SONNE DER WAHRHEIT | ||
Heft XI | VIII.JAHRG. | JAN. 1929 |
ORGAN DES DEUTSCHEN BAHAI-BUNDES STUTTGART |
Abdu’l-Bahás Erläuterung der Bahá’i - Prinzipien.
1. Die ganze Menschheit muss als Einheit betrachtet werden.
Baha’u’lláh wandte Sich an die gesamte Menschheit mit den Worten: „Ihr seid alle die Blätter eines Zweigs und die Früchte eines Baumes“. Das heißt: die Menschheit gleicht einem Baum und die Nationen oder Völker gleichen den verschiedenen Aesten und Zweigen; die einzelnen Menschen aber gleichen den Blüten und Früchten dieses Baumes. In dieser Weise stellte Baha’u’lláh das Prinzip der Einheit der Menschheit dar. Baha’u’lláh verkündigte die Einheit der ganzen Menschheit, er versenkte sie alle im Meer der göttlichen Gnade.
2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.
In religiösen Fragen sollte niemand blindlings seinen Eltern und Voreltern folgen. Jeder muß mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören und die Wahrheit suchen, denn die Religionen sind häufig nichts anderes als Nachahmungen des von den Eltern und Voreltern übernommenen Glaubens.
3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.
Alle göttlichen Verordnungen beruhen auf ein und derselben Wirklichkeit. Diese Grundlage ist die Wahrheit und bildet eine Einheit, nicht eine Mehrheit. Daher beruhen alle Religionen auf einer einheitlichen Grundlage. Im Laufe der Zeit sind gewisse Formen und Zeremonien der Religion beigefügt worden. Dieses bigotte menschliche Beiwerk ist unwesentlich und nebensächlich und verursacht die Abweichungen und Streitigkeiten unter den Religionen. Wenn wir aber diese äußere Form beiseite legen und die Wirklichkeit suchen, so zeigt sich, daß es nur eine göttliche Religion gibt.
4. Die Religion muss die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.
Die Religion ist für die Menschheit die größte göttliche Gabe, die Ursache des wahren Lebens und hohen sittlichen Wertes; sie führt den Menschen zum ewigen Leben. Die Religion sollte weder Haß und Feindschaft noch Tyrannei und Ungerechtigkeiten verursachen. Gegenüber einer Religion, die zu Mißhelligkeit und Zwietracht, zu Spaltungen und Streitigkeiten führt, wäre Religionslosigkeit vorzuziehen. Die religiösen Lehren sind für die Seele das, was die Arznei für den Kranken ist. Wenn aber ein Heilmittel die Krankheit verschlimmert, so ist es besser, es nicht anzuwenden.
5. Die Religion muss mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.
Die Religion muß mit der Wissenschaft übereinstimmen und der Vernunft entsprechen, so daß die Wissenschaft die Religion, die Religion die Wissenschaft stützt. Diese beiden müssen unauflöslich miteinander verbunden sein.
6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.
Dies ist eine besondere Lehre Baha’u’lláhs, denn die früheren Religionen stellen die Männer über die Frauen. Töchter und Söhne müssen gleichwertige Erziehung und Bildung genießen. Dies wird viel zum Fortschritt und zur Einigung der Menschheit beitragen.
7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.
Alle Propheten Gottes kamen, um die Menschen zu einigen, nicht um sie zu trennen. Sie kamen, um das Gesetz der Liebe zu verwirklichen, nicht um Feindschaft unter sie zu bringen. Daher müssen alle Vorurteile rassischer, völkischer, politischer oder religiöser Art abgelegt werden. Wir müssen zur Ursache der Einigung der ganzen Menschheit werden.
8. Der Weltfriede muss verwirklicht werden.
Alle Menschen und Nationen sollen sich bemühen, Frieden unter sich zu schließen. Sie sollen darnach streben, daß der universale Friede zwischen allen Regierungen, Religionen, Rassen und zwischen den Bewohnern der ganzen Welt verwirklicht wird. Die Errichtung des Weltfriedens ist heutzutage die wichtigste Angelegenheit. Die Verwirklichung dieses Prinzips ist eine schreiende Notwendigkeit unserer Zeit.
9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung geniessen.
Alle Menschen müssen erzogen und belehrt werden. Eine Forderung der Religion ist, daß jedermann erzogen werde und daß er die Möglichkeit habe, Wissen und Kenntnisse zu erwerben. Die Erziehung jedes Kindes ist unerläßliche Pflicht. Für Elternlose und Unbemittelte hat die Gemeinde zu sorgen.
10. Die soziale Frage muss gelöst werden.
Keiner der früheren Religionsstifter hat die soziale Frage in so umfassender, vergeistigter Weise gelöst wie Baha’u’lláh. Er hat Anordnungen getroffen, welche die Wohlfahrt und das Glück der ganzen Menschheit sichern. Wenn sich der Reiche eines schönen, sorglosen Lebens erfreut, so hat auch der Arme ein Anrecht auf ein trautes Heim und ein sorgenfreies Dasein. Solange die bisherigen Verhältnisse dauern, wird kein wahrhaft glücklicher Zustand für den Menschen erreicht werden. Vor Gott sind alle Menschen gleich berechtigt, vor Ihm gibt es kein Ansehen der Person; alle stehen im Schutze seiner Gerechtigkeit.
11. Es muss eine Einheitssprache und Einheitsschrift eingeführt werden.
Baha’u’lláh befahl die Einführung einer Welteinheitssprache. Es muß aus allen Ländern ein Ausschuß zusammentreten, der zur Erleichterung des internationalen Verkehrs entweder eine schon bestehende Sprache zur Weitsprache erklären oder eine neue Sprache als Weltsprache schaffen soll; diese Sprache muß in allen Schulen und Hochschulen der Welt gelehrt werden, damit dann niemand mehr nötig hat, außer dieser Sprache und seiner Muttersprache eine weitere zu erlernen.
12. Es muss ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.
Nach dem Gebot Gottes soll durch das ernstliche Bestreben aller Menschen ein Weltschiedsgerichtshof geschaffen werden, der die Streitigkeiten aller Nationen schlichten soll und dessen Entscheidung sich jedermann unterzuordnen hat.
Vor mehr als 50 Jahren befahl Baha’u’lláh der Menschheit, den Weltfrieden aufzurichten und rief alle Nationen zum „internationalen Ausgleich“, damit alle Grenzfragen sowie die Fragen nationaler Ehre, nationalen Eigentums und aller internationalen Lebensinteressen durch ein schiedsrichterliches „Haus der Gerechtigkeit" entschieden werden können.
Baha’u’lláh verkündigte diese Prinzipien allen Herrschern der Welt. Sie sind der Geist und das Licht dieses Zeitalters. Von ihrer Verwirklichung hängt das Wohlergehen für unsere Zeit und das der gesamten Menschheit ab.
SONNE DER WAHRHEIT Organ des Bahá’i-Bundes, Deutscher Zweig Herausgegeben vom Verlag des Bahá’i-Bundes, Deutscher Zweig, Stuttgart Verantwortliche Schriftleitung: Alice Schwarz - Solivo, Stuttgart, Alexanderstraße 3 Preis vierteljährlich 1,80 Goldmark, im Ausland 2.– Goldmark. |
Heft 11 | Stuttgart, im Januar 1929 Masá il — Fragen |
8. Jahrgang |
Inhalt: Tablet von Bahá’u’lláh. — Die geheimnisvollen Mächte der Kultur. — Der Weg. — Worte 'Abdu'l-Bahás. — Tablets 'Abdu'l-Bahás an zwei Gläubige in Amerika. — Was die Seele des Kindes bittet und fragt. — Gebet. — Vom wahren Gebet.
Motto: Einheit der Menschheit — Universaler Friede — Universale Religion.
Wahrlich, Wir machen es den Menschen zur Pflicht, rein zu sein und Gott zu fürchten, damit sie sich aus dem Schlummer ihrer Leidenschaften erheben und zu Gott wenden, der Himmel und Erde getrennt hält.
Bahá’u’lláh.
Worte Bahá’u’lláhs.
O Völker der Erde! Beeilet euch Gott zu gehorchen und machet alle erforderlichen Anstrengungen, Seinen Geboten Geltung zu verschaffen. Fürchtet Gott, o ihr Menschenkinder und zählet nicht zu den Unterdrückern!
Kränket niemand. Wahrlich, Wir sind gekommen, um die Menschen zu versöhnen und zu einigen, denn die meisten mißverstehen einander. Wenn euch eine Kränkung zugefügt wird oder ein Mißgeschick im Pfade Gottes über euch kommt, so seid geduldig und vertrauet auf Ihn, der hört und sieht! In der Tat, Er ist unser Zeuge und durch Seine eigene Oberhoheit handelt Er nach Seinem Willen. Wahrlich, Er ist der Starke, der Allmächtige!
In dem Buch Gottes, des Mächtigen, des Glorreichen, ist euch verboten miteinander zu rechten und zu streiten. Pfleget das, was euch und den Völkern der Erde Nutzen bringt. So ist es euch befohlen von dem ewigen König, der Sich in Seinem Größten Namen offenbarte. Wahrlich, Er ist der Gebieter, der Weise!
Aus „The Epistle to the son of the wolf“ Deutsch von W.H.
Tablet von Bahá’u’lláh.
Uebersandt von Shoghi Effendi. Deutsch von A. Schwarz.
Er ist der Herr, erhaben ist Sein Name, Ruhm gebührt Ihm, und Sein ist die Macht.
Gelobt sei Gott, der Angebetete, der Herr des Sichtbaren und des Unsichtbaren, Der vom höchsten Horizont aus Bücher und Episteln schuf, unzählbar, unnennbar, Dessen höchst erhabene Worte alle Kreaturen von der ersten bis zur letzten ins Leben rief und der Seiner transzendenten Weisheit entsprechend in jedem Zeitalter und Zyklus Seine Boten entsandte, um mit dem lebendigen Wasser göttlicher Aeußerungen Seine schmachtenden und welken Kreaturen neu zu beleben.
Wahrlich, Er ist der Erklärer, der wahre Ausleger; der Mensch irrt und fehlt im Verständnis dessen, was aus der Feder der Herrlichkeit floß und geoffenbart wurde in Seinem heiligsten Buch.
Wahrlich, die Menschheit bedarf zu aller Zeit eines Mahners, eines Führers. Deshalb hat Gott Seine Boten, Seine Propheten und Seine Erwählten entsandt, damit diese die Menschen mit der Absicht der Offenbarung Seines Worts in der Mission als Seine Boten bekannt machen, damit alle der göttlichen Wahrhaftigkeit gewahr werden, die jenen zur Aufgabe gemacht ist.
Der Mensch besitzt alle Fähigkeiten, und er bedarf nur der richtigen Erziehung, deren Mangel, ihn dessen beraubt, was latent in ihm ruht. Mit einem Wort schuf Er sie allzumal, Er lenkte ihre Schritte auf den Weg der wahren Erkenntnis und mit einem zweiten Wort behütet und beschützt Er ihr Bestehen und ihre Stufe.
Der große Allgegenwärtige sagt: Erachte den Menschen wie eine Mine, die Edelsteine von köstlicher Schönheit enthält, mit dem Schleifen allein offenbart man ihren Wert und macht sie den Menschen wertvoll.
