Sonne der Wahrheit/Jahrgang 7/Heft 2/Text

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SONNE

DER

WAHRHEIT
 
Heft II VII.JAHRG. APRIL 1927
 
ORGAN DES DEUTSCHEN BAHAI-BUNDES STUTTGART


[Seite 16] Abdu’l-Bahás Erläuterung der Bahai-Prinzipien.


1. Die ganze Menschheit muss als Einheit betrachtet werden.

Baha’u’lláh wandte Sich an die gesamte Menschheit mit den Worten: „Ihr seid alle die Blätter eines Zweigs und die Früchte eines Baumes“. Das heißt: die Menschheit gleicht einem Baum und die Nationen oder Völker gleichen den verschiedenen Aesten und Zweigen; die einzelnen Menschen aber gleichen den Blüten und Früchten dieses Baumes. In dieser Weise stellte Baha’u’lláh das Prinzip der Einheit der Menschheit dar. Baha’u’lláh verkündigte die Einheit der ganzen Menschheit, er versenkte sie alle im Meer der göttlichen Gnade.


2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.

In religiösen Fragen sollte niemand blindlings seinen Eltern und Voreltern folgen. Jeder muß mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören und die Wahrheit suchen, denn die Religionen sind häufig nichts anderes als Nachahmungen des von den Eltern und Voreltern übernommenen Glaubens.


3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.

Alle göttlichen Verordnungen beruhen auf ein und derselben Wirklichkeit. Diese Grundlage ist die Wahrheit und bildet eine Einheit, nicht eine Mehrheit. Daher beruhen alle Religionen auf einer einheitlichen Grundlage. Im Laufe der Zeit sind gewisse Formen und Zeremonien der Religion beigefügt worden. Dieses bigotte menschliche Beiwerk ist unwesentlich und nebensächlich und verursacht die Abweichungen und Streitigkeiten unter den Religionen. Wenn wir aber diese äußere Form beiseite legen und die Wirklichkeit suchen, so zeigt sich, daß es nur eine göttliche Religion gibt.


4. Die Religion muss die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.

Die Religion ist für die Menschheit die größte göttliche Gabe, die Ursache des wahren Lebens und hohen sittlichen Wertes; sie führt den Menschen zum ewigen Leben. Die Religion sollte weder Haß und Feindschaft noch Tyrannei und Ungerechtigkeiten verursachen. Gegenüber einer Religion, die zu Mißhelligkeit und Zwietracht, zu Spaltungen und Streitigkeiten führt, wäre Religionslosigkeit vorzuziehen. Die religiösen Lehren sind für die Seele das, was die Arznei für den Kranken ist. Wenn aber ein Heilmittel die Krankheit verschlimmert, so ist es besser, es nicht anzuwenden.


5. Die Religion muss mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.

Die Religion muß mit der Wissenschaft übereinstimmen und der Vernunft entsprechen, so daß die Wissenschaft die Religion, die Religion die Wissenschaft stützt. Diese beiden müssen unauflöslich miteinander verbunden sein.


6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.

Dies ist eine besondere Lehre Baha’u’lláhs, denn die früheren Religionen stellen die Männer über die Frauen. Töchter und Söhne müssen gleichwertige Erziehung und Bildung genießen. Dies wird viel zum Fortschritt und zur Einigung der Menschheit beitragen.


7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.

Alle Propheten Gottes kamen, um die Menschen zu einigen, nicht um sie zu trennen. Sie kamen, um das Gesetz der Liebe zu verwirklichen, nicht um Feindschaft unter sie zu bringen. Daher müssen alle Vorurteile rassischer, völkischer, politischer oder religiöser Art abgelegt werden. Wir müssen zur Ursache der Einigung der ganzen Menschheit werden.


8. Der Weltfriede muss verwirklicht werden.

Alle Menschen und Nationen sollen sich bemühen, Frieden unter sich zu schließen. Sie sollen darnach streben, daß der universale Friede zwischen allen Regierungen, Religionen, Rassen und zwischen den Bewohnern der ganzen Welt verwirklicht wird. Die Errichtung des Weltfriedens ist heutzutage die wichtigste Angelegenheit. Die Verwirklichung dieses Prinzips ist eine schreiende Notwendigkeit unserer Zeit.


9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung geniessen.

Alle Menschen müssen erzogen und belehrt werden. Eine Forderung der Religion ist, daß jedermann erzogen werde und daß er die Möglichkeit habe, Wissen und Kenntnisse zu erwerben. Die Erziehung jedes Kindes ist unerläßliche Pflicht. Für Elternlose und Unbemittelte hat die Gemeinde zu sorgen.


10. Die soziale Frage muss gelöst werden.

Keiner der früheren Religionsstifter hat die soziale Frage in so umfassender, vergeistigter Weise gelöst wie Baha’u’lláh. Er hat Anordnungen getroffen, welche die Wohlfahrt und das Glück der ganzen Menschheit sichern. Wenn sich der Reiche eines schönen, sorglosen Lebens erfreut, so hat auch der Arme ein Anrecht auf ein trautes Heim und ein sorgenfreies Dasein. Solange die bisherigen Verhältnisse dauern, wird kein wahrhaft glücklicher Zustand für den Menschen erreicht werden. Vor Gott sind alle Menschen gleich berechtigt, vor Ihm gibt es kein Ansehen der Person; alle stehen im Schutze seiner Gerechtigkeit.


11. Es muss eine Einheitssprache und Einheitsschrift eingeführt werden.

Baha’u’lláh befahl die Einführung einer Welteinheitssprache. Es muß aus allen Ländern ein Ausschuß zusammentreten, der zur Erleichterung des internationalen Verkehrs entweder eine schon bestehende Sprache zur Weitsprache erklären oder eine neue Sprache als Weltsprache schaffen soll; diese Sprache muß in allen Schulen und Hochschulen der Welt gelehrt werden, damit dann niemand mehr nötig hat, außer dieser Sprache und seiner Muttersprache eine weitere zu erlernen.


12. Es muss ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.

Nach dem Gebot Gottes soll durch das ernstliche Bestreben aller Menschen ein Weltschiedsgerichtshof geschaffen werden, der die Streitigkeiten aller Nationen schlichten soll und dessen Entscheidung sich jedermann unterzuordnen hat.

Vor mehr als 50 Jahren befahl Baha’u’lláh der Menschheit, den Weltfrieden aufzurichten und rief alle Nationen zum „internationalen Ausgleich“, damit alle Grenzfragen sowie die Fragen nationaler Ehre, nationalen Eigentums und aller internationalen Lebensinteressen durch ein schiedsrichterliches „Haus der Gerechtigkeit" entschieden werden können.


Baha’u’lláh verkündigte diese Prinzipien allen Herrschern der Welt. Sie sind der Geist und das Licht dieses Zeitalters. Von ihrer Verwirklichung hängt das Wohlergehen für unsere Zeit und das der gesamten Menschheit ab.


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SONNE    DER  WAHRHEIT
Organ des Bahai-Bundes, Deutscher Zweig
Herausgegeben vom Verlag des Bahai-Bundes, Deutscher Zweig, Stuttgart
Verantwortliche Schriftleitung: Alice Schwarz - Solivo, Stuttgart, Alexanderstraße 3
Preis vierteljährlich 1,80 Goldmark, im Ausland 2.– Goldmark.
Heft 2 Stuttgart, im April 1927
Bahá (Herrlichkeit) 84
7. Jahrgang

Inhalt: Brief von Shoghi Effendi an die Gläubigen in Deutschland. — Beantwortete Fragen. — Die neue Erde. — Frühling.


Motto: Einheit der Menschheit — Universaler Friede — Universale Religion



Heutigen Tages sind die himmlischen Kräfte und die hilfsbereiten göttlichen Heerscharen die Verteidiger und Helfer der Seelen, die sich mit den Lehren der Gottessache befassen und die treu zum Bunde stehen.

'Abdu'l-Bahá.


Gebet.

Gelobt seist Du, o mein Gott! Denn Du hast mir gewährt, den Wein Deiner Erkenntnis aus dem herrlichen Kelch in der Versammlung der Geliebten Gottes zu trinken, Du hast mich befähigt, in Dein Königreich einzutreten, Du erwecktest mich durch den Ruf Deiner heiligen Engel und zogst mich an mit dem Magnet Deiner Liebe, Du hast mein Gesicht erleuchtet mit dem Licht Deiner Einheit, Du hilfst mir, Deinen Namen auszusprechen, Du hast mich mit dem Feuer Deiner Liebe entzündet und meine Brust mit Freude erfüllt durch das Licht Deiner Erkenntnis, Du hast mich durch Deinen Hauch erweckt und durch Deinen Geist belebt.

O mein Gott, mache mich treu und aufrichtig vor Deinem Angesicht, befähige mich, Deine Harmonie zu verbreiten und Dein Wort zu verkünden. Mache mich zu einem Diener Deiner Geliebten, zu einem Bittenden in Deinem Königreich und zu einem Flehenden an den Toren Deiner Einheit. Gib mir die Fähigkeit, mich selbst mit Deinen Eigenschaften zu charakterisieren!

Du bist der Allmächtige! Du bist der Barmherzige! Du bist der Gerechte, der Erbarmende, der Großmütige.

'Abdu'l-Bahá


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Brief von Shoghi Effendi an die Gläubigen in Deutschland.

An die Geliebten Gottes und an die Dienerinnen des Barmherzigen im Abendland.

Die mannigfaltigen Begebenheiten, welche die Interessen der Baháibewegung direkt oder indirekt berühren, haben kürzlich die Veranlassung gegeben, in erster Linie das Wesen und die Bedeutung des Glaubens in den Vordergrund zu stellen, der dazu bestimmt ist, die Welt zu erneuern. Von all den mannigfaltigen Ereignissen, die heute Schritt für Schritt dazu führen, das Band der Offenbarung Bahá’u’lláhs zu festigen und zu erweitern, erscheint der soeben gefaßte Beschluß des ägyptischen Religionstribunals, die Bahái betreffend, als das Wirkungsvollste an Herausforderung, das Ueberraschendste dem Charakter nach und wohl das Erstaunlichste in seinen Folgen.

