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SONNE DER WAHRHEIT | ||
Heft VI | VII.JAHRG. | AUG. 1927 |
ORGAN DES DEUTSCHEN BAHAI-BUNDES STUTTGART |
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Abdu’l-Bahás Erläuterung der Bahá’i -Prinzipien.
1. Die ganze Menschheit muss als Einheit betrachtet werden.
Baha’u’lláh wandte Sich an die gesamte Menschheit mit den Worten: „Ihr seid alle die Blätter eines Zweigs und die Früchte eines Baumes“. Das heißt: die Menschheit gleicht einem Baum und die Nationen oder Völker gleichen den verschiedenen Aesten und Zweigen; die einzelnen Menschen aber gleichen den Blüten und Früchten dieses Baumes. In dieser Weise stellte Baha’u’lláh das Prinzip der Einheit der Menschheit dar. Baha’u’lláh verkündigte die Einheit der ganzen Menschheit, er versenkte sie alle im Meer der göttlichen Gnade.
2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.
In religiösen Fragen sollte niemand blindlings seinen Eltern und Voreltern folgen. Jeder muß mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören und die Wahrheit suchen, denn die Religionen sind häufig nichts anderes als Nachahmungen des von den Eltern und Voreltern übernommenen Glaubens.
3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.
Alle göttlichen Verordnungen beruhen auf ein und derselben Wirklichkeit. Diese Grundlage ist die Wahrheit und bildet eine Einheit, nicht eine Mehrheit. Daher beruhen alle Religionen auf einer einheitlichen Grundlage. Im Laufe der Zeit sind gewisse Formen und Zeremonien der Religion beigefügt worden. Dieses bigotte menschliche Beiwerk ist unwesentlich und nebensächlich und verursacht die Abweichungen und Streitigkeiten unter den Religionen. Wenn wir aber diese äußere Form beiseite legen und die Wirklichkeit suchen, so zeigt sich, daß es nur eine göttliche Religion gibt.
4. Die Religion muss die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.
Die Religion ist für die Menschheit die größte göttliche Gabe, die Ursache des wahren Lebens und hohen sittlichen Wertes; sie führt den Menschen zum ewigen Leben. Die Religion sollte weder Haß und Feindschaft noch Tyrannei und Ungerechtigkeiten verursachen. Gegenüber einer Religion, die zu Mißhelligkeit und Zwietracht, zu Spaltungen und Streitigkeiten führt, wäre Religionslosigkeit vorzuziehen. Die religiösen Lehren sind für die Seele das, was die Arznei für den Kranken ist. Wenn aber ein Heilmittel die Krankheit verschlimmert, so ist es besser, es nicht anzuwenden.
5. Die Religion muss mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.
Die Religion muß mit der Wissenschaft übereinstimmen und der Vernunft entsprechen, so daß die Wissenschaft die Religion, die Religion die Wissenschaft stützt. Diese beiden müssen unauflöslich miteinander verbunden sein.
6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.
Dies ist eine besondere Lehre Baha’u’lláhs, denn die früheren Religionen stellen die Männer über die Frauen. Töchter und Söhne müssen gleichwertige Erziehung und Bildung genießen. Dies wird viel zum Fortschritt und zur Einigung der Menschheit beitragen.
7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.
Alle Propheten Gottes kamen, um die Menschen zu einigen, nicht um sie zu trennen. Sie kamen, um das Gesetz der Liebe zu verwirklichen, nicht um Feindschaft unter sie zu bringen. Daher müssen alle Vorurteile rassischer, völkischer, politischer oder religiöser Art abgelegt werden. Wir müssen zur Ursache der Einigung der ganzen Menschheit werden.
8. Der Weltfriede muss verwirklicht werden.
Alle Menschen und Nationen sollen sich bemühen, Frieden unter sich zu schließen. Sie sollen darnach streben, daß der universale Friede zwischen allen Regierungen, Religionen, Rassen und zwischen den Bewohnern der ganzen Welt verwirklicht wird. Die Errichtung des Weltfriedens ist heutzutage die wichtigste Angelegenheit. Die Verwirklichung dieses Prinzips ist eine schreiende Notwendigkeit unserer Zeit.
9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung geniessen.
Alle Menschen müssen erzogen und belehrt werden. Eine Forderung der Religion ist, daß jedermann erzogen werde und daß er die Möglichkeit habe, Wissen und Kenntnisse zu erwerben. Die Erziehung jedes Kindes ist unerläßliche Pflicht. Für Elternlose und Unbemittelte hat die Gemeinde zu sorgen.
10. Die soziale Frage muss gelöst werden.
Keiner der früheren Religionsstifter hat die soziale Frage in so umfassender, vergeistigter Weise gelöst wie Baha’u’lláh. Er hat Anordnungen getroffen, welche die Wohlfahrt und das Glück der ganzen Menschheit sichern. Wenn sich der Reiche eines schönen, sorglosen Lebens erfreut, so hat auch der Arme ein Anrecht auf ein trautes Heim und ein sorgenfreies Dasein. Solange die bisherigen Verhältnisse dauern, wird kein wahrhaft glücklicher Zustand für den Menschen erreicht werden. Vor Gott sind alle Menschen gleich berechtigt, vor Ihm gibt es kein Ansehen der Person; alle stehen im Schutze seiner Gerechtigkeit.
11. Es muss eine Einheitssprache und Einheitsschrift eingeführt werden.
Baha’u’lláh befahl die Einführung einer Welteinheitssprache. Es muß aus allen Ländern ein Ausschuß zusammentreten, der zur Erleichterung des internationalen Verkehrs entweder eine schon bestehende Sprache zur Weitsprache erklären oder eine neue Sprache als Weltsprache schaffen soll; diese Sprache muß in allen Schulen und Hochschulen der Welt gelehrt werden, damit dann niemand mehr nötig hat, außer dieser Sprache und seiner Muttersprache eine weitere zu erlernen.
12. Es muss ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.
Nach dem Gebot Gottes soll durch das ernstliche Bestreben aller Menschen ein Weltschiedsgerichtshof geschaffen werden, der die Streitigkeiten aller Nationen schlichten soll und dessen Entscheidung sich jedermann unterzuordnen hat.
Vor mehr als 50 Jahren befahl Baha’u’lláh der Menschheit, den Weltfrieden aufzurichten und rief alle Nationen zum „internationalen Ausgleich“, damit alle Grenzfragen sowie die Fragen nationaler Ehre, nationalen Eigentums und aller internationalen Lebensinteressen durch ein schiedsrichterliches „Haus der Gerechtigkeit" entschieden werden können.
Baha’u’lláh verkündigte diese Prinzipien allen Herrschern der Welt. Sie sind der Geist und das Licht dieses Zeitalters. Von ihrer Verwirklichung hängt das Wohlergehen für unsere Zeit und das der gesamten Menschheit ab.
SONNE DER WAHRHEIT Organ des Bahá’i-Bundes, Deutscher Zweig Herausgegeben vom Verlag des Bahá’i-Bundes, Deutscher Zweig, Stuttgart Verantwortliche Schriftleitung: Alice Schwarz - Solivo, Stuttgart, Alexanderstraße 3 Preis vierteljährlich 1,80 Goldmark, im Ausland 2.– Goldmark. |
Heft 6 | Stuttgart, im August 1927 Bahá (Herrlichkeit) 84 |
7. Jahrgang |
Inhalt: Entwicklung. — Beantwortete Fragen. — „Das Wunder“ —die Geschichte meiner Pilgerfahrt nach Haifa.
Motto: Einheit der Menschheit — Universaler Friede — Universale Religion
"Das Gesicht Gott zugewandt bedeutet Heilung des Körpers, des Gemüts und der Seele."
"Denke zu allen Zeiten und an allen Orten daran, daß Gott getreu ist und bezweifle dies nicht! Sei fest im Pfade des Herrn, sei wie ein unverrückbarer Berg und sei unwandelbar in deiner Standhaftigkeit."
'Abdu'l-Bahá.
O du, der du nach dem Horizont der Heiligen Sache schaust! Wisse wahrlich, daß der Wunsch Gottes niemals auf die Beschränkung der Diener begrenzt ist; wahrlich Er wandelt ihre Wege nicht. Es ist allen zur Pflicht gemacht, Seinen geraden Weg zu ziehen. Wahrlich würde Er erklären, daß rechts links, oder daß der Süden der Norden sei, so ist es wahr und kein Zweifel darein zu setzen. Wahrlich, Er sei gelobt in Seinem Tun und Ihm sei gehorcht auf Seinen Befehl. Er hat keinen Genossen bei Seinem Tun und keinen Helfer bei Seiner Macht. Er tut, was immer Er will und befiehlt, was immer Er wünscht!
Bahá’u’lláh. (Baha’i-Scriptures N. 515.)
Entwicklung.
Aus „La nova tago“ II. 3. Seite 2:
'Abdu'l-Bahás Ansprache in New-York, 6. Juli 1912.
„Der Mensch hat in der Welt der Existenzen aufeinanderfolgende Stufen durchlaufen, ehe er das Reich des Menschen erreichte. Auf jeder Stufe seines Fortschritts entwickelte er die Fähigkeit für den Aufstieg zur nächsten Stufe oder zum nächsten Zustand. Im Mineralreich gewann er die Fähigkeit, die Stufe des Pflanzenreichs zu erreichen. Im Pflanzenreich bereitete er sich für die Welt des Tieres vor, und von hier aus schritt er aufwärts zu dem menschlichen Grad oder Reich. Während dieser fortschreitenden Wanderung war er immer und immer mächtig, war er Mensch.
Am Anfang seiner Existenz ist der Mensch solange er im Mutterschoß weilte ein Embrio. Dort erhielt er die Fähigkeiten und Gaben für die wirkliche menschliche Existenz. Die nötigen Kräfte und Fähigkeiten für diese Welt wurden ihm seinen begrenzten Zuständen entsprechend zuteil. In dieser Welt benötigt er Augen, er erhielt sie in der andern. Er braucht Ohren, er erhielt sie dort, um bereit und vorbereitet zu sein für sein neues Dasein. Die in dieser Welt erforderlichen Kräfte wurden ihm schon vorgeburtlich zuteil, damit er nach seinem Eintritt in das Reich der wirklichen Existenz, nicht nur alles Notwendige besitze, sondern sogar einen Vorrat für seine ihn erwartende Ernährung vorfinde.
Deshalb muß er sich in dieser Welt für die kommende vorbereiten. Was er dort benötigt, muß er sich hier zu eigen machen. Wie er sich während seines Aufenthalts im Mutterleib vorbereitete, die notwendigen Kräfte für diese Sphäre der Existenz zu gewinnen, so müssen die nötigen Kräfte für die göttliche Existenz schon in dieser Welt gewonnen werden.
Was wird der Mensch in dem Reich benötigen, das diesem Leben und der Begrenztheit dieser sterblichen Hülle folgt? Jene Welt nach dem Tode ist eine Welt der Heiligkeit und des Lichts; deshalb ist es nötig, in dieser Welt jene göttlichen Eigenschaften zu erwerben. In jener Welt sind notwendig: Geistigkeit, Glaube, Zuversicht, Wissen von Gott und die Liebe zu Gott. Dies muß in dieser Welt erworben werden, damit man nach dem Aufstieg von dem irdischen zum himmlischen Reich alles das bereit hält, was im ewigen Reich nötig ist.