Wenn der Mensch Gottes Worte mit großer Einsicht studieren und sie in seinem Herzen tragen würde, so käme er zu der Erkenntnis, daß ein großes Ziel, worauf sie hinweisen, ist, die Welt so zu vereinen, daß alle Völker auf Erden als eine einzige Seele anerkannt werden, daß das Siegel mit dem Zeichen „Gottes ist alle Herrschaft" auf dem Tablet eines jeden Herzens vermerkt, und daß die Herrlichkeit unendlicher Güte, Gnade und Barmherzigkeit über alle Menschen ausgegossen ist.
Der Herr — erhaben ist Er in Seiner Herrlichkeit — wünscht nichts anderes für Sich selbst. Der Gehorsam der Menschen als Seine Untertanen trägt Ihm keinen Vorteil ein, noch fügt Ihm der Ungehorsam ein Leid zu. Jeden Augenblick stößt die Stimme des Vogels aus dem Reich der Erwähnung den Ruf aus: „Alle Dinge habe Ich deinetwegen gewünscht, dich aber um deiner selbst willen.“ Würde der weltweise Mensch heutigen Tags den Menschen der Welt die Düfte der Liebe und Einheit zutragen, dann würde der Verständnisvolle den Begriff der wirklichen Freiheit erkennen u. zu vollkommener Ruhe und Wohlbehagen gelangen...
Wolle Gott, daß Seine Gnade auf alle Völker der Erde ausgeschüttet werde, möge Er die Erdenbewohner führen und ihre Schritte auf den Weg Seines Wohlgefallens lenken.
Merke wohl: Jahrhunderte sind dahingegangen und dennoch hat die Welt und ihre Bewohner weder Friede noch Ruhe erlangt. Entweder waren sie Opfer des Kriegs oder wurden sie von unvorhergesehenem Elend befallen. Schmerz und Leid ist über die Welt gegangen, und es erkennt niemand die Ursache! Wenn aber der göttliche Ratgeber ein Wort äußert, so sehen sie ihn als Anstifter zu neuen Kriegen an und weisen seinen Rat zurück. Der Mensch ist zaghaft, was könnte er sagen?
Der Erhabene spricht: O Freunde: die Stiftshütte der Einheit ist errichtet in der Welt, betrachtet euch nicht mit dem Blick der Entfremdung, denn ihr seid alle die Früchte eines Baumes und Blätter an einem Zweig..
Der Erhabene spricht: Das Zelt der Stabilität und der Ordnung für die Welt steht auf zwei gleichen Säulen, der Vergeltung des Guten und der Strafe... O Ihr Regenten der Welt! waren die Legionen der Krieger mächtiger als die Legionen der Gerechtigkeit und der Weisheit? —— -—- Wohl dem Herrscher, der vorangeht mit der Standarte des Wissens, die sich vor ihm entfaltet, gefolgt von dem Hüter der Gerechtigkeit, der in seiner Nachhut marschiert...
Hört auf das Lied des Vogels der Gerechtigkeit, der an diesem Tage empfindlich
auf die Probe gestellt wird in den Klauen der Unterdrückung und der Grausamkeit.
Betet zu Gott, daß es nicht geschehe, daß Er die Völker der Welt des
Ozeans des göttlichen Begreifens beraubt. Wenn sie doch achtsam wären, dann [Seite 163]
würden sie klar erkennen, daß das, was aus der Feder der Weisheit strömt gleich wie das
Sonnenlicht ist, das die Welt erhellt. Es liegt der Friede, die Sicherheit, das wirkliche
Interesse der Menschheit darin. Ist dem nicht so, so werden neue Drangsale
über die Welt kommen und neues Unglück und Streit jeden Tag entfacht werden.
Möge Gott gewähren, daß den Menschen auf Erden gnädig geholfen werde und durch
die Leuchten der Weisheit das Licht Seines liebevollen Ratschlusses beschützt werde.
Es ist mein heißer Wunsch, daß jeder Einzelne mit dem Schmuck wahrer Weisheit
geschmückt werde, der festen Grundlage des Aufbaus der Menschheit...
Der Erhabene spricht: „Gesegnet ist, wer sich erhebt zum Dienst an der Menschheit! Des Menschen Ruhm liegt nicht darin, daß er sein Heimatland liebt, laßt besser ihn sich dessen rühmen, daß er das Menschengeschlecht liebt. Die Welt ist wirklich nur eine Heimat und die Menschen sind ihre Bewohner...
In der Libyschen Wüste.
RESUME
Der Erhabene sagt: O ihr Menschenkinder! Der wahre Glaube an Gott und an Seine Religion ist zum Schutz der Einheit, der Harmonie, zum Schutz des Friedens und für die Liebe aller Menschen da — macht Religion nicht zum Anlaß von Streit und Unstimmigkeit, nicht von Haß und Feindschaft. Dieser Weg ist wahrlich der gerade und eine sichere Grundlage. Was auf diesen Grundmauern steht, werden die Ereignisse in der Welt nicht zu erschüttern vermögen, noch wird die Zeit sie ins Wanken bringen.
Wir hoffen, daß sich die Weisen und die Regenten auf Erden zusammentun und sich restlos einigen zur Hebung der Menschheit und auf diese Befreiung hin den wahren Heiltrank durch ihre klugen Diener der erkrankten und zerrütteten Welt bringen.
Der Erhabene sagt: „Vom Firmament der göttlichen Weisheit leuchtet das Doppelgestirn,
die Beratung und die Barmherzigkeit. Beratet euch miteinander in allen Dingen,
umsomehr als die Beratung das führende Licht der Erleuchtung entzündet u. den Weg
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angibt. Laßt bei allem Anfang der Dinge das Ende vor euren Geist treten. Laßt die
Kinder jede Art der Kunst und Wissenschaft erlernen, dies führt zum Wohl der Menschheit,
zum Fortschritt und zu der Erhöhung der Stufe des Menschen; dadurch wird auch
üble Verleumdung und vieles Unglück aus der Welt geschafft werden und alle Menschen
werden durch die Bemühung der Staatsoberhäupter und der Führer der Menschen
in wahrem Glück, in Frieden und Ruhe gerettet sein...
Es ist den Führern der Menschen zur Pflicht gemacht, in allen Dingen Maß zu halten, und alles, was im Uebermaß ist, als Affekt zu meiden. Bedenkt, daß Zügellosigkeit ganze Zivilisationen und dergleichen zu extremen Resultaten führte und zu ihrem größten Kummer ausschlug, obwohl diese durch Gelehrte vertreten waren.
Der Erhabene sagt: Das Wort der Weisheit lautet: „Wer Mich nicht kennt, ist aller Dinge beraubt. Wendet euch ab von allem Irdischen und sucht keinen Anderen, denn Mich, Ich bin die Sonne der Weisheit und der Mond der Kenntnisse. Ich tröste den Niedergebrochenen und erwecke den Toten zu neuem Leben.
Ich bin das führende Licht, das die Welt erhellt.
Ich bin der königliche Falke auf der Faust des Allmächtigen.
Ich stärke die geknickten Schwingen des gelähmten Vogels und verhelfe ihm zu neuem Flug!...
(Auszug aus einem Tablet, das unter dem Namen „Lawh-i-Maqsud“ bekannt ist, und das in der Gefängnisstadt Akka am 29. Safar 1299 (ca. 1882) verfaßt wurde.)
Die geheimnisvollen Mächte der Kultur.
In persischer Sprache von einem hervorragenden Bahá’i-Philosophen geschrieben und von Johanna Dawud ins Englische übersetzt, übertragen ins Deutsche von Karl Klitzing, Schwerin (Meckl.).
(Fortsetzung.)
Es werden wohl welche, denen die Wahrheit des Göttlichen Buches unbekannt ist, und die die Geschichte nicht kennen, behaupten: „Diese Gebräuche haben ihren Ursprung in den Vorschriften von Abraham und haben sich bei den Heiden zu allen Zeiten erhalten, sind auch von ihnen in Ehren gehalten worden.“ Zum Beweis hiefür werden sie vielleicht den Vers anführen:
„Folge der Religion Abrahams, die gut ist.“ .
Aber es ist wahrlich in allen Büchern des Islam geschrieben, es sei nicht auf die Verordnungen von Abraham zurückzuführen, daß auf die Vorschriften über die heiligen Monate *), Rücksicht zu nehmen ist, daß die übliche Zeitberechnung aus den Mondphasen beizubehalten und das Gesetz hinsichtlich des Abhauens der Hand eines Diebes aufrechtzuerhalten ist. Ist denn die Geschichte Abrahams nicht in der Bibel, die sich bis heute erhalten hat, verzeichnet?
*) Zulaa’dah, Zul’hadja, Muharram, Rajab.
Es kann nun behauptet werden, die Bibel selbst sei abgeändert und ihr Text verfälscht worden. Aber die Frage solcher Abänderungen ist in den erklärenden Büchern deutlich besprochen. Hierauf einzugehen, würde vom Thema dieser Abhandlung ablenken, folglich lassen wir dies auf sich beruhen.
In vielen ausgezeichneten Werken ist geschrieben: „Lernt von den Vögeln in den Lüften und schöpft Weisheit aus ihrer Art zu leben.”*) Wenn wir Weisheit schon an stummen Geschöpfen lernen sollen, wieviel besser ist es, Kenntnisse von den hervorragenden Persönlichkeiten fremder Nationen zu übernehmen, die im Verstand vorgeschritten und mit Urteilskraft begabt sind.
*) Ein ausgezeichneter Vers. Vergleiche Matth. 6, 25: „Sehet die Vögel unter dem Himmel an . . . usw.“
Wenn ihr bedenkt, daß im Tierreich die verschiedenen Eigenschaften von Gott kommen, wie kann dann behauptet werden, daß Zivilisation, Wissenschaft und Erkenntnis sich von fremden Nationen zu erwerben, nicht dem Willen Gottes entspräche?
„Gibt es irgend einen anderen Schöpfer außer Gott? Nein, bei Gott.“
Es beherrschten auch die großen Ulemas und die Rechtsgelehrten Wissenschaften, die
ihren Ursprung in den Werken des großen Aristoteles und anderer Weisen des alten
Griechenlandes hatten. Sie haben dazu aus deren Werken großer Kenntnisse in der
Medizin und Mathematik geschöpft und im Studium ihrer Bücher große Ueberlegenheit
und höchste Befriedigung erlangt. Auf diese Weise erlernten die Ulemas die Logik,
obwohl sie wußten, daß ein Götzendiener **) deren Begründer war. Es ist zur Genüge
bekannt, daß, wenn auch ein Mensch eine
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gründliche Kenntnis von verschiedenen Zweigen der Wissenschaft hat, logisch aber
nicht vollständig klar ist, das Ergebnis seines Fleißes und sein Urteil bei wichtigen
Fragen nicht durchaus zuverlässig sein kann.
**) Zeno von Eli, welcher 500 Jahre vor Christus lebte.
Es ist daher durchaus klar, daß es erlaubt ist, Wissenschaften und die Geschicklichkeit richtigen Regierens von fremden Nationen zu erlernen, damit die öffentliche Aufmerksamkeit auf diese wichtigen Fragen gelenkt und die Oeffentlichkeit mit dieser Neuerung bekannt gemacht wird, so daß in kurzer Zeit mit Gottes Hilfe das kluge Volk zum angesehensten unter den Völkern wird.