Ich habe bereits in meinem Schreiben an die Geistigen Arbeitsgemeinschaften in den Vereinigten Staaten und Kanada vom 10. 1. 1926 auf besondere Merkmale dieses folgeschweren Erlasses hingewiesen, der nach seiner endgültigen Fassung der Zustimmung der höchsten kirchenbehördlichen Autoritäten bekannt gemacht und gedruckt wurde und als endgültig und bindend anerkannt ist.

Ich habe in meiner letzten Mitteilung auf diesen folgeschweren Entscheid hin die negative Seite des Dokuments betont, welches in unzweideutiger und pathetischer Sprache die Nachfolger Bahá’u’lláhs und die Gläubigen als Ketzer verdammt, die den Islam beleidigen und deren Verhalten gänzlich unvereinbar mit den von ihren Eltern übernommenen orthodoxen Lehren und Gepflogenheiten ist.

Ein näheres Studium des Wortlauts der Beschlußfassung bekundet jedoch, daß neben dieser schweren Denunziation die tatsächliche Begründung einer Wahrheit einhergeht, welche die bekannten Gegner des Baháiglaubens in anderen mohammedanischen Ländern bis heute entweder übersehen oder ungerechtfertigterweise bestrebt waren, als falsch zurückzuweisen.

Neben dieser harten und ungerechtfertigten Zurückweisung der sogenannten bedrohlichen und ketzerischen Lehren der Anhänger des Bahái-Glaubens stellen sie fernerhin fest, daß der Bahái-Glaube eine „Neue Religion“ ist, „vollständig unabhängig“ und durch die Größe ihres Anspruchs und den Charakter ihrer „Gesetze, Prinzipien und Glauben“ würdig, als eines der bestehenden Religionssysteme in der Welt angesehen zu werden. In Anführung verschiedener Aussprüche, einsichtsvoll, als Beweis glänzender Zeugenschaft aus einer Anzahl geheiligter Bahái-Schriften entnommen, fahren sie in einer denkwürdigen Auseinandersetzung fort, die Tatsache zu folgern, daß es als unmöglich angesehen werden könne, daß ein Anhänger eines solchen Glaubens fernerhin als Mohammedaner bezeichnet werden kann, geradeso wie es unkorrekt und falsch wäre, daß ein Mohammedaner sich Christ oder Jude nennt.

Es ist nicht zu leugnen, daß im Lauf der unaufhaltsamen Entwicklung die derzeitige Lage der in Egypten lebenden Bahái, die ursprünglich dem Islam angehörten, eine außerordentlich demütigende und bedrängte ist. Es bleibt ihnen nun nichts übrig, als wenigstens froh darüber zu sein, daß, währenddem in verschiedenen mohammedanischen Ländern und insbesondere in Persien die überwiegende Mehrzahl der Führer des Islam sich offenbar irgend einer Art der Erklärung widersetzen, was die universale Erkenntnis der heiligen Sache erleichtern würde, die autorisierten Oberhäupter ihrer Mitgläubigen in einer der vorangeschrittensten Gemeinschaften der mohammedanischen Welt aus eigenem Antrieb der Welt ein Dokument geliefert haben, das rechtmäßig als die erste Urkunde der Befreiung angesehen werden kann, die den Bahái-Glauben aus den Fesseln des orthodoxen Islam erlöst. Um nun den vollständigen Bruch zwischen der Zugehörigkeit der Bahái zum islamitischen Gerichtshof herbeizuführen, sprechen sie in unzweideutigen Ausdrücken die Bedingung aus, daß unter keinen Umständen die Ehe solcher Bahái, die darum einkommen, sich von ihren moslemitischen Frauen zu trennen, durch den moslemitischen Gerichtshof erneut werden kann, es sei denn, und nur in dem Fall, daß die Gatten formell ihrem Glauben absagen durch die feierliche Erklärung: „daß der Koran das ‚letzte‘ Buch Gottes ist“, das den Menschen enthüllt wurde, daß kein Gesetz des Propheten Gesetz ablösen kann, daß kein Glaube Seinem Glauben nachfolgen und keine Offenbarung den Anspruch erheben kann, Seine Offenbarung zu erfüllen.

Indessen glauben die Bahái in jedem Land unbeirrt an die göttliche Stufe des Urhebers des Korans und sind durchaus von der Notwendigkeit und dem [Seite 19] weltweiten Einfluß seiner göttlichen Mission überzeugt. Die Bahái in jedem Land stehen festgewurzelt und nicht erniedrigt der strengen Verdammung gegenüber, die über ihre Glaubensgenossen in Egypten ausgesprochen wurde. Ja, sie begrüssen freudig und stolz gemeinsam mit ihren Mitarbeitern in allen mohammedanischen Ländern jede Gelegenheit zu weiterer Befreiung, damit sie die erhabene Mission Bahá’u’lláhs in ihr wahres Licht setzen können.


Marktleben in Akka.


Gegenüber einer solch ausgesprochenen und herausfordernden Erklärung, können die abendländischen Bahái nur das tiefste Mitgefühl mit ihren egyptischen Glaubensbrüdern haben, die, um unserer geliebten Sache und um ihrer Anerkennung willen alle die Bedrückungen und Beleidigungen zu ertragen haben, welche eine Trennung durch althergebrachte Bindungen unumgänglich [Seite 20] zur Folge hat. Sie werden trotzdem selbstverständlich jeden gefestigten und rechtlich denkenden Gläubigen in dem Glauben, der in seinem Lande herrscht, schätzen in Anbetracht der strengen Androhungen, die ausdrücklich von unseren Gegnern ausgesprochen worden sind und von allem absehen, was in irgendeiner Weise in den Augen eines kritischen und wachsamen Feindes eine Nichtanerkennung des fundamentalen Glaubens des Bahái-Volkes rechtfertigen könnte. Sie werden voll Vertrauen, wenn der Augenblick günstig erscheint, mit sehnsüchtigen Herzen vorgehen, um jede Unterstützung, die in ihrer Kraft steht, ihren Mitarbeitern zu gewährleisten, die mit starkem Herzen und unanfechtbarer Treue fortfahren werden, die Standarte von Gottes sich durchringendem Glauben hoch zu halten. Sie werden niemals versagen zur Hilfe derer zu kommen, die mit freudigem Vertrauen bis zum Ende solcher Wechselfälle ausharren, die dieser „Neue Tag Gottes“ jetzt in seinen Geburtswehen notwendigerweise erleiden und überwinden muß. Wir dürfen nicht glauben, daß — weil die Bewegung an Kraft und Ansehen und an Einfluß zunimmt — die Schwierigkeiten und die Leiden, die sie in früheren Tagen zu überstehen hatte, entsprechend abnehmen und aufhören. Nein, da die Lehre vielmehr an Macht immer mehr zunimmt, werden die fanatischen Verteidiger der Bollwerke der Orthodoxie wie auch immer ihr Name sei, den durchdringenden Einfluß ihres um sich greifenden Glaubens erkennen und sich erheben und jeden Nerv anspannen, um ihr Licht zu verlöschen und um ihren Namen zu diskreditieren. Denn, hat nicht unser geliebter 'Abdu'l-Bahá Seine glorreiche Prophezeiung aus den Gefängnismauern Akkas in die Welt gesandt — Worte von so hoher Bedeutung in ihrer Vorausschau von kommenden Weltunruhen und doch so reich in der Verheißung des schließlichen Sieges:

„Wie groß, wie übergroß ist die Sache; wie überaus heftig der Sturm für alle Völker und Rassen der Menschen. In kurzem wird das Klagen der Menge in ganz Afrika, in ganz Amerika, der Schrei der Europäer und der Türken, das Klagen der Inder und Chinesen nah und fern gehört werden. Mit ihrer ganzen Macht wird sich einer und alle erheben, um sich Seiner Sache zu widersetzen. Dann werden die Knechte des Herrn, denen die Gnade von oben beistehen wird, gefestigt durch den Glauben und unterstützt durch die Macht des Verständnisses und gestärkt durch die Legionen des Bündnisses, aufstehen und die Wahrheit des Verses offenkundig machen: „Schaue an die Verwirrung, die über die Stämme der Unterlegenen gekommen ist.“

Meine geliebten Freunde, es liegt die hohe Pflicht einem Jeden ob, an Seiner Seite zu stehen, Seine Schlacht zu kämpfen und Seinen Sieg zu erringen. Möchten wir uns dieses Vertrauens würdig erweisen.

Euer aufrichtiger Bruder

Shoghi.

Haifa, Palestina, 12. Februar 1927.



Beantwortete Fragen.

Worte 'Abdu'l-Bahás

gesammelt und aus dem Persischen übersetzt von Laura Clifford Barney. Autorisierte und überprüfte Uebersetzung von Wilhelm Herrigel.


Einleitung.

„Ich widmete mich dir trotz großer Erschöpfung“,

waren die Worte 'Abdu'l-Bahás, als Er sich nach Beantwortung einer meiner Fragen von der Tafel erhob.

So war es immer. Nach den Stunden der Arbeit fand Er Erholung in erneuter Tätigkeit. Zuweilen war es Ihm möglich, längere Zeit zu sprechen, oftmals aber wurde Er nach wenigen Augenblicken abgerufen, obschon die Besprechung des Themas mehr Zeit erfordert hätte. Dann vergingen wieder Tage, ja selbst Wochen, in denen Er keine Gelegenheit fand, mich zu belehren: Es war mir aber immer ein leichtes, Geduld zu üben, denn ich hatte fortwährend die größere Lektion — die Lektion Seines persönlichen Lebens vor Augen.

Während meiner wiederholten Besuche in Akka wurden diese Antworten 'Abdu'l-Bahás in Persisch niedergeschrieben, aber nicht zum Zweck der Veröffentlichung, sondern nur damit ich sie zum späteren Studium zur Hand hätte. Zunächst war ich ausschließlich angewiesen auf die mündliche Uebersetzung des Dolmetschers, später jedoch, als ich eine gewisse Kenntnis der persischen Sprache hatte, konnte ich meinen eigenen beschränkten [Seite 21] Wortschatz zu Hilfe nehmen. So erklären sich die Wiederholungen von Bildern und Redewendungen, denn niemand beherrscht eine glücklichere Ausdrucksweise als 'Abdu'l-Bahá. In diesen Unterweisungen ist Er der Lehrer, der sich seinem Schüler anpaßt, und nicht der Redner und Dichter.

