erworbene Fähigkeit ist zur Ursache der Offenbarung des Bösen geworden. Gott hat z. B. alle Menschen derart erschaffen, ihnen eine solche Körperbeschaffenheit und solche Anlagen gegeben, daß ihnen Zucker und Honig gut bekommen, aber Gift ihnen schädlich ist, ja sie tötet. Diese Natur und Beschaffenheit ist ihnen angeboren, und Gott gab sie allen Menschen in gleichem Maße. Der Mensch aber fängt an, sich nach und nach an Gift zu gewöhnen, indem er täglich ein kleines Quantum zu sich nimmt und es allmählich vergrößert, bis er schließlich dahin kommt, daß er nicht mehr leben kann, ohne z. B. täglich ein Gramm Opium zu sich zu nehmen. Auf diese Weise wird die natürliche Eigenschaft gänzlich verdorben. Beachtet wohl, wie sehr die natürliche Anlage und Beschaffenheit des Menschen verändert werden kann, bis sie durch dauernde Gewohnheit gänzlich verdorben wird. Niemand kritisiert lasterhafte Menschen wegen ihrer angeborenen natürlichen Veranlagung, sondern vielmehr wegen ihrer erworbenen Eigenschaften.

*) Das bedeutet also, daß die Menschen wegen ihres Charakters nicht getadelt werden könnten.

Es gibt kein Uebel in Gottes Schöpfung, alles ist gut. Gewisse angeborene Eigenschaften, die bei manchen Menschen scheinbar tadelnswert sind, sind es in Wirklichkeit nicht. Bei einem Säugling kann man z. B. schon früh Anzeichen des Verlangens, des Zorns und der Ungeduld wahrnehmen. Daher mag gesagt werden, Gutes und Böses sei dem Menschen angeboren und dies stehe im Widerspruch zu der Lehre, daß nur Reines und Gutes in Gottes Natur und Schöpfung enthalten sei. Die Antwort hierauf ist: der Wunsch und das Verlangen, irgend. etwas zu bekommen oder zu erlangen ist eine lobenswerte Eigenschaft, vorausgesetzt, daß dies Verlangen im richtigen Sinn angewandt wird. Wenn z. B. ein Mensch den Wunsch und das Verlangen hat, sich Wissenschaft und Erkenntnis zu erwerben oder geduldig, freigebig und gerecht zu werden, so ist dies sehr lobenswert. Wenn er seinen Zorn und Grimm gegen blutdürstige Tyrannen wendet, die wilden Tieren gleichen, so ist dies sehr lobenswert; wenn er aber diese Eigenschaften nicht richtig anwendet, dann sind sie zu tadeln.

Es ist also einleuchtend, daß in der Schöpfung und in der Natur überhaupt kein Uebel vorhanden ist; wenn aber die natürlichen Eigenschaften des Menschen in unerlaubter Weise angewendet werden, dann sind sie tadelnswert. Wenn z. B. ein reicher und freigebiger Mann einem armen Menschen eine Summe Geldes gibt, damit er sie für seine notwendigen Bedürfnisse verwenden soll, der Arme aber dies Geld für unerlaubte Dinge ausgibt, so ist dies zu tadeln. Ebenso verhält es sich mit allen natürlichen Eigenschaften des Menschen, die das Stammvermögen des Lebens ausmachen; wenn sie der Mensch in unerlaubter Weise anwendet und entwickelt, dann werden sie tadelnswert. Folglich erkennen wir, daß die Schöpfung absolut gut ist. Bedenket, daß die schlechteste und abscheulichste Eigenschaft, die Grundlage alles Uebels, die Lüge ist, Eine schlechtere oder tadelnswertere Eigenschaft denn diese kann nicht gedacht werden, sie zerstört die hohen Eigenschaften des Menschen und verursacht unzählige Laster. Es gibt keine schlechtere Charaktereigenschaft als diese; sie ist die Grundlage allen Uebels. Wenn aber ein Arzt einen Kranken tröstet und sagt: „Gott sei Dank, es geht Ihnen besser, und es besteht Hoffnung, daß Sie wiederhergestellt werden,“ können diese Worte, auch wenn sie der Wahrheit nicht entsprechen, dem Kranken doch ein Trost sein und zum Wendepunkt der Krankheit werden. Das ist nicht tadelnswert.

Diese Frage ist nun klar beantwortet. Mein Gruß sei mit euch!


58. Kapitel.

Der Wissensgrad des Menschen und der der göttlichen Manifestationen.

Frage: Welche Stufe nimmt die Intelligenz der Menschheit ein und wo sind ihre Grenzen?

Antwort: Wisset, daß die Intelligenz verschiedene Stufen hat. Die niederste Stufe der Intelligenz ist die der Tiere, sie ist das natürliche Gefühl, das sich in den Sinnen offenbart und Empfindung genannt wird. An dieser haben Menschen und Tiere gleichen Anteil, ja sogar manche Tiere sind in Bezug [Seite 40] auf die Sinne dem Menschen überlegen. Unter der Menschheit gibt es, je nach den verschiedenen Stufen der Menschen, mannigfaltige Intelligenz.

Die erste Stufe der Intelligenz im Menschenreich ist die der vernünftigen Seele. An dieser Intelligenz und an dieser Macht haben alle Menschen teil, mögen sie nachlässig oder aufmerksam, gläubig oder ungläubig sein. Diese vernünftige menschliche Seele ist Gottes Schöpfung, sie umfaßt und überragt die andern Geschöpfe, weil sie edler und ausgezeichneter ist; sie umschließt die Dinge. Die Macht der vernünftigen Seele kann das Wesen der Dinge entdecken, die Eigentümlichkeiten der Geschöpfe erfassen und in die Geheimnisse des Daseins eindringen. Alle Wissenschaften, Künste, Wunder, Verordnungen, Entdeckungen und Unternehmungen rühren von der angewandten Intelligenz, der vernünftigen Seele, her. Es gab eine Zeit, da alle diese Dinge noch unbekannte, verwahrte und verborgene Geheimnisse waren. Die vernünftige Seele entdeckte sie allmählich und brachte sie von der Ebene des Unsichtbaren und Verborgenen in das Reich des Sichtbaren. Dies ist die größte Macht der Intelligenz im Reich der Natur, daß sie in ihrem höchsten Flug das Wesen, die Eigentümlichkeiten und Wirkungen der irdischen Dinge begreift.

Aber die universale göttliche Vernunft, die über der Natur steht, ist die Gabe der von Ewigkeit her bestehenden Macht. Diese universale Vernunft ist göttlich, sie schließt die Wirklichkeit in sich und empfängt das Licht der Geheimnisse Gottes. Sie ist eine selbstbewußte Macht und keine, die erst durch Forschungen und Nachforschungen erlangt wird. Die intellektuelle Macht im Reich der Natur ist eine durch Forschung erlangte Macht; durch Forschen entdeckt sie das Wesen der Geschöpfe und die Eigentümlichkeiten der Daseinsformen. Aber die über der Natur stehende himmlische intellektuelle Macht schließt alle Dinge in sich; sie kennt die Dinge, sie versteht sie, sie ist vertraut mit ihren Geheimnissen, ihrem Wesen und ihren göttlichen Bedeutungen, und bringt die verborgene Wahrheit des Königreiches ans Licht. Diese göttliche intellektuelle Macht ist eine besondere Eigenschaft der heiligen Manifestationen und der Aufgangspunkte der Prophetenschaft. Ein Strahl dieses Lichts fällt auf die Spiegel der Herzen der Gerechten, und ein Teil dieser Macht geht durch die heiligen Manifestationen auf sie über.