O einsichtsvolle Menschen, überlegt mit Weisheit und Scharfblick! Können unsere veralteten, nicht mehr gebräuchlichen Flinten es mit Martini-Gewehren und Krupp-Kanonen erfolgreich aufnehmen?
Sollte jemand behaupten, daß zum Beispiel unsere veralteten Waffen für uns gut und angemessen sind, und daß keine Notwendigkeit besteht, derartige Waffen, wie sie unlängst in fremden Ländern hergestellt werden, anzuschaffen, würde da nicht selbst ein Kind solcher Worte lachen?
Oder, das Gleiche wäre der Fall, wenn jemand sagen würde: „Seither sind wir gewohnt gewesen, unsere Waren von Land zu Land auf dem Rücken von Lasttieren zu transportieren, und haben wir bisher keine Eisenbahnen gebraucht, so brauchen wir sie auch jetzt nicht. Warum sollen wir die Gebräuche anderer Völker nachahmen?“
Würde ein vernünftiger Mensch auf solches Gerede hören? Nein wahrlich, in seinem Herzen wäre es der Neid, welcher ihn veranlaßte, etwas abzustreiten, was genügend klar ist.
Diese fremden Länder übernehmen, ungeachtet ihrer hohen Stufe, die sie in Wissenschaft, Erziehung und Industrie einnehmen, Wissenswertes voneinander. Warum bleibt das persische Reich, welches sich in einem wirklich hilfsbedürftigen Zustand befindet, unberührt und damit unfähig und machtlos?
Die großen Rechtsgelehrten, die auf dem richtigen Pfade sind und die Geheimnisse der göttlichen Weisheit und die Wahrheit aus Gottes Heiligen Büchern kennen, deren Herz mit Frömmigkeit geschmückt ist und deren Antlitz mit dem Licht der Vorsehung erleuchtet ist, sind genau mit unseren Bedürfnissen vertraut und mit den Forderungen der gegenwärtigen Zeit bekannt. Sie erwecken und ermutigen eifrigst den Wunsch des Volkes nach Zivilisation und Wissen.
„Sind beide gleich, die Wissenden und die Unwissenden? Und kann die Finsternis mit dem Lichte verglichen werden?“
Weise Männer sind für das Volk führende Leuchten. Sie sind die Sterne des Glückes an dem Horizont der Volksstämme und der Nationen. Sie sind der Salsabil*) des Lebens für die Seelen, die tot sind in Unwissenheit und Gottlosigkeit; und für diejenigen, welche umherirren und in der Wildnis der Armut dürsten, sind sie ein frischer Quell kühlen Wassers. Sie tragen in der Tat die Wahrheit von Gottes herrlichen Büchern in sich und sind ein lebender Beweis von der Einheit des göttlichen Geistes. Für den kranken Körper der Welt sind sie geschickte Aerzte und für die vergiftete Seele der Menschheit ein wirkliches Heilmittel. Sie sind wie eine uneinnehmbare Festung, die die Menschheit beschützt, und für diejenigen, welche durch die Macht der Finsternis und Unwissenheit verwirrt und geängstigt sind, eine sichere Zuflucht.
*) Ein Fluß im Paradiese.
„Erkenntnis gleicht der Lampe, die Gott entzündet im Herzen Seiner Erwählten.
Aber der Erhalter der Menschheit hat Zeichen und Merkmale für alle Dinge geschaffen und hat einen Eckstein **) bestimmt, ihren Wert zu prüfen. So muß der Theologe mit allen geistigen und seelischen Vollkommenheiten ausgestattet sein und Liebenswürdigkeit, Aufrichtigkeit der Gesinnung, Ehrlichkeit der Absicht, Einsicht, Wissen, Geist, Weisheit, Verstand, Besonnenheit, wahre Frömmigkeit und vor allem die Ehrfurcht vor Gott in seinem Herzen tragen. Denn, wenn das Licht hoch gestellt wird, aber nicht leuchtet, ist es wie die Zweige einer hohlen Palme oder wie ein mächtiger Haufen von Reisigbündeln, an welchen der Feuerbrand noch nicht gelegt ist.
**) Der weisen Männer. Der Uebersetzer.
„Gefallsucht und Eitelkeit suchen mit der Rose zu wetteifern.
Wer dieses Resultat nicht erreicht, sollte seiner Stimmung nicht die Zügel schießen lassen.
Wie unschön ist Ausdruckslosigkeit in einem häßlichen Gesicht.
Hart ist es, in einem blinden Auge Schmerzen zu erdulden.
In der „zuverlässigen Erzählung"†) ist geschrieben: „Wenn ein Ulema sich findet,
der sorgsam über seine Seele wacht, ein
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Verehrer der Gesetze seiner Religion, ein wackerer Streiter gegen eigene Fleischeslust und
ein gehorsamer Anhänger der Gebote des Herrn ist, dann ist es gewiß richtig, daß
er ein Hirte für die Herde Gottes werden, und daß das Volk seiner Führung folgen
sollte.“
†) D. i. die Sammlung von authentischen Versen.
Da diese inspirierten Worte das ganze Wesen der richtigen Erkenntnis enthalten, will ich mich bemühen, hier eine kurze Auslegung der heiligen Schrift zu geben. Und jeder, der die Göttlichen Gesetze, welche darin enthalten sind, nicht ausführt, und das Ergebnis ihrer Lehren nicht in sich verkörpert, der ist wahrlich der Göttlichen Gemeinschaft und der wahren Quellen des echten Wissens beraubt und ist nicht länger würdig, das Gesetz den an die himmlische Einheit Gottes Glaubenden auszulegen. Die erste Eigenschaft, welche von dem heiligen Ulema gefordert wird, ist: „Er muß ein Wächter über seine Seele sein.“ Es ist klar, daß diese Worte sich nicht auf Trübsale und Sorgen der Welt beziehen, denn wahrlich, alle Propheten und die Heiligen Gottes waren schweren Leiden unterworfen, und bei allen Nationen wurden sie das Ziel für die Pfeile der Unruhe und Widerwärtigkeit. Da sie sich aber für das allgemeine Wohl hingegeben haben, schritten sie freudig zum Ort des Märtyrertums. Die Vollkommenheit ihrer geistigen Stufe schmückte die Welt mit einem neuen Gewande wirklicher Tugend und Güte. Die wahre Auslegung der Worte „ein Wächter über seine Seele“ bedeutet: eine Sicherheit gegen äußere und innere Fehler und die Erlangung eines dauernden erhabenen geistigen Zustandes.
Die für die Vollkommenheit durchaus erforderlichen Kennzeichen sind Wissen und Tugend, und um zu dieser Stufe zu gelangen, ist eine Kenntnis der Göttlichen Gebote, wie sie in dem Koran zur Führung der öffentlichen Angelegenheiten der Menschheit enthalten sind, und ein genaues Bekanntsein mit den anderen heiligen Büchern und der richtigen Wege unerläßlich, die die Nationen zu Fortschritt und Zivilisation führen. Eine gerechte Würdigung der Lebensbedingungen und der Gewohnheiten, die bei fremden Völkern herrschen, ein genaues Verständnis für die Wissenschaften und Künste dieses Zeitalters und ein sorgfältiges Studium der Geschichte sind ebenso nötig.
Denn, wenn den Theologen die Heiligen Bücher und die Religion anderer Völker, die Physiologie und die Gesetzesvorschriften, die Staatswissenschaften, Künste und Erziehungsmethoden früherer Jahrhunderte und Völker unbekannt sind, werden sie in dem entscheidenden Augenblick versagen, da sie keine Richtlinien haben, die ihrer Handlung als Vorbild dienen können. Und dies wäre wirklich das Gegenteil von Vollkommenheit.
Wenn zum Beispiel ein gelehrter mohammedanischer Theologe sich mit einem Angehörigen einer christlichen Religionsgemeinschaft auseinandersetzt, mit den herrlichen Versen des Evangeliums aber unbekannt ist, wie kann er dann mit ihm in Diskussion treten? Dem Christen würden die erhabensten Wahrheiten nicht annehmbar sein, nur weil sie aus dem Koran stammen. Aber wenn unsere Ulemas die religiösen Bücher anderer Völker eifrig studierten, so würden sie in der Beweisführung weit tauglicher als die Geistlichen anderer Nationen des Buches*) sein. Dann könnten unsere Gelehrten ihre Gegner mit ihren eigenen Aussprüchen und mit den Aussprüchen ihrer Propheten widerlegen, und es bliebe jenen keine andere Wahl, als zu glauben.
*) Weil er außer aus dem Alten und Neuen Testament seine Beweise auch aus dem Koran entnimmt.
Als ein gewisser katholischer Führer von dem Imam Reza, jener Sonne des Himmels der Gelehrsamkeit, jener Leuchte auf den Höhen der Führung und Gewißheit, in Ehren empfangen wurde, beliebte es Seiner Heiligkeit, Sich solcher Argumente und Beweise zu bedienen, die dem Katholiken geläufig waren, so daß dieser in allen Punkten überzeugt wurde und erstaunt davon ging, die Größe seines Gastgebers erkennend. Vor allem sind der politischen Regierung zwei Dinge sehr dringend nötig:
1. Die gesetzgebende Gewalt,
2. Die vollziehende Gewalt.
Der Mittelpunkt der vollstreckenden Gewalt ist die Regierung, und die gesetzgebende
Gewalt liegt in den Händen bedachter und weiser Männer. Wie kann andererseits
angenommen werden, sofern diese starken Pfeiler und festen Grundlagen nicht
vollkommen und umfassend sind, daß Wohlfahrt und Glückseligkeit für die Nation
gewährleistet werden? Aber da in gegenwärtigen Zeiten solche Vortrefflichkeit selten
ist, ist die Regierung und der ganze Körper der Nation um eine gerechte und weitsichtige
Leitung in großer Verlegenheit. So ist es von äußerster Wichtigkeit, eine Körperschaft
von gelehrten Männern zu schaffen,
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die in den verschiedenen Wissenschaften bewandert sind, und die fähig sind, allen
gegenwärtigen und künftigen Erfordernissen gerecht zu werden, und die Fragen in
Geduld und Festigkeit zu lösen.
Bisher bestand kein eigentlicher Gerichtshof, und die Ulemas üben das Recht aus, jeder nach seinen eigenen Ansichten. Dabei mag es vorkommen, daß im Verlauf eines Rechtsstreites ein Ulema dem Kläger Recht gibt, während ein anderer zugunsten des Beklagten entscheidet. Ja, es können sogar abweichende Urteilssprüche in ein und demselben Falle durch denselben Mudschtahid *), gefällt werden, weil der Rechtsfall bald in diesem, bald in jenem Licht erscheint. Es kann kein Zweifel bestehen, daß solche Zustände eine unendliche Verwirrung verursachen und auf die Grundsätze des ganzen Volkes ungünstig einwirken.
*) Ein Angehöriger der schiitischen Geistlichkeit.
Weder der Kläger noch der Beklagte ist vom Unwert seines Rechtsstreites überzeugt, und sie erwarten stets, durch ein zweites Urteil, welches das erste aufhebt, Recht zu erlangen. So verschwenden sie ihre Zeit mit Prozessieren. Ihr kostbares Leben vergeuden sie durch Streit und Feindschaft, versäumen Gutes zu tun und vernachlässigen ihre übrigen Angelegenheiten. Sie sind wahrlich wie die Toten, welche unfähig sind, ihrem Nächsten oder dem Gemeinwesen Dienste zu leisten. Aber wenn eine wohlgeordnete Gerichtsbarkeit im Lande wäre, würden sie nicht alle ihre Hoffnungen auf eine zweite Instanz setzen und würden sich wieder um wichtigere Dinge kümmern.