Dies Buch bietet aber nur einen gewissen Einblick in die allumfassende Baháilehre, die für jeden Fragenden eine seiner Entwicklung und seinem persönlichen Bedürfnis entsprechende Antwort hat.

In meinem Fall wurde diese Lehre in einfacher Weise gegeben, entsprechend meinem damaligen elementaren Erkenntnisvermögen. Aus diesem Grunde ist sie keinesfalls vollständig und erschöpfend hier wiedergegeben, wie man dies aus dem Inhaltsverzeichnis, das nur der leichteren Uebersichtlichkeit halber beigefügt wurde, annehmen könnte. Aber ich glaube, daß das, was mir so wertvoll war, auch andern von Nutzen sein wird, weil wir alle, trotz der Verschiedenheiten, die uns trennen, einig sind im Suchen nach Wahrheit. Deshalb bat ich 'Abdu'l-Bahá um Erlaubnis, diese Reden veröffentlichen zu dürfen.

Ursprünglich wurden die Lehren nicht in dieser Reihenfolge erteilt, sondern erst nachher zur Erleichterung für den Leser ihrem Inhalt entsprechend zusammengestellt. Bei der Uebersetzung hielt ich mich — manchmal zum Nachteil des Englischen — streng an den persischen Text. Kleine Veränderungen habe ich nur da vorgenommen, wo die buchstäbliche Wiedergabe den Sinn der Worte nicht klar genug wiedergegeben hätte. Die eingeschobenen Worte, die erforderlich waren, um den Sinn deutlicher zu machen, sind nicht zu dem Zweck eingefügt worden, um eine allzu häufige Unterbrechung des Gedankens durch Fußnoten zu vermeiden. Auch viele persische und arabische Namen habe ich in ihrer einfachen Form geschrieben, ohne mich streng an ein wissenschaftliches System zu halten, was die meisten Leser nur verwirren würde. Um dem Verlangen nach baldiger Herausgabe dieses Buches entgegen zu kommen, konnten dieser Ausgabe nur die unvermeidlichsten Anmerkungen beigefügt werden.

Mai 1907. Laura Clifford Barney.


Der persische Text dieses Buches ist unter dem Titel An-Nur’l Abhá fi Mufawadat 'Abdu'l-Bahá bei Hegan Paull Trench, Trübner & Cie. London herausgegeben, bei denen auch die englische Ausgabe erschien.

Eine Französische Uebersetzung von Hypolit Dreifus unter dem Titel: „Les Lecons de Saint-Jean d’Acre", ist veröffentlicht von Ernest Leraux, 28, Rue Bonaparte, Paris.

Zur Kenntnis derer, die wenig oder nichts von der Bahaibewegung wissen, ist hier der Bericht aus der Enzyklopädie von Larousse beigefügt, die im gelben Umschlag unserer Zeitschrift laufend veröffentlicht ist.



1. Teil.

Der Einfluss der Propheten auf die Entwicklung der Menschheit.


1. Kapitel.

Die Natur wird regiert von einem universalen Gesetz.

Die Natur ist jener Zustand, jene Wirklichkeit, die in Leben und Tod sichtbar wird oder mit anderen Worten, die in der Zusammensetzung und in der Auflösung aller Dinge besteht.

Diese Natur ist einer unumschränkten Organisation, bestimmten Gesetzen, einer vollkommenen Ordnung und einem vollendeten Plan unterworfen, wovon sie niemals abweichen wird. In der Tat, sie ist hiervon in einem solchen Grad abhängig, daß, wenn man sorgfältig und mit scharfem Blick von dem kleinsten Atom bis zu einem der großen Himmelskörper, zur Sonne oder den Sternen schaut und dabei ihre Anordnung, ihre Zusammensetzung, ihre Gestalt, ihre Bewegungen betrachtet, so wird man finden, daß alle im höchsten Maße organisiert sind und unter einem Gesetz stehen, von dem sie niemals abweichen werden.

Wenn man aber auf die Natur selbst blickt, so wird man sehen, daß sie weder Verstand noch Willen hat. Zum Beispiel ist es die Natur des Feuers zu brennen, es brennt ohne Willen und Verstand. Die Natur des Wassers ist es zu fliessen, es fließt ohne Willen und Verstand. Die Natur der Sonne ist es zu scheinen, sie scheint ohne Willen und Verstand. Die Natur des Dunstes ist es emporzusteigen, er steigt empor ohne Willen und Verstand. Darum ist es klar, daß die natürlichen Bewegungen aller Dinge einem Gesetz unterworfen sind; es gibt keine freiwilligen Bewegungen in der Natur, außer bei den Tieren und insbesondere bei den Menschen. Der Mensch ist befähigt, von der Natur abzuweichen und sich ihr entgegenzustellen, weil er die Beschaffenheit der Dinge entdeckt und dadurch den Kräften der Natur gebietet. Alle Erfindungen, die der Mensch macht, sind dem Umstand zuzuschreiben, daß er die Beschaffenheit der Dinge entdeckte. Er erfand z.B. den Telegraphen, der den Verkehr zwischen dem Osten und dem Westen vermittelt. Daraus geht deutlich hervor, daß der Mensch über die Natur herrscht.

Wenn man nun das Vorhandensein solcher Einrichtungen und Gesetze betrachtet, kann man dann noch sagen, dies alles seien Wirkungen der Natur, obgleich die Natur weder Verstand noch Wahrnehmungsvermögen hat? Wenn nicht, dann wird es klar, daß diese Natur, die weder Empfindungs- noch Erkenntnisvermögen besitzt, in der Hand des allmächtigen Gottes ist. Er ist der Beherrscher der ganzen Schöpfung. Was Er will, das bringt die Natur hervor.

Eine Erscheinung in der Welt des Daseins, ein Erfordernis der Natur ist das [Seite 22] menschliche Leben. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, ist der Mensch der Zweig, die Natur die Wurzel; können aber der Wille, der Verstand und die vorzüglichen Eigenschaften, die in dem Zweig vorhanden sind, in der Wurzel fehlen?

Aus diesem Grunde ist es klar, daß die Natur in ihrem eigentlichen Wesen in der Hand des ewigen und allmächtigen Gottes liegt. Er hält die Natur in genauen Bahnen und Gesetzen und herrscht über sie.*)

  • ) Die Idee von Gott betreffend siehe Kap. 37: „Die Gottheit kann nur begriffen werden durch die

göttlichen Manifestationen“ und Kap. 59: „Des Menschen Kenntnis von Gott“.

Aus diesen Kapiteln wird der Leser ersehen, daß sich der Bahái Gott nicht in Menschengestalt vorstellt.


2. Kapitel

Beweise und Zeugnisse vom Dasein Gottes.

Einer der Beweise und Erklärungen vom Dasein Gottes ist die Tatsache, daß sich der Mensch nicht selbst erschaffen hat, sein Schöpfer ist ein anderer als er selbst.

Es ist gewiß und unbestreitbar, daß der Schöpfer des Menschen nicht ist wie der Mensch, denn ein machtloses Geschöpf kann nicht der Schöpfer eines anderen Wesens sein. Um erschaffen zu können, muß der Schöpfer absolut vollkommen sein.

Kann die Schöpfung vollkommen und der Schöpfer unvollkommen sein? Kann auch ein Bild ein Meisterstück und der Maler in seiner Kunst ein Stümper sein? Das Bild ist doch seine Kunst und seine Schöpfung; es kann jedoch nicht sein wie sein Maler, denn sonst würde es sein eigener Schöpfer sein. Das Bild mag so vollkommen sein wie es will, im Vergleich zum Maler ist es doch im höchsten Grade unvollkommen.

Zufälligkeit ist die Quelle der Unvollkommenheit; Gott ist die Quelle der Vollkommenheit. Die Unvollkommenheiten der irdischen Welt sind an sich ein Beweis von der Vollkommenheit Gottes. Wenn man z.B. einen Menschen betrachtet, wird man sehen, daß er schwach ist. Diese Schwäche des Geschöpfes ist ein Beweis von der Kraft des Ewigen, Allmächtigen; denn wenn es keine Kraft gäbe, könnte man sich keine Schwachheit denken. Aus dieser Schwachheit wird es klar, daß es in der Welt Kraft gibt. Ferner gibt es in der Welt Armut; es muß also notwendigerweise auch Reichtum geben, da die Armut sichtbar wird. In dieser Welt gibt es Unwissenheit, deshalb muß notwendigerweise Wissen vorhanden sein, denn wenn kein Wissen vorhanden wäre, würde es auch keine Unwissenheit geben. Unwissenheit ist das Nichtvorhandensein von Wissen und wenn es kein Dasein gäbe, dann könnte man sich kein Nichtdasein denken.

Es ist gewiß, daß die ganze Welt einem Gesetz, einer Ordnung unterworfen ist, der sie sich nicht entziehen kann. Selbst der Mensch ist gezwungen, sich dem Tod, dem Schlaf und anderen Zuständen zu unterwerfen, d.h. der Mensch wird in gewisser Hinsicht regiert, und folglich muß dieser Regierte unbedingt einen Regenten haben. Da nun Abhängigkeit ein Kennzeichen der irdischen Wesen und diese Abhängigkeit eine bestimmte Notwendigkeit ist, so muß es ein unabhängiges Wesen geben, dessen Unabhängigkeit unbedingt notwendig ist.

Ebenso erkennen wir an einem Kranken, daß es Gesunde geben muß, denn gäbe es keine Gesundheit, so könnte sich seine Krankheit als solche nicht erweisen.

Es ist deshalb gewiß, daß es einen ewigen, allmächtigen Gott gibt, der alle Vollkommenheit besitzt, denn wenn Er nicht alle Vollkommenheit besäße, dann müßte Er Seinen Geschöpfen gleich sein.