Die heiligen Manifestationen haben drei Stufen inne: die Stufe des Körpers, die Stufe der vernünftigen Seele und die Stufe der Offenbarung der Vollkommenheit und des Glanzes des Herrn. Der Körper umfaßt die Dinge in der physischen Welt nach dem Grad seiner Fähigkeit, deshalb zeigt er in gewissen Fällen physische Schwachheit, wie dies z. B. in den Worten Bahá’u’lláhs zum Ausdruck kam, als Er sagte: „Ich schlief und war ohne Bewußtsein, die Lüfte Gottes weheten über Mich und erweckten Mich, und befahlen Mir das Wort zu verkündigen.“ Oder wie dies bei Christus der Fall war, als Er in Seinem dreißigsten Jahr getauft wurde und der Heilige Geist auf Ihn herabkam. Vorher offenbarte sich der Heilige Geist nicht durch Ihn. Dies alles bezieht sich auf den körperlichen Zustand der Manifestationen, aber ihr himmlischer Zustand umfaßt alle Dinge, er kennt alle Geheimnisse, entdeckt alle Zeichen und herrscht über alle Dinge. Er ist der gleiche, sowohl vor als nach ihrer Mission auf Erden. Darum sagte Christus: „Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte.“ Das heißt, es gab nie und wird nie Veränderung und Umwandlung in Mir geben.


59. Kapitel.

Des Menschen Kenntnis von Gott.

Frage: Bis zu welchem Grade kann der menschliche Verstand Gott begreifen?

Antwort: Dieses Thema erfordert viel Zeit, und es nur so gelegentlich bei Tisch zu erklären, ist nicht leicht, ich will aber trotzdem kurz darüber sprechen.

Wisset, daß es zwei Arten von Kenntnis gibt: die Kenntnis von dem Wesen eines Dinges und die Kenntnis von dessen Eigenschaften. Das Wesen eines Dinges wird aber nur an dessen Eigenschaften erkannt, andernfalls ist es unbekannt und verborgen.

Wenn nun unsere Kenntnis von den Dingen, von den erschaffenen und begrenzten Dingen, nur eine Kenntnis ihrer Eigenschaften und nicht ihres Wesens ist, wie soll es dann möglich sein, die göttliche Wirklichkeit, die unbegrenzt ist, in ihrem Wesen zu begreifen? Denn das wirkliche Wesen irgend eines Dinges kann nur an seinen Eigenschaften erkannt werden. Das wirkliche Wesen der Sonne z. B. ist unbekannt, es wird aber an seinen Eigenschaften, der Wärme und dem Licht erkannt. Das wirkliche Wesen des Menschen ist unbekannt und [Seite 41] verborgen, aber durch seine Eigenschaften wird es gekennzeichnet und bekannt. Somit wird alles an seinen Eigenschaften erkannt und nicht an seinem Wesen. Obwohl die Vernunft alle Dinge umfaßt und sie äußerlich begreift, ist doch das Wesen der Dinge unbekannt, der Mensch kennt einzig und allein deren Eigenschaften.

Wie kann alsdann der ewige Herr, Der erhaben ist über unser Denken und Begreifen, in Seinem Wesen erkannt werden? Wenn die irdischen Dinge nur an ihren Eigenschaften und nicht in ihrem Wesen erkannt werden können, so ist es ohne Zweifel, daß die göttliche Wirklichkeit in ihrem Wesen unbekannt ist und sich unser Wissen nur auf ihre Eigenschaften erstreckt. Wie kann also ein Wesen der sichtbaren Welt das erhabene Wesen des Ewigen begreifen? Denn das Begreifen ist das Ergebnis des Umfassens — das Umfassen muß sein, damit das Begreifen möglich ist — aber das Wesen der Einheit umschließt alles und ist selbst von nichts umschlossen.

Auch der Unterschied in den Stufen der irdischen Wesen hindert diese, einander zu begreifen. Dies Mineral z. B. gehört dem Mineralreich an; es mag sich entwickeln so viel es will, die Kraft des Wachstums kann es doch nie begreifen. Die Pflanzen und Bäume mögen noch so große Fortschritte machen, die Sehkraft und die Kräfte der andern Sinne können sie nicht erfassen, und das Tier kann sich die Stufe des Menschen d. h. seine geistigen Kräfte nicht vorstellen. Der Unterschied in der Stufe ist ein Hindernis für das Erkennen; die niedrigere Stufe kann nie die höhere begreifen. Wie sollte dann ein Wesen der sichtbaren Welt das erhabene Wesen des Ewigen begreifen können? Gott zu erkennen, heißt daher, Seine Eigenschaften erkennen und nicht Seine Wesenheit. Dieses Erkennen der Eigenschaften steht aber auch wieder im Verhältnis zu der Fähigkeit des Menschen, es ist nicht unumschränkt. Die Philosophie besteht im Erfassen des Wesens der Dinge, wie sie existieren, und zwar gemäß der Fähigkeit und Kraft des Menschen. Ein irdisches Wesen vermag die Eigenschaften des Ewigen nur im Verhältnis zu seiner menschlichen Fähigkeit zu begreifen. Das Geheimnis der Gottheit steht heilig und rein über der Fassungskraft der Geschöpfe, und der Mensch vermag nur das zu verstehen, was er sich vorstellen kann; an die Wirklichkeit des göttlichen Wesens jedoch reicht die Verstandeskraft des Menschen nicht heran. Alles, was der Mensch zu verstehen vermag, sind die Eigenschaften der Gottheit, deren Strahlen in den Welten den Seelen sichtbar sind.

Wenn wir auf die Welten und die Seelen blicken, so sehen wir wunderbare, klare Zeichen der göttlichen Vollkommenheit, denn die Wirklichkeit der Dinge beweist die allumfassende Wirklichkeit. Die Wirklichkeit der Gottheit kann mit der Sonne verglichen werden, die von dem Höhepunkt ihrer Pracht auf alle Horizonte herabscheint, und jeder Horizont und jede Seele empfängt einen Teil ihrer Strahlen. Wenn dies Licht und diese Strahlen nicht vorhanden wären, dann würden auch die Geschöpfe nicht existieren. Alle Geschöpfe bringen irgend etwas zum Ausdruck und nehmen an einigen Strahlen dieses Lichtes teil. Der Glanz der Vollkommenheit, der Gaben und Eigenschaften Gottes leuchtet und strahlt hervor aus dem Wesen des vollkommenen Menschen, d. h. des Einzigen, der universalen Manifestation Gottes. Andere Geschöpfe empfangen nur einen Strahl, aber die universale Manifestation ist der Spiegel für diese Sonne, die darin erscheint und offenbar wird mit allen ihren hohen Eigenschaften, Zeichen und Wundern.

Die Wirklichkeit der Gottheit zu erkennen ist unmöglich und unerreichbar, aber die Manifestationen Gottes erkennen, heißt Gott erkennen, denn die Gaben, der Glanz und die Eigenschaften Gottes sind in ihnen sichtbar. Wenn daher der Mensch zur Erkenntnis der Manifestationen Gottes kommt, so wird er zur Erkenntnis Gottes gelangen, wenn er aber die Erkenntnis der hl. Manifestationen vernachlässigt, so wird er der Erkenntnis Gottes beraubt sein. Es ist also erwiesen, daß die heiligen Manifestationen die Mittelpunkte der Gaben, der Zeichen und der hohen Eigenschaften Gottes sind. Gesegnet ist, wer das Licht der göttlichen Gaben von den erleuchteten Dämmerungsorten empfängt!

Wir hoffen, daß die Freunde Gottes gleichsam mit magnetischer Kraft diese Gaben von der Quelle selbst an sich ziehen und sich mit einer solchen Erleuchtung erheben und sich so auszeichnen, daß sie selbst offenkundige Beweise der Sonne der Wirklichkeit werden.