Da von dieser Frage der Friede und die Wohlfahrt des Volkes im Reich im großen ganzen offensichtlich abhängt, sollten die Geistlichen,*) welche mit allen Angelegenheiten der Rechtspflege bekannt sind, einen ernstlichen Versuch machen, die zufriedenstellende Erledigung von Rechtsstreitigkeiten herbeizuführen. Ihre Entscheidungen sollten auf des Königs Anordnung gedruckt und in Umlauf gesetzt und in allen Provinzen verteilt werden, damit das Volk sie kennen lernt und sich ihnen fügt. Dies wäre in der Tat für das Land eine Maßnahme von ungeheurer Bedeutung.
*) Erst durch Verleihung der Verfassung im Jahre 1907 schuf der Schah Muzaffaru’d Din ordentliche Gerichtshöfe, die von den Mudschahid abgesondert sind.
Das zweite Kennzeichen des Fortschrittes und der Selbstveredlung besteht in der Beachtung von Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit.
Es darf keine Rücksichtnahme auf persönlichen Vorteil und kein Streben nach persönlichem Nutzen geben, vielmehr sollte jedermann, sei er, wer er wolle, die gerechten Gesetze halten und sich als ein Glied des Volkes Gottes betrachten. Er sollte sich von seinen Nebenmenschen nicht absondern, es sei denn, daß es sich um seinen geistigen Fortschritt handelt, sondern das Gemeinwohl als sein Eigenes ansehen. Kurz, er sollte das ganze Volk als einzigen Körper und sich selbst als eines der Glieder dieses Körpers ansehen.
Der Weg.
Der Bruder ist der Spiegel meiner eignen Seele.
In seinem Herzen klingt das meine, Schlag um Schlag.
Dort drüben schaue ich, wie ich mich selber quäle
Und meine Mühsal, meine Lasten trag’.
Wer bin ich denn, daß ich so klar mein Selbst erkenne,
Daß ich dort deutlich meinen eigenen Jammer seh’
Und doch den Pfad alleine, ohne den Gefährten
Den schmalen Pfad zum Paradiese geh’?
Ja, Seele, kannst du deine Niedrigkeit denn fassen?
So schleichst du dich in die Vollendung ein:
„Den Bruder habe ich am Weg gelassen,
Erbarmen, Herr, mit mir, ich komm’ allein...“
Den Stab zur Hand und Kampf sag’ an der eignen Schwäche,
Das neue Banner trage stark voran —:
Für dich den Kampf! Ob ich zusammenbreche
Mit dir, o Bruder, geht der Weg bergan!
E. M. Großmann.
Worte Abdu’l-Bahás.
Gesammelt von Mr. Mountford Mills, New York in Akka.
Aus dem Englischen übersetzt von Wilhelm Herrigel.
Die geistige Arbeitsgemeinschaft.
Die Geistige Arbeitsgemeinschaft ist kein Haus der Gerechtigkeit. Sie ist eine universale Angelegenheit, die mit der Zeit überall durchgeführt wird. Jetzt ist noch nicht die Zeit dafür. Wer bauen will, muß sich zuerst Material beschaffen und dann mit dem Bauen beginnen. Hat er aber nicht das richtige Material, dann kann er nicht bauen. Jetzt ist die Zeit zum Lehren, ihr müßt euch Material beschaffen. Die Hauptpflicht der Geistigen Arbeitsgemeinschaft ist daher, das Lehren zu fördern. Möge sie sich darauf beschränken, viele Menschen zu lehren, und so Vorarbeit zu leisten für das Haus der Gerechtigkeit. Die Geistige Arbeitsgemeinschaft ist eine geistige Körperschaft und soll eine solche bleiben, bis die politischen Angelegenheiten ausgeglichen sind. Das Haus der Gerechtigkeit muß, um ein solches zu sein, Einfluß erlangen. 'Abdu'l-Bahá hofft, daß sich die Geistige Arbeitsgemeinschaft mit der Zeit entwickeln wird.
Frage: Soll der Geistigen Arbeitsgemeinschaft gehorcht werden?
Antwort 'Abdu'l-Bahás: Wir haben jetzt noch nicht die Menschen dazu. Die erste Aufgabe der Geistigen Arbeitsgemeinschaft ist das Lehren der Sache Gottes. Wenn sich im Verlauf der Vorkommnisse gewisse Fragen erheben, wie z. B. die Fürsorge für Waisen, die Herausgabe von Büchern, das Erbauen des Tempels etc., so müssen diese besprochen und beraten werden. Wenn dabei Geistigkeit beobachtet wird, dann werden ihre Verrichtungen heilig sein.“
Frage: Hat die Geistige Arbeitsgemeinschaft die Pflicht einzugreifen, wenn es vorkommt, daß jemand nicht im Einklang mit den Worten Bahá’u’lláhs lehrt?“
Antwort 'Abdu'l-Bahás: Sofern dieses Lehren nicht zersetzend wirkt, ist es Pflicht der Gläubigen, freundlich zu sein und zuzuhören. Was in einem solchen Fall gelehrt wird, soll aber nicht als Grundlage der Sache betrachtet werden. Um ein Beispiel zu geben: Wir sitzen hier beisammen, es kommt einer herein und spricht in einer Weise zu uns, die uns nicht gefällt. In diesem Fall sollten wir uns nicht von ihm abwenden, noch sollten wir seine Worte zu einer Grundlage unserer Erkenntnis machen. Es ist Pflicht der Freunde, es so lange als möglich zu vermeiden, einen anderen Freund zu verdriessen. Später werden die Gruppen eine Verfassung haben, der zu folgen ist, und wenn jemand gegen diese spricht, oder sich nicht nach ihr richtet, so wird ihm gesagt werden, daß er sich außerhalb unserer Reihen stellt. Es wird ihm gesagt werden, daß die Verfassung eine solche Art des Lehrens nicht erlaubt. Diese Zeit ist jetzt noch nicht gekommen. Jetzt ist es die Zeit zum Lehren und zum Sammeln einer Armee; später kann organisiert werden.
Frage: „Ist es Pflicht der Geistigen Arbeitsgemeinschaft, darüber zu entscheiden, ob eine gewisse Art zu Lehren zersetzend wirkt?“
Antwort 'Abdu'l-Bahás: „Sie wird imstande sein, darüber zu entscheiden, aber der Fall muß offenkundig sein.
Frage: „Sollen wir uns jetzt zu einer maßgebenden Körperschaft mit einer Verfassung organisieren?“
Antwort 'Abdu'l-Bahás: „Die Zeit für eine solche Organisation ist noch nicht gekommen. Vorerst muß das Werk gänzlich geistiger Natur sein.“
Kurz gesagt, die Pflichten der Geistigen Arbeitsgemeinschaft und die Pflicht zu
Lehren, sind wichtige Angelegenheiten, denn sie bilden die Grundlage für den künftigen
Aufbau zu Lehren unter gleichzeitiger Erziehung der Seelen, so daß jede Seele, die
die Botschaft empfängt, auch richtig in den Lehren unterrichtet wird. Heute ist der
Tag des Sammelns. Wenn die Menschen gläubig geworden und gründlich unterrichtet sind,
dann können wir zu andern Angelegenheiten übergehen. Es heute schon so machen zu
wollen, wäre ebenso wie wenn man eine Tafel schön decken würde,
aber kein Essen dazu hätte. Zuerst muß das Essen zubereitet werden. Die Aufmerksamkeit
der Menschen ist gänzlich von Gott abgewandt, sie müssen vom Königreich Gottes
angezogen werden. Die Religion hatte ihre Rolle ausgespielt. Der Materialismus
hat die Religion beiseite gesetzt und zwar deshalb, weil die geistigen Führer die
ursprüngliche Methode der Propheten verlassen haben und sich mit ihren eigenen
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Wünschen, d. h. mit eigenen Theorien über die Religion beschäftigen. Ihre Gedanken
sind nur auf das Vergnügen und den Geschmack dieser Welt gerichtet. Die göttliche
Bestätigung ist von ihnen gewichen. Sie sind schwach geworden, und die Materialisten
haben den Vorteil aus diesen Zuständen gezogen. Die erste Pflicht ist daher, die
Aufmerksamkeit der Menschenherzen auf Gott zu lenken. Dies ist aber nur möglich,
wenn die Seelen heilig, beredt und Tag und Nacht wachsam sind, wenn sie beten und
flehen, wenn sie sich zum Königreich Abhás wenden, sich auf Gott verlassen und ihre
Stimme erheben. Heute kann nur das Wort Gottes dem Materialismus widerstehen.“ (In
diesem Zusammenhang ist unter dem „Wort“ das von der Gesegneten Vollkommenheit
geoffenbarte Wort zu verstehen).
Bei der Abendtafel am 26. Mai 1919
Wenn neue Redner über einen Text aus den Schriften sprechen wollen, so soll diese Rede, um Entgleisungen zu vermeiden, von dem Redner zuerst niedergeschrieben und drei Tage vor der Versammlung der Geistigen Arbeitsgemeinschaft zur Prüfung vorgelegt werden. Bei erfahrenen Rednern ist dies nicht notwendig.
Was die Stunde der Versammlungen betrifft, so kann diese gewechselt werden, weil eine solche Versammlung noch kein Mashraqu’l Adhkar ist. Die Stunde der Versammlung soll nicht mit der Zeit anderer Kirchen zusammenfallen und dadurch zu Uneinigkeit führen. Wenn ein solches Zusammentreffen zu Erbitterung führt, dann ändert die Zeit.
Die besonderen Versammlungen sollen speziell dem Lehren, der (geistigen) Geselligkeit und der Erörterung gewidmet sein. Die allgemeinen Versammlungen aber sollen völlig den Charakter andächtiger Erbauung haben. Wenn möglich, sollte man ein besonderes Heim für solche haben. Es sollte wie der Tempel ein ganz ruhiger Ort sein, der gänzlich in den Händen der Sache ist.
Allgemeine Beschützung.
Helfet einander und fördert Einigkeit und Gleichberechtigung. Diese kleinen Schwierigkeiten sollten euch eure Zeit nicht wegnehmen. Sie sind die Produkte der Selbstsucht, dem schlimmsten Laster des Menschen von heute. Ihr habt größere Arbeit zu verrichten.
Eine Geistige Arbeitsgemeinschaft ist notwendig. Sie kann aus Männern und Frauen bestehen, aber das Haus der Gerechtigkeit wird nur aus Männern gebildet werden.
Was die allgemeine Beschützung betrifft, so ist es den Gläubigen zur Pflicht gemacht, nach einander zu sehen. Wird z. B. jemand von einem Unglück betroffen, oder von einer Bestimmung der Vorsehung heimgesucht oder es kommt sonst eine Heimsuchung über ihn, so müssen die Freunde versuchen, ihn davon zu befreien; dies ist Pflicht.
Eine andere Pflicht ist: Hospitäler, Heime für Krüppel, Waisenschulen etc. vorzusehen. Es ist für Bahá’i-Kinder besser in Bahá’i-Schulen erzogen zu werden.