Jene göttliche Welt ist offenbar eine Welt des Lichts, deshalb braucht der Mensch hier Erleuchtung. Jene Welt ist eine Welt der Liebe, die Liebe Gottes ist ihr Wesen, sie ist die Welt der Vollkommenheit. Deshalb müssen Tugenden und Vollkommenheit erworben werden. Jene Welt ist belebt durch den Hauch des heiligen Geistes, und in dieser Welt müssen wir all das suchen. Dort ist das Reich des ewigen Lebens, welches in diesem irdischen Leben erworben werden muß.
Durch welche Mittel kann ein Mensch dies alles erreichen und wie kann er diese Kräfte und Mächte erhalten? 1. Durch das Wissen über Gott. 2. Durch die Liebe zu Gott. 3. Durch Glauben. 4. Durch menschenfreundliche Handlungen. 5. Durch Selbstaufopferung. 6. Durch Trennung vom Weltlichen. 7. Durch Heiligung und Heiligkeit.
Wer diese Mächte nicht gewinnt und diese Forderungen nicht erreicht, wird sicherlich zum ewigen Leben nicht zugelassen werden. Aber wer Wissen von Gott haben wird, wer von dem Feuer der Liebe Gottes durchdrungen ist, wer die großen und mächtigen Zeichen des Reiches Gottes bezeugt, wer zur Ursache der Liebe unter den Menschen wird und in einem vollkommenen Zustand der Heiligung und Heiligkeit lebt, wird sicher die zweite Geburt erreichen und getauft werden mit dem heiligen Geist und sich des ewigen Lebens erfreuen.
"Ist es nicht verwunderlich, daß, obwohl der Mensch erschaffen wurde, Gott zu erkennen
und zu lieben, er für die Tugenden der menschlichen Welt, für Geistigkeit, für
himmlische Erleuchtung und ewiges Leben, trotzdem unwissend und sorglos über
dies alles verbleibt? Bedenke, wie er sich z.B. Wissen aneignet über alles,
ausgenommen über Gott! Sein größter Wunsch ist, in die Geheimnisse der tiefsten Schicht der
Erde einzudringen. Tag für Tag ist er bemüht, zu entdecken, was 10 Meter unter der
Erdoberfläche gefunden werden kann, was er entdecken kann in den Steinen, was er
durch archäologisches Suchen im Staub
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lernen kann. Er scheut keine schwierige Arbeit, um die Geheimnisse der Erde zu enthüllen,
aber er beschäftigt sich nicht mit den Geheimnissen des Reiches Gottes, mit
dem Eindringen in die unbegrenzten Gebiete der ewigen Welt um Kenntnis von
göttlicher Wirklichkeit, von der Enthüllung der göttlichen Geheimnisse, von der
Erlangung göttlichen Wissens, von dem Beweis der Herrlichkeit der Sonne der Wahrheit
und von der Verwirklichung des Ruhmes des ewigen Lebens zu erlangen. Er ist oberflächlich
und denkt nicht über dies alles nach. Wieviel ist er mit den Geheimnissen der Erde
beschäftigt und wie so ganz und gar ist er unachtsam gegenüber den Geheimnissen
der Gottheit. Sogar äußerst gleichgültig und vergeßlich ist er den Geheimnissen Gottes
gegenüber. Wie groß ist seine Unwissenheit! Wie fördert er seine Entartung!|
Ein von Bahá’u’lláh bewohntes Haus in Akka.
Es ist, als ob ein freundlicher und liebevoller Vater seinem Sohne eine Menge
herrlicher Bücher zur Verfügung stellen würde, damit sich dieser über die Geheimnisse des
Glaubens unterrichte, während er ihn gleichzeitig mit allen Arten des Wohlbehagens
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und der Erheiterung umgibt, der Sohn jedoch sich mit Steinchen und Spielzeug unterhalten
würde und die Gaben und Geschenke seines Vaters unbeachtet ließe. Wie unwissend und gleichgültig
ist doch der Mensch! Der Vater wollte ewigen Ruhm für ihn, und er ist in Blindheit mit
Nichtigkeiten zufrieden. Der Vater baute einen königlichen Palast für ihn, aber er spielt
mit Staub; der Vater bereitete ihm seidene Gewänder, aber er zieht vor, unbekleidet zu
bleiben, der Vater bot ihm herrliche Speisen und Früchte dar, während er sich seine
Nahrung auf den Wiesen und Feldern sucht.
Uebersetzt B.A.G. Esslingen.
Beantwortete Fragen.
Worte 'Abdu'l-Bahás
gesammelt und aus dem Persischen übersetzt von Laura Clifford Barney. Autorisierte und überprüfte deutsche Uebersetzung von Wilhelm Herrigel.
(Fortsetzung.)
13. Kapitel.
Kommentar über das zwölfte Kapitel der Offenbarung Johannes.
Wir erklärten bereits *), daß das, was in der Heiligen Schrift häufig unter der Bezeichnung „Heilige Stadt" oder „Jerusalem Gottes“ erwähnt ist, das Gesetz Gottes ist. Zuweilen ist es mit einer „Braut“, zuweilen mit „Jerusalem" und wieder an anderer Stelle mit dem „Neuen Himmel“ und der „Neuen Erde“ verglichen. So ist im 21. Kapitel der Offenbarung Johannes im 1., 2. und 3. Vers zu lesen:
„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde verging, und das Meer ist nicht mehr. Und ich, Johannes, sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet als eine geschmückte Braut ihrem Mann. Und hörte eine große Stimme von dem Stuhl, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen; und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein.“
*) im 11. Kapitel.
Seht, wie klar und einleuchtend der erste Himmel und die erste Erde das frühere Gesetz bedeuten! Denn wir lesen, daß der erste Himmel und die erste Erde vergingen und daß es kein Meer mehr gibt. Damit soll gesagt sein, daß die Erde der Ort des Gerichts ist, und auf dieser Erde des Gerichts gibt es kein Meer, das heißt die Lehren und das Gesetz Gottes werden über die ganze Erde verbreitet, alle Menschen werden in die Sache Gottes eintreten, und die ganze Erde wird von Gläubigen bewohnt sein. Aus diesem Grunde wird es alsdann kein Meer mehr geben, denn der Wohnort und die Wohnung der Menschen ist das trockene Land. In diesem Zeitalter wird ferner der Boden, auf dem sich dies Gesetz ausbreitet, zum Festplatz der Menschen werden. Eine solche Erde ist ein zuverlässiger Boden, auf dem die Füsse nicht gleiten.
Das Gesetz Gottes ist auch die „Heilige Stadt“, das „Neue Jerusalem“ genannt. Es ist klar, daß das neue Jerusalem, das vom Himmel herabkommt, keine Stadt ist aus Stein, Mörtel, Ziegeln, Erde und Holz. Das Gesetz Gottes ist es, das vom Himmel herabkommt und "neu" genannt wird, denn ein Jerusalem aus Stein und Erde kann nicht vom Himmel herabkommen und erneuert werden, sondern das, was erneuert wird, ist das Gesetz Gottes.
Das Gesetz Gottes ist auch mit einer „geschmückten Braut“ verglichen, die in ihrem schönsten Schmuck erscheint, wie wir in der Offenbarung Johannes Kapitel 21, Vers 2 lesen:
„Und ich, Johannes, sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet als eine geschmückte Braut ihrem Mann.“
Und in Kapitel 12, Vers 1 heißt es:
„Und es erschien ein großes Zeichen im Himmel: ein Weib mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen, und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen.“
Dies Weib ist die erwähnte Braut, das Gesetz Gottes, das auf Muhammed herabkam.
Die Sonne, mit der sie bekleidet war, und der Mond unter ihren Füßen sind die zwei
Nationen, die unter den Schatten dieses Gesetzes kamen: das persische und das türkische
Reich, denn das Sinnbild Persiens
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ist die Sonne und das der Türkei der Halbmond. Die Sonne und der Mond sind also
die Sinnbilder jener zwei Reiche, die unter die Macht des Gesetzes Gottes kamen.
Ferner heißt es: „Und auf ihrem Haupte eine Krone von zwölf Sternen." Diese zwölf
Sterne sind die zwölf Imams, die Verbreiter des Gesetzes Muhammeds und die Erzieher
des Volkes, die am Himmel der Führung gleich Sternen leuchten.
Im zweiten Vers heißt es dann weiter: „Und sie war schwanger, und schrie in Kindsnöten, und hatte große Qual zur Geburt.“ Dieser Vers besagt, daß dies Gesetz in die größten Schwierigkeiten geraten und große Trübsale und Anfechtungen erdulden müsse, bis ein vollkommener Nachkomme aus ihm hervorgehe, d. h. die nahende Manifestation, der Verheißene, der Vollkommene, der auferzogen wurde an dem Busen dieses Gesetzes, das gleichsam seine Mutter ist, Das Kind, auf das hier Bezug genommen wird, ist der Báb, der Erste Punkt, der in Wahrheit aus dem Gesetz Muhammeds geboren wurde. Dies bedeutet, das „heilige Wesen“, das in dieser Religion verheißene Kind oder der Sproß aus dem Gesetz Gottes — seiner Mutter —, findet Verwirklichung in dem Bereich dieses Gesetzes; aber durch den Despotismus des Drachen wurde das Kind entrückt zu Gott. Nach 1260 Tagen wurde der Drache vernichtet, und das Kind des Gesetzes Gottes, der Verheißene, wurde offenbar.
In Vers 3 und 4 lesen wir: „Und es erschien ein ander Zeichen im Himmel, und siehe, ein großer, roter Drache, der hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen; und sein Schwanz zog den dritten Teil der Sterne und warf sie auf die Erde." Diese Zeichen sind ein Hinweis auf die Dynastie der Omajaden, die die muhammedanische Religion beherrschte. Sieben Häupter und sieben Kronen bedeuten sieben Länder und Gebiete über welche die Bani-Omajaden Macht hatten. Es waren dies die römischen Landesteile um Damaskus, die persischen, arabischen und ägyptischen Besitzungen, sowie weitere Gebiete in Afrika, nämlich Tunis, Marokko und Algier, ferner das Gebiet von Andalusien, das jetzt spanisch ist, sowie die Landesteile von Turkestan und Transoxania. Ueber diese Länder herrschten die Bani-Omajaden. Die zehn Hörner bedeuten die Namen der Omajadenherrscher, für die es insgesamt zehn Herrschernamen gab. Der erste ist Abu Sufian und der letzte Marwan, aber verschiedene Herrscher trugen die gleichen Namen. So gab es zwei Mu’awia, drei Yazid, zwei Walid und zwei Marwan; wenn aber die Namen ohne Wiederholung gezählt werden, gibt es deren zehn. Abu Sufian, Emir von Mekka, war der erste und daher das Haupt der Dynastie der Omajaden, und der letzte war Marwan. Die Omajaden zerstörten den dritten Teil des geheiligten Stammes der Linie Muhammeds, der den Sternen des Himmels glich.
Vers 4: „Und der Drache trat vor das Weib, die gebären sollte, auf daß, wann sie geboren hätte, er ihr Kind fräße.“ Wie wir bereits erklärten, bedeutet dies Weib das Gesetz Gottes. Der Drache stand nahe bei dem Weib, um ihr Kind zu verschlingen, und dies Kind war die verheißene Manifestation, der Nachkomme des Gesetzes Muhammeds. Die Bani-Omajaden warteten immer auf die Gelegenheit, sich des Verheissenen, der von der Linie Muhammeds abstammen sollte, zu bemächtigen, um ihn zu vernichten, denn sie fürchteten das Erscheinen des Verheissenen und suchten jeden Nachkommen Muhammeds, von dem man annehmen konnte, daß er zu hohen Ehren kommen könnte, zu töten.