[Seite 42]


60. Kapitel.

Die Unsterblichkeit des Geistes.

1. Teil.

Nachdem wir gezeigt haben,*) daß der Geist des Menschen existiert, müssen wir auch seine Unsterblichkeit beweisen.

*) Vergl. Kapitel 48: Der Unterschied zwischen Mensch und Tier.

Die Unsterblichkeit des Geistes geht aus allen hl. Büchern hervor, sie ist die Hauptgrundlage der göttlichen Religionen. Es heißt darin, daß es zweierlei Arten von Bestrafung und Belohnung gibt. Erstens die Belohnung und Bestrafung in diesem Leben und zweitens die Belohnung und Bestrafung in der andern Welt. Aber sowohl Paradies als Hölle sind in allen Welten Gottes zu finden, sei es in dieser oder in den geistigen, himmlischen Welten. Diese Belohnungen zu erlangen, heißt das ewige Leben erlangen. Deshalb sagte Christus: „Handelt so, daß ihr das ewige Leben ererbet, und daß ihr wiedergeboren werdet aus Wasser und Geist, damit ihr ins Himmelreich eintretet.“

Die Belohnungen in diesem Leben sind die Tugenden und vortrefflichen Eigenschaften, die das Wesen des Menschen schmücken. Der Verdunkelte z. B. wird erleuchtet, der Unwissende wird weise, der Nachlässige wird aufmerksam, der Schlafende wird wach, der Tote wird lebendig, der Blinde wird sehend, der Taube wird hörend, der irdisch Gesinnte wird himmlisch gesinnt, der Materialist wird geistig. Durch diese Belohnungen gelangt der Mensch zur geistigen Geburt und wird ein neues Wesen. Er wird zur Offenbarung der Worte des Evangeliums: „Welche nicht von dem Geblüt, noch von dem Willen des Fleisches, noch von dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind" **) d.h., sie wurden befreit von tierischen Merkmalen und Eigenschaften, die auch die Merkmale der menschlichen Natur sind, und sie wurden ausgestattet mit göttlichen Kennzeichen, welche die Gaben Gottes sind. Dies ist die Bedeutung der zweiten Geburt. Für solche Menschen gäbe es keine größere Qual als von Gott getrennt zu sein, und keine härtere Strafe als die, wieder zu den sinnlichen Lastern, schlimmen Eigenschaften und zu der niederen Natur, die voll fleischlicher Begierden ist, zurückzukehren. Wenn sie durch das Licht des Glaubens von der Finsternis dieser Laster befreit sind, von den Strahlen der Sonne der Wirklichkeit erleuchtet werden und ausgestattet sind mit allen Tugenden, dann sehen sie dies als die größte Belohnung an und wissen, daß dies das wahre Paradies ist. So glauben sie auch, daß die geistige Bestrafung, d. h. Qualen und Bestrafung des Daseins die sind: der weltlichen Natur unterworfen, von Gott getrennt, roh und unwissend zu sein, in fleischliche Lüste zu geraten, in tierischen Schwächen aufzugehen, mit schlimmen Eigenschaften, wie Falschheit, Tyrannei und Grausamkeit gekennzeichnet zu sein, an den Dingen dieser Welt zu hängen und versunken zu sein in satanische Gedanken. Für sie sind dies die größten Bestrafungen und Qualen.

**) Evang. Johannis 1, 13.

Ebenso ist die Belohnung in der andern Welt das ewige Leben, was deutlich aus allen hl. Büchern hervorgeht; es besteht in himmlischer Vervollkommnung, ewiger Belohnung und immerwährender Glückseligkeit. Die Belohnungen in der andern Welt sind die Vollkommenheit und der Friede, die wir in den geistigen Welten erlangen, nachdem wir diese Welt verlassen haben. Die Belohnungen dieses Lebens dagegen sind die in dieser Welt bereits verwirklichten glänzenden und erhabenen Eigenschaften. Sie sind für uns die Ursache des ewigen Lebens, denn sie bilden den wirklichen Fortschritt im Dasein. Dies gleicht der Entwicklung des Menschen vom Embryo bis zur Reife, da er zur Offenbarung der Worte wird: „Gesegnet sei Gott, der beste der Schöpfer.“ Die Belohnungen in der andern Welt sind Friede, geistiger Liebreiz, die verschiedenen geistigen Gaben in dem Königreich Gottes, die Erfüllung der Wünsche von Herz und Seele und die Begegnung mit Gott in der ewigen Welt. Die Strafen aber in der andern Welt, d. h. die Qualen, bestehen darin, daß die Seelen der besonderen göttlichen Segnungen und der unumschränkten Gaben beraubt sind und daß sie auf die niedrigsten Stufen der Existenz herabsinken. Wer dieser göttlichen Gunst beraubt ist, wird von dem Volk der Wahrheit als tot betrachtet, obwohl er nach dem Tod des Körpers weiterlebt.

Der logische Beweis für die Unsterblichkeit des Geistes ist, daß von etwas Nichtexistierendem keine Zeichen hervorgehen können, denn Zeichen sind die Folgen von etwas Vorhandenem, und eine Folge ist abhängig von dem Vorhandensein der Grundursache. So kann z. B. von einer nichtvorhandenen Sonne kein Licht ausstrahlen, [Seite 43] auf einem nicht vorhandenen Meer können keine Wogen erscheinen, aus einer nichtvorhandenen Wolke kann kein Regen fallen, ein nicht vorhandener Baum kann keine Früchte tragen, ein nichtvorhandener Mensch kann weder etwas offenbaren noch erzeugen. Solange daher Zeichen einer Existenz erscheinen, sind sie ein Beweis, daß das, von dem die Zeichen ausgehen, auch existiert.

Bedenket, daß das Reich Christi heute noch besteht. Hätte auch von einem nicht existierenden König ein so großes Reich entstehen können? Wie könnten sich von einem nicht vorhandenen Meer die Wogen so hoch erheben? Wie könnte ein nichtvorhandener Garten so wohlriechende Düfte ausströmen? Bedenket, daß keine Wirkung, keine Spur und kein Einfluß von irgend einem Geschöpf übrig bleibt, nachdem seine Glieder zerstreut und seine Elemente aufgelöst sind, einerlei ob es ein Mensch, eine Pflanze oder ein Tier ist. Allein das Wesen und der Geist des Menschen bestehen nach der Auflösung der Glieder, der Zerstreuung der Atome und der Zerstreuung der Zusammensetzung weiter und fahren fort zu handeln, ohne ihre Kraft zu verlieren.

Dies ist eine sehr ernste Frage, denket aufmerksam darüber nach. Der hier gegebene Beweis ist ein vernünftiger Beweis, damit ihn der Weise in der Wage der Vernunft und Gerechtigkeit abwäge. Wenn sich aber des Menschen Geist des Königreiches Gottes erfreut und zu ihm hingezogen ist, wenn sein inneres Gesicht geöffnet, sein geistiges Gehör geschärft wird und sein geistiges Gefühl vorherrscht, dann wird er die Unsterblichkeit des Geistes so klar sehen wie die Sonne, und die frohen Botschaften und Zeichen Gottes werden mit ihm sein.

Morgen werden wir noch andere Beweise geben.


61. Kapitel,

Die Unsterblichkeit des Geistes.

2. Teil.

Gestern schon sprachen wir über die Unsterblichkeit des Geistes. Wisset, daß die Macht und Fassungskraft des menschlichen Geistes von zweierlei Art ist. Der Geist empfindet und handelt auf zwei verschiedene Arten. Einmal geschieht dies durch Werkzeuge, durch Organe; z. B. mit dem Auge sieht er, mit dem Ohr hört er, mit der Zunge spricht er. Solcher Art sind die Handlungen des menschlichen Geistes und die Wahrnehmungen des menschlichen Wesens mittels der Organe. Damit will ich sagen, der Geist sieht durch das Auge, der Geist hört durch das Ohr, der Geist spricht durch die Zunge.