Was die gegenseitige Hilfe betrifft, so bezieht sich diese auf die verschiedenen Zweige des Lebens, wie Handel, Gewerbe und andere Berufe. Wo immer eines der Gläubigen der Hilfe bedürftig ist, sollte ihm Hilfe zuteil werden. Aber niemand sollte um Hilfe bitten, es ist das Vorrecht der Reichen, diese Werke zu tun; aber dies ist dem freien Willen anheimgestellt. Niemand sollte um eine solche Hilfe nachsuchen. Es ist besser, vorher im Glauben zu sterben. Die Geliebten Gottes müssen sich in einem Zustand äußerster Loslösung befinden und diese Loslösung der ganzen Menschheit vorleben. Große Schande ist es für jemand, im Angesichte Gottes seinen Mitmenschen zu hintergehen! Solche Menschen müssen geistig gehoben werden. Die Welt muß auf eine solche Höhe gebracht werden, daß es wird wie in Persien, wo viele arme Gläubigen nichts von andern annehmen. Dies sind wahre Gläubige. Sie machen sich auf, um sich selbst zu helfen und sich selbst beizusteuern. Arme Gläubige in Persien bitten die Reichen nie um etwas; dies ist dort nicht der Brauch. Aber die Reichen geben von selbst, ohne darum gebeten zu werden. In Isphahan war eine Hungersnot und zwei Brüder gaben alles, was sie hatten, aber niemand hatte sie darum gebeten. Die Welt wird aber einen solchen Zustand erlangen, daß es weder absolute Armut noch großen Reichtum gibt. Das Geben sollte für den Geber eine Freude sein, einerlei wie arm er sei, oder wie klein seine Gabe sein mag.
An Mrs. Brittingham 1904.
Du hast mir geschrieben wegen der Prüfungen und Trübsale, die über Amerika kommen sollen.
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Wisse, daß Bedrückung und Mißgeschick sich von Tag zu Tag vergrößern
werden, und daß die Menschen in großes Elend geraten. Die Tore der Freude und
Glückseligkeit werden auf allen Seiten geschlossen sein. Schreckliche Kriege werden
kommen. Fehlschläge und vereitelte Hoffnungen werden die Menschen aus allen
Richtungen umfangen, bis sie genötigt sind, sich Gott zuzuwenden. Alsdann werden die
Lichter großer Glückseligkeit die Horizonte erleuchten, so daß sich der Ruf „Ja Bahá
el Abhá“ von allen Seiten erhebt. Dies wird sich ereignen.“
gez. 'Abdu'l-Bahá Abbäs.
An Mirza Shirazi.
Ich habe viele Wunden. Ich spreche aber nicht von ihnen und trage sie stillschweigend. Wie du weißt, habe ich den Ansturm aller Kritik zu ertragen und muß mich immer bereit halten, den Fallgruben, die mir die Mohammedaner, die Christen und die Juden stets graben, zu entrinnen. Noch mehr als dies, ich habe die Bürden der Sorgen einer sich rasch vermehrenden Gemeinschaft der Bahá’i auf meinen Schultern. Weißt du, was das Heilmittel für meine Wunden ist? Es besteht einzig darin, zu hören, daß die Bahá’i wach und tätig sind, und ich fühle mit Gewißheit, daß ich nicht sterben werde, bevor die Ziele Bahá’u’lláhs erreicht sind, wodurch viele meiner Wunden geheilt werden.“
'Abdu'l-Bahá an die Freunde in Amerika über Christus, 1903.
Wisset, daß das zweite Kommen Christi nicht bedeutet, was man gewöhnlich glaubt; es bedeutet vielmehr das Kommen des Verheißenen, der nach Christus mit dem Königreich Gottes und Seiner Macht kommen soll, und diese umfaßt nun die ganze Welt. Diese Macht (oder Herrschaft) liegt in der Welt des Herzens und Geistes und nicht in der Welt der Materie (oder der Körper); denn die materielle Welt ist im Angesichte Gottes noch nicht einmal mit dem Flügel einer Mücke zu vergleichen. Würdet ihr dies nur erkennen! Wahrlich, Christus kam mit Seinem Königreich von Anfang an und wird mit diesem kommen bis zur Ewigkeit der Ewigkeiten. Insofern und in diesem Sinn ist die Bezeichnung Christus ein Ausdruck für die göttliche Wirklichkeit, das einzige Wesen und die himmlische Wesenheit, ohne Anfang und ohne Ende. Dieses himmlische Wesen erscheint, erhebt und offenbart sich in jeglichem Zyklus und geht auch wieder unter in jedem Zyklus.
Was die Frage betrifft, ob Christus nun ein zweitesmal kam, so wisset: Wahrlich, Christus starb niemals. Gott, der Erhabene, sagte: „Denket nicht, daß wer im Pfade Gottes getötet wird, tot ist; nein, er lebt und wird erhalten von seinem Herrn.“ Ferner: „Wer an Gott glaubt, lebt in dieser und in der nächsten Welt.“ Wenn sich diese Stufe bewahrheitet bei den Gläubigen, wie viel mehr ist dies der Fall bei den Propheten (auf ihnen sei Ruhm und Friede!).
Was den Aufstieg Christi zum höchsten Gipfel, zum erhabenen Himmel und mächtigsten Firmament betrifft, so wisse und sei dessen sicher, daß, obwohl die Bezeichnung „Himmel“ auf die sichtbare Erscheinung angewendet wird, die Wirklichkeit davon die erhabene Stufe, den höchsten Gipfel, die hehre Wohnstätte und das allerhöchste Königreich bedeutet, zu dem Christus aufstieg. Er sagte: „Niemand fährt zum Himmel, als der, der vom Himmel kam.“ Somit ist es erwiesen, daß Er vom Himmel herniederkam, während Er körperlich vom Schoße der Maria stammte.
Christus ist für ewig in Seinem Himmel, in der höchsten Stufe und im erhabensten Reiche. Ruhm sei dem Herrn, dem Allerhöchsten!
Wisset, daß es für das Wesen Christi keinen Anfang und kein Ende gibt. Von Ewigkeit
her saß dieses leuchtende Wesen auf dem Thron der Macht und für alle Ewigkeit
wird dieses Wesen eine durchdringende Herrschaft über alle existierenden Welten haben.
Diese Herrschaft ist ewig und hat kein Ende. So ist auch die Anrede der Engel an
die Leute von Galiläa, daß dieser Christus, so wie Er gen Himmel gefahren sei,
wiederkommen werde, geistig zu verstehen. Als Christus erschien, kam Er vom Himmel,
obwohl Er körperlich vom Schoße der Maria geboren wurde. Er sagte: „Niemand fährt
gen Himmel als der, der vom Himmel herniederkam!“ Ferner: „Ich kam vom Himmel und
werde in den Himmel zurückkehren.“ Mit „Himmel“ ist hier nicht der unendliche,
sichtbare Raum gemeint, sondern die Welt des göttlichen Königreichs, das
die allerhöchste Stufe und der Sitz der Sonne
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der Wahrheit ist. Kurz, der Geheimnisse der heiligen Bücher sind viele, und sie
erfordern Erklärung und Erläuterung. Ich hoffe, Eure Einsicht wird sich erweitern, so
daß die göttlichen Geheimnisse euch offenbar und klar werden.
Auf Euch sei Gruß und Lob!
Der Segen der Schwierigkeiten.
Je mehr Schwierigkeiten einem Menschen in der Welt entgegentreten, desto vollkommener wird er. Je mehr und je tiefer du den Boden umpflügst, desto fruchtbarer wird er. Je mehr du die Zweige eines Baumes beschneidest, desto höher und stärker wächst er. Je mehr du das Gold im Feuer läuterst, desto reiner wird es. Je mehr du den Stahl durch Schleifen schärfst, desto besser wird er schneiden. Je mehr Sorgen daher über einen Menschen kommen, desto vollkommener wird er. Aus diesem Grunde hatten die Propheten Gottes zu allen Zeiten Trübsale und Schwierigkeiten zu überwinden. Je öfter der Kapitän eines Schiffes bei Sturm und Wetter fährt, desto größer wird seine Kenntnis in der Navigationskunst. Deshalb bin ich glücklich darüber, daß so große Trübsale und Schwierigkeiten über dich kamen; ja, ich bin sehr glücklich, daß du so viele Sorgen hattest. Seltsam ist es, daß ich dich liebe und mich doch darüber freue, daß du Sorgen hast.
Die Pflicht, die hl. Sache rein zu erhalten.
Aus Tagesberichten 1914.
Mein Ziel ist, kurz gesagt: Die gesegnete Sache ist von allen Seiten von Gefahren bedroht. Während Seiner Lebenszeit erzog uns Bahá’u’lláh und umgab uns mit Seinen Wohltaten und Begünstigungen, damit wir dieses geoffenbarte Licht nach unserer Fähigkeit beschützen möchten. Wir müssen danach streben, die heilige Glut dieses himmlischen Feuers rein zu erhalten und dürfen nicht zulassen, daß die Hoheit der Sache durch äußere Umstände gestört und in Unordnung gebracht wird. Dies ist einfach Pflicht eines jeden Bahá’i; wird diese nicht geübt, dann wird kein Zeichen und keine Spur von der Bewegung übrig bleiben.
Während Mohammed in Arabien lebte, kamen eines Tages Seine Anhänger zu Ihm und fragten Ihn: „War Kahlid, der viele Jahre vor Dir lebte, ein Prophet?" Mohammed antwortete: „Ja, Er war ein großer Prophet, und Er setzte viele Gesetze ein; aber nach Seinem Tod wurden Seine Anhänger gleichgültig und verloren die Begeisterung ihrer Führer, und so wurde das Licht ausgelöscht, der Glaube wurde nicht fortgepflanzt, und das Banner der Wahrheit nicht entfaltet.“
Aehnlich wird es gehen, wenn wir die Sache nicht beschützen, wenn wir nicht selbstaufopfernd sind, wenn wir nicht an den Fortschritt dieser Ideale denken, und wenn wir nicht alles aufgeben um der Interessen der Wahrheit willen; dann wird dies Licht ausgelöscht, besonders nach meinem Hingang.
Die Führung Gottes.
Aus Tagesberichten 1914.
‘Abdu’I-Bahä sprach über die Führung Gottes. Als Grundlage Seiner Rede sprach Er: „Gott wandte Sich an einen Seiner Propheten und sprach: „Hältst du dich für fähig, einen Blinden zu führen, der nichts sieht? Kannst du von einem Tauben erwarten, daß er hört, obschon ihm die Kraft des Gehörs versagt ist?“ — —— Oftmals findet eine falsche Darstellung mehr Glauben als tausend Worte der Wahrheit. Wenn der Schleier der Nachlässigkeit und Ungerechtigkeit das Auge bedeckt, wird der Mensch gegenüber klaren Tatsachen blind. Einmal sah man Christus in großer Eile davongehen. Sie fragten ihn: „Warum gehst Du so eilig davon?“ Er antwortete: „Ich möchte dem Toren entrinnen“ „O“, sagten sie, „hast Du nicht den größten Namen Gottes? Mit diesem heiltest Du den Blinden, den Tauben und den Stummen und wecktest den Toten auf. Warum wandtest Du den Großen Namen nicht auf den Toren an, damit er intelligent werde?“ Christus antwortete: „Ich flüsterte den großen Namen Gottes in die Ohren des Tauben und er wurde hörend, der Blinde wurde sehend, der Lahme ging und der Tote wurde lebendig; aber dem Toren wiederholte ich diesen Namen tausendmal, ohne eine Veränderung bei ihm wahrzunehmen. Deshalb fliehe ich ihn.“ — —
Die Gesegnete Vollkommenheit.