Es ist in der ganzen Welt immer dasselbe; das kleinste Ding der Schöpfung beweist, daß es einen Schöpfer gibt. Zum Beispiel dies Stückchen Brot beweist, daß es einen Schöpfer hat. Gott sei gelobt! Die geringste Veränderung in der Gestalt des kleinsten Gegenstandes beweist das Dasein eines Schöpfers. Kann denn dies große endlose Weltall sich selbst erschaffen haben und durch die Tätigkeit der Materie und der Elemente ins Dasein getreten sein? Was für ein Fehler wäre eine solche Voraussetzung!

Diese klaren Beweise sind angeführt für schwache Seelen; wenn aber das innere Wahrnehmungsvermögen geöffnet ist, dann werden hunderttausend klare Beweise sichtbar werden. Wenn der Mensch den lebendigen Geist empfindet, dann bedarf er keiner Beweise für dessen Dasein; aber für diejenigen, die dieser Gabe des Geistes beraubt sind, ist es nötig, Beweise anzuführen.


3. Kapitel.

Die Notwendigkeit eines Erziehers.

Wenn wir das Dasein betrachten, sehen wir, daß überall, sowohl im Mineralreich wie im Pflanzenreich, im Tierreich und im Menschenreich ein Erzieher notwendig ist.

Wenn die Erde nicht bebaut wird, dann wird sie zu einer Wüste, wo wertloses [Seite 23] Unkraut wächst, wenn aber ein Landwirt den Boden bebaut, dann bringt er Getreide hervor, das lebendige Geschöpfe ernährt. Es ist daher klar, daß der Boden der Pflege des Landmanns bedarf. Betrachtet die Bäume! Wird ihnen keine Pflege zuteil, werden sie ohne Früchte bleiben, und ohne Früchte sind sie nutzlos. Empfangen sie aber die Pflege eines Gärtners, so werden die unfruchtbaren Bäume fruchtbar; durch Pflege und Veredelung bringen die Bäume, die bisher bittere Früchte trugen, süße Früchte hervor. Dies sind vernünftige Beweise, und heute brauchen die Menschen logische Begründungen.

Ebenso verhält es sich bei den Tieren. Wenn das Tier entsprechend erzogen ist, wird es zum Haustier. Der Mensch aber, der nicht erzogen ist, vertiert, ja noch mehr, wenn er seinem natürlichen Zustand überlassen bleibt, sinkt er unter das Tier. Wird er jedoch richtig erzogen, so wird er engelgleich. In der Tat, die Tiere fressen in den seltensten Fällen ihresgleichen auf, während manche Neger im Innern Afrikas ihresgleichen töten und verspeisen.

Seht, wie die Erziehung heute den Osten und den Westen unter die Macht des Menschen bringt! Die Erziehung ist es, die wundervolle Erfindungen in Erscheinung treten läßt, die Erziehung bringt herrliche Wissenschaften und Künste hervor, die Erziehung offenbart neue Entdeckungen und Gesetze. Gäbe es keinen Erzieher, so wären diese Annehmlichkeiten des Lebens, dieser Fortschritt der Zivilisation, dieser Wohlstand der Menschheit nicht vorhanden. Bliebe ein Mensch allein in einer Wüste, wo ihm kein anderer Mensch begegnete, dann würde er zweifellos nichts anderes als ein unvernünftiges Tier; es ist daher klar, daß ein Erzieher notwendig ist.

Es gibt drei Arten von Erziehungen: materielle, menschliche und geistige Erziehung. Die materielle Erziehung kümmert sich um das Wachstum und die Entwicklung des Körpers, sie sorgt für seine Ernährung und verschafft ihm materielle Annehmlichkeiten und Wohlbehagen. Diese Erziehung gilt für Menschen und für Tiere.

Die menschliche Erziehung ist von Bedeutung für die Zivilisation und den Fortschritt der Menschheit; sie zeigt sich in der Regierung, in der Verwaltung, in der Wohltätigkeit, im Handel, im Handwerk, in Kunst und Wissenschaft, in großen Erfindungen und in Entdeckungen physikalischer Gesetze. Dies sind die wesentlichen Leistungen des Menschen, die ihn vom Tier unterscheiden.

Geistige Erziehung ist die Erziehung zum Königreich Gottes, durch sie erlangt der Mensch göttliche Eigenschaften, und dies ist die wahre Erziehung; denn in diesem Zustand tritt das Göttliche im Menschen in Erscheinung und er wird zur Offenbarung der Worte: „Lasset uns Menschen machen nach Unserem Bild und Gleichnis.“ Dies ist das höchste Ziel der Menschheit.

Wir haben heute einen Erzieher nötig, der gleichzeitig in materieller, menschlicher und geistiger Hinsicht Erzieher ist und dessen Autorität sich in allen Zuständen auswirkt. Wenn jemand sagen würde: „Ich habe eine vollkommene Fassungskraft und einen guten Verstand und habe daher einen solchen Erzieher nicht nötig,“ so würde er einfach das, was klar und augenscheinlich ist, leugnen, es wäre gerade, als ob ein Kind sagen wollte: „Ich habe keine Erziehung nötig, ich will nach meinem Verstand, nach meiner Vernunft handeln und werde so zur Vollkommenheit im Dasein gelangen“, oder es wäre gerade, als ob ein Blinder sagen würde: „Ich brauche nichts zu sehen, weil viele Blinde ohne große Schwierigkeiten leben.“

Es ist deshalb klar, daß der Mensch einen Erzieher nötig hat. Dieser Erzieher muß fraglos und ohne Zweifel in jeder Hinsicht vollkommen sein und muß alle Menschen überragen, denn andernfalls kann er nicht ihr Erzieher sein; insbesondere weil er sowohl in materieller, menschlicher und geistiger Hinsicht ihr Erzieher sein muß, d. h. er wird die Menschen lehren, wie sie ihre öffentlichen Angelegenheiten organisieren und regeln sollen, wie die verschiedenen Bevölkerungsschichten zu erziehen sind, damit sie einander im Leben helfen und beistehen, sodaß alle Fragen materieller Natur geklärt werden.

Ebenso wird er die menschliche Erziehung in die Wege leiten; d. h. er muß die Intelligenz, die Gedanken der Menschen in solchem Maße erziehen, daß sie zu einer vollkommenen Entwicklung gelangen, sodaß sich Erkenntnis und Wissen erweitert, das Wesen der Dinge, die Rätsel und Eigentümlichkeiten der verschiedenen Daseinsformen entdeckt werden, damit Unterweisungen, Erfindungen und Gesetze täglich verbessert werden und wir aus dem, was wir durch die Sinne wahrnehmen, Schlüsse zu ziehen vermögen auf intellektuelles Leben.

Er muß den Menschen auch geistige Erziehung geben, sodaß Intelligenz und [Seite 24] Fassungskraft die metaphysische Welt durchdringe und die Segnung des heiligenden Odems des göttlichen Geistes empfange und in Verbindung trete mit den Allerhöchsten Heerscharen. Er muß das Wesen des Menschen so erziehen, daß durch ihn das Göttliche in einem solchen Grad in Erscheinung tritt, daß sich die Eigenschaften und Namen Gottes in dem Wesen des Menschen leuchtend widerspiegeln und die heiligen Worte wahr werden: „Lasset uns Menschen machen nach Unserem Bild und Gleichnis.“

Es ist klar, daß menschliche Macht nicht fähig ist, ein solch großes Amt auszufüllen, und daß die Vernunft allein die Verantwortung für eine so große Aufgabe nicht auf sich nehmen könnte. Wie kann ein einzelner Mensch die Fundamente zu einem so erhabenen Bau ohne Hilfe und Beistand legen? Um diese Aufgabe auf sich nehmen zu können, muß er sich auf die Hilfe der geistigen und göttlichen Macht verlassen. Eine heilige Seele gibt der Menschheit Leben, verändert das Aussehen der Erde, fördert die Intelligenz, belebt die Seelen, legt das Fundament zu einem neuen Dasein und gründet eine wunderbare Schöpfung, gibt der Welt eine neue Ordnung, bringt die Nationen und Religionen unter ein Banner, befreit die Menschen von Unvollkommenheit und Irrtum und legt den Wunsch und das Verlangen nach höchstmöglicher Vollkommenheit in sie. Sicherlich kann nichts geringeres als die göttliche Macht ein so großes Werk zur Durchführung bringen. Dies sollten wir recht betrachten, denn die Gerechtigkeit erfordert es.

Eine heilige Seele kann ohne jegliche Hilfe eine Sache fördern, zu deren Verkündigung und Verbreitung alle Regierungen und Völker der Welt, mit all ihren Kräften und Armeen nicht imstande sind. Kann dies durch menschliche Macht vollbracht werden? Nein, im Namen Gottes! Christus z. B. erhob einsam und allein die Fahne des geistigen Friedens und der Gerechtigkeit. Er vollbrachte ein Werk, das zu vollbringen allen siegreichen Regierungen samt ihren Armeen nicht möglich gewesen wäre. Bedenket das Schicksal so vieler Weltreiche, des römischen Reiches, Frankreichs, Deutschlands, Rußlands, Englands u. a., alle wurden sie unter das gleiche Zelt gesammelt, d.h. das Erscheinen Christi brachte eine Einigkeit unter diese verschiedenen Nationen. Einige von ihnen wurden unter dem Einfluß des Christentums so geeinigt, daß sie ihr Leben und ihr Besitztum füreinander opferten. Nach der Zeit Konstantins, des Beschützers des Christentums, brachen jedoch Uneinigkeiten und Spaltungen unter ihnen aus.

Was ich feststellen möchte, ist, daß Christus eine Sache aufrichtete, die alle Könige der Erde nicht zu gründen vermochten. Er vereinigte verschiedene Religionen und veränderte alte Gebräuche. Bedenket die großen Gegensätze zwischen den Römern, Griechen, Syrern, Aegyptern, Phöniziern, Israeliten und anderen Völkern. Christus hob diese Gegensätze auf und wurde zur Ursache der Liebe zwischen diesen Völkern. Wenn auch nach einiger Zeit diese Einigkeit von den Mächten wieder zerstört wurde, so war doch das Werk Christi vollbracht.