Die andere Art der Offenbarung der Kräfte und Handlungen des Geistes geschieht ohne Organe und Werkzeuge. Im Schlaf z. B. sieht er ohne Augen, hört er ohne Ohren, spricht er ohne Zunge und geht ohne Füße. Kurz, dies alles geht ohne das Mittel der Organe vor sich. Wie oft kommt es vor, daß der Geist im Traum etwas sieht, dessen Bedeutung sich erst zwei Jahre später in entsprechenden Ereignissen offenbart. Wie oft wird auch eine Frage, die im wachen Zustande nicht gelöst werden konnte, im Traume gelöst. Im wachen Zustand sieht das Auge nur auf eine kurze Entfernung, aber im Traume sieht es vom Osten bis zum Westen; wachend sieht es die Gegenwart, schlafend sieht es die Zukunft. Im wachen Zustand kann der Mensch mittels der schnellsten Beförderungsmittel höchstens 150 Kilometer in der Stunde reisen, im Schlaf dagegen durchkreuzt er in einem Augenblick den Osten und den Westen. Denn der Geist reist auf zwei verschiedene Arten, ohne Beförderungsmittel, also geistig, und mit Beförderungsmitteln, also irdisch. Dies ähnelt einem Vogel, der fliegt, aber auch getragen werden kann.

Im Schlaf ist dieser Körper gleichsam tot, er sieht nichts, er hört nichts, er fühlt nichts, er hat kein Bewußtsein und keine Empfindung; d. h. die Kräfte des Menschen sind außer Tätigkeit, aber der Geist lebt und besteht. Ja, sein Scharfsinn ist sogar erweitert, sein Flug höher und seine Intelligenz größer. Der Gedanke‚ der Geist werde nach dem Tod des Körpers umkommen, wäre der Einbildung gleich, daß ein Vogel, der in einem Käfig ist, vernichtet werde, wenn man den Käfig zerbricht, obwohl der Vogel von der Zerstörung des Käfigs nichts zu fürchten hat. Unser Körper gleicht dem Käfig und unser Geist dem Vogel. Wir sehen, daß dieser Vogel im Schlaf ohne den Körper fliegt; wenn daher der Käfig zerbrochen ist, so wird der Vogel dennoch weiterleben. Seine Gefühle werden noch stärker, sein Empfindungsvermögen noch größer sein und seine Glückseligkeit wird zunehmen. In Wirklichkeit gelangt er von einer Hölle in ein Paradies der Freude, weil es für den dankbaren Vogel kein größeres Paradies gibt, als die Befreiung aus seinem Käfig. Daher kommt es, daß die Märtyrer mit größter [Seite 44] Freude und Glückseligkeit zu der Ebene der Selbstaufopferung hineilen.

Im wachen Zustand sieht das Auge des Menschen höchstens auf die Entfernung einer Wegstunde,*) weil die Macht des Geistes durch die Vermittlung des Körpers so beschränkt ist, aber mit dem geistigen Auge sieht er ferne Kontinente und kann wahrnehmen, was dort geschieht, auch kann er die Beschaffenheit der Dinge entdecken und gewisse Anordnungen treffen. Wenn daher der Geist dem Körper gleich wäre, so müßte notwendigerweise die Kraft des inneren Gesichts im gleichen Verhältnis mit dem Körper stehen. Deshalb ist es klar, daß dieser Geist etwas anderes ist als der Körper, daß der Vogel etwas anderes ist als der Käfig, und daß die Macht und Durchdringungskraft des Geistes stärker ist ohne die Vermittlung des Körpers. Wenn nun das Werkzeug beiseitegelegt ist, so wird der Besitzer des Werkzeugs dennoch fortfahren zu handeln. Wenn z. B. die Feder beiseitegelegt oder zerbrochen ist, so wird der Schreiber dennoch am Leben bleiben und gegenwärtig sein. Wenn ein Haus niedergerissen wird, so bleibt der Besitzer doch am Leben. Dies ist einer der logischen Beweise für die Unsterblichkeit der Seele.

*) In Persien herrscht der Brauch, die Entfernung nach der Zeit zu berechnen.

Es gibt noch einen andern Beweis: Dieser Körper wird manchmal schwach, schwerfällig oder krank, oder er befindet sich manchmal im Zustand der Genesung, er wird müde oder er ruht, ja es mag ihm eine Hand oder ein Bein abgenommen werden oder er ist sonst verkrüppelt, er wird blind, taub oder stumm, seine Glieder werden gelähmt, kurz der Körper kann in jeder Beziehung unvollkommen sein. Der Geist indessen wird in seinem ursprünglichen Zustand, in seiner eigenen geistigen Wahrnehmung ewig bleiben und fortdauern; er befindet sich weder in irgend welcher Unvollkommenheit, noch wird er verkrüppelt. Wenn aber der Körper gänzlich der Krankheit und dem Unglück unterworfen ist, so ist er der Gaben des Geistes beraubt; er ist wie ein Spiegel, der, wenn er zerbrochen, schmutzig oder blind ist, die Strahlen der Sonne nicht widerspiegeln kann, noch ihre Gaben zu zeigen vermag.

Wir erklärten bereits, daß der Geist des Menschen nicht im Körper ist, weil er befreit und geheiligt ist über Eintritt und Austritt, denn dies sind körperliche Zustände. Die Verbindung des Geistes mit dem Körper gleicht der der Sonne mit dem Spiegel. Kurz, der menschliche Geist bleibt im gleichen Zustand, er wird nie krank, wenn der Körper krank ist, und nie gesund, wenn der Körper genest; er wird weder krank noch schwach, weder elend noch arm, weder leicht noch klein. Das heißt, der Geist wird nie beeinträchtigt von der Gebrechlichkeit des Körpers, und bei ihm wird selbst dann keine Wirkung wahrgenommen, wenn der Körper schwach wird oder wenn die Hände, die Füße und die Zunge abgeschnitten werden oder wenn Gehör und Gesicht verloren gehen. Deshalb ist es klar und gewiß, daß der Geist etwas anderes ist als der Körper und daß seine Fortdauer nicht vom Körper abhängig ist. Im Gegenteil, der Geist beherrscht den Körper mit größter Macht, und seine Macht und sein Einfluß zeigen sich in ihm, wie die Eigenschaften der Sonne im Spiegel zum Vorschein kommen. Wenn aber der Spiegel schmutzig wird oder zerbricht, kann er die Strahlen der Sonne nicht mehr widerspiegeln.


62. Kapitel.

Die Vervollkommnung ist ohne Grenzen.