Die Bezeichnung „Gesegnete Vollkommenheit‘“ bezieht sich nicht auf den Körper;
dieser ist in dem heiligen Grab
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beigesetzt. Wenn wir „die Gesegnete Vollkommenheit" sagen, so meinen wir damit die
Wesenheit; und die Wesenheit der Gesegneten Vollkommenheit ist lebendig und ewig.
Es ist dasselbe, wie zur Zeit Christi. Die Jünger waren erschüttert, als sie den Körper
Christi gekreuzigt sahen. Dann kam Maria Magdalena und sagte: „Warum seid ihr so
erschüttert?‘“ Sie antworteten: „Weil Jesus gekreuzigt wurde.“ „O“, sagte sie: „Dies
war nur der Körper von Jesus Christus, aber Seine Wesenheit ist lebendig und ewig,
sie ist nicht der Verwesung ausgesetzt.“
So ist es auch mit dem Körper der Gesegneten Vollkommenheit. — Wenn Ich bete, so wende ich meine Gedanken zur Gesegneten Vollkommenheit.‘“
Aus Tagesberichten 1914.
China-, China-, China-, China-wärts muß die Sache Bahá’u’lláhs gehen. Wo ist der heilige, geheiligte Bahá’i, der der Lehrer für China werden könnte? China hat sehr große Fähigkeiten. Das chinesische Volk ist ganz einfachen Herzens und wahrheitssuchend. Der Bahá’i-Lehrer für das chinesische Volk muß zuerst mit dessen Geist bekannt sein, er muß dessen heilige Schriften kennen, dessen nationale Gebräuche studieren und imstande sein, von dessen eigenem Standpunkte aus und in dessen Ausdrucksweise zu ihm zu sprechen. Er darf nicht an sich selbst denken, sondern muß stets die geistige Wohlfahrt dieses Volkes vor Augen haben. In China kann man viele Seelen lehren und manche göttliche Persönlichkeiten heranbilden und erziehen, von denen jede eine helleuchtende Kerze für die Menschheit werden könnte. Wahrlich, ich sage euch, dieses Volk ist frei von Täuschung und Heuchelei und ist ausgestattet mit idealen Beweggründen.
Hätte ich mich wohl genug gefühlt, so würde ich selbst eine Reise nach China unternommen haben. China ist das Land der Zukunft. Ich hoffe, daß die richtige Art von Lehrern inspiriert wird, nach diesem fernen Reich zu gehen und das Fundament zum Königreich Gottes zu legen, die Prinzipien der göttlichen Zivilisation zu verbreiten, das Banner der Sache Bahá’u’lláhs zu entfalten und die Menschen zu dem Mahl des Herrn einzuladen.“ —
In den letzten zwanzig Jahren habe ich immer wieder die Pflicht der Verbreitung der Sache Gottes eingeschärft. In jeder Stadt müssen Lehrklassen eingeführt werden, um die jungen Leute zu unterrichten, wie die Sache zu lehren ist, und um sie für diesen allerwichtigsten Dienst vorzubereiten. Jeder Bahá’i muß mit der richtigen Art des Lehrens sich vertraut machen. Dies wird Resultate erzielen. Nichts ist so wichtig wie dies. Das Verbreiten der Offenbarung Bahá’u’lláhs ist die allerwichtigste Sache. Jegliche Zeit einer Sache ist von höchster Wichtigkeit. Es gibt eine Zeit der Bereitung des Bodens, eine Zeit der Aussaat, eine Zeit der Bewässerung der Saat und eine Zeit der Ernte. Um erfolgreich zu werden, müssen wir bei unserer Tätigkeit auf diese verschiedenen Zeiten achten. Jetzt ist die Zeit der Aussaat, aber es scheint mir, daß manche der Gläubigen schon an das Ernten denken. Dies wird ihnen keine Resultate bringen. Wer jetzt an etwas anderes als an das Säen denkt, vergeudet seine Zeit. Die Verbreitung und Förderung der Prinzipien Bahá’u’lláhs ist jetzt die am meisten vorherrschendste Aufgabe für die Gläubigen Gottes.
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Als Jesus kam, nannten Ihn die Juden Beelzebub. Ich habe schon immer gesagt, daß die Gläubigen um der Bahá’i-Sache willen werden getadelt werden. Ich verhieß euch dies. Die Juden versuchten aus der Bibel zu beweisen, daß Jesus ein falscher Prophet sei, somit ist ein solcher Tadel nichts Neues. Es ist immer so. Laßt die Zweifler zum Rabbiner gehen; sie werden hören, was er über Jesus sagt.
Bevor ich Amerika verließ, erwähnte ich in vielen Versammlungen, was sich ereignen
wird. Ich sagte, daß die Geistlichkeit nach meiner Abreise damit beginnen werde,
Zweifel zu erregen, daß die Gläubigen würden getadelt werden, daß man Fehler an
ihnen finden werde, daß sie in viele Prüfungen geraten, daß aber diejenigen, welche
fest bleiben, im Königreich Gottes bestätigt werden. Zur Zeit Jesu erregte die jüdische
Geistlichkeit so viele Zweifel, daß es nur wenige waren, die an Ihn glaubten und von
diesen verleugnete Ihn einer. Warum? Weil die Prüfungen jener Zeit sehr heftige waren.
Die Geistlichkeit ließ es sich sehr angelegen sein, Zweifel in die Herzen des Volkes zu
säen. Sie stellten dafür viele Beweise auf, Sie sagten, der Messias müsse vom Himmel
kommen, dieser Jesus aber sei von Maria geboren und anderes mehr. Ohne Zweifel
kommen große Prüfungen, und nicht alle werden fest bleiben; wer schwach ist im
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Glauben, wird sicherlich wankend, aber wer stark ist, wird fest bleiben wie ein Berg.
Was für Stürme von Prüfungen auch kommen mögen, wahre Gläubige werden niemals
wankend.
Ich hoffe, daß die Gläubigen Amerikas gleich den Gläubigen Persiens imstande sein werden, diesen Prüfungen standzuhalten, daß auch sie die Stufe der Perser erreichen, auf der sie imstande sein werden, ihr Leben zu opfern und so die Ursache der Führung der Menschheit zu werden. Sie müssen sich nicht erschüttern lassen durch die Worte der Geistlichkeit. Wessen Glauben so schwach ist, daß er durch die Worte der Geistlichkeit ins Wanken kommt, ist zu schwach, um ein guter Gläubiger zu werden, und in diesem Fall ist es besser für ihn, ausserhalb als innerhalb der Sache zu stehen.
Frage: Gibt es verlorene Seelen?
Antwort: „Es gibt Seelen, welche die Fähigkeit haben, von den göttlichen Düften belebt zu werden, und als Christus von solchen sprach, sagte Er, sie müssen von neuem vom — Geist — geboren werden. Jegliche Seele, die durch den Beistand des Heiligen Geistes geistig geboren ist, befindet sich auf einer aufwärts führenden Bahn und gelangt zu der erhabenen Stufe der geistigen Welt. Was aber die Seelen betrifft, die den Odem des Heiligen Geistes nicht empfangen, so wisset, daß diese in der Welt der Unvollkommenheit bleiben. Sie sind blind, taub, ohne Intelligenz und umgeben von Finsternis. Sie gelangen nicht zur Welt des Lichts. Solche Seelen sind tot, obgleich sie leben, und im Vergleich mit den Seelen der Welt des Lichts sind sie verloren.“
Frage: „Wird Gott solche Seelen jemals zu den Höhen erheben, die andere erreichen ?“
Antwort: „Gott ist mächtig, zu tun, was Ihm beliebt.“
Frage: „Treffen die Seelen selbst ihre Wahl, in diese Welt zu kommen?“
Antwort: „Die Seelen kommen nach dem Willen Gottes in diese Welt. Wenn Gott will, dann treten sie in die Arena des menschlichen Lebens.“
Frage: „Existieren wir als bewußte individuelle Seelen, bevor wir in diese Welt treten?“
Antwort: „Individuelles Bewußtsein kommt erst nach der Geburt zustande.“
Frage: „Ist jede neugeborene Seele neu erschaffen?“
Antwort: „Ja, jede Seele hat einen Anfang, aber einmal erschaffen, ist sie unsterblich.“
Frage: Welche Strafe erwartet diejenigen, die sich weigern, die Erkenntnis Gottes und das Licht Gottes anzunehmen ?“
Antwort: „Ihre Bestrafung wird darin bestehen, daß sie Gottes, des Herrn, beraubt sind.“
Frage: „Wird dieser Zustand ewig währen?“
Antwort: „Nein, denn Gottes Barmherzigkeit hat kein Ende.“
Frage: „Wie können Menschen, die Gott nicht kennen, diese Unkenntnis als Strafe empfinden?“
Antwort: „Kein Mensch kann glücklich sein ohne Gott, obschon er es nicht zu erkennen vermag, warum er sich so elend fühlt.“
Frage: „Gehen die Verstorbenen gänzlich von dieser Erde weg, und verlieren sie alles Bewußtsein an diese Welt und alles Interesse an den Hinterbliebenen und an den Angelegenheiten dieser Welt?“
Antwort: „Nein, die Verstorbenen behalten sowohl die Erinnerung daran, als auch das Interesse an denen, die sie lieben.“
Frage: „Lehrt die Bahá’i-Offenbarung die Reïnkarnation?“
Antwort: „Nein, eine Seele, die einmal befreit ist von ihrem Körper, nimmt in dieser Welt niemals mehr eine physische Gestalt an."
Tablets 'Abdu'l-Bahás an zwei Gläubige in Amerika.
Aus dem Englischen übersetzt von Wilhelm Herrigel.
O aufrichtiger Diener des Einen Wahren!
Wie ich hörte, bist du bekümmert und unglücklich über die Ereignisse der Welt und die Wechselfälle des irdischen Glücks. Warum diese Furcht und Sorge? Wer die Abhá-Schönheit wahrhaft liebt und aus dem Kelch des Bündnisses reichlich getrunken hat, fürchtet kein Unglück, noch fühlt er sich niedergedrückt in der Stunde der Trübsal. Er betrachtet das Feuer der Widerwärtigkeiten als Lustgarten und die Tiefe des Meeres als die Weite des Himmels.
Du bist unter dem Schutze Gottes und unter dem Schatten des Baumes Seines
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Bündnisses, warum sorgst du dich und bist unzufrieden? Beruhige dich und sei
vertrauensvoll. Beachte die geschriebenen Gebote deines Herrn mit Freuden und im
Frieden, mit Ernst und Aufrichtigkeit und wünsche deinem Vaterland und deiner Regierung
das Beste. Seine Gnade wird dir allezeit beistehen, Seine Segnungen werden über dich
kommen und deines Herzens Wunsch wird erfüllt werden.