Vers 5: „Und sie gebar einen Sohn, ein Knäblein, der alle Heiden sollte weiden mit eisernem Stabe.“ Dieser große Sohn ist die verheißene Manifestation, aus dem Gesetz Gottes geboren und am Busen der göttlichen Lehren erzogen. Der „eiserne Stab“ ist ein Symbol der Kraft und Macht — es ist kein Schwert — und bedeutet, daß er alle Nationen der Erde mit göttlicher Kraft und Macht weiden werde. Dieser Sohn ist der Báb.
Vers 5: „Und ihr Kind ward entrückt zu Gott und Seinem Stuhl!“ Dies ist eine Prophezeiung, die auf den Báb hinweist, der aufstieg ins himmlische Reich, zu dem Throne Gottes und zu dem Mittelpunkt seines Königreichs. Beachtet wohl, wie dies alles mit den tatsächlichen Ereignissen übereinstimmt.
Vers 6: „Und das Weib entfloh in die Wüste...“ d. h. das Gesetz Gottes entfloh in die Wüste, und zwar ist damit die ungeheuer große Wüste Hedschas und die arabische Halbinsel gemeint.
*) Englische Bibel: alle Nationen.
Vers 6: "... Da sie hat einen Ort, bereitet von Gott ..“. Die arabische Halbinsel wurde zum Sitz und Mittelpunkt für das Gesetz Gottes.
Vers 6: "... daß sie daselbst ernährt würde tausendzweihundertundsechzig Tage.“ In der Ausdrucksweise der Heiligen Schrift bedeuten diese zwölfhundertsechzig Tage die zwölfhundertsechzig Jahre, in denen das Gesetz Gottes seinen Einfluß in der Wüste Arabiens ausübte; aus ihm ging dann der Verheißene hervor. Nach zwölfhundertsechzig Jahren wird dies Gesetz keinen Einfluß mehr ausüben, denn die Frucht dieses Baumes wird dann erscheinen und das Resultat wird erreicht sein.
Beachtet, wie diese Prophezeiungen miteinander übereinstimmen. In der Offenbarung Johannes ist das Erscheinen des Verheissenen nach 42 Monden festgesetzt, und Daniel spricht von 3 Zeiten und einer halben Zeit, die ebenfalls 42 Monde geben, und 42 Monde geben 1260 Tage. An einer andern Stelle der Offenbarung Johannes ist ebenfalls deutlich von 1260 Tagen die Rede, und in der Heiligen Schrift ist gesagt, jeder Tag bedeute ein Jahr. Nichts kann klarer sein als diese Uebereinstimmung der Prophezeiungen. Der Báb erschien im Jahre 1206 nach der Flucht Muhammeds, die der Anfang der muhammedanischen Zeitrechnung ist. Es gibt in den heiligen Büchern keine klareren Beweise für eine Manifestation Gottes denn diese. Für den, der gerecht denkt, ist die Uebereinstimmung der durch den Mund der Propheten erwähnten Zeiten der überzeugendste Beweis. Diesen Prophezeiungen eine andere Erklärung zu geben, ist unmöglich. Gesegnet sind die gerechten Seelen, welche die Wahrheit suchen. Wo aber die Gerechtigkeit fehlt, wird diese Erklärung angegriffen. Man streitet und leugnet die Beweise öffentlich und macht es genau wie die Pharisäer, die zur Zeit Christi Seine Lehren und die Seiner Jünger mit der größten Hartnäckigkeit verwarfen. Sie entstellten die Sache Christi bei dem unwissenden Volk und sagten, diese Prophezeiungen bezögen sich nicht auf Jesus, sondern auf den Verheissenen, der nach der Bibel mit bestimmten Kennzeichen später kommen werde. Einige dieser Kennzeichen seien, daß er ein Königreich haben und auf dem Throne Davids sitzen müsse, daß er das Gesetz der Bibel durchführen und eine solche Gerechtigkeit offenbaren müsse, daß der Wolf und das Lamm miteinander aus derselben Quelle trinken werden. Auf diese Weise machten sie es dem Volk unmöglich, Christus zu erkennen.
14. Kapitel.
Geistige Beweise.
In dieser irdischen Welt hat die Zeit bestimmte Perioden. Die Natur verändert sich durch den Wechsel der Jahreszeiten, und auch für die Seelen der Menschen gibt es Fortschritt, Rückgang und Entwicklung.
Es folgen einander Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Im Frühling fällt der erquickende Regen, die duftenden und belebenden Winde wehen. Die Luft ist sehr lind, der Regen fällt, die Sonne scheint, der befruchtende Wind treibt die Wolken vor sich her. Die Welt ist erneuert, und der Odem des Lebens zeigt sich in den Pflanzen, Tieren und Menschen. Die irdischen Wesen gehen von ihrem alten Zustand in einen neuen über. Alle Dinge sind in neue Gewänder gekleidet, und die Erde ist mit Kräutern bedeckt. Berge und Täler sind mit Grün geschmückt, die Bäume tragen Blätter und Blüten und die Gärten bringen Blumen und köstliche Kräuter hervor. Die Welt wird erneuert und erlangt einen belebenden Hauch. Ein lebloser Körper war die Erde, nun wird sie neu beseelt und erzeugt unbegrenzte Schönheit, Anmut und Frische. Somit ist der Frühling die Ursache eines neuen Lebens, der Schöpfer eines neuen Lebenshauches.
Dem Frühling folgt der Sommer. Die Hitze nimmt zu und Wachstum und Entwicklung erreichen ihren Höhepunkt. Die Lebenskraft in der Pflanzenwelt erreicht ihren höchsten Grad, die Früchte reifen und die Zeit der Ernte kommt herbei; ein Samenkorn wurde zu einer Garbe, und die Nahrungsmittel werden jetzt eingelagert für den Winter.
Dem Sommer folgt der ungestüme Herbst, da ungesunde und öde Winde wehen. Es
ist die Zeit der Krankheit, in der alles verwelkt und die balsamischen Lüfte dahin
sind. Die Lüfte des Frühlings sind herbstliche Stürme geworden, die fruchtbaren, grünen
Bäume stehen welk und kahl. Blumen und wohlriechende Kräuter schwinden dahin,
der schöne Garten wird zum kahlen Land.
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Hierauf folgt die Winterzeit mit ihrer Kälte und ihren Stürmen. Es schneit und regnet, es hagelt und stürmt, es donnert und blitzt, es gefriert und die Erde erstarrt; alle Pflanzen sterben und die Tiere werden matt und schlapp.
Wenn dieser Zustand erreicht ist, kehrt ein neuer lebengebender Frühling wieder und der Kreislauf beginnt aufs neue. Die Frühlingszeit mit ihrer Fülle von Frische und Schönheit errichtet wiederum ihr Zelt in den Ebenen und auf den Bergen mit großer Pracht und Herrlichkeit. Abermals erneuern sich die Geschöpfe und die Natur. Die Körper wachsen und entwickeln sich und die Schöpfung beginnt aufs neue. Felder, Wiesen und Wildnis grünen und werden fruchtbar, die Bäume blühen und der Frühling kehrt wie im letzten Jahr in größter Fülle und Herrlichkeit zurück. Dies ist und so soll sein der Kreislauf und die Aufeinanderfolge des Daseins; dies ist der Zyklus der irdischen Welt.
Mit dem geistigen Zyklus der Propheten ist es dasselbe. Das heißt, der Tag der Erscheinung der heiligen Manifestationen ist die geistige Frühlingszeit, er ist die göttliche Herrlichkeit, die himmlische Gabe, der Odem des Lebens, der Aufgang der Sonne der Wirklichkeit. Der Geist der Menschen wird belebt, die Herzen werden erfrischt und gestärkt und die Seelen gebessert. Das Leben erhält einen neuen Antrieb, das Wesen des Menschen wird heiter, er wächst und entwickelt gute Eigenschaften und vervollkommnet sich. Es ist die Zeit des allgemeinen Fortschritts und der Auferstehung. Es ist der Tag des Wehklagens und des Gerichts, die Zeit des Aufruhrs und der Not. Es ist aber zu gleicher Zeit auch die Zeit der Freude, der Glückseligkeit und der absoluten Hinneigung zu Gott.
Der lebengebende Frühling endet in einem fruchtbringenden Sommer. Das Wort Gottes wird hochgehalten, das Gesetz Gottes verkündigt, alles erreicht Vollkommenheit. Die himmlische Tafel ist gedeckt, die heiligen Lüfte durchduften den Osten und den Westen, die Lehren Gottes erobern die Welt, die Menschen werden erzogen und lobenswerte Resultate werden erzielt, in der ganzen Welt der Menschheit zeigt sich Fortschritt, und über alles werden die göttlichen Gaben ausgegossen. Die Sonne der Wirklichkeit strahlt am Horizont des Königreiches mit größter Kraft und Wärme. Wenn sie am höchsten steht, geht sie allmählich wieder nieder und dem geistigen Sommer folgt ein Herbst, in dem Wachstum und Entwicklung aufhören. Die Winde wandeln sich in vernichtende Stürme, und die rauhe Jahreszeit zerstört die Schönheit und Frische der Gärten, Wiesen und Felder. Das heißt, die Anziehung und Zuneigung bleiben nicht bestehen, die göttlichen Eigenschaften sind verändert, das Leuchten der Herzen ist verdunkelt, die Geistigkeit der Seelen läßt nach, an Stelle der Tugenden treten Laster und Heiligkeit und Reinheit gehen verloren. Es bleibt nur noch der Name der Religion Gottes und die äußere Form der göttlichen Lehren übrig. Die Fundamente der Religion Gottes sind zerstört und vernichtet, und nur die Formen und Gebräuche sind noch erhalten. Es treten Spaltungen auf, Standhaftigkeit wird zur Wankelmütigkeit, und das geistige Leben erlischt; die Herzen ermatten, die Seelen werden träge und der Winter bricht an, d.h. die Kälte der Unwissenheit umgibt die Welt und die Finsternis des menschlichen Irrtums herrscht vor. Dies hat im Gefolge: Gleichgültigkeit, Ungehorsam, Rücksichtslosigkeit, Trägheit, Gemeinheit, niedere Triebe, steinerne Kälte und Stumpfsinn. Dieser Zustand gleicht dem Winter, da die Erde, der Sonnenwärme beraubt, öde und düster wird. Wenn die Welt des Verstandes und der Gedanken diesen Zustand erreicht hat, bleibt ihr nur dauernder Tod und ewiges Nichtsein.
Wenn dieser Winter vorüber ist, kehrt der geistige Frühling wieder und es beginnt ein neuer Zyklus. Die geistigen Lüfte wehen, die leuchtende Morgendämmerung schimmert, die göttlichen Wolken spenden Regen, die Strahlen der Sonne der Wirklichkeit brechen hervor, die irdische Welt erhält ein neues Leben und ist geschmückt mit wunderbarem Gewand. Alle Zeichen und Gaben der vergangenen Frühlingszeit erscheinen in diesem neuen Zeitabschnitt wieder, vielleicht mit noch größerem Glanz denn zuvor.