Wisset, daß die Stufen der Existenz begrenzt sind auf die Stufen der Dienstbarkeit, des Prophetentums und der Gottheit, aber die Vervollkommnung im göttlichen und irdischen Reich ist unbegrenzt. Wenn ihr tiefer darüber nachdenkt, so werdet ihr finden, daß schon auf Erden die Vervollkommnung unbegrenzt ist, denn ihr werdet kein so vollkommenes Wesen entdecken, daß man sich nicht noch ein höheres denken könnte. Ihr könnt z. B. keinen Rubin im Mineralreich, keine Rose im Pflanzenreich und keine Nachtigall im Tierreich ansehen, ohne dabei denken zu müssen, daß es noch bessere oder höhere Exemplare geben wird. Wie nun die göttlichen Gaben endlos sind, so ist auch die menschliche Vervollkommnung unbegrenzt. Wenn es möglich wäre, eine Grenze der Vervollkommnung zu erreichen, dann könnte es vorkommen, daß ein Wesen einmal die Stufe der Unabhängigkeit von Gott erreichen und somit das Irdische in den Zustand der Unabhängigkeit gelangen würde. Es gibt aber für jedes Wesen eine Grenze, die es nicht überschreiten kann. Wer sich z. B. auf der Stufe des Dienens befindet, mag in der Erlangung grenzenloser Vervollkommnung noch soviel Erfolg haben, die Stufe der Gottheit wird er [Seite 45] niemals erreichen. Dasselbe gilt für alles Erschaffene. Ein Mineral mag im Mineralreich noch soviel Fortschritte machen, die Kraft der Pflanze kann es nie erlangen. Ebenso werden sich bei der Pflanze — sie mag sich im Pflanzenreich noch so hoch entwickeln — die Sinneskräfte niemals zeigen. Dies Silber hier z. B. kann niemals Gehör oder Gesicht erlangen, es kann sich nur auf seiner eigenen Stufe verbessern und ein vollkommenes Mineral werden, aber es kann nie die Macht des Wachstums und der Empfindung oder gar Leben erlangen. Es kann nur auf seiner eigenen Stufe Fortschritte machen.

Petrus z. B. kann nie Christus werden; alles, was er auf seiner Stufe der Abhängigkeit zu erreichen vermag, ist unendliche Vervollkommnung zu erlangen, wie jedes lebendige Wesen imstande ist, Fortschritte zu machen. Da nämlich der Geist des Menschen, nachdem er diesen materiellen Körper abgelegt hat, ein ewiges Leben hat, ist sicherlich jedes lebendige Wesen fähig, Fortschritte zu machen. Es ist darum erlaubt, um Förderung, Vergebung, Gnade, Wohlergehen und Segen für Verstorbene zu beten, denn die Existenz ist entwicklungsfähig. Aus diesem Grunde ist in den Gebeten Bahá’u’lláhs für die Verstorbenen die Bitte um Vergebung der Sünden enthalten. Wenn die Menschen Gottes übrigens in dieser Welt bedürfen, so werden sie Ihn auch in der andern Welt nötig haben. Die Geschöpfe haben Gott immer nötig, Gott aber ist absolut unabhängig, sowohl in dieser als in der kommenden Welt.

Der Reichtum in der andern Welt besteht darin, Gotte nahe zu sein. Folglich ist es gewisslich denen, die dem Hofe Gottes nahe sind, erlaubt, zu vermitteln, und diese Vermittlung ist von Gott gebilligt. Die Vermittlung in der andern Welt gleicht aber nicht der Vermittlung in dieser Welt, sie ist etwas durchaus anderes, das nicht in Worten zum Ausdruck gebracht werden kann.

Wenn ein reicher Mann noch kurz vor seinem Tode den Armen und Bedürftigen eine Gabe vermacht, ihnen einen Teil seines Reichtums schenkt, so mag es sein, daß diese Tat zur Ursache seiner Vergebung und seines Fortschritts im göttlichen Königreich wird. So ist es auch, wenn Vater und Mutter die größten Schwierigkeiten und Mühsale für ihre Kinder erduldet haben und dann eines Tages, wenn die Kinder erwachsen sind, in die andere Welt übergehen; kaum hat sich dies ereignet, so sehen Vater und Mutter in dieser andern Welt schon die Belohnungen für ihre Mühe und Sorgfalt, die sie ihren Kindern angedeihen ließen. Deshalb müssen auch die Kinder ihren Eltern für diese Mühe und Sorgfalt Liebe und Dankbarkeit erzeigen, und um Vergebung und Gnade für ihre Eltern bitten. Für die Liebe und Freundlichkeit, die euch von euren Eltern erzeigt wurde, seid ihr auch um ihretwillen verpflichtet, den Armen zu geben und mit größter Ergebung und Demut um Vergebung ihrer Sünden und um die höchste Gnade für sie zu bitten.

Es ist sogar möglich, daß der Zustand derer, die in Sünden und Unglauben gestorben sind, verändert wird, d. h. es mag ihnen durch die Gnade Gottes — nicht durch Seine Gerechtigkeit — Vergebung zuteil werden; denn die Gnade gibt ohne Verdienst, die Gerechtigkeit gibt nur nach Verdienst. So wie wir hier auf Erden die Kraft haben, für diese Seelen zu beten, so werden wir auch die gleiche Kraft in der andern Welt, im Königreich Gottes besitzen. Sind etwa nicht alle Menschen in jener Welt die Geschöpfe Gottes? Weil sie dies sind, können sie auch in jener Welt Fortschritte machen. Wie sie hier durch ihre ernsten Gebete Licht empfangen können, so können sie auch dort um Vergebung bitten und durch anhaltendes Gebet und Flehen Licht empfangen. Wie die Seelen mit Hilfe demütiger Bitten und anhaltender Gebete einiger heiligen Seelen in dieser Welt Entwicklung erlangen können, so ist es auch nach dem Tode. Auch durch ihre eigenen Gebete können sie Fortschritte machen, ganz besonders aber, wenn sie auch der Gegenstand der Fürbitte der heiligen Manifestationen sind.


63. Kapitel.

Die Entwicklung des Menschen in der anderen Welt.

Wisset, daß nichts Bestehendes in einem Zustand der Ruhe verbleibt, d. h. alle Dinge befinden sich in einem Zustand der Bewegung. Sie sind entweder im Wachstum oder im Verfall begriffen, entweder sind sie im Begriff, vom Nichtdasein ins Dasein zu kommen oder von der Existenz in die Nichtexistenz überzugehen. So trat z. B. diese Hyazinthe von der Welt der Nichtexistenz ins Dasein, und nun ist sie im Begriff, vom Sein zum Nichtsein überzugehen. Diesen Zustand der Bewegung kennen wir als einen unbedingt notwendigen, als den natürlichen Zustand; er kann nicht von den Geschöpfen [Seite 46] getrennt werden, da er für sie ein unbedingtes Erfordernis, wie auch die Glut ein unbedingtes Erfordernis des Feuers ist.

Ohne Zweifel ist also diese Bewegung, die sich entweder im Wachstum oder im Verfall äußert, für die Existenz notwendig. Da nun der Geist nach dem Tod weiterlebt, so muß er unbedingt entweder Fortschritte oder Rückschritte machen. Auch in der andern Welt ist Stillstand gleichbedeutend mit Rückgang. Der Geist verläßt aber niemals seine eigene Stufe, innerhalb der er sich beständig entwickelt. Die Wirklichkeit des Geistes Petri z. B. mag noch so viele Fortschritte machen, sie wird niemals die Stufe der Wirklichkeit Christi erreichen; sie macht nur in ihrem eigenen Bereich Fortschritte.

Blicket auf dies Mineral! Wieweit es sich auch entwickeln mag, es entwickelt sich immer nur innerhalb seiner eigenen Stufe. Ihr könnt einen Kristall unmöglich soweit entwickeln, daß er imstande ist zu sehen. Aehnlich verhält es sich auch mit dem Mond am Himmel. Wieweit er sich auch entwickeln mag, eine leuchtende Sonne wird er niemals werden, aber innerhalb seiner eigenen Stufe hat er Zeiten des Abnehmens und Zunehmens. Wie groß die Fortschritte der Jünger auch sein mögen, Christus selbst können sie niemals werden. Die Kohle kann zwar zum Diamant werden, aber beide befinden sich ja auch auf der Stufe des Minerals, und die Elemente, aus denen sie zusammengesetzt sind, sind die gleichen.


64, Kapitel.