Bei der ewigen Schönheit! (Möge Mein Leben ein Opfer für Seine Geliebten sein!) Würden sich die Freunde vergegenwärtigen, welch eine herrliche Herrschaft der Herr in Seinem Königreich für sie bestimmt hat, dann würden sie sicherlich von Begeisterung erfüllt werden, sie würden sich gekrönt sehen mit unsterblichem Ruhm und hingerissen werden vor freudigem Entzücken. Binnen kurzem wird es offenbar werden, wie herrlich das Licht Seiner wohltätigen Sorgfalt und Barmherzigkeit auf Seine Geliebten geschienen hat und welch ein ungestümer Ozean in ihren Herzen aufgewühlt wurde. Dann rufen sie aus und erklären: „Glücklich sind wir, laßt alle Welt sich freuen!“
Gez.: 'Abdu'l-Bahá Abbás. .
O du geliebte Dienerin!
Dein Brief ist angekommen und von seinem Inhalt wurde Kenntnis genommen. Es sind wahrlich schreckliche Heimsuchungen und quälende Betrübnisse über dich gekommen. Diese Trübsale entsprachen der vollendeten Weisheit, deshalb waren sie für dich das Beste. Es ist gut für den Menschen, solche Trübsale zu erdulden.
Denke nach über den heiligen Hiob. Was für Trübsale und welches Elend hatte er zu erdulden und in welche Verlegenheit ist er geraten. Aber diese Prüfungen glichen dem Feuer und Hiob glich dem Gold. Es ist sicher, daß das Gold durchs Feuer geläutert wird, und wenn es irgend eine Legierung oder sonst etwas enthält, so wird diese ausgeschieden. Dies ist der Grund, warum heftige Prüfungen für den Gerechten zur Ursache ewigen Ruhmes werden und warum sie den Ungläubigen zu seinem Verderben führen.
Die Weisheit all dieser Trübsale, die allmählich über dich kamen, ist folgende:
Du sollst für diese Sache vorbereitet und für sie zugänglich gemacht werden, und die Erlangung der größten Führung erwarten, denn all diese Trübsale waren nur eine Vorbereitung für deinen Eintritt in das erhabenste Paradies, sie waren der Anfang des Erlangens dieser großen Segnungen. Solange die Winterzeit nicht kommt, der Donner nicht grollt und die Blitze nicht zucken, Schnee, Regen und Hagel nicht fallen, kein Frost eintritt und heftige Kälte nicht ihr Regiment führt, wird der seelenerfrischende Frühling nicht kommen, die würzige Luft nicht wehen, die Mäßigung der Temperatur nicht eintreten, die Rose und Hyazinthe nicht wachsen, die Erdoberfläche nicht zum entzückenden Paradies werden, der Baum keine Blüten, Blätter und Früchte treiben.
Diese Härte der Kälte, des Schnees, des Sturms war der Anfang des Erscheinens dieser Rosen, Hyazinthen, Knospen, Blüten und Früchte. Sei deshalb nicht bekümmert ob dieser Widerwärtigkeiten, die über dich kamen; erhebe dich vielmehr und bringe Dank dar, daß das Resultat zuletzt die Erlangung dieser unschätzbaren Wohltat ist und daß du dich der höchsten Gabe des allmächtigen Gottes erfreuen darfst.
Daher gürte deine Lenden der Bemühung, daß dadurch Resultate erzielt, Früchte geerntet, die Lampen des ewigen Lebens angezündet und die Gaben des Herrn des Königreichs offenbar werden, damit du mit großem Verlangen und Begeisterung zur Verehrung des Herrn der Heerscharen beiträgst.
Auf dir sei Gruß und Lob!
gez. 'Abdu'l-Bahá Abbás.
27. März 1906.
Was die Seele des Kindes bittet und fragt:
1. Wir möchten Menschen sehen, die leben nach den Worten des Lebens, die rein und keusch sind in allem Empfinden, rein, demütig und frei.
2. Wir möchten einen Menschen sehen, der volle Herrschaft hat über sein Wort
und seine Zunge, der niemand wehe tut, der stets die Wahrheit sagt, auch in den peinlichsten,
schwierigsten Lebenslagen, der vornehm gütig sein kann, auch gegen die, die ihn gekränkt und
beleidigt haben, der weiß, was Feindesliebe ist. Und wenn es solche Menschen nicht gibt,
die alles überwunden haben, dann zeigt uns wenigstens einen, der danach strebt, der so
strebt, als handle es sich dabei wirklich um
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seiner Seele ewiges Heil. Gönnt uns Kindern diese eine Freude.
3. Wir müssen einige schwierige Fragen stellen, wir müssen es: Warum duldet ihr es, daß wir heute soviele Menschen sehen, die sich sinnlos betrinken und andere dazu verführen, die frech und gierig nach Mädchen schielen, die an heiligsten Festtagen Magenfeste feiern und die notleidenden Brüder vergessen — mehr Unerfreuliches wollen wir nicht nennen. Aber sagt es den Menschen, daß fleischliche Gesinnung ein Uebel ist, und bedenkt, daß wir unter dem Schutz des Herrenwortes Matthäus 18, 6 stehen.
4. Unsere Seele hungert und schreit nach wahrhaft geistiger Führung, nach den Gefilden der Reinheit und Güte, aus denen wir stammen. Wir möchten zur Ruhe kommen in brüderlicher Zusammenarbeit mit Menschen, die einander tragen können, die sich lieben im Aufblick zu höchsten Menschheitsidealen, die schweigend fröhlich sein können, wenn sie leiden müssen für ihren Dienst.
5. Wir haben euch unser tiefstes Heimweh gesagt. Verzeiht, wenn ein Ton von Bitterkeit mit hineinklingt. Eigentlich ist es ja auch nur ein Wunsch, der uns beseelt, ein einziger: führt uns zu Menschen, die nach den Worten leben, die uns verkündigt wurden.
Im Namen vieler Kinder:
Emil Jörn.
Gebet.
Vater, ich rufe in unsrer Not,
welche die Menschen von heute so quält.
Vater, ich weiß, es ist der Tod,
welcher dem schwankenden Herzen noch fehlt.
Tod des Lärms. Dann reift das Schweigen,
liebend sich hinüberneigen,
zitternd Dir Entgegenschmiegen,
fest verwachsen in Dir Liegen.
Strömt von Dir das große Sausen,
bin ich dort und drin und draußen,
Bist Du draußen, dort und drinnen,
flammt mein Wollen, glüht mein Sinnen,
blüht mein Fühlen, mich zu schenken,
Dich zu künden, Dich zu denken,
in mein Herz Dein Weltenlenken,
in die Welt mein Herz zu senken.
Wenn es so in Dir nur ruht,
bist Du Geist in mir und Blut.
Zum ersten Advent 1928. Adelbert Mühlschlegel.
Vom wahren Gebet.
Es ist eine Tatsache, daß selbst die besten und wertvollsten Menschen vielfach das Wort „Gebet“ nur mit Scheu aussprechen. Wie ein tiefes Geheimnis bewahren sie es in ihrem Innern, wenn sie selber das Beten noch nicht verlernt oder es wieder gelernt haben. Es ist leider so: zahllose und gerade echt religiöse Menschen schämen sich zu gestehen, daß sie beten.
Diese Tatsache zeigt am deutlichsten, wie sehr das Gebet, das einstmals der Ausdruck tiefster Frömmigkeit war, in Mißkredit gekommen ist. Seine grobe Veräußerlichung, das mehr oder minder geistlose, jeder Kraft entbehrende Herplappern, wie wir es in nur allzuweiten Kreisen finden, hat einer gewissen falschen und ungesunden Frömmelei so sehr den Stempel aufgedrückt, daß Beten und Frömmelei gleichwertige Begriffe geworden sind. Ist dies zu verwundern, wenn man beobachtet, wie Menschen scheinbar mit großer Inbrunst beten, um schon im nächsten Augenblick über andere Menschen herzuziehen und in Zank und Hinterlist zurückzufallen? Gottlob, es gibt noch echte Frömmigkeit und wirklich aus tiefstem Herzensgrunde kommendes Gebet, aber sie werden meist vorziehen „in ihr Kämmerlein zu gehen", während sich sonst — leider — nur allzuviel Lippendienst breit macht und die feinfühlenden Menschen von der Kirche forttreibt.
Wir haben uns daran gewöhnt, unter Gebet nur das Wortgebet zu verstehen und lassen uns am
Sprechen genug sein. Zwischen einer solchen Art zu beten und der Sitte der thibetanischen
Gebetsmühlen ist in der Tat kein Unterschied zu erkennen, so sehr wir jene als das Symbol
schlimmster religiöser Veräußerlichung hinzustellen pflegen: im Gegenteil sind sie vielleicht
weniger geistlos, weil sie von Völkern geringerer Entwickelungsstufe verwendet werden, während wir
uns der Fortgeschrittenheit unserer Entwickelungsstufe unserer wissenschaftlichen Erkenntnis und
unseres Denkens rühmen, uns also weit eher über geistlose Uebungen erheben sollten.
Aber das Gebet ist in Wirklichkeit sehr viel mehr als bloßes Worteplappern, und nur eine .
einseitig materialistische wissenschaftliche Betrachtungsweise konnte es, wie es geschehen ist
und noch geschieht, für eine wertlose Ueberlieferung
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halten und zum überwundenen Standpunkt erklärten. So sehr die Wissenschaft heute wieder die
Möglichkeit „übersinnlicher Zusammenhänge“ d. h. einer Wirklichkeit auch außerhalb
oder neben der physischen Erscheinungswelt anzuerkennen beginnt, so sehr wird sie einmal
zugeben müssen, daß auch im Gebet ein tieferer wissenschaftlicher Sinn wohnt, als sie in
materialistischer Einseitigkeit noch zu erkennen glaubt.
Was ist der wahre, ich möchte sagen „wissenschaftliche“ Sinn des Gebetes? Mohammed sagt: „das Gebet ist eine Leiter, auf der der Mensch zu Gott emporsteigen kann“, Diese Erklärung ist bildlich und doch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet so präzis als nur möglich. Das heißt: das Gebet ist das Mittel zur Verbindung des Menschen mit dem Göttlichen. Wie können wir uns diese Verbindung vorstellen? Die Bahá’i-Lehre lehrt im Einklang mit den Lehren aller großen Religionsbringer, daß Gott „geheiligt und erhaben über allen“ steht, „aber Seine Zeichen sind offenbar in allen Dingen.“ Die ganze faßbare Welt ist eine Aeußerung Gottes, und das, was ihr Leben gibt, ist Sein Geist, der gleichsam wie ein elektrischer Strom alles durchdringt und dadurch Kraft, Anziehung und Wachstum bedeutet. Er ist jene Macht, deren Auswirkung die Wissenschaft als Naturgesetze erkennt. Wo sie aufhört, ist Vernichtung und Tod. Dreierlei Formen dieses belebenden Geistes sind es, die die Bahá’i-Lehre uns lehrt: der Geist der Materie, der die physische Erscheinungswelt weckt und erhält, der Geist des menschlichen Intellektes, der der Geist unseres Verstandes und unseres Gemüts ist, und der eigentliche göttliche Geist, der uns eine höhere Erkenntnis über Raum und Zeit hinaus gewinnen läßt und uns zur Ahmung des göttlichen Wirkens in uns bringt. In ihm erst finden wir das eigentliche Leben, das uns innerlich von der Knechtschaft der Materie, des Körpers, befreit. Er ist es, der durch sie zum klaren Bewußtsein dessen, was recht, zu unserem wahren Besten ist, bringt. Damit er aber in uns zur vollen Entwicklung kommen kann, ist es nötig, daß wir uns für ihn aufnahmefähig machen. 'Abdu'l-Bahá sagt:
„Des Menschen Herz gleicht einem Spiegel, auf dem sich immer Staub ansammelt. Um ein reines Herz zu erlangen, muß der Mensch beständig Gott bitten, daß es gereinigt werden möge. Durch das Gebet werden die irdischen Wünsche vom Herzen entfernt, wie der Staub vom Spiegel durch gründliches Abstauben und Reinigen. Ohne Gebet hört das Herz auf, ein Spiegel der göttlichen Vollkommenheit zu sein; es wird wie ein rauher, unpolierter Stein... Wir sollen aber nur aus Liebe zu Gott beten, nicht weil wir dadurch die göttlichen Gaben oder den Himmel zu erlangen hoffen.“
Das ist der wahre Sinn des Gebetes, der Weg, auf dem der Mensch mit dem Göttlichen in Verbindung kommen kann. Hierbei werden Worte immer nur Mittel zum Zweck sein, wenn sie aber nicht in uns gleichzeitig die Sehnsucht darnach, daß uns jene Lebenskraft durchströme, wecken, so sind sie völlig wertlos. Umgekehrt können wir auch die Sehnsucht in uns wachrufen, ohne daß es der Worte bedarf.