Der universale Erzieher muß daher nicht nur in materieller, sondern gleichzeitig in menschlicher und geistiger Hinsicht Erzieher sein. Er muß ferner eine übernatürliche Macht besitzen, damit er die Stellung eines göttlichen Lehrers behaupten kann. Wenn er keine solche heilige Macht aufweisen kann, dann wird er nicht fähig sein, die Menschen zu erziehen; denn wie vermag er eine vollkommene Erziehung zu geben, wenn er unvollkommen ist? Wie kann er andere weise machen, wenn er unwissend ist? Wie kann er andere gerecht machen, wenn er ungerecht ist? Wie kann er andere himmlisch machen, wenn er irdisch ist?

Laßt uns genau überlegen und uns fragen: Besassen die bis jetzt erschienenen göttlichen Manifestationen*) alle diese Fähigkeiten oder nicht? Wenn sie diese Vollkommenheit, diese Fähigkeiten nicht hatten, dann waren sie keine wirklichen Erzieher.

Es muß deshalb unsere Aufgabe sein, den denkenden Menschen die Prophetenschaft von Mose, Christus und den anderen göttlichen Manifestationen durch vernünftige Beweise zu erklären. Unsere Beweise und Zeugnisse dürfen nicht auf überlieferten, sondern auf vernunftgemäßen Darlegungen beruhen.

Wir sehen aus dem vorhergehenden deutlich, daß die Welt einen Erzieher äußerst notwendig hat und daß diese Erziehung durch eine göttliche Macht bewirkt werden muß. Ohne Zweifel ist diese heilige Macht der göttlichen Eingebung zuzuschreiben, es ist eine Macht, durch die die Welt erzogen werden muß und die hoch über der menschlichen Macht steht.

  • ) Göttliche Manifestationen sind die Gründer der Religionen, s. Kapitel „Die zwei Arten von Propheten“.

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4. Kapitel.

Abraham.

Einer von denen, die diese Macht besaßen und denen diese Hilfe zuteil wurde, war Abraham. Er wurde geboren in dem Lande der zwei Ströme (Euphrat und Tigris — Mesopotamien) und in einer Familie, die nichts wußte von der Einheit Gottes. Er verwarf alle ihre Götter und widersetzte sich dadurch Seinem eigenen Volk, ja sogar Seiner eigenen Familie. Allein und ohne Hilfe widerstand Er einem mächtigen Volksstamm, eine Aufgabe, die weder einfach noch leicht war. Es war gerade, wie wenn heute jemand zu den Christen ginge, die die Bibel lieben, und Christus leugnete, oder wie wenn jemand an den päpstlichen Hof ginge, und im Widerspruch zum Volk Christus mit heftigen Worten schmähte.

Dies Volk glaubte nicht an einen Gott, sondern an viele Götter, denen es Wunder zuschrieb; deshalb erhoben sich alle gegen Ihn und mit Ausnahme von Lot, dem Sohne Seines Bruders und einigen andern, unterstützte Ihn niemand. Durch die Widersprüche und Verfolgungen Seiner Feinde in äußerste Not getrieben, mußte Er schließlich Sein Heimatland verlassen. Sie verbannten Ihn nur, damit Er umgebracht würde und keine Spur mehr von Ihm übrig bliebe.

Abraham kam dann in die Gegend des heiligen Landes. Seine Feinde dachten, Seine Verbannung werde zu Seinem völligen Untergang führen, da es unmöglich schien, daß ein Mensch — selbst wenn er ein König wäre — dem Untergang entrinnen könnte, wenn er von seinem Heimatland verbannt, seiner Rechte beraubt und von allen Seiten unterdrückt wird. Aber Abraham hielt aus und zeigte eine übernatürliche Standhaftigkeit, und Gott gab, daß Ihm diese Verbannung zur ewigen Ehre gereichte, weil Er die Einheit Gottes inmitten eines Vielgötterei treibenden Geschlechts aufrichtete. Gerade durch Seine Verbannung wurden die Nachkommen Abrahams mächtig und das heilige Land wurde ihnen gegeben. Die Folgen der Verbannung Abrahams waren, daß Seine Lehre weit verbreitet wurde, daß ein Jakob unter Seinen Nachkommen aufstand und ein Josef in Aegypten Herrscher wurde, daß ein Mose und ein Wesen wie Christus aus Seinen Nachkommen hervorging und eine Hagar die Mutter Ismaels wurde, von dessen Nachkommen einer Mohammed war.

Die Verbannung Abrahams war die Ursache, daß der Bab aus Seiner Nachkommenschaft hervorging*) und die Propheten Israels zu Seinen Nachkommen zählten. So wird es fortgehen für immer und ewig. Die Verbannung Abrahams war letzten Endes die Ursache, daß ganz Europa und der größte Teil Asiens unter den Schutz des Gottes Israels kamen. Seht nun, was für eine Macht es ist, die einen Flüchtling befähigte, eine solche Familie zu gründen, einen solchen Glauben aufzurichten und solche Lehren zu verbreiten. Kann jemand sagen, daß dies zufällig geschah? Laßt uns gerecht urteilen: War dieser Mann ein Erzieher oder war er keiner?

Da nun Abrahams Verbannung von Ur nach Aleppo in Syrien ein solches Resultat zeitigte, so können wir uns die Wirkung der Verbannung Bahá’u’lláhs vorstellen, Seine Verbannung nach den verschiedenen Plätzen, von Teheran nach Bagdad, von da nach Konstantinopel, nach Rumelien und zuletzt nach dem heiligen Lande.

Seht nun, welch’ ein vollkommener Erzieher Abraham war!

  • ) Der Bab war ein Nachkomme Mohammeds.


5. Kapitel.

Mose.

Mose war lange Zeit ein Hirte in der Wüste. Er wuchs auf am Hofe eines Tyrannen und galt bei den Menschen sogar als Mörder. Die Beamten und Untertanen Pharaos haßten und verabscheuten Ihn sehr.

Er war ein Mann, der eine große Nation von den Ketten der Gefangenschaft befreite, ihre Wünsche befriedigte und sie von Aegypten in das heilige Land führte.

Durch Ihn wurde dies Volk aus den Tiefen der Erniedrigung zu den Höhen des Ruhmes erhoben. Sie waren Gefangene und wurden befreit, sie waren Unwissende und wurden die Weisesten. Die Gesetze, die Mose ihnen gab, verursachten, daß sie eine ehrenvolle Stellung unter den Nationen erlangten und sich ihr Ruhm über alle Lande verbreitete, und zwar so sehr, daß man, bei den benachbarten Nationen, wenn man jemand loben wollte, ausrief: „dies ist gewiß ein Israelite“. Mose setzte sowohl das religiöse als auch das bürgerliche Gesetz ein; diese gaben dem Volk Israel Leben und führten es zu der zu jener Zeit höchstmöglichen Stufe der Zivilisation.

Das Volk Israel erlangte einen solchen Grad der Entwicklung, daß die Weisen Griechenlands kamen, um sich die berühmten [Seite 26] Männer Israels, die als Muster der Vollkommenheit galten, anzusehen. Einer dieser Griechen war Sokrates, der Syrien besuchte und von den Kindern Israels die Lehren von der Einheit Gottes und der Unsterblichkeit der Seele annahm. Nach seiner Rückkehr nach Griechenland, verkündigte er dort diese Lehren. Später erhoben sich die Griechen gegen ihn, beschuldigten ihn der Gottlosigkeit, brachten ihn vor den Areopag (Gerichtshof) und verurteilten ihn zum Tod durch Gift.

Wie konnte nun ein Mensch, der ein Stotterer war, der im Hause Pharaos aufwuchs, der unter den Menschen als Mörder galt, der sich aus Furcht lange Zeit verborgen hielt und ein Hirte wurde, eine so große Sache gründen, da doch die weisesten Philosophen der Erde nicht den tausendsten Teil dieses Einflusses entfalten konnten? Dies ist in der Tat ein Wunder.

Einem Mann mit einer schweren Zunge, der also nicht richtig reden konnte, gelang es, diese große Sache aufzurichten. Wäre Er nicht durch göttliche Macht gestützt worden, so wäre Er nie imstande gewesen, dies große Werk durchzuführen. Diese Tatsachen können nicht geleugnet werden. Wissenschaftler, die Philosophen Griechenlands, die großen Männer Roms wurden in der Welt berühmt, jeder von ihnen verlegte sich aber nur auf einen besonderen Zweig der Gelehrsamkeit. So wurden Galen und Hippokrates in der Medizin berühmt, Aristoteles in der Logik, Plato in der Ethik und Theologie. Wie konnte sich ein Hirte all dieses Wissen erwerben? Es ist ohne Zweifel, daß Ihm eine alles vermögende Macht geholfen hat.

Bedenket ferner, welche Prüfungen und Schwierigkeiten sich hier für das Volk erhoben. Um eine Grausamkeit zu verhindern, schlug Mose einen Aegypter nieder und wurde dadurch bei den Menschen als Mörder bekannt; dies ist um so bemerkenswerter, weil der von Ihm Erschlagene der herrschenden Nation angehörte. Darauf floh Er, aber später wurde Er zur Stufe eines Propheten erhoben.

Wie wunderbar wurde Er trotz Seines üblen Rufes bei der Einsetzung Seiner großen Verordnungen und Gesetze von einer übernatürlichen Macht geführt!


6. Kapitel.

Christus.