Die Stufe des Menschen und sein Fortschritt nach dem Tode.

Wenn wir die Geschöpfe mit offenen Augen betrachten, so werden wir sehen, daß sie auf drei Arten beschränkt sind, d.h. sie gehören entweder dem Mineral-, dem Pflanzen- oder dem Tierreich an. Aber jede dieser drei Klassen enthält besondere Gattungen. Der Mensch ist die höchste Gattung, weil er die Vorzüge aller andern Klassen besitzt, d. h. er hat einen Körper, der wächst und fühlt. Außer den vorzüglichen Eigenschaften des Minerals, der Pflanze und des Tieres besitzt er noch eine besondere Auszeichnung, die den andern Geschöpfen fehlt, nämlich die Vernunft. Daher ist der Mensch das edelste aller Geschöpfe.

Der Mensch befindet sich auf der höchsten Stufe der Körperlichkeit (des Stofflichen) und im Anfang der Geistigkeit; d. h. er ist das Ende der Unvollkommenheit und der Anfang der Vollkommenheit. Er befindet sich auf der letzten Stufe der Dunkelheit und am Aufgangspunkt des Lichts. Darum nennt man auch die Stufe des Menschen das Ende der Nacht und den Anfang des Tages. Dies bedeutet, daß er alle Grade der Unvollkommenheit in sich vereinigt, aber andererseits auch die Grade der Vollkommenheit besitzt. Er hat sowohl eine tierische als eine engelhafte Seite. Das Ziel eines Erziehers ist nun, die Menschenseelen so zu erziehen, daß ihr engelhaftes Wesen die tierische Natur in ihnen überwindet. Wenn also die göttliche Macht im Menschen — seine eigentliche Vollkommenheit — die satanische Macht, d. h. die absolute Unvollkommenheit besiegt, dann wird er zum vortrefflichsten aller Geschöpfe, Wenn aber die satanische Macht die göttliche Macht unterdrückt, dann wird er das niedrigste der Geschöpfe. Aus diesem Grunde ist der Mensch das Ende der Unvollkommenheit und der Anfang der Vollkommenheit. In keiner andern Gattung der Welt gibt es solche Unterschiede, solche Gegensätze und Widersprüche wie in der Menschengattung. So wurde das göttliche Licht in einem Menschen wie Christus widergespiegelt, und seht, wie geehrt Er ist! Andererseits können wir aber auch Menschen sehen, die so niedrig sind, daß sie einen Stein, einen Erdenkloß oder einen Baum anbeten. Wie sehr erniedrigt sich der Mensch dadurch, daß der Gegenstand seiner Anbetung — sei es ein Stein oder Erde ohne Geist — der niedrigsten Daseinsform angehört! Gibt es etwas Beschämenderes für den Menschen, als die niedrigste Daseinsform anzubeten? Wissen ist eine Eigenschaft des Menschen und ebenfalls Unwissenheit. Vertrauenswürdigkeit ist eine Eigenschaft des Menschen und ebenfalls Treulosigkeit. Wahrhaftigkeit, Lügenhaftigkeit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sind weitere Eigenschaften des Menschen. Kurz, jede Vollkommenheit, jede Tugend und jedes Laster sind Eigenschaften des Menschen.

Bedenket ferner die Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen! Christus war in Menschengestalt, und Kaiphas war in Menschengestalt, Mose und Pharao, Abel und Kain, Bahá’u’lláh und Yahya*) waren Menschen.

*) Mirza Yahya, Subhi Ezel, Bahá’u’lláhs Halbbruder und unversöhnlicher Feind.

(Forts. folgt.)

[Seite 47]


Der Weg zur Erkenntnis.

1. Mose 2, 15-24; 3, 1-19.

1. Mose 11, 1—9.

Zwei Textauslegungen im Sinne der Bahá’i-Lehre.

Dr. H. Großmann.

In der Genesis lesen wir die. Geschichte vom Paradiese und dem Sündenfall. Unsere „aufgeklärte“ Zeit ist geneigt, in ihr nur eine Geschichte, ein schönes, altüberliefertes Märchen zu sehen. Dies ist nicht weiter erstaunlich in einer Epoche, wo das herrschende Gesetz die Maschine ist und der Begriff für das Leben und den Geist des Lebens scheinbar verloren gegangen ist. Aber gottlob ist er doch nicht ganz verloren und hier und da beginnt es den Menschen wieder aufzugehen, daß in der Tat in diesen „Märchen“ vielfach eine Wahrheit verborgen ist, die der Geist der Maschine mit all seiner Exaktheit und alle aus ihm geborene gelehrte Schulwissenschaft nie zu erforschen vermöchte, weil ihnen die Verbindung fehlt mit dem wundervollen Weben des einigen, großen Lebens. Wenn wir uns in diese schlichten Erzählungen der ehrwürdigen alten Religionsbücher mit offenem Herzen hineinvertiefen, so wird uns aus ihrem Grunde wie eine Offenbarung die Lösung so vieler der tiefsten Fragen erstehen, und dann werden wir in ihnen Wegweiser für unsere in Einseitigkeit abgeirrte Forschung erkennen, die sie zurück zum Leben zu führen vermögen. Und dann wird uns auch die Geschichte vom Paradies und dem Sündenfall zum Symbol für das uralte Suchen und Ringen der Menschheit nach Wahrheit,

Was ist zunächst der wörtliche Inhalt jener Geschichte? Der Mensch lebt ursprünglich im Paradies mit allen Tieren in Eintracht und ißt von allen Bäumen darin, mit Ausnahme vom Baum der Erkenntnis, den Gott ihm verwehrt hat. Bis Gott nach einem tiefen Schlafe aus ihm das Weib erstehen läßt. Da veranlaßt die Schlange das Weib, und das Weib den Menschen, auch vom Baum der Erkenntnis zu essen. So erkennt der Mensch, daß er nackt ist. Weil er aber von der Erkenntnis gegessen hat, ist für ihn kein Bleiben mehr im Paradies. Er wird daraus verstoßen und muß fortan sein Feld „im Schweiße seines Angesichts“ bebauen, während die Schlange ein Fluch trifft.

Was bedeutet dies? Der Mensch im Paradies versinnbildlicht das Kindheitsalter der Menschheit. Er verkehrt mit allen Tieren und ißt von allen Bäumen: die Verstandesfunktionen sind bereits ausgeprägt, durch sie werden Erfahrungen gesammelt, die dem Menschen die Fähigkeit geben, sich die Natur dienstbar zu machen. Immerhin aber erhebt er sich wenig über das Tier: das Hauptunterscheidungsmerkmal, der höhere Intellekt, der ihn die Zusammenhänge der Dinge erfassen läßt und zur Erkenntnis des Göttlichen führt, schlummert noch. Wir sehen uns also in eine weit zurückliegende erd- und menschheitsgeschichtliche Epoche zurückversetzt.

Doch dann erwacht der Mensch aus einem tiefen Schlaf; der höhere Intellekt beginnt sich zu entwickeln, und im Vergleich zum vorherigen Zustand kann man den Beginn dieses Zustandes in der Tat als ein Erwachen bezeichnen. Dabei ist das Weib gleichbedeutend mit dem höheren Intellekt. Doch ist die Arbeit des Intellekts anfangs noch primitiver Natur. Er bewegt sich in den einfachsten Vorstellungsformen, die kaum über die kindliche Phantasie hinausgehen. Erst nach und nach beginnt er nach tieferer Erkenntnis zu suchen. Die Schlange, das forschende Wissen (man denke an die eherne Schlange, an die Midgartschlange oder an die Schlangenhäute, mit denen Wagner Kundry, die suchende Menschenseele, bedeckt sein läßt) weckt im höheren Intellekt die Sehnsucht nach Erkenntnis, die nun vom Verstand aufgenommen wird. So erkennt der Mensch seine Nacktheit, er wird sich seiner Kleinheit im Weltall, von dem er ein Teil ist, bewußt und sieht einen Weg der Arbeit vor sich, der Arbeit um die Erkenntnis. Und damit ist sein Streben auf die Bahn gekommen, auf der es kein Ende gibt, bis die volle Erkenntnis errungen ist.