Der geistige Kreislauf der Sonne der Wirklichkeit gleicht dem der materiellen
Sonne; sie sind beide im Umlauf begriffen und erneuern sich beständig. Die Sonne der
Wirklichkeit hat ebenso wie die materielle Sonne zahlreiche Aufgangs- und Untergangsorte;
letztere geht an einem Tage im Zeichen des Krebses, an einem andern im
Zeichen der Waage oder des Wassermanns auf, und ein andermal verbreitet sie ihre
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Strahlen vom Zeichen des Widders. Aber die Sonne selbst ist nur eine Sonne und
nur eine Wirklichkeit. Verständige Menschen lieben die Sonne, sie lassen sich weder
durch ihren Aufgangsort noch durch ihren Untergangsort bezaubern. Menschen
mit tiefer Empfindung suchen die Wahrheit und nicht die Stätte ihres Aufgangs
oder Untergangs; sie werden deshalb die Sonne lieben, an welchem Punkt des
Tierkreises sie auch erscheinen mag, und sie werden die Wirklichkeit suchen in jeder
geheiligten Seele, die sie offenbart. Solche Menschen gelangen immer zur Wahrheit,
und ihnen ist die Sonne der göttlichen Welt niemals verhüllt. Wer die Sonne liebt und
das Licht sucht, wird sich daher zur Sonne wenden, einerlei, ob sie im Zeichen des
Widders, des Krebses oder der Zwillinge leuchtet, aber die Unwissenden und Unbelehrten
lieben die Zeichen des Tierkreises, sie sind gebannt und entzückt von dem Aufgangsort
und nicht von der Sonne selbst. Wenn die Sonne im Zeichen des Krebses
steht, dann wenden sie sich diesem zu, obgleich sie nachher in das Zeichen der Waage
eintritt. Da. sie die Zeichen lieben, so wenden sie sich an diese und klammern sich
daran und gehen des Einflusses der Sonne nur deshalb verlustig, weil diese ihren Ort
geändert hat. Einmal z.B. sandte die Sonne der Wirklichkeit ihre Strahlen aus dem
Zeichen Abrahams, alsdann ging sie im Zeichen Moses auf und erleuchtete den Horizont;
später erhob sie sich mit größter Macht und Pracht im Zeichen Christi. Die
wahren Sucher der Wirklichkeit verehrten diese, wo immer sie dieselbe gewahr wurden;
aber wer sich an die Person Abrahams klammerte, ging des Einflusses der göttlichen
Sonne verlustig, als sie auf dem Berg Sinai schien und die Wirklichkeit Moses
erleuchtete. Auch jene waren blind, die sich an Mose klammerten, als die Sonne
der Wirklichkeit mit größter Pracht und herrlichstem Glanz durch Christus schien.
Deshalb muß der Mensch nach der Wirklichkeit suchen, dann wird er diese in jeder dieser geheiligten Seelen finden. Er muß begeistert, entflammt und hingezogen werden zur göttlichen Gabe; er muß sein wie ein Schmetterling, der das Licht liebt, von welcher Lampe es auch leuchten mag, und wie die Nachtigall, die die Rose liebt, einerlei, in welchem Garten sie blüht:
Wenn die Sonne im Westen aufgehen würde, so wäre sie doch die Sonne; ihres Aufgangsorts wegen darf sich niemand von ihr abwenden, noch darf man den Westen stets als den Ort des Sonnenuntergangs ansehen. So muß auch der Mensch auf die himmlischen Gaben sehen und nach der göttlichen Morgenröte Ausschau halten. Wir müssen die Sonne der Wirklichkeit aufs äußerste lieben, an welchem Ort sie auch erscheinen mag. Bedenket, wenn sich die Juden nicht an den Horizont Moses gehalten und nur auf die Sonne der Wirklichkeit geblickt hätten, dann hätten sie ohne Zweifel die Sonne in dem Dämmerungsort der Wesenheit Christi in ihrem größten göttlichen Glanz wieder erkannt. Aber o weh! tausendmal o weh! dadurch, daß sie sich an die Worte Moses klammerten, die sich vielfach auf Aeusserlichkeiten beziehen, waren sie der göttlichen Gaben und des herrlichen Glanzes beraubt.
(Forts. folgt.)
"Das Wunder“ - die Geschichte meiner Pilgerfahrt nach Haifa
von Mrs. A. Watson, im Jahre 1921.
Uebersetzt von Fanny Neuburger. (Fortsetzung und Schluß.)
„Dreißig Jahre lang hat mein verkrüppelter Körper unglaubliche Qualen erduldet. Zehn Jahre habe ich ernstlich versucht, nach den Geboten dieser Lehre zu leben, schon ehe ich Kenntnis von der Verkörperung meines Meisters und Herrn — 'Abdu'l-Bahá — bekam. Im Jahre 1901 nahm Er mich als Dienerin in Seinen heiligen Weinberg auf, und von da an weihte ich meine geringen Dienste und mein Leben Ihm und Seiner Sache: der Erweckung der Menschheit aus dem Schlafe ihrer Nachlässigkeit.
Mir ist es von Wichtigkeit, das denkwürdige Erlebnis zu erzählen, das mir nach dem Besuch
am heiligen Grabe Bahá’u’lláhs begegnete. Am neunten August reisten sieben Pilger — mich
eingerechnet — nach Akka, um das heilige Grab zu besuchen. Jenabi Fazel Mazanderan zählte
gleichfalls zu der kleinen Reisegesellschaft. Mit des Meisters Wagen fuhren wir nach der Station
Haifa, nahmen dort den Zug nach Akka und hatten daselbst eine Stunde Aufenthalt. Nachdem wir
einige Erfrischungen zu uns genommen hatten,
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fuhren wir mit einem Gefährt, das ein Bahá’i lenkte, zum Ziel unserer Reise. Spät am Abend kamen
wir in Bahajee an. Der Vollmond leuchtete über den Bergen, und leichte, silberumsäumte Wolken
standen wie eine riesige Radierung am tiefblauen mitternächtigen Himmel.
Wir erfrischten uns mit Tee und traten dann nochmals ins Freie. Ein neues herrliches Bild bot sich unseren Augen. Uns zu Füßen lag das Meer, oder besser gesagt, die Bucht von Akka — ein herrlicher Anblick — dabei war tiefe Stille um uns an diesem heiligen Ort. Am Firmament leuchteten die Sterne in verschwenderischer Pracht. Wir alle waren tief berührt von der Atmosphäre, die uns umgab. Niemand sprach ein Wort, damit kein Laut diese erhabene Stimmung störe. Als der Morgen dämmerte gingen wir Pilger leise durch den, mit dem Duft taufrischer Blumen erfüllten Garten nach dem Grabgebäude. Wir betraten nun einzeln das Heiligtum, knieten nieder und beteten für das Heil unserer Seele. Diese Stunde brachte uns der Ewigkeit nahe. Bevor wir zur Ruhe gingen, nahmen wir noch eine kleine Erfrischung zu uns, der Schlaf wollte aber über keinen von uns kommen. Wir waren dem Unsichtbaren nahe, der so mächtig und zugleich so glückspendend ist. Manch’ einer von uns weinte Tränen der Freude und Dankbarkeit und auch Tränen der Reue im Gebet um Läuterung des Herzens. An viele der geliebten Freunde dachten wir in heißem Gebet in jener geheiligten Nacht, das an der Grabstätte Bahá’u’lláhs zu Gottes Thron emporstieg.
Die Pilger sind aus allen Teilen der Welt zusammengewürfelt; zuvor uns völlig unbekannt, wurden wir durch das gleiche Band der Liebe zueinander geführt und durch dieselben Erlebnisse geheiligt; wir alle fühlten und erkannten die Verwandtschaft und Einheit, durch die Offenbarung Gottes — Bahá’u’lláh — am großen Tag des Herrn.
Wie seltsam, wir beteten am Grabe um neues Leben. Das Wort: "es gibt keinen Tod", hat eine neue Bedeutung angenommen, wir erkannten dies, da wir jetzt „das Kleid der Wirklichkeit“ trugen.
Um die Pilgerfahrt zu vollenden, wollten wir nach dem Rizwán, dem Garten Gottes, der ungefähr
zweieinhalb Meilen von Bahajée entfernt liegt. Es war früh am Morgen, wir frühstückten
und wollten um sechs Uhr aufbrechen, doch war zu unserer Enttäuschung kein Gefährt zu haben.
Der Mann, der uns von Akka herübergeführt hatte, konnte nicht kommen, da er nach Haifa bestellt
worden war. Guter Rat war teuer. Die Männer konnten zu Fuß gehen, doch war der Weg
auch für sie bei der Hitze und dem staubigen Weg mühsam. Der Hüter des heiligen Grabes schlug
vor, daß ich auf dem weißen Esel des Meisters - den er zu pflegen hatte — reiten solle.
Er führte das schöne, schneeweiße, lebhafte Tier vor. Als ich es sah, bezweifelte ich das
Gelingen des Vorschlags. Die Pilger schienen meine Bedenken zu teilen und frugen, ob ich mir
den Ritt getraue. Ich sagte ihnen, daß ich als Kind und zwar nur auf einem Wiegenpferd geritten
sei. Es blieb mir jedoch keine andere Wahl, ich mußte es versuchen, denn ich war fest entschlossen,
mit ihnen zum Endziel unserer Reise, nach dem Rizwán zu gehen. Als Sattel wurde dem Tier ein großes
Kissen aufgebunden, das mit Seilen, die um seinen Körper geschlungen wurden, festgehalten war. Dieses
wehrte sich lebhaft gegen die ungewohnte Aufzäumung. Der Grabhüter — ein Perser — versicherte mir,
daß das Tier sehr ruhig sei. Ich muß aber gestehen, daß die Aussicht auf den Ritt nichts
Verlockendes für mich hatte, ich fürchtete mich davor. Der Esel mit dem dicken Kissen schien
gleichfalls Schwierigkeiten machen zu wollen, aber es blieb mir keine andere Wahl. Ich nahm meinen
ganzen Mut zusammen. Ein Stuhl wurde geholt, damit ich aufsitzen konnte; man riet mir, im
Herrensitz zu reiten. Die Komik der Situation brachte alle zum Lachen. Schließlich saß ich denn doch
leidlich aber im Damensitz. Die Zügel wurden mir in die Hand gegeben, und der Esel setzte sich in
Bewegung, geführt von dem Sohn des Hüters, einem braven Jungen, der mir mitleidige Blicke zuwarf.
Ich nahm mich zusammen, so gut es ging, denn ich wollte doch durch meine Aengstlichkeit
die Wanderung der Pilger nicht stören. Der Weg war überaus steinig, und das Kissen rutschte
fortwährend. Der Esel tat seine Pflicht und ging rasch; ab und zu schlug er aus, um die lästigen
Fliegen los zu werden. Ich zitterte, denn ich hatte Furcht, daß er mich jeden Augenblick abwerfen
könne, und ich betete, daß Gott mir helfen möge, diesen Ritt auszuhalten. Da plötzlich hörte ich
ein seltsames Krachen und Bersten in meinem Rücken, in der Seite und in den Schulterblättern.