Später trat Christus auf und sagte: „Ich bin geboren vom heiligen Geist“. Wenn es jetzt auch für die Christen leicht ist, diesen Ausspruch zu glauben, so war dies doch in jener Zeit sehr schwer. In den Evangelien lesen wir die Worte der Pharisäer: "Ist dieser nicht der Sohn Josefs von Nazareth, den wir kennen? Wie kann Er sagen: „Ich bin vom Himmel kommen?“

Kurz, dieser Mann, der in den Augen aller ein Geringer war, trat mit einer solchen Macht auf, daß Er eine Religion aufhob, die seit 1500 Jahren bestand, und zwar zu einer Zeit, da die geringste Abweichung von der mosaischen Religion den Uebertreter großer Gefahr, ja sogar dem Tode aussetzte. Außerdem war zur Zeit Christi die Moral der ganzen Welt verdorben und die Israeliten befanden sich in höchster Verwirrung; sie waren in einen Zustand äußerster Entartung, in Elend und Knechtschaft geraten. Einmal wurden sie die Gefangenen der Chaldäer und Perser, ein andermal die Sklaven der Assyrer, später die Untertanen und Vasallen der Griechen und zurzeit Christi die Unterjochten der Römer.

Christus hob, trotz seiner Jugend, unterstützt durch eine übernatürliche Macht das alte mosaische Gesetz auf, besserte die allgemeine Moral und legte von neuem das Fundament des ewigen Ruhmes für die Israeliten. Ja noch mehr, Er brachte der Menschheit die frohe Botschaft des allgemeinen Friedens und verbreitete weit und breit Seine Lehren, die Er nicht nur für Israel, sondern allgemein für das Glück der ganzen Menschheit gab.

Die Israeliten und Seine eigenen Verwandten waren die ersten, die danach trachteten, Ihn zu beseitigen. Dem Anschein nach besiegten sie Ihn und brachten Ihn in das schrecklichste Elend. Schließlich krönten sie Ihn mit einer Dornenkrone und kreuzigten Ihn. Als aber Christus offenbar in tiefster Not und in größtem Unglück sich befand, verkündigte Er: „Diese Sonne wird glänzen, dies Licht wird leuchten, Meine Gnade wird die Welt umfassen und alle Meine Feinde werden erniedrigt werden“. Und wie Er es voraussagte, so kam es; alle Könige der Erde waren nicht imstande Ihm zu widerstehen. Ja, noch mehr, alle ihre Fahnen wurden besiegt, während das Banner dieses Unterdrückten zur höchsten Höhe erhoben wurde.

Solche Resultate können von der menschlichen Vernunft nicht begriffen werden. Es ist daher klar, daß dies herrliche Wesen ein wahrer Erzieher der Menschheit war und daß Er die Hilfe und den Beistand der göttlichen Macht hatte. [Seite 27]


7. Kapitel.

Mohammed.

Nun kommen wir zu Mohammed. Amerikaner und Europäer haben schon zahlreiche Geschichten über diesen Propheten gehört, die sie für wahr hielten, obgleich die Erzähler entweder nichts wußten oder Seine Gegner waren. Die meisten dieser Erzähler waren Geistliche oder unwissende Muselmänner, die unbegründete Ueberlieferungen über Mohammed wiederholten, weil sie in ihrer Unwissenheit glaubten, es geschehe zu Seinem Ruhme.

So machten einige unwissende Muselmänner Seine Polygamie zur Ursache ihres Lobes; sie hielten gerade diese für ein Wunder und ein großer Teil der europäischen Geschichtschreiber bezog sich auf die Märchen dieser Unwissenden.

Ein törichter Mensch sagte z.B. zu einem Geistlichen, der wahre Beweis von Größe sei Tapferkeit und Blutvergießen, und ein Nachfolger Mohammeds habe an einem Tag hundert Menschen erschlagen. Dies verleitete den Geistlichen zu der Annahme, daß Morden als Beweis des Glaubens an Mohammed anzusehen sei, was jedoch nichts anderes ist als Einbildung. Im Gegenteil, die militärischen Unternehmungen Mohammeds dienten stets der Verteidigung. Ein Beweis dafür ist, daß Er und Seine Jünger in Mekka dreizehn Jahre lang die heftigsten Verfolgungen zu erdulden hatten. Während dieser Zeit waren sie die Zielscheiben für die Pfeile des Hasses. Einige Seiner Anhänger wurden getötet und ihr Vermögen eingezogen, andere flüchteten in fremde Länder. Mohammed selbst floh nach den heftigsten Verfolgungen seitens der Koreischitten, die schließlich beschlossen hatten, Ihn zu töten, mitten in der Nacht nach Medina. Seine Feinde gaben aber die Verfolgungen immer noch nicht auf, sondern verfolgten Ihn bis nach Medina und Seine Jünger sogar bis nach Abessinien.

Diese arabischen Stämme befanden sich in schrecklichster Wildheit und Barbarei, und im Vergleich mit ihnen waren die Wilden Afrikas und die Indianer Amerikas so vorgeschritten wie ein Plato. Die Wilden Amerikas begruben ihre Kinder nicht lebendig wie die Araber, die ihre Töchter lebendig begruben und sich damit rühmten, als ob sie eine lobenswerte Tat vollbracht hätten*). Viele Männer sagten zu ihren Frauen: „Wenn ein Mädchen von dir geboren wird, werde ich dich töten.“ Sogar bis auf den heutigen Tag hassen die Araber ihre Töchter. Es war sogar einem Mann erlaubt, tausend Frauen zu nehmen und die meisten Männer hatten mehr als zehn Frauen in ihrem Haushalt. Wenn diese Stämme Krieg führten, so nahmen die Sieger die Frauen und Kinder der Besiegten gefangen und behandelten sie als Sklaven.

  • ) Die Bani-Tamin, einer der wildesten arabischen Stämme übten diesen schlimmen Brauch aus.


Wenn ein Mann, der zehn Frauen hatte, starb, so nahmen die Söhne dieser Frauen immer von den Müttern der andern Besitz, und wenn einer der Söhne seinen Mantel über den Kopf der Frau seines Vaters warf und ausrief: „Dies Weib ist mein gesetzliches Eigentum!“ so war diese unglückliche Frau von da ab seine Gefangene und Sklavin. Er konnte mit ihr machen, was er wollte. Er konnte sie töten, in einen Brunnen sperren, sie schlagen, verfluchen und quälen, bis sie der Tod erlöste. Nach den arabischen Gebräuchen und Gewohnheiten war er ihr Herr. Daß unter solchen Umständen Bosheit, Eifersucht, Haß und Feindschaft unter den Frauen und Kindern eines Haushalts herrschten, ist klar, jedes weitere Wort hierüber erübrigt sich. Bedenket ferner den Zustand und das Leben dieser unterdrückten Frauen! Die Mittel, mit denen diese Araber ihr Leben fristeten, wurden durch Plünderungen und Räubereien beschafft, sodaß sie fortwährend miteinander in Kampf und Krieg lagen, einander töteten, ausplünderten und einander ihre Besitztümer verwüsteten, Frauen und Kinder erbeuteten, um sie an Fremde zu verkaufen. Wie oft kam es vor, daß die Töchter und Söhne eines Emir, die ihre Tage zu Nächten der Koketterie und des größten Luxus machten, ihre Nächte in einen Morgen der schrecklichsten Scham, der Armut und der Gefangenschaft verwandelt sahen. Gestern waren sie noch Emire, heute sind sie Gefangene, gestern waren sie noch große Damen, heute sind sie Sklavinnen.

Unter diesen Stämmen wuchs Mohammed auf. Nachdem Er dreizehn Jahre lang ihre Verfolgungen erduldet hatte, floh Er nach Medina. Aber dies Volk hörte nicht auf, Ihn zu unterdrücken. Es beschloß, Ihn und alle Seine Anhänger auszurotten. Unter diesen Umständen war Mohammed gezwungen, zu den Waffen zu greifen. Dies ist die Wahrheit. Wir sind Ihm durchaus nicht blindlings ergeben und wollen Ihn keinesfalls verteidigen, aber wir sind gerecht und sprechen die Wahrheit. Laßt uns diese [Seite 28] Zustände gerecht betrachten. Wenn Christus unter solchen tyrannischen und barbarischen Volksstämmen gelebt und mit Seinen Jüngern dreizehn Jahre lang alle diese Prüfungen, die ihren Höhepunkt in der Flucht von Seinem Heimatlande fanden, geduldig ertragen hätte, und wenn diese gesetzlosen Volksstämme Ihn trotzdem fortgesetzt verfolgt, Seine Anhänger hingeschlachtet, sie ausgeplündert, ihre Frauen und Kinder gefangengenommen hätten, wie würde sich Christus ihnen gegenüber verhalten haben? Wenn diese Unterdrückung nur Ihn selbst betroffen hätte, so würde Er den Unterdrückern vergeben haben und eine solche Handlungsweise wäre sehr lobenswert gewesen. Wenn Er aber gesehen hätte, daß diese grausamen und blutdürstigen Mörder beabsichtigten, diese Unterdrückten zu töten, sie auszuplündern, sie zu schädigen und ihre Frauen und Kinder zu rauben, so hätte Er sie gewiß beschützt und den Tyrannen Widerstand geleistet. Was kann alsdann gegen die Handlungen Mohammeds eingewendet werden? Etwa dies, daß Er sich nicht mit Seinen Anhängern, ihren Frauen und Kindern diesen wilden Horden unterwarf? Diese Stämme von ihrem Blutdurst zu befreien, war in Wirklichkeit eine Wohltat für sie, sie zu bezwingen und zu zähmen war größtes Erbarmen. Sie glichen einem Menschen, der einen Becher, gefüllt mit Gift, in der Hand hält, den ihm aber ein Freund in dem Augenblick, da er davon trinken will, aus der Hand schlägt und ihn so rettet. Wäre Christus unter ähnlichen Umständen an Seiner Stelle gestanden, so hätte Er gewiß die Männer, Frauen und Kinder mit einer siegreichen Macht aus den Klauen dieser blutdürstigen Wölfe befreit.