Wenden wir diesen Gedankengang auf die religiöse Entwicklung der Menschheit an, so bedeutet das Anfangsdasein des Menschen im Paradies einen Zustand unbewußter Harmonie, dem religiöses Empfinden noch fremd ist, so wenig das Tier religiöses Empfinden besitzt. In dem Maße, in dem das menschliche Denken über die bloße Erscheinungswelt hinaus wächst und über die Zusammenhänge nachzudenken beginnt, entwickelt sich dann der Begriff der Religion (= die Erschaffung des Weibes). Indessen fehlt dieser Religion noch das eigentliche ethische Moment, sie ist primitiv, etwa in der Art, wie wir sie heute noch im Ahnenkult, im Glauben des Mana und Tabu finden. Die Religion ist für den Menschen noch nicht zur Aufgabe geworden. Aber die ethische Erkenntnis des Gegensatzes zwischen Gut und Böse läßt den Menschen seine Unvollkommenheit erkennen. Er ist wissend geworden. Damit [Seite 48] tritt die Disharmonie in sein Empfinden und treibt ihn. Und so findet er unter ihrem Druck in dem „du sollst“ der Religion einen Weg, der durch Selbsterziehung zur Harmonie der Vollkommenheit hinweist. Die Aufgabe der Religion ist es nunmehr, die Menschheit zu dieser Vollkommenheit, zum „Ebenbilde Gottes“ zu erziehen. Sie erfüllt dieses Erziehungswerk, indem sie die Menschen zur Erkenntnis führt. So ist der Weg zur Vollkommenheit der Weg zur Erkenntnis.

Wie ist dieser Weg weiter verlaufen? Scheint es nicht heute, wenn wir die Zerrissenheit in der menschlichen Erkenntnis, die Zerspaltung der Religionen in Konfessionen und Sekten, den Kampf in der Wissenschaft und ihren Gegensatz zur Religion anschauen, als seien wir weiter vom Ziel entfernt denn je, als habe sich das Erziehungswerk der Religion in einem Labyrint verloren, aus dem es selber nicht mehr herausfindet? Können wir in dem Wirrwarr noch Klarheit gewinnen und irgend einen Plan erkennen?

Wieder mag uns eine Geschichte aus der Genesis Aufschluß geben, und zwar die Geschichte des Turmbaus zu Babel. Sie erzählt, wie die Menschen einen Turm zu Gott bauen wollten. Vor dem Bau sprachen sie einerlei Sprache, aber über dem Turmbau wurden die Sprachen verwirrt, und infolge der Verwirrung vermochten sie nicht, ihn zu Ende zu bauen.

Was bedeutet dies? Die Menschen versuchen in ihrem Streben nach Erkenntnis das Wesen Gottes zu erkennen. Zunächst besteht noch eine einheitliche primitive Anschauung und ein einheitlicher Glaube, aber über dem Suchen entstehen verschiedene Auffassungen, Glaubensspaltungen sind die Folge. Es ist der Beginn der Zersplitterung der Erkenntnis, und durch diese Zersplitterung wird es den Menschen unmöglich, zur wahren Erkenntnis zu gelangen.

Wodurch aber entstand die Babylonische Sprachenverwirrung der Erkenntnis? Der Turmbau zu Babel stellt nicht die im Plan der Religionen vorgesehene göttliche Entwicklung der Menschheit zur Erkenntnis, sondern die des menschlichen (nur menschlichen) Forschens dar. Menschliche Forschung allein vermag nicht zur wahren Erkenntnis zu führen, weil ihr die höhere Warte fehlt, von der aus sie die Dinge übersehen könnte. Der Mensch ist selber Gegenstand des Entwicklungsplanes. Wie könnte er dann den ganzen Plan aus sich heraus übersehen? Denn der Plan ist Vollkommenheit, der Mensch dagegen Unvollkommenheit. Daher kann seine Erkenntnis der Vollkommenheit nicht über den Grad seiner eigenen mangelhaften Vervollkommnung hinausgehen.

Anders die durch die göttliche Lehre gegebene Religion. Alle Religionsstifter haben ihre Vorgänger bestätigt und deren Lehren, dem fortgeschrittenen menschlichen Fassungsvermögen entsprechend, fortentwickelt. Aber sie unterlagen nicht selber der Entwicklung. Sie kannten den Lehrplan Gottes und haben nach ihm gelehrt. So bestehen in der von den Religionen vermittelten Erkenntnis keine Gegensätze, und das, was sie unterscheidet, ist nur die Form, die Darstellungsweise und der Ausdruck, womit sie sich zeitlichen und lokalen Bedürfnissen anpaßten. Erst menschliche Zutat und Willkür hat später jede Religion verderbt, bis ein neuer Religionslehrer aufs neue den Unrat vom Weg der Erkenntnis geräumt hat.

Ist dies indessen nicht ein Widerspruch zu der Tatsache, daß der Mensch mit der Fähigkeit ausgerüstet ist, selber zu forschen? Würde er wohl diese Fähigkeit besitzen, wenn er sie nicht entwickeln sollte? Gewiß nicht. Zweifellos sollen wir unseren Verstand benutzen und forschen, denn gerade dadurch werden wir erst dazu geführt, die Erkenntnis, die uns die Religion vermittelt, wahrhaft in uns aufzunehmen und zu erhärten. Menschlicher Verstand und menschliche Wissenschaft sind es, die uns vor irrigem Verständnis, kritiklosem Glauben und Dogmen bewahren. Wie der Vogel zwei Flügel hat und sich nur in die Luft erheben kann, indem er sie beide benützt, so sind dem Menschen Religion und Wissenschaft verliehen, damit er sich beider bedient, um zur Erkenntnis zu fliegen. Weder losgelöste Wissenschaft noch losgelöster Glaube können den Turm zu Babel erbauen, aber wenn eines im andern seinen Weg sucht, dann werden sie einen gemeinsamen Weg finden, für den es kein Irren gibt, sondern auf dem sie sicher endlich zum Ziel, der einen großen Erkenntnis der Wahrheit, gelangen. Darum sagt 'Abdu'l-Bahá:

„Religion und Wissenschaft sind wie zwei Flügel. Wir können uns die Wissenschaft als den einen und die Religion als den anderen Flügel denken. Um fliegen zu können, braucht der Vogel zwei Flügel; einer allein genügt nicht. Eine Religion, die im Widerspruch oder Gegensatze zur Wissenschaft steht, ist Unwissenheit.“

(Ansprachen, Kap. 40.)


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Druck von W. Heppeler, Stuttgart.

[Seite 49] Geschichte und Bedeutung der Bahá’ilehre.

Die Bahai-Bewegung tritt vor allem ein für die „Universale Religion" und den „Universalen Frieden“ — die Hoffnung aller Zeitalter. Sie zeigt den Weg und die Mittel, die zur Einigung der Menschheit unter dem hohen Banner der Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit führen. Sie ist göttlich ihrem Ursprung nach, menschlich in ihrer Darstellung, praktisch für jede Lebenslage. In Glaubenssachen gilt bei ihr nichts als die Wahrheit, in den Handlungen nichts als das Gute, in ihren Beziehungen zu den Menschen nichts als liebevoller Dienst.