Ich fühlte heftige Schmerzen im ganzen Körper, die allmählich unerträglich wurden. Bei jedem
Schritt, den der Esel tat, mußte ich stöhnen, und ich hielt mich an seiner Mähne fest. Unter
meinen Weggenossen war ein Arzt, er kam zu mir heran und frug mich, ob ich nicht ein wenig ruhen
möchte, denn er sah, daß ich heftige Schmerzen hatte, und dabei lag noch ein weiter Weg
vor uns. Ich suchte zu lächeln und sagte ihm, es sei wohl besser auszuhalten, denn es würde für
mich hernach kaum mehr möglich sein, den Esel abermals zu besteigen. Ich mußte dem Arzt aber
versprechen, wenn es zu viel für mich würde, ihn zu rufen, damit er mir absteigen helfe. Er befestigte
das Kissen so gut er konnte, und wir setzten
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unseren Weg fort. Es herrscht& eine große Hitze, und jeder Nerv an mir zuckte vor Schmerz. In
meinem Rücken riß und zerrte es immer mehr - was ging wohl in mir vor? Es war gerade, als
ob mein Rückgrat und die Schulterblätter gebrochen würden. War das wohl der Tod? Die Röntgen-Aufnahme
meines Körpers kam mir plötzlich in den Sinn und ich hörte den Chirurgen sagen:
„es ist nichts mehr zu machen, gebraucht man Gewalt, so brechen die Knochen, und das bedeutet
das Ende!“ Nun dachte ich mir, was könnte mir Schöneres geschehen, als hier, im heiligen Lande
zu sterben und damit von Schmerz und Leid erlöst zu werden? Es schien mir, als ob meine Arbeit
auf Erden zu Ende sei. Zwanzig Jahre lang durfte ich meine schwachen Dienste der heiligen Sache,
die mir teurer als das Leben war, widmen, und nun ruft mich der Gesegnete nach dem Lande meiner
Sehnsucht. Ich hatte das heilige Grab besucht, und nun würde ich in den Rizwán — den Garten
Gottes — eingehen dürfen, so dachte ich. Dieser Gedanke machte mich merkwürdig ruhig und frei.
Ich konnte nun schon die Bäume, die am Eingang des Gartens stehen, deutlich sehen.
Der Arzt kam wieder mit Mirza Jenabi Mazanderani und sagten, daß sie mir beim Abstieg helfen wollten, damit ich nun ausruhen könne, bevor wir den Garten betreten. Kurz darauf stand ich auf meinen Füßen, aber nicht wie zuvor. Ich konnte tief Atem schöpfen, was mir 30 Jahre lang nicht mehr möglich gewesen war. Die Hüfte war wieder an der richtigen Stelle, der Höcker auf der linken Seite des Rückgrats war verschwunden. Mit Blitzesschnelle hatte ich dies erkannt. Ich reckte meine beiden Arme in die Höhe und schrie auf: „O Gott, mein Gott, dies ist ein Wunder, das Du an mir getan hast! Allah’o’Abhá, Ja Bahá El Abhá!
Die Pilger waren nicht weniger erstaunt, als ich selbst und dankten in innigem Gebet mit mir für das, was sich bei diesem Ritt in so seltsamer Weise zugetragen hatte. Dann fiel mir ein, daß der Arzt einen photographischen Apparat bei sich hatte, und nun bat ich ihn, mir nochmals den Esel besteigen zu helfen und eine Aufnahme zur Erinnerung an meine wunderbare Heilung zu machen. Nachdem auch noch eine solche mit allen Pilgern und dem "weißen Chirurgen" — wie der Meister das brave Tier genannt hatte — gemacht worden war, betraten wir den einzigartigen Garten Rizwán. Inmitten des Gartens stehen zwei alte Maulbeerbäume, die Bahá’u’lláh so sehr liebte, und unter denen Er so gerne zu sitzen pflegte. Wir verweilten dort und bekamen durch den Gärtner Erfrischungen gereicht. Nachher besichtigten wir die Gärten, in denen prachtvolle Bäume in Ueppigkeit stehen, die teils mit Blüten bedeckt, teils mit Früchten behangen sind. Reife Feigen und köstliche Trauben pflückten wir uns hier und als ich die Schönheit des Orts rühmte, sagte der Aufseher: "O Sie hätten diesen Garten vor dem Krieg sehen sollen, ich glaube, es war der herrlichste Platz Erde auf der ganzen Welt, wenigstens sagten uns das die Fremden!“ Wie ich höre, will der Meister den Garten jetzt in seinen früheren Zustand zurückversetzen. Alles, was für Bahá’i von Interesse ist, wurde uns gezeigt. Am Ende des Gartens steht das kleine Haus, das Schätze aus Bahá’u’lláhs Zeiten birgt. Der herrliche Tisch mit Schubfächern, die allerhand Dinge enthalten, die Er benützte. Der einfache und doch so kostbare Stuhl auf dem Er zu sitzen pflegte, ist in einem für ihn angefertigten Schrein verwahrt.
Eine zweite Gruppe von Bahá’i-Pilgern begegnete uns hier, an diesem herrlichen Ort. Und die ganze Zeit ging ich umher wie im Märchen, ich frug mich: „Kann denn das wirklich sein? Bin ich es wirklich, die so frei und ohne Schmerz atmen und gehen kann? und meine Seele betete: O Gott, wie wunderbar sind Deine Wege.“ Hier in diesem Garten, der geweiht ist durch die Fußstapfen Seiner Heiligkeit Bahá’u’lláh und des geliebten Meisters 'Abdu'l-Bahá, verweilten wir, bis es Zeit wurde, zur Bahn zu gehen, um nach Haifa zurückzufahren. Es schien mir, als ob Jedermann im Zuge mich anschaue! War dem so, weil ich eine Fremde für sie war oder weil die Mitreisenden die überwältigende Freude auf meinem Gesicht lasen? Ich war so trunken, so beseeligt, so glücklich, daß ich mich kaum beherrschen konnte; am liebsten hätte ich laut hinausgejubelt: "o wüßtet Ihr, was ich heute erlebt habe, ihr würdet euch mit mir freuen und Gott die Ehre geben!“
Solch eine freudige Erregung war in mir, aber nach außen hin suchte ich so ruhig zu erscheinen, wie man es von einem wohlerzogenen Menschen erwartet. Mein linker Arm war nun beweglich, nachdem er 30 Jahre gelähmt gewesen war. Aus Gewohnheit glaubte ich, ihn immer noch nicht heben zu können, wenn ich aber an „das Wunder“ dachte, mußte ich ihn ausstrecken und emporrecken.
Am Abend des 10. August trafen wir wieder im Pilgerhause in Haifa ein. Als der Meister meiner ansichtig wurde, sagte Er zu mir:
„Bei Gott ist kein Ding unmöglich; was der berühmte Arzt sich nicht getraute zu
tun, ist durch das Erbarmen und die Liebe Gottes gelungen. Gott machte das Reittier zu Deinem Arzt!“
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In jener Nacht durchlebte ich nochmals die denkwürdigen Ereignisse der letzten 24 Stunden; das Erlebnis am heiligen Grab, wohin mich 'Abdu'l-Bahá geschickt hatte und die verschiedenen Phasen, die mit diesem Besuche verbunden waren.
Ich konnte nicht schlafen, noch wollte ich schlafen; dabei nahm ich eine Veränderung in mir wahr, die mir so stark zum Bewußtsein kam, daß ich versuchte, diesen veränderten Gemütszustand im Vergleich zum früheren, zu analisieren. Ich frohlockte im innersten meines Wesens über dieses wunderbare Ereignis, wußte ich doch, daß meine körperliche Heilung das äußere Symbol der Befreiung meiner Seele bedeutet. Barmherziger Gott, welche Offenbarung wurde mir zuteil! Ich erkannte mit erschreckender Wahrheit den verdunkelten Zustand des menschlichen Bewußtseins, auch bei denen, die sich für aufgeklärt und für treue Diener Gottes halten. Möge uns Gott wahre Erkenntnis verleihen, Sein heiliger Name sei gelobt! Er schenkte mir diese Erkenntnis in jenen gesegneten nächtlichen Stunden. Mitleidig mußte ich über meine eigene frühere Torheit lächeln, ich war mit der Absicht hierhergekommen, etwas „positives“ für die Freunde mit nach Hause zu bringen! Vor Gott ist die Weisheit der Menschen Einfalt, das war deutlich bewiesen. Ich betete aus tiefstem Herzensgrund die Worte 'Abdu'l-Bahás:
„O Herr, achte nicht auf unsere törichten Bitten, befreie uns von unserer Beschränktheit; erleuchte uns mit dem Licht Deiner Weisheit, damit wir Deinen Willen erkennen!“
Die Freude, das Glück und die Wonne, die ich nun erlebte, kann ich nicht in Worte fassen. Dieses Entzücken hüllte mein ganzes Wesen ein. Nun verstand ich die Bedeutung der Benennung: „Größte Schönheit" und „Geheimnis Gottes"! Die Liebe des Meisters für die ganze Menschheit hatte mein ganzes Wesen erfüllt, und das Licht Seiner Weisheit hatte meinen Blick für eine Vision der Wahrheit geöffnet. Am anderen Morgen stand ich um 6 Uhr auf als ein neuer Mensch. — Fugeta, der selbstlose Freund und Diener, der für die Behaglichkeit eines jeden Pilgers sorgt, sagte zu mir, als er den Frühstückstisch deckte: „Sie müssen gut geschlafen haben, trotz der sehr schwülen Nacht, ich habe Sie noch nie so wohlaussehend gefunden!“ Ich erzählte ihm von der eigenartigen Veränderung, die sich in vergangener Nacht in mir vollzogen hatte und sagte ihm, daß ich jetzt vollkommen glücklich sei, wie der Meister dies gewünscht habe, und daß ich nun alles von einem anderen Standpunkt aus betrachte: „Gott hat mir die Augen geöffnet und mir mit Seiner Heilung auch Einsicht verliehen. Ich bin nun nicht länger blind, ich bin vollkommen zufrieden und wünsche nun nicht mehr, daß der Meister mir etwas für mich oder für jemand anderes anweisen soll!“ Beim Frühstück erfuhren die Freunde von meinem Geschick und freuten sich mit mir. Als Zeuge waren zugegen: Dr. Lotfullah S. Hakim, durch seine freundschaftliche Hilfsbereitschaft den Pilgern gegenüber, den Freunden wohlbekannt, dann Mirza Aziz’u’lláh Bahadur, ein liebenswürdiger junger Mann, der über zwölf Jahre bei dem Meister als Dolmetscher und Sekretär zubrachte und ebenso Jenabi Fazel Mazanderani, welcher seinerzeit vom Meister in Seiner Vertretung nach den Vereinigten Staaten gesandt worden war.
Bevor wir uns nach dem Frühstück trennten, bat ich Mirza Aziz’u’lláh Bahadur dem Meister den Inhalt unseres Gesprächs mitzuteilen und Ihm zu sagen, wie sehr ich beglückt sei.
Der Meister kam nicht wie gewöhnlich an diesem Vormittag ins Pilgerhaus, sondern erst zum Mittagsmahl. Er begrüßte uns in Seiner unbeschreiblich gütigen Art, schenkte mir aber weiter keine Beachtung. Ich fühlte mich so glücklich, und ich wünschte so sehr, daß Er dies erführe. Nach beendeter Mahlzeit wußte ich, daß der Meister bald aufbrechen würde. Nun wandte Sich der Meister mir zu und sagte mit Seiner klangvollen Stimme:
„Bravo, bravo, nun bist Du eine ganz andere Mrs. Watson. Nun bist Du glücklich und kannst „etwas ganz Bestimmtes“ den Freunden nach Hause bringen!“
Mit göttlicher Liebe ruhte Sein Blick auf mir und strahlte eine solche Liebe aus, daß es kaum für mich zu ertragen war. — Ich dankte Gott, daß es mir möglich war, einen Teil dieses göttlichen Heiltranks, der mir in so verschwenderischer Weise von diesem Christus so vollkommen gleichen Menschen gereicht wurde, in mich aufnehmen zu dürfen.