Mohammed selbst kämpfte niemals gegen die Christen; im Gegenteil, Er behandelte sie freundlich und ließ ihnen vollkommene Freiheit. In Nedschran lebte eine christliche Gemeinde, die unter Seinem Schutz und unter Seiner Obhut stand. Mohammed sagte: „Wenn jemand ihre Rechte übertritt, so werde Ich selbst Sein Feind sein und werde im Namen Gottes Anklage gegen ihn erheben.“ In den Verordnungen, die Er herausgab, ist klar festgesetzt, daß das Leben, das Eigentum und die Gesetze der Christen und Juden unter dem Schutze Gottes stehen; und wenn ein Mohammedaner eine Christin heirate, so dürfe er sie nicht daran hindern, ihre Kirche zu besuchen oder sie zwingen, den Schleier zu tragen, und wenn sie sterbe, so müsse er ihr ein christliches Begräbnis zuteil werden lassen. Wenn die Christen eine Kirche bauen möchten, dann sollen ihnen die Mohammedaner dabei helfen. Im Fall eines Krieges zwischen den Mohammedanern und ihren Feinden sollen die Christen vom Kriegsdienst entbunden werden, sofern sie nicht freiwillig zur Verteidigung des Islam, unter dessen Schutz sie stehen, sich am Kampfe beteiligen wollen. Als Entschädigung für diese Befreiung vom Kriegsdienst sollen sie jährlich eine kleine Summe Geldes bezahlen. Hierüber gibt es ferner noch sieben ausführliche Verordnungen, von denen sich noch einige Abschriften in Jerusalem befinden. Dies ist eine feststehende Tatsache und nicht nur eine Behauptung von Mir. Das Buch, das die Verordnungen über das zweite Califat*) enthält, befindet sich heute noch im Besitz des griechisch-katholischen Patriarchen in Jerusalem und hierüber besteht kein Zweifel.

Fortsetzung folgt.

  • ) des Omar.



Die neue Erde.

Von A. Diebold. (Schluß.)

Gott sei Dank, daß es immer große Männer gab, die mutig ihrer Zeit vorauseilten, die mit seherischem Blick den Weg der Entwicklung erkannten. Sie erhoben ihre Stimmen und — man folgte ihnen nicht. So hat Nietzsche zu den Problemen des Kriegs und des "ewigen Friedens" Stellung genommen: „Der große Römerpatriotismus ist jetzt, wo ganz andere und höhere Aufgaben gestellt sind als patria und honor, entweder etwas Unehrliches oder ein Zeichen der Zurückgebliebenheit“, sagt er in „Menschliches Allzumenschliches“. An anderer Stelle heißt es in demselben Buche: „Zu ungunsten des Krieges kann man sagen: er macht den Sieger dumm, den Besiegten boshaft“. Auch er widerlegt die Theorie von der Auswahl des Tüchtigsten durch Kampf. Er sagt, daß "jahraus, jahrein die tüchtigsten, kräftigsten und arbeitsamsten Männer in außerordentlicher Zahl ihren eigentlichen Beschäftigungen und Berufen entzogen werden, um Soldaten zu sein“. Ueber die vermeintlichen Vorteile, die man von einem Krieg erhofft, äußert er sich: „Die Summe aller dieser Opfer und Einbußen an individueller Energie und Arbeit ist so ungeheuer, daß das politische Aufblühen eines Volkes eine geistige Verarmung und Ermattung, eine geringere [Seite 29] Leistungsfähigkeit zu Werken, welche große Konzentration und Einseitigkeit verlangen, fast mit Notwendigkeit nach sich zieht. Zuletzt darf man fragen: Lohnt sich denn alle diese Blüte und Pracht des Ganzen (welche ja doch nur als Furcht der andern Staaten vor dem neuen Koloß und als dem Ausland abgerungene Begünstigung der nationalen Handels- und Verkehrswohlfahrt zutage tritt), wenn dieser groben und buntschillernden Blume der Nation alle die edleren, zarteren, geistigeren Pflanzen und Gewächse, an welchen ihr Boden bisher so reich war, zum Opfer gebracht werden müssen?“ Ein andermal sagt er in einer kleinen Betrachtung über „Mittel zum wirklichen Frieden“: „Der Lehre vom Heer als einem Mittel der Notwehr muß man ebenso gründlich abschwören wie den Eroberungsgelüsten. Und es kommt vielleicht ein großer Tag, an welchem ein Volk, durch Kriege und Siege, durch höchste Ausbildung der militärischen Ordnung und Intelligenz ausgezeichnet und gewöhnt, diesen Dingen die schwersten Opfer zu bringen, freiwillig ausruft: „Wir zerbrechen das Schwert“ — und sein gesamtes Heerwesen bis in seine letzten Fundamente zertrümmert. Sich wehrlos machen, während man der Wahrhafteste war, aus einer Höhe der Empfindung, das ist das Mittel zum wirklichen Frieden, welcher immer auf einem Frieden der Gesinnung beruhen muß: während der bewaffnete Friede, wie er jetzt in allen Ländern einhergeht, der Unfriede der Gesinnung ist, der sich und dem Nachbarn nicht traut, und halb aus Haß, halb aus Furcht die Waffen nicht ablegt. Lieber zugrundegehen, als hassen und fürchten, und zweimal lieber zugrundegehen, als sich hassen und fürchten machen — das muß einmal auch die oberste Maxime jeder einzelnen staatlichen Gesellschaft werden!“ Nietzsche hat ganz deutlich vorausgesehen, daß die Völker sich zusammenschließen werden und müssen. Er spricht diesen Glauben in „Jenseits von Gut und Böse" deutlich aus. Er verurteilt dort den „Nationalitätswahnsinn“, der sich der natürlichen Entwicklung zur Einheit der Menschheit entgegenstellt; er sei es, der die „unzweideutigsten Anzeichen übersehe oder willkürlich und lügennaft umdeute, in denen sich ausspricht, daß Europa eins werden will“. Ein andermal schreibt er: „Die wirtschaftliche Einigung Europas kommt mit Notwendigkeit, und ebenso als Reaktion die Friedenspartei...“

Wollten doch die Menschen die Argumente eines solchen Geistes anerkennen, seiner Führung sich anvertrauen. Doch sie sagen: „Es ist gut, wirklich gut, und es wäre zu wünschen, daß es so kommt, aber die Menschen sind eben keine Engel, und Philosophen sind nicht von dieser Welt; sie leben nicht in der Wirklichkeit, sie setzen voraus, daß die Menschen Idealisten sind und das sind sie einmal nicht.“ Das sagen sie, um ihre Bequemlichkeit zu entschuldigen, sie fühlen, daß in ihrer Betrachtungsweise etwas nicht ganz stimmt, aber sie wollen sich nicht losreißen vom Alten, sie wollen den ausgetretenen bequemen Weg der Ueberlieferungen nicht verlassen, um den dornenvollen, schmalen Pfad der Pioniere eines neuen Zeitalters zu gehen, sie wollen sich nicht an die Brust schlagen, sich sagend: „ich will beginnen mit mir selbst und sei ich allein; ich will meine Gedanken und meinen Friedenswillen hinaussenden in die Welt." Und wo Tausende solcher Willen zusammentreffen wie elektrische Wellen, da muß es eine Atmosphäre schaffen, in der Disharmonie und Kampf keinen Raum mehr finden.

Diejenigen, die die Mahnungen der Weltweisen als abstrakte Ideale nicht als in der Praxis anwendbar anerkennen wollen, mögen die Worte von Männern beherzigen, die mitten in der blutigsten Praxis standen. So hat der glorreichste deutsche Feldherr, Generalfeldmarschall Moltke, am 21. Apr. 1877 im Reichstag gesagt: „Glücklich die Zeiten, wo Staaten nicht mehr in der Lage sein werden, den größten Teil aller ihrer Einnahmen zu verwenden, bloß für die Sicherheit ihrer Existenz, wo die Regierungen nicht nur, sondern auch die Völker und Parteien sich überzeugt haben werden, daß selbst ein glücklicher Feldzug mehr kostet, als er einbringt, denn materielle Güter mit Menschenleben zu erkaufen, kann kein Gewinn sein.“

Heute, nach dem schrecklichsten aller Kriege sind es viele führende Männer, die dem Krieg jede Berechtigung absprechen, obwohl er ein Leben lang ihr Handwerk war. Alte verdiente Generäle erheben ihre Stimmen, in allen Ländern, um die Menschen zum Frieden zu rufen. Sie opfern ihren hohen Gedanken, Ruhm und Ehre, sie lassen sich anfeinden und verspotten. Staatsmänner tun alles, um dem Frieden die Tore zu öffnen. Man beginnt, die Geschichte von einem ganz neuen Standpunkt aus zu betrachten. Man lernt erkennen, warum die mächtigen Reiche der Aegypter, Perser und Juden, Griechen und Römer, ein Reich Karls V., in dem die Sonne nie unterging, zerschlagen wurden. Mit Gewalt wurde das kunstvolle Gebäude dieser Reiche errichtet. Mit Blut wurden die einzelnen Steine miteinander verbunden, Gewalt und Blut waren es, die die Bauwerke wieder sprengten. Es ist verwunderlich, daß es so langer Zeit bedurfte, daß so unsägliches Elend über die Menschheit kommen mußte, bis zu dem Bekenntnis führender Staatsmänner der heutigen Zeit, daß mit Gewalt nichts mehr gewonnen werden kann, daß durch Streit und Kampf kein dauernder Frieden erzwungen werden kann, daß dies nur dem törichten Versuch zu vergleichen sei, als wollte man Blut mit Blut abwaschen. Noch verwunderlicher ist es, daß die Menschen nicht aus [Seite 30] innerem Antrieb, etwa einem religiösen Empfinden Rechnung tragend, auf den Weg kommen, der sie heute dem Reich des Friedens, der „neuen Erde“, zuführt, sondern daß es die Materie ist, die sie zwingt, sich zusammenzuschließen zu Interessengemeinschaften.

Die technischen Errungenschaften der jüngsten Zeit haben die Erde immer kleiner gemacht; Entfernungen, die vor wenigen Jahrzehnten als kaum überwindlich galten, werden heute kaum mehr als solche empfunden. Die modernen Verkehrsmittel und das ineinandergreifende Wirtschaftsleben der einzelnen Völker, das mehr und mehr die künstlich gezogenen unnatürlichen Grenzen sprengt, vermischen die Menschen, Nationen und Rassen, so daß sie an Verständnis für einander gewinnen. Kapitalistische Gesellschaften schließen sich zu großen Interessengemeinschaften zusammen, ohne Rücksicht auf die Nationalität und Rasse. So ist es heute schon der Fall und wird es später immer mehr sein, daß ein Land sich selbst schädigt, wenn es versucht, mit einem andern Krieg anzufangen. Das Wirtschaftsleben der einzelnen Völker beginnt sich ineinander zu verzahnen wie das Räderwerk einer Uhr, und kein noch so unscheinbarer Teil dieses Betriebes kann vernachlässigt oder gar ausgeschaltet werden, wenn das Werk im Gang bleiben soll. Ist es durch äußere Umstände endlich so weit gekommen — und es wird noch schwerer Wehen bedürfen — daß die Nationen zusammenleben wie eine große Familie, dann werden auch die in der Menschheit schlummernden Ideale wach werden und sich entfalten.