Shoghi Effendi äußerte sich zur Frage des Gebetes, daß wir des Gebetes und des Sich-Versenkens heute dringender denn je zuvor bedürften, eines völligen Zuwendens der Seele zu Gott. Dies ist der unerforschliche Schlüssel, wie wir es nennen mögen, für die Lösung unserer schweren Fragen. Wir alle haben Fragen und möchten geholfen haben, so können wir vielleicht durch diese seltsam unerforschliche Gabe des Schauens Rat finden. Shoghi Effendi gibt folgende Entwicklungsstufen:
1. Wenn du dich einer Aufgabe gegenüber siehst, so bete und versenke dich. Bete nicht nur, sondern bete und versenke dich.
2. Dann entscheide dich und halte daran fest ohne zu schwanken.
3. Entschließe dich, das, wofür du dich entschieden hast, durchzuführen.
4. Hab’ Vertrauen, daß die Kraft dich durchströmen wird. Die Tür wird sich auftun, die richtige Tür für dich, das richtige Buch, die richtige Botschaft, der rechte Grundsatz wird dir zur rechten Zeit zufallen. Hab’ Vertrauen, und das Rechte wird dir in deiner Not kommen.
5. Und schließlich handle. Handle mit unermüdlicher Energie, und in dem Maße, wie du handelst, wirst du ein Magnet werden, der immer mehr Kraft in dich zieht, bis du zuletzt ein weitgeöffneter Kanal bist, durch den die göttliche Kraft zu strömen vermag.
Dr.H.Gr.
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Druck von W. Heppeler, Stuttgart.
Geschichte und Bedeutung der Bahá’ilehre.
Die Bahai-Bewegung tritt vor allem ein für die „Universale Religion" und den „Universalen Frieden“ — die Hoffnung aller Zeitalter. Sie zeigt den Weg und die Mittel, die zur Einigung der Menschheit unter dem hohen Banner der Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit führen. Sie ist göttlich ihrem Ursprung nach, menschlich in ihrer Darstellung, praktisch für jede Lebenslage. In Glaubenssachen gilt bei ihr nichts als die Wahrheit, in den Handlungen nichts als das Gute, in ihren Beziehungen zu den Menschen nichts als liebevoller Dienst.
Zur Aufklärung für diejenigen, die noch wenig oder nichts von der Bahaibewegung wissen, führen wir hier Folgendes an: „Die Bahaireligion ging aus dem Babismus hervor. Sie ist die Religion der Nachfolger Bahá’u’lláhs. Mirza Hussein Ali Nuri (welches sein eigentlicher Name war) wurde im Jahre 1817 in Teheran (Persien) geboren. Vom Jahr 1844 an war er einer der angesehensten Anhänger des Bab und widmete sich der Verbreitung seiner Lehren in Persien. Nach dem Märtyrertod des Bab wurde er mit den Hauptanhängern desselben von der türkischen Regierung nach Bagdad und später nach Konstantinopel und Adrianopel verbannt. In Bagdad verkündete er seine göttliche Sendung (als „Der, den Gott offenbaren werde") und erklärte, daß er der sei, den der Bab in seinen Schriften als die „Große Manifestation", die in den letzten Tagen kommen werde, angekündigt und verheißen hatte. In seinen Briefen an die Regenten der bedeutendsten Staaten Europas forderte er diese auf, sie möchten ihm bei der Hochhaltung der Religion und bei der Einführung des universalen Friedens beistehen. Nach dem öffentlichen Hervortreten Bahá’u’lláhs wurden seine Anhänger, die ihn als den Verheißenen anerkannten, Bahai (Kinder des Lichts) genannt. Im Jahr 1868 wurde Bahá’u’lláh vom Sultan der Türkei nach Akka in Syrien verbannt, wo er den größten Teil seiner lehrreichen Werke verfaßte und wo er am 28. Mai 1892 starb. Zuvor übertrug er seinem Sohn Abbas Effendi ('Abdu'l-Bahá) die Verbreitung seiner Lehre und bestimmte ihn zum Mittelpunkt und Lehrer für alle Bahai der Welt.
Es gibt nicht nur in den mohammedanischen Ländern Bahai, sondern auch in allen Ländern Europas, sowie in Amerika, Japan, Indien, China etc. Dies kommt daher, daß Bahá’u’lláh den Babismus, der mehr nationale Bedeutung hatte, in eine universale Religion umwandelte, die als die Erfüllung und Vollendung aller bisherigen Religionen gelten kann. Die Juden erwarten den Messias, die Christen das Wiederkommen Christi, die Mohammedaner den Mahdi, die Buddhisten den fünften Buddha, die Zoroastrier den Schah Bahram, die Hindus die Wiederverkörperung Krischnas und die Atheisten — eine bessere soziale Organisation.
In Bahá’u’lláh sind alle diese Erwartungen erfüllt. Seine Lehre beseitigt alle Eifersucht und Feindseligkeit, die zwischen den verschiedenen Religionen besteht; sie befreit die Religionen von ihren Verfälschungen, die im Lauf der Zeit durch Einführung von Dogmen und Riten entstanden und bringt sie alle durch Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Reinheit in Einklang. Das einzige Dogma der Lehre ist der Glaube an den einigen Gott und an seine Manifestationen (Zoroaster, Buddha, Mose, Jesus, Mohammed, Bahá’u’lláh).
Die Hauptschriften Bahá’u’lláhs sind der Kitab el Ighan (Buch der Gewißheit), der Kitab el Akdas (Buch der Gesetze), der Kitab el Ahd (Buch des Bundes) und zahlreiche Sendschreiben, genannt „Tablets“, die er an die wichtigsten Herrscher oder an Privatpersonen richtete. Rituale haben keinen Platz in dieser Religion; letztere muß vielmehr in allen Handlungen des Lebens zum Ausdruck kommen und in wahrer Gottes- und Nächstenliebe gipfeln. Jedermann muß einen Beruf haben und ihn ausüben. Gute Erziehung der Kinder ist zur Pflicht gemacht und geregelt.
Streitfragen, welche nicht anders beigelegt werden können, sind der Entscheidung des Zivilgesetzes jeden Landes und dem Bait’ul’Adl oder „Haus der Gerechtigkeit“, das durch Bahá’u’lláh eingesetzt wurde, unterworfen. Achtung gegenüber jeder Regierungs- und Staatseinrichtung ist als einem Teil der Achtung, die wir Gott schulden, gefordert. Um die Kriege aus der Welt zu schaffen, ist ein internationaler Schiedsgerichtshof zu errichten. Auch soll neben der Muttersprache eine universale Einheits-Sprache eingeführt werden. „Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die Tropfen eines Meeres“ sagt Bahá’u’lláh.
Es ist also weniger die Einführung einer neuen Religion, als die Erneuerung und Vereinigung aller Religionen, was heute von 'Abdu'l-Bahá erstrebt wird. (Vgl. Nouveau, Larousse, illustré supplement, p. 66.)
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In unserem Verlag sind erschienen:
1. Bahai-Perlen, Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . . -.20
2. Ehe Abraham war, war Ich, v. Thornton Chase. Deutsch v. W.Herrigel . . . . -.20
3. Das heilige Tablet, ein Sendschreiben Baha’u’llahs an die Christenheit. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . -.20
4. Die Universale Weltreligion, Ein Blick in die Bahai-Lehre von Alice T. Schwarz . . . . -.50
5. Die Offenbarung Baha’u’llahs, von J.D. Brittingham. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . -.50
6. Verborgene Worte von Baha’u’llah. Dtsch. v. A. Schwarz u. W. Herrigel . . . 1.--
7. Baha’u’llah, Frohe Botschaften, Worte des Paradieses, Tablet Tarasat, Tablet Taschalliat, Tablet Ischrakat. Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Halbleinen gebunden . . . 2.50
in feinstem Ganzleinen gebunden . . . . . 3.--
8. Einheitsreligion. Ihre Wirkung auf Staat, Erziehung, Sozialpolitik, Frauenrechte und die einzelne Persönlichkeit, von Dr. jur. H. Dreyfus, Deutsch von Wilhelm Herrigel. Neue Auflage . . . -.50
9. Die Bahaibewegung im allgemeinen und ihre großen Wirkungen in Indien. von Wilhelm Herrigel . . . . -.50
10. Eine Botschaft an die Juden, von Abdul Baha Abbas. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . -.20
11. Abdul Baha Abbas, Ansprachen über die Bahailehre. Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Halbleinen gebunden . . . . . 3.--
in feinstem Ganzleinen gebunden. . . . . 3.50
12. Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahaireligion, von Mirza Abul Fazl. Deutsch von W. Herrigel, in Halbleinen geb. . . . . 4.50
In Ganzleinen gebunden . . . . 5.--
13. Abdul Bahá Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps. Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Ganzleinen gebunden . . . . 4.--
14. Das Hinscheiden Abdul Bahas, ("The Passing of Abdul Baha") Deutsch von Alice T. Schwarz . . . -.50
15. Das neue Zeitalter von Ch. M. Remey. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . . —.50
16. Die soziale Frage und ihre Lösung im Sinne der Bahailehre von Dr. Hermann Grossmann . . . . . —.20
17. Die Bahai-Offenbarung, ein Lehrbuch von Thornton Chase, deutsch von W. Herrigel, kartoniert M. 4.--, in Halbleinen gebunden M. 4.60
18. Bah’u’lláh und das neue Zeitalter, ein Lehrbuch von Dr. J. E. Esslemont, deutsch von W. Herrigel und H. Küstner. In Ganzleinen gebunden . . . . . 4.50
19. Sonne der Wahrheit, Jahrgang 3 - 6 in Halbleinen gebunden . . . . . 6.50
20. Religiöse Lichtblicke, Einige Erläuterungen zur Bahá'i-Botschaft, aus dem Französ. übersetzt von Albert Renftle, neue erweiterte Auflage . . . . --.30
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