Der Meister von Haifa gestattet weder abergläubische Anbetung, noch blinden Gehorsam; der Gehorsam, den 'Abdu'l-Bahá erwartet, ist das Erwachen der Verantwortung der menschlichen Seele für die Eingebung des göttlichen Geistes in diesem neuen Zyklus.
Noch 17 weitere herrliche Tage durfte ich mit dem Meister und in Seinem Familienkreise zubringen. Nur zu rasch ist die Zeit dahingegangen. Zwei bis dreimal täglich sah ich den Gesegneten des Herrn. In Seinen Gesprächen wandte Er immer als Ergänzung Vergleiche an:
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„Sieh diese rasch dahinziehenden, leuchıenden Wolken, so mußt auch Du sein.
Nichts hält sie auf. Auch Du sollst Dich von nichts hindern lassen, Du mußt der armen
Welt Licht bringen!“
Später gab Er mir auf alle früheren Fragen Antwort; jetzt, da ich nicht mehr frug, wurde mir jede Erklärung zuteil. Ist es ein Wunder, daß meine Erkenntnis den Weg über Grenzen früherer Beschränktheit fand und ich diese vergaß durch die strahlende Erleuchtung, die mir durch die Sonne der Wahrheit wurde, deren Zeichen 'Abdu'l-Bahá, der Mittelpunkt des Bündnisses Gottes ist?
Die Geschichte meiner Pilgerfahrt wurde dem Meister übermittelt, und Er ließ mir ausrichten:
„Sage Mrs. Watson, sie solle ihre Erlebnisse veröffentlichen und mir eine Copie schicken!“
Als mir diese Seine Worte übermittelt wurden, frug ich: „Meint der Meister, ich solle Ihm ein Exemplar senden, wenn meine Niederschrift veröffentlicht ist, oder soll ich Ihm das fertige Manuskript senden ?“ Soheil Afnan, ein Enkel des Meisters brachte mir zum zweitenmal den Bescheid, Ihm ein veröffentlichtes Exemplar zuzuschicken.
Worte von 'Abdu'l-Bahá an mich.
„Ich habe nach Dir geschickt; Andere mußten um Erlaubnis bitten. So habe ich Dich geehrt. Wie groß diese Gnade ist, wirst Du und andere erst später erkennen. Du mußt Gott immer dankbar für diese große Gnade sein. Ich werde immer für Dich beten. Ich bete für Dich. Ich werde Dich niemals vergessen!“
„Du mußt wie diese wundervollen, leuchtenden Wolken über uns werden (zu denselben hinaufdeutend). Sieh, wie rasch sie dahinziehen, nichts hindert sie. Ich bete, daß Du wie diese Wolken werden mögest. Laß Dich von nichts aufhalten. Sprich immer von der Liebe Gottes. Lehre die Menschen, was Liebe ist. Gib ihnen die neue „frohe Botschaft“, verbreite das Wort Gottes. Lasse Deinen Geist von nichts berühren als von der Liebe Gottes. Bleibe immer dem Dienste für das Königreich treu. Denke niemals an irgend etwas Unangenehmes aus der Vergangenheit, was es auch sei. Laß nichts aus jener Zeit auf Dich einwirken. Du mußt so fern von diesen Dingen sein, wie diese Wolken fern von uns sind!“
„Die Welt ist für die meisten Menschen ohne Gott. Wenn sie sich selbst überlassen blieben, so würden sie zugrunde gehen. Die Bahá’i halten die Mittel in Händen, um die kranke Welt zu heilen. Wenn sie das Mittel nicht anwenden, so wird Gott ein anderes Volk ausersehen, dies zu tun, denn wahrlich, Er ist imstande, dies zu tun, und der Nachlässige wird einen großen Verlust erleiden. Wir dürfen unsere kostbare Zeit nicht mit unwichtigen Gesprächen über Unwesentliches zubringen, sondern wir müssen der armen Menschheit gedenken!“
„Wenn die Gläubigen sich nicht untereinander lieben, so sollen sie doch universale Liebe hegen. Wie nutzlos wäre es sonst zu sagen, sie lieben Gott. „Der Baum wird an seinen Früchten erkannt", ebenso wird die Liebe durch die Taten erkannt, denn wahre Liebe muß durch Taten bewiesen werden, sonst ist sie wirkungslos. Die Ergebnisse fehlen, und die Welt ist dafür nicht blind und sucht mit Vergrößerungsgläsern nach den Fehlern bei den Freunden.
„Man muß auch nach geistiger Kraft streben, die vereint mit geistiger Erleuchtung befähigt, all die Geistes- und Körperkräfte im höchsten Grade richtig und erfolgreich anzuwenden. Daraus entsteht ein vollkommen veredeltes Wesen. Man kann aufrichtig sein und doch unrecht haben; man kann an unrichtiger Stelle positiv sein. Es gibt Leute, die bei gewissen Dingen rechthaberisch sind und es doch aufrichtig meinen. Man muß Einsicht haben, und man muß alle Seiten in Betracht ziehen, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Die Leute sollten ihre eigenen Probleme lösen. Ratschläge können eingeholt werden, aber gewöhnlich tun die Leute doch, was sie wollen und fragen erst nachher um Rat. Aber selbst wenn Fehler gemacht werden — — das Herz dabei aber rein ist, das heißt, wenn etwas in lauterer Absicht geschieht, so läßt Gott selbst die Fehler Seiner reinen Diener zum Wohl für Seine Sache und zum Vorteil für alle werden.“
„Wenn ein Kind aus Enttäuschung oder im Zorn nach dir schlägt oder dich zankt,
so beachtest du es nicht und es kränkt dich deshalb nicht, und du vergißt es schnell.
Ebenso solltet ihr alle törichten Angelegenheiten ansehen!“
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„Was deinen Körper betrifft, so kann er nicht robust werden. Du mußt die Beschränkungen erkennen. Die geknickten Rippen und die zersplitterten Knochen können niemals mehr vollkommen geheilt werden. Der Geist kann und muß die Materie beherrschen, aber die Materie hat ihre eigenen Gesetze auf dieser Welt und verlangt ihren eigenen Zoll. „Gib Cäsar", bezieht sich auf diesen Punkt. Wer diese Wahrheit nicht erkennen und anerkennen will, ist nicht im Besitze von wahrer Einsicht. Halbe Wahrheiten führen zu einer irrigen psychologischen Annahme, die schwer zu korrigieren ist, weil der Mensch Wahrheit von Irrtum nicht unterscheiden kann!“
„Die Einheit des Lebens zu verstehen, heißt das Universum als Einheit anzuerkennen — als ein Ganzes, nicht nur als einen halben Kreis oder Bogen, nicht nur das positive, sondern auch die andere Hälfte, das negative. Die negative Seite stellt das menschliche dar, die Schranken die der Menschheit gesetzt sind, die man gewöhnlich das „Schicksal“ nennt. Man lernt durch Erfahrung, daß die Begrenzungen sich verfeinern, wenn die Seele geläutert wird. Denn auf der positiven, geistigen Seite sind die edlen, schöpferischen Kräfte. Die Offenbarung durch Gedanken erhebt den Menschen aus der Sklaverei und aus den Beschränkungen seines natürlichen oder materiellen Zustandes in immer größere Freiheit!“
„Heute ist der Tag der Tage, an welchem sich das innere Auge für die Einheit und Wirklichkeit des Lebens öffnet. Wenn die Wahrheit begriffen wird, dann erweitert sich der Verstand nach dem Grad der Fähigkeiten des Einzelnen. Jedoch hoch über dem Denken in der Welt der Wirklichkeit, steht das „Schicksal“ als ein Kennzeichen das den Hochmütigen stürzt, den Niedern erhöht, Gerechtigkeit vom Menschen fordert und früher oder später ihn heimsucht, wenn nicht Gerechtigkeit geübt wird, denn der Gedanke muß immer in Harmonie mit dem ewigen Gesetz stehen. Alles, was eigenwillig im menschlichen Denken ist, wenn es im Gegensatz zu dem allgemeinen Wesen des Denkens steht, wird untergehen. Heiligkeit vermittelt Einsicht. Das Herz zieht seine eigenen Schlüsse, von denen der Verstand nichts weiß; das Herz erkennt früher Beweise, Tatsachen oder fein gesponnene Theorien und in der letzten Zerlegung muß der Verstand nachgeben, weil das Herz im Recht ist.“
„Menschen deren Herz rein ist, sind den Geheimnissen Gottes näher; sie sind in süßem Wasser gebadet. Sie hören Warnungen, sie haben Visionen von der Wirklichkeit!“
„Der Mensch dieses Zeitalters kennt den Einfluß der Sonne, den Kreislauf der Sterne und die Sonnenfinsternis. Ein weiterer Schritt ist nun die Ausdehnung des unverrückbaren Gesetzes, der Materie des höheren Königreichs des Geistes, kennen zu lernen, das einen feinen Schwerpunkt hat, der das Gleichgewicht der Kräfte unverändert von Zeitalter zu Zeitalter aufrechterhält. Gesegnet ist die Seele, welche weiß, daß allem Anschein entgegen die Natur der Dinge für Wahrheit und Recht immer und ewig arbeitet.
Große Seelen werden und müssen sich erheben, um die Angelegenheit der Welt zu rekonstruieren, im neuen Geist des Verstehens. Der Weltkrieg hat die Menschheit die Notwendigkeit einer persönlichen, sozialen, nationalen und internationalen Schlichtung gelehrt, wenn die Welt der Menschheit glücklich werden soll. Wir müssen unsere alte Lebensanschauung ändern. Unser Tun muß reguliert werden und sich nicht nur in Politik, sondern im Prinzip ändern. Dies ist das Ziel der neuen Menschheit, in der die Ehrsucht und die Gier und das Verlangen nach Macht um des eigenen Vorteils willen, nicht mehr herrschen werden. Diese Seelen müssen abzweigen und einen Kern bilden, sie müssen ein Zentrum für die Macht der Gerechtigkeit sein, das in und während dieser dunklen Stunde —- der höchsten Not der Welt — arbeiten soll!“
„Diese Seelen wissen von diesem glorreichen Licht dieses Zeitalters, das im herrlichsten Glanze aus dem Herzen Gottes strömt!“
„Es ist Gesetz im Leben, daß man, um zu wachsen, kämpfen muß mit allen Kräften, bis man diese richtig und nutzbringend anzuwenden versteht. Die Herrlichkeit Gottes ist den Menschen bekanntgegeben an diesem Tag der Reife und es ist ihm als besondere Gabe Gottes der Wille und die Verantwortlichkeit verliehen.