Zur Aufklärung für diejenigen, die noch wenig oder nichts von der Bahaibewegung wissen, führen wir hier Folgendes an: „Die Bahaireligion ging aus dem Babismus hervor. Sie ist die Religion der Nachfolger Bahá’u’lláhs. Mirza Hussein Ali Nuri (welches sein eigentlicher Name war) wurde im Jahre 1817 in Teheran (Persien) geboren. Vom Jahr 1844 an war er einer der angesehensten Anhänger des Bab und widmete sich der Verbreitung seiner Lehren in Persien. Nach dem Märtyrertod des Bab wurde er mit den Hauptanhängern desselben von der türkischen Regierung nach Bagdad und später nach Konstantinopel und Adrianopel verbannt. In Bagdad verkündete er seine göttliche Sendung (als „Der, den Gott offenbaren werde") und erklärte, daß er der sei, den der Bab in seinen Schriften als die „Große Manifestation", die in den letzten Tagen kommen werde, angekündigt und verheißen hatte. In seinen Briefen an die Regenten der bedeutendsten Staaten Europas forderte er diese auf, sie möchten ihm bei der Hochhaltung der Religion und bei der Einführung des universalen Friedens beistehen. Nach dem öffentlichen Hervortreten Bahá’u’lláhs wurden seine Anhänger, die ihn als den Verheißenen anerkannten, Bahai (Kinder des Lichts) genannt. Im Jahr 1868 wurde Bahá’u’lláh vom Sultan der Türkei nach Akka in Syrien verbannt, wo er den größten Teil seiner lehrreichen Werke verfaßte und wo er am 28. Mai 1892 starb. Zuvor übertrug er seinem Sohn Abbas Effendi ('Abdu'l-Bahá) die Verbreitung seiner Lehre und bestimmte ihn zum Mittelpunkt und Lehrer für alle Bahai der Welt.

Es gibt nicht nur in den mohammedanischen Ländern Bahai, sondern auch in allen Ländern Europas, sowie in Amerika, Japan, Indien, China etc. Dies kommt daher, daß Bahá’u’lláh den Babismus, der mehr nationale Bedeutung hatte, in eine universale Religion umwandelte, die als die Erfüllung und Vollendung aller bisherigen Religionen gelten kann. Die Juden erwarten den Messias, die Christen das Wiederkommen Christi, die Mohammedaner den Mahdi, die Buddhisten den fünften Buddha, die Zoroastrier den Schah Bahram, die Hindus die Wiederverkörperung Krischnas und die Atheisten — eine bessere soziale Organisation.

In Bahá’u’lláh sind alle diese Erwartungen erfüllt. Seine Lehre beseitigt alle Eifersucht und Feindseligkeit, die zwischen den verschiedenen Religionen besteht; sie befreit die Religionen von ihren Verfälschungen, die im Lauf der Zeit durch Einführung von Dogmen und Riten entstanden und bringt sie alle durch Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Reinheit in Einklang. Das einzige Dogma der Lehre ist der Glaube an den einigen Gott und an seine Manifestationen (Zoroaster, Buddha, Mose, Jesus, Mohammed, Bahá’u’lláh).

Die Hauptschriften Bahá’u’lláhs sind der Kitab el Ighan (Buch der Gewißheit), der Kitab el Akdas (Buch der Gesetze), der Kitab el Ahd (Buch des Bundes) und zahlreiche Sendschreiben, genannt „Tablets“, die er an die wichtigsten Herrscher oder an Privatpersonen richtete. Rituale haben keinen Platz in dieser Religion; letztere muß vielmehr in allen Handlungen des Lebens zum Ausdruck kommen und in wahrer Gottes- und Nächstenliebe gipfeln. Jedermann muß einen Beruf haben und ihn ausüben. Gute Erziehung der Kinder ist zur Pflicht gemacht und geregelt.

Streitfragen, welche nicht anders beigelegt werden können, sind der Entscheidung des Zivilgesetzes jeden Landes und dem Bait’ul’Adl oder „Haus der Gerechtigkeit“, das durch Bahá’u’lláh eingesetzt wurde, unterworfen. Achtung gegenüber jeder Regierungs- und Staatseinrichtung ist als einem Teil der Achtung, die wir Gott schulden, gefordert. Um die Kriege aus der Welt zu schaffen, ist ein internationaler Schiedsgerichtshof zu errichten. Auch soll neben der Muttersprache eine universale Einheits-Sprache eingeführt werden. „Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die Tropfen eines Meeres“ sagt Bahá’u’lláh.

Es ist also weniger die Einführung einer neuen Religion, als die Erneuerung und Vereinigung aller Religionen, was heute von 'Abdu'l-Bahá erstrebt wird. (Vgl. Nouveau, Larousse, illustré supplement, p. 66.)


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In unserem Verlag sind erschienen:

1. Die Geschichte der Bahai-Bewegung, von S. S. Deutsch von Wilhelm Herrigel. Dritte Ausgabe . . . -.20

2. Bahai-Perlen, Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . . -.20

3. Ehe Abraham war, war Ich, v. Thornton Chase. Deutsch v. W.Herrigel . . . . -.20

4. Das heilige Tablet, ein Sendschreiben Baha’o’llahs an die Christenheit. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . -.20

5. Die Universale Weltreligion, Ein Blick in die Bahai-Lehre von Alice T. Schwarz . . . . -.50

6. Die Offenbarung Baha’u’llahs, von J.D. Brittingham. Deutsch von Wilhelm. Herrigel . . . -.50

7. Verborgene Worte von Bahá’u’lláh. Dtsch. v. A. Schwarz u. W. Herrigel . . . 1.--

8. Baha’u’llah, Frohe Botschaften, Worte des Paradieses, Tablet Tarasat, Tablet Taschalliat, Tablet Ischrakat. Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Halbleinen gebunden . . . 2.50

in feinstem Ganzleinen gebunden . . . . . 3.--

9. Einheitsreligion. Ihre Wirkung auf Staat, Erziehung, Sozialpolitik, Frauenrechte und die einzelne Persönlichkeit, von Dr. jur. H. Dreyfus, Deutsch von Wilhelm Herrigel. Neue Auflage . . . -.50

10. Die Bahaibewegung im allgemeinen und ihre großen Wirkungen in Indien, von Wilhelm Herrigel . . . . -.50

11. Eine Botschaft an die Juden, von Abdul Baha Abbas. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . -.20

12. Abdul Baha Abbas, Ansprachen über die Bahailehre. Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Halbleinen gebunden . . . . . 3.--

in feinstem Ganzleinen gebunden. . . . . 3.50

13. Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahaireligion, von Mirza Abul Fazl. Deutsch von W. Herrigel, in Halbleinen geb. . . . . 4.50

In Ganzleinen gebunden . . . . 5.--

14. Abdul Baha Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps. Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Ganzleinen gebunden . . . . 4.--

15. Das Hinscheiden Abdul Bahas, ("The Passing of Abdul Baha") Deutsch von Alice T. Schwarz . . . -.50

16. Das neue Zeitalter von Ch. M. Remey. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . . —.50

17. Die soziale Frage und ihre Lösung im Sinne der Bahailehre von Dr. Hermann Grossmann . . . . . —.20

18. Die Bahai-Offenbarung, ein Lehrbuch von Thornton Chase, deutsch von W. Herrigel, kartoniert M. 4.--, in Halbleinen gebunden M. 4.60

19. Bah’u’lláh und das neue Zeitalter, ein Lehrbuch von Dr. J. E. Esslemont, deutsch von W. Herrigel und H. Küstner. In Ganzleinen gebunden . . . . . 4.50

20. Sonne der Wahrheit, Jahrgang 3 - 6 in Halbleinen gebunden . . . . . 6.50


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