Die freigewordene Seele sieht mit dem Auge des vollkommenen Glaubens, denn sie
weiß, welche große Vorkehrungen getroffen
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worden sind, um den Sieg über jede Schwierigkeit und Versuchung zu erringen. Doch
muß der Mensch immer daran denken, daß die Erde hier eine Werkstatt und keine
Kunstgalerie ist, um vollendete Kräfte zur Schau zu stellen. Sie ist nicht der Ort der
Vollkommenheit, sondern die Erde ist der Schmelztiegel, in dem der Charakter geläutert
und gebildet wird. Das Licht des Verständnisses für „einen neuen Himmel“ kann
nicht mehr getrübt werden. Die neue Erde wird nicht mehr im alten Aberglauben und
auf Begrenzungen beschränkt bleiben. Das Neue Licht ist auf eine zentralisierte Wahrheit
gegründet, durch die alle abergläubischen Gedanken vernichtet werden, ja aufgezehrt
werden vom Feuer der Liebe Gottes!“
Ein weiterer interessanter Zwischenfall hat sich zu gleicher Zeit zugetragen: Ein alter Bahá’i aus Indien, Mirza Sayd Mustapha, ist ein erprobter Arbeiter in der heiligen Sache, er war einige Monate Gast des Meisters, um sich nach sehr anstrengender Arbeit, — der Gründung einer indischen Kolonie von 150 Seelen — zu erholen. Er war mit bei unserer Reise nach dem Grabe Bahá’u’lláh’s und Zeuge meiner wunderbaren Heilung. Dieser Freund bat mich nun, nach seiner Kolonie zu kommen und die Seinen zu lehren. Er frug mich, ob ich mitgehen wolle. Ich sagte, daß ich dies gerne mit Erlaubnis der Meisters tun werde. Sayd Mustapha sprach oft über diese Kolonie und über die Arbeit, die ich dort verrichten könnte. Ein paar Tage später sagte mir 'Abdu'l-Bahá:
„Ich habe es schon Sayd Mustapha gesagt, wenn ich dich nach Indien schickte, so würdest du bald zu ’Abhá’s Königreich aufsteigen. Nein, dein Körper ist nicht stark genug, um die Anstrengungen auszuhalten, die solch eine Reise und eine derartige Arbeit erfordert. Ich wünsche, daß du nach Amerika gehst, und die Frohe Botschaft mitnimmst. Bring ihnen die „ganz bestimmte Sache", die ich dir gegeben habe, du bist ein lebendiges Zeichen der Liebe Gottes.“
Ein paar Minuten später sagte ich dies Sayd Mustapha. Er antwortete mir: „Der Meister hat es mir gestern schon gesagt!“ Wir sahen beide, daß der Meister unsere unausgesprochene Frage beantwortet hatte. Wieder ein Beweis Seiner untrüglichen Befähigung, im Herzen der Menschen zu lesen.
Ein paar Tage nach diesem Zwischenfall kam Fugeta in mein Zimmer und sagte: "Der Meister kommt zu Dir.“ Es war nicht zur gewohnten Stunde. Ich beendete einige Notizen und legte schnell meine Arbeit weg, als auch schon der Meister bei mir eintrat.
Auf Seinem Antlitz lag der Ausdruck der Gnade, Liebe, Schönheit, Milde und Größe, alles was die Seele empfinden kann. Er trug in den Händen einen Silberteller, auf den weiße Jasminblüten gehäuft waren. Nachdem Er mich begrüßt hatte, sagte Er:
„Ich komme, um dir dein Abschiedsgeschenk zu bringen: Diese duftenden Blüten! Mögen Deine Taten die Welt mit solchem Duft erfüllen!
Dieses Abschiedsgeschenk stellte ich mit bebenden Händen auf den Tisch. Der Meister fuhr fort:
„In ein paar Tagen wirst du uns verlassen. Andere Gäste kommen und ich wünsche, daß du möglichst viele Freunde in Alexandrien, Port Said und Kairo aufsuchst, du wirst sie beleben und sie werden dich mit echter Bahá’i-Liebe aufnehmen!“
Als ich wieder allein war, mußte ich weinen. Tausend Erinnerungen an Seine wunderbare Güte wurden in meiner Seele wach und machten mir die göttliche Ausströmung der Liebe verständlich, die Christus seinerzeit ausübte, die sich aber durch das erdenwärts gewandte Bewußtsein der Menschen so verwischt hat, daß kaum mehr eine Spur davon bei der Mehrzahl von ihnen zu finden ist. Aber heute bei der Morgendämmerung dieses großen Zyklus, ist die Aussicht hoffnungsreich, denn der Christusgeist hat sich wieder auf Erden geoffenbart. Ein neues göttlich-geistiges Verstehen ist nun in Tausenden erwacht, die bereit sind, eine Vereinigung der Anschauungen und der seelischen Gemeinschaft — die Verwirklichung der Christusliebe im Leben — zu schaffen.
Die Wunder, die täglich 'Abdu'l-Bahá in Wort und Tat vollbringt, können nicht geschildert
werden. Das Heilen der seelischen Blindheit, das Wiederherstellen der in ihrem Gewissen
verkümmerten und das Wiedererwecken der „Toten“ zur geistigen Wirklichkeit. Es gibt in der
Tat Wunder, die Menschen jeder Nationen und Religionen in unsern Tagen persönlich erlebt haben,
wie auch vielerlei wunderbare physische Heilungen. Das sind Begnadigungen für das menschliche Herz,
aber die Bahá’i legen keinen zu großen Nachdruck auf die physischen Heilungen, denn 'Abdu'l-Bahá
hat von letzteren gesagt:
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„Wenn auch das physische Sehen wieder hergestellt ist, so wird der Mensch doch zu seiner ihm bestimmten Zeit den Körper verlassen und kein dauernder Nutzen ist dadurch entstanden.“
Zu mir sagte Er:
„Das Wunder der Wiederherstellung deines Körpers ist ein Beweis der Liebe Gottes, der „Gesegneten Schönheit“ für dich. Du mußt immer für diese große Gnade dankbar sein!“
Ich möchte eine so wunderbare Heilung, die so unerwartet für mich kam, nicht verkleinern; ich hatte in keiner Weise an solch’ ein Ereignis gedacht, ja, ich war ganz zufrieden mit den „Besonderheiten", welche mir die Natur in so freigebigen Kurven 30 Jahre lang auferlegt hatte, aber welche sehr geschickt durch die Hände einer geübten Schneiderin verborgen gewesen waren. Es erscheint mir diese plötzliche Heilung um so wunderbarer und doch war das von dem Geliebten in Haifa vorgesehene Mittel für diese Heilung so vollkommen natürlich und zeigt keine Verletzung des Naturgesetzes, sondern eine Anwendung des Gesetzes durch die Weisheit des Christi gleichen Mannes. Was berühmte Aerzte mit Recht zu tun fürchteten, nämlich Gewalt anzuwenden, hätte meinen Tod zur Folge gehabt. Das gleichmäßige stundenlange Stoßen auf dem Rücken des Esels brachte diesen sehr erfolgreichen Eingriff ohne Messer zustande. Dies war der einzige Weg, wie es gemacht werden konnte, und der Einzige, der das Wunder vollbringen konnte, war der Meister. Dies weiß ich von dem sanften Regen der Bestätigung, der auf mich durch das Heilige Wehen in dieser göttlichen Frühlingszeit fiel.
Ich bin etwas abgeschweift, will aber zu dem Augenblick zurückkehren, als der Meister mir verkündete, daß ich in ein paar Tagen abreisen sollte. An jenem Nachmittag, als ich mit den Damen des Hauses zusammenkam, bemerkten sie, daß ich geweint hatte, auf ihre dringenden Fragen, erzählte ich von des Meisters Wunsch, und trotz meiner Anstrengung, meine Tränen zurückzuhalten, mußte ich abermals weinen. Die Damen küßten mich und sagten: „Liebe Schwester, weine nicht... Deine Traurigkeit macht uns auch traurig. Wir wollen den Meister bitten, Dich nicht gehen zu lassen. Wir haben Dich alle liebgewonnen und wünschten, Du könntest für immer hier bleiben. Wir könnten viel von Dir lernen und auch die Kinder möchten nicht, daß Du fortgehst!“ Ich war gerade dabei, sie zu bitten, nichts dem Meister zu sagen, als Er unerwartet eintrat. Ich umarmte die Damen zum Abschied und wollten eben das Pilgerhaus verlassen, aber Er führte uns freundlich wieder zusammen.
„Gut, sehr gut“,
sagte Er und blickte in wundervoller Liebe auf uns, und sprach weiter:
„Nein sie muß nun fort! Verbreite die frohe Botschaft. Lehre die Menschen. Beweise die Liebe Gottes!“
Er deutete auf die kleine Gruppe, zu der sich nun auch Seine Enkelkinder gefunden hatten:
„Siehe, wie diese dich lieben. Wir alle lieben dich. Dies ist deine Heimat, aber nun mußt du von zu Hause fort. Du hast mit uns gegessen, nicht nur materielle Nahrung, du hast auch geistige Nahrung mit uns eingenommen. Die himmlische Nahrung besteht aus der Liebe Gottes, der Kenntnis von Gott, aus den Geheimnissen Gottes und der Verleihung der Göttlichen Gaben. Du mußt sehr dankbar für diese wunderbare Gnade sein und strahlend glücklich werden.“
Nach diesen Worten vergoß ich keine Tränen mehr.
Der letzte Tag, der 27. August, war gekommen. Lebe wohl und ‚Allah’o’Abhá war oftmals gewechselt worden mit den Bahá’i, die mir in kurzer Zeit, aber für immer, im wahren Bewußtsein, Freunde geworden waren. — Ich habe an diesem Morgen den Meister im Pilgerhause nicht gesehen, da so viele fremde Besuche zu Ihm kamen, aber später in Seinem eigenen Hause, bei Tisch. Er war sehr freundlich und entschuldigte sich, daß es Ihm durch die vielen Besuche nicht möglich gewesen sei, mich zu sehen. Der Meister ist immer rücksichtsvoll und höflich. Er sprach nicht von meiner Abreise. Nach Tisch rief Er mich und führte mich durch das Speisezimmer auf die breite Steinterrasse und ließ zwei Stühle bringen. Er hieß mich Platz nehmen und setzte sich gleichfalls. Er belehrte mich über meine zukünftige Arbeit. Dies habe ich später alles sorgfältig niedergeschrieben. Dann stand Er auf und sagte:
„Da du morgens um 3 Uhr weggehst, werde ich dich nicht mehr sehen. Dies ist mein letztes Lebewohl, ich sende dich fort unter dem Schutze von Bahá’u’lláh, der Gesegneten Schönheit. Sei erfüllt von Seiner überfließenden Liebe. Wir werden niemals voneinander getrennt sein. Ich werde immer für dich beten. Vergiß dies nicht.“
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Er rief Soheil, um mich nach dem Pilgerhause zu geleiten, sprach nichts mehr und verließ mich
mit einem warmen Händedruck. Ich sagte leise Adieu und ging zum letztenmale die Steintreppe
hinab. Der Meister war stehen geblieben. Ich schaute nochmals mit einem letzten Blick zurück,
und es schien mir, als ob ich Seine Segenswünsche hörte.
Später ging ich wieder nach des Meisters Haus, um, wie versprochen, die Damen nochmals zu sehen. Das „Größte Heilige Blatt“ gab mir einen wunderschönen Rosenkranz von prachtvollen blaufarbenen Perlen, abgeteilt durch entzückende Gehänge. „Ich habe dies selbst für Dich aufgereiht und habe gebetet, daß Du wieder vollkommen gesund und kräftig werden mögest, damit Du viele Jahre für den Meister arbeiten kannst“, waren ihre Worte. Ich war tief gerührt durch diesen Liebesdienst von dieser Heiligen. Und dann hörte ich Tuba Khanum, eine der edlen Töchter des Meisters, eine wunderschöne Geschichte erzählen als Beispiel von Duldung, von Mitleid und Liebe, wie es dergleichen nicht ein zweitesmal gibt: Einst zu Lebzeiten Bahá’u’lláh’s, ging ein alter, intellektueller Anhänger von Bahá’u’lláh, in einem entlegenen Stadtteil spazieren. Er wurde auf das Selbstgespräch eines alten, betenden Mannes aufmerksam. Der Zuhörer stellte sich hinter einen Baum und beobachtete jenen. Er sah den alten Mann in Extase die Arme ausstrecken und hörte ihn ausrufen: ,O Gott, mein Geliebter... wo bist Du hingegangen? Komm zurück zu mir. Ich will Dein herrliches Haar waschen und kämmen. Ich will Deine Kleider waschen, und ich will alles Ungeziefer von Dir ferne halten (was natürlich bei ihm, da der Boden sein Bett war, nicht ferne lag.) Ich will Dein Essen gut und schmackhaft zubereiten. O, bitte, komm zu mir. Mein Herz sehnt sich nach Dir und ruft Tag und Nacht, o, mein lieber Herr komm!“ Tränen rannen die alten, verwelkten Wangen herab und seine Stimme war weich, bebend und voll Liebe. Der Zuhörer trat aus seinem Versteck hervor und sagte: „Höre sofort auf. Was meinst du denn? Weißt du nicht, daß es Sünde ist, Gott in dieser Weise anzureden. Tue das nie wieder!“ Der alte Mann hörte nicht mehr. Er lief in Todesangst weinend davon: „O, mein Gott, mein Gott, vergib mir, was habe ich getan!“
Später, als der alte Anhänger wieder zu Bahá’u’lláh kam, sagte Er zu ihm:
„Gehe sofort zurück und tröste das Herz, das du verwundet hast und sage ihm, daß seine Liebe und alle seine Gebete von Gott angenommen werden!“
Mitternacht war nun vorüber, und mit innigem „Lebewohl“ gingen wir auseinander. Diese letzte Stunde wird mir immer eine heilige Erinnerung an die Pilgerfahrt nach dem Lande meiner Sehnsucht bleiben.
Maria A. Watson.
Dieser Tag ist der Tag Gottes, des Herrn der Heerscharen und die Posaunen des Lebendigen Gottes erschallen. Es ist der Tag des Aufrufs zur Harmonie und Einigkeit der Welt, an dem das Banner der Treue, des Vertrauens und der Freundschaft zwischen den verschiedenen Nationen und Religionen der Welt gehißt ist. Er ist das Licht der Sonne der Wahrheit.
Aus den Aeußerungen 'Abdu'l-Bahás.
Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter.
das vortreffliche Lehrbuch von Dr. J.E. Esslemont erscheint in einigen Wochen in unserem Verlag. Um das Aufbringen der hohen Kosten zu erleichtern, wären wir für sofortige Bestellungen unter Voreinsendung des Betrags sehr dankbar.
Bei Bestellungen, die auf diese Weise vor dem 10. September eingehen, liefern wir dies Werk in Halbleinen gebunden zum Vorzugspreis von Mk. 3.50 unter Hinzurechnung von 40 Pfg. Porto und Verpackung sofort nach Fertigstellung.
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Druck: Wilhelm Heppeler, Stuttgart
Geschichte und Bedeutung der Bahá’ilehre.
Die Bahai-Bewegung tritt vor allem ein für die „Universale Religion" und den „Universalen Frieden“ — die Hoffnung aller Zeitalter. Sie zeigt den Weg und die Mittel, die zur Einigung der Menschheit unter dem hohen Banner der Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit führen. Sie ist göttlich ihrem Ursprung nach, menschlich in ihrer Darstellung, praktisch für jede Lebenslage. In Glaubenssachen gilt bei ihr nichts als die Wahrheit, in den Handlungen nichts als das Gute, in ihren Beziehungen zu den Menschen nichts als liebevoller Dienst.
Zur Aufklärung für diejenigen, die noch wenig oder nichts von der Bahaibewegung wissen, führen wir hier Folgendes an: „Die Bahaireligion ging aus dem Babismus hervor. Sie ist die Religion der Nachfolger Bahá’u’lláhs. Mirza Hussein Ali Nuri (welches sein eigentlicher Name war) wurde im Jahre 1817 in Teheran (Persien) geboren. Vom Jahr 1844 an war er einer der angesehensten Anhänger des Bab und widmete sich der Verbreitung seiner Lehren in Persien. Nach dem Märtyrertod des Bab wurde er mit den Hauptanhängern desselben von der türkischen Regierung nach Bagdad und später nach Konstantinopel und Adrianopel verbannt. In Bagdad verkündete er seine göttliche Sendung (als „Der, den Gott offenbaren werde") und erklärte, daß er der sei, den der Bab in seinen Schriften als die „Große Manifestation", die in den letzten Tagen kommen werde, angekündigt und verheißen hatte. In seinen Briefen an die Regenten der bedeutendsten Staaten Europas forderte er diese auf, sie möchten ihm bei der Hochhaltung der Religion und bei der Einführung des universalen Friedens beistehen. Nach dem öffentlichen Hervortreten Bahá’u’lláhs wurden seine Anhänger, die ihn als den Verheißenen anerkannten, Bahai (Kinder des Lichts) genannt. Im Jahr 1868 wurde Bahá’u’lláh vom Sultan der Türkei nach Akka in Syrien verbannt, wo er den größten Teil seiner lehrreichen Werke verfaßte und wo er am 28. Mai 1892 starb. Zuvor übertrug er seinem Sohn Abbas Effendi ('Abdu'l-Bahá) die Verbreitung seiner Lehre und bestimmte ihn zum Mittelpunkt und Lehrer für alle Bahai der Welt.
Es gibt nicht nur in den mohammedanischen Ländern Bahai, sondern auch in allen Ländern Europas, sowie in Amerika, Japan, Indien, China etc. Dies kommt daher, daß Bahá’u’lláh den Babismus, der mehr nationale Bedeutung hatte, in eine universale Religion umwandelte, die als die Erfüllung und Vollendung aller bisherigen Religionen gelten kann. Die Juden erwarten den Messias, die Christen das Wiederkommen Christi, die Mohammedaner den Mahdi, die Buddhisten den fünften Buddha, die Zoroastrier den Schah Bahram, die Hindus die Wiederverkörperung Krischnas und die Atheisten — eine bessere soziale Organisation.
In Bahá’u’lláh sind alle diese Erwartungen erfüllt. Seine Lehre beseitigt alle Eifersucht und Feindseligkeit, die zwischen den verschiedenen Religionen besteht; sie befreit die Religionen von ihren Verfälschungen, die im Lauf der Zeit durch Einführung von Dogmen und Riten entstanden und bringt sie alle durch Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Reinheit in Einklang. Das einzige Dogma der Lehre ist der Glaube an den einigen Gott und an seine Manifestationen (Zoroaster, Buddha, Mose, Jesus, Mohammed, Bahá’u’lláh).
Die Hauptschriften Bahá’u’lláhs sind der Kitab el Ighan (Buch der Gewißheit), der Kitab el Akdas (Buch der Gesetze), der Kitab el Ahd (Buch des Bundes) und zahlreiche Sendschreiben, genannt „Tablets“, die er an die wichtigsten Herrscher oder an Privatpersonen richtete. Rituale haben keinen Platz in dieser Religion; letztere muß vielmehr in allen Handlungen des Lebens zum Ausdruck kommen und in wahrer Gottes- und Nächstenliebe gipfeln. Jedermann muß einen Beruf haben und ihn ausüben. Gute Erziehung der Kinder ist zur Pflicht gemacht und geregelt.
Streitfragen, welche nicht anders beigelegt werden können, sind der Entscheidung des Zivilgesetzes jeden Landes und dem Bait’ul’Adl oder „Haus der Gerechtigkeit“, das durch Bahá’u’lláh eingesetzt wurde, unterworfen. Achtung gegenüber jeder Regierungs- und Staatseinrichtung ist als einem Teil der Achtung, die wir Gott schulden, gefordert. Um die Kriege aus der Welt zu schaffen, ist ein internationaler Schiedsgerichtshof zu errichten. Auch soll neben der Muttersprache eine universale Einheits-Sprache eingeführt werden. „Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die Tropfen eines Meeres“ sagt Bahá’u’lláh.
Es ist also weniger die Einführung einer neuen Religion, als die Erneuerung und Vereinigung aller Religionen, was heute von 'Abdu'l-Bahá erstrebt wird. (Vgl. Nouveau, Larousse, illustré supplement, p. 66.)
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In unserem Verlag sind erschienen:
1. Die Geschichte der Bahai-Bewegung, von S. S. Deutsch von Wilhelm Herrigel. Dritte Ausgabe . . . -.20
2. Bahai-Perlen, Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . . -.20
3. Ehe Abraham war, war Ich, v. Thornton Chase. Deutsch v. W.Herrigel . . . . -.10
4. Das heilige Tablet, ein Sendschreiben Baha’o’llahs an die Christenheit. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . -.10
5. Die Universale Weltreligion. Ein Blick in die Bahai-Lehre von Alice T, Schwarz . . . . -.50
6. Die Offenbarung Baha’u’llahs, von J.D. Brittingham. Deutsch von Wilhelm. Herrigel . . . -.50
7. Verborgene Worte von Bahá’u’lláh. Deutsch v. A. Braun u. E. Ruoff . . . 1.--
8. Baha’u’llah, Frohe Botschaften, Worte des Paradieses, Tablet Tarasat, Tablet Taschalliat, Tablet Ischrakat. Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Halbleinen gebunden . . . 2.--
in feinstem Ganzleinen gebunden . . . . . 2.50
9. Einheitsreligion. Ihre Wirkung auf Staat, Erziehung, Sozialpolitik, Frauenrechte und die einzelne Persönlichkeit, von Dr. jur. H. Dreyfus, Deutsch von Wilhelm Herrigel. Neue Auflage . . . -.50
10. Die Bahaibewegung im allgemeinen und ihre großen Wirkungen in Indien, von Wilhelm Herrigel . . . . -.50
11. Eine Botschaft an die Juden, von Abdul Baha Abbas. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . -.15
12. Abdul Baha Abbas, Ansprachen über die Bahailehre. Deutsch von Wilhelm Herrigel,
in Halbleinen gebunden . . . . . 2.50
in feinstem Ganzleinen gebunden. . . . . 3.--
13. Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahaireligion, von Mirza Abul Fazl. Deutsch von W. Herrigel,
in Halbleinen geb. . . . . 4.--
In Ganzleinen gebunden . . . . 4.50
14. Abdul Baha Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps.
Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Ganzleinen gebunden . . . . 3.50
15. Das Hinscheiden Abdul Bahas, ("The Passing of Abdul Baha") Deutsch von Alice T. Schwarz . . . -.50
16. Das neue Zeitalter von Ch. M. Remey. "Deutsch von Wilhelm Herrigel —.50
17. Die soziale Frage und ihre Lösung im Sinne der Bahailehre von Dr. Hermann Grossmann . . —.20
18. Die Bahai-Offenbarung, ein Lehrbuch von Thornton Chase, deutsch von W. Herrigel, kartoniert M. 4.--, in Halbleinen gebunden M. 4.60
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