Doch fragen wir uns einmal, woher eigentlich diese Entwicklung kommt. — Wenn Gott der Schöpfer der Welt der Existenz und der Erscheinung ist, so mußte Er einen bestimmten Plan haben mit Seinem Werk. Die ganze Welt der Formen drängt auf die Hervorbringung des Menschen hin. In ihm gipfelt die materielle Welt und nimmt die geistige Welt ihren Anfang. Als die physische Entwicklung des Menschen soweit war, daß er fähig war, den göttlichen Geist aufzunehmen, offenbarte sich Gott erstmals in Adam, ihm Seinen Willen und Plan kund zu tun. Frei stellt Er den Menschen, ausgestattet mit Selbstbewußtsein, in die Welt, gab ihm aber gleichzeitig einen Fingerzeig, wie er in paradiesischem Zustand, friedlich und ohne Sorgen, seine irdische Entwicklungsstufe durchlaufen konnte. Doch er aß die verbotene Frucht, seine Freiheit wurde ihm zum Verhängnis; er mißbrauchte sie und entfernte sich von seinem Schöpfer, ließ seinen ihm noch anhaftenden animalischen Trieben freien Lauf, statt sie niederzukämpfen, wie Gott ihm durch Seinen von Zeit zu Zeit auftretenden Propheten riet und gebot. Die Folgen der Nichtbeachtung dieser Ratschläge blieben nicht aus. Streit und Krieg, Mißtrauen, Mißgunst und alle üblen Laster begannen unter der Menschheit zu wüten. Die Menschen begannen mit Gott zu hadern, daß Er dieses über ihnen lastende Elend zulasse. Mit Unrecht, denn nicht Gott war und ist es, der dies Elend den Menschen als Strafe auferlegt, sondern die Menschen selbst beschwören dies Unheil durch Nichteinhaltung des göttlichen Gebots herauf. Wieder und wieder sprach Gott durch Seinen Gesandten. Vorbereitete Seelen nahmen die Botschaft auf und streuten sie aus. Jeder Offenbarer brachte kräftigere Kost und entwickelte den göttlichen Plan deutlicher. Durch diese Botschafter aus der himmlischen Welt wurden die Menschen trotz ihrer Trägheit und Widersetzlichkeit von Stufe zu Stufe geistiger Erkenntnis gehoben. Die Herolde Gottes kündeten an, daß die Menschen schließlich eine geistige Stufe erlangen werden, die sie instandsetzen wird, Gottes Befehl zu erfüllen und ein Seinem Willen entsprechendes Reich aufzurichten auf Erden, ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit. „Dein Reich komme, Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel", lehrte uns Christus beten. Durch ihn erfuhren wir deutlich den Plan Gottes. Er kündete uns an, daß die Zeit bald erfüllt sein werde, und ermahnte uns, daß die Stunde, da der Herr des Weinbergs kommen werde, nahe herangekommen sei, daß der Geist der Wahrheit, die Herrlichkeit des Herrn (arabisch Bahá’u’lláh), bald sich erheben werde. — Und siehe da, im Jahre 1844 erhob sich in Persien ein Mann, und erklärte, daß er gesandt sei, die Menschen auf die Annäherung "der letzten Zeit" hinzuweisen. Tatsächlich erschien der Angekündigte und erklärte sich im Jahre 1863 als Der, den der Báb (das Tor) mit folgenden Worten beschrieben hat: „Er ist Der, der in allen Tönen ausrufen wird: Wahrlich‚ ich bin Gott". Durch Seinen Mund floß der Wille Gottes in so starkem Maße, wie noch nie zuvor. Er sagte uns das, was Christus noch nicht sagen konnte, weil wir es noch nicht fassen konnten. Er rief die Prinzipien in die Welt hinaus, die allein imstande sind, die Menschheit zu ihrem Frieden zu führen. Er befahl, daß die ganze Menschheit als Einheit betrachtet werden muß, alle Menschen die Wahrheit selbständig erforschen müssen, alle Religionen eine gemeinschaftliche Grundlage haben, daß die Religion die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein muß, daß die Religion mit der Wissenschaft übereinstimmen muß, daß Mann und Frau gleiche Rechte haben, daß Vorurteile jeglicher Art abgelegt werden müssen, daß der Weltfriede verwirklicht werden muß, daß beide Geschlechter die beste geistige und sittliche Bildung genießen müssen, daß die soziale Frage gelöst werden muß, daß eine Einheitssprache und [Seite 31] Einheitsschrift eingeführt werden muß, und daß ein Weltschiedsgericht eingesetzt werden muß.

Wie lauer Frühlingsregen aus dem dürren Boden Leben sprossen läßt, so brachte diese Offenbarung den ausgetrockneten Acker der Menschheit zum Keimen. Von der Zeit der Verkündigung dieser von Gott ausgehenden Worte an begannen diese Prinzipien Wurzel zu fassen und begannen sich zu verbreiten mit einer in der Geschichte der Menschheit ungewöhnlichen Schnelligkeit. Von der Zeit an, da sich die Sonne der größten Offenbarung am Himmel erhob, begann eine überraschende Entwicklung der Technik. Der Nachdenkende wird erkennen, daß das notwendig war zur Verbreitung und Verwirklichung der göttlichen Prinzipien. Noch einmal mißbrauchte der Mensch dieses Geschenk Gottes, statt die Errungenschaften der Technik zum Lobe Gottes und zum Wohl der Menschheit, zur Errichtung des Königreichs Gottes auf Erden zu benützen, verwendeten sie es, um sich zu bekämpfen und zu vernichten. Wie bitter sich dies gerächt hat, haben wir erfahren.

Jetzt endlich scheint die Sonne die Wolken menschlicher Verblendung zu durchdringen, beginnt die Gewalt, unter deren Zeichen die Erde bisher stand, der Gerechtigkeit zu weichen. Der blasse Mond des Kriegs und des Hasses ist im Niedergang begriffen, die strahlende Sonne des Friedens und der Liebe steigt am Horizont dieses durch Bahá’u’lláh erleuchteten und gesegneten Zeitalters empor. Die alten Zustände bersten, die alte Erde liegt in wehem Sterben, die „neue Erde“ wird in Wehen geboren.



Frühling.

„Winterstürme weichen dem Wonnemond.“ Der Umkreis ewigen Werdens und Vergehens in der Natur ist wieder im Frühlingspunkt angelangt.

In allem, was Leben zeigt, gibt es Jugend und Alter, Lenz und Herbst. Auch in der Geschichte der Völker, der Kulturen, der Religionen. Spengler sieht in seinem wertvollen Buche vom Untergang des Abendlandes diese Lebensprozesse rhythmisch aufeinanderfolgen. Die verschiedenen Kulturperioden, wie die ägyptische, indische, antike, arabische, abendländische usw., treten vor unseren Augen nacheinander auf, den einzelnen Gliedern einer Sippe vergleichbar. Während das eine altert, blüht das zweite und wird das dritte geboren.

Doch klar und ungetrübt verlaufen diese Wellenlinien in Wirklichkeit nicht. „Des Menschen Leben, es gleichet dem Wasser." Die große Form, die allem zugrunde liegt, ist die Welle. Aber die einzelnen Wellen sind unter sich verschieden. Das eben macht ja das Schaurig-Schöne, Gewaltig-Anziehende, immer wieder Neue des Lebensmeeres. Manche kleine Wellen stürzen in eine Woge zusammen, manche Wogen zersplittern sich in kleine, schwache Wellen. Andere Wogenkämme überstürzen sich und spritzen Gischt gen Himmel, um dann in sich zusammenzubrechen.

So ist es auch im Werden und Vergehen der Völker, Kulturen und Religionen. Die großen Formen ewiger Grundgesetze werden durch Kräfte, die im Kleinen wirken, im Guten wie im Bösen gewandelt. Kleine Gemeinschaften konnten durch Eintracht und Reinheit des Fühlens und Denkens ihren anfangs kleinen Strahlenbereich so sehr erhellen und erweitern, daß sie den Fortschritt der Menschheit auf Geschlechter hin förderten.

Mit dem Erscheinen Bahá’u’lláhs ist ein neuer Zyklus angebrochen, der jetzt im allerersten Frühling lebt. Die Saat ist gesät, aber noch viele Samenkörner sind in der Erde verborgen und noch nicht aufgebrochen. Das Einzigartige aber an diesem beginnenden Abschnitt der Menschheitsgeschichte, das bisher noch in keiner Kulturperiode zur Tat werden konnte, ist dies: die geistige Kraft Bahá’u’lláhs ist so groß, die heutige Menschheit ist so entwickelt, die Hindernisse geistigen und materiellen Austausches und Verkehrs sind so weit niedergerungen, daß in dieser Periode das Bewußtsein der Einheit über das der Gegensätzlichkeit siegen wird, ohne daß dabei die Eigenart des einzelnen Menschen oder Volkes im geringsten verkümmert. So wie etwa in einer rechten Familie einer für alle und alle für einen da sind, und eben durch diese dienende Liebe der Einzelne in seiner Art sich erst recht entwickelt. Heute freilich reicht solches schöpferische Gemeinschaftsbewußtsein der Menschheit bestenfalls noch bis zum gemeinsamen Volks- oder Religionsbewußtsein. Vor dem letzten Schritt, den zum Menschheitsbewußtsein, ist das Denken und Fühlen noch durch eine Schranke vernagelt — unnatürlich, unlogisch, egoistisch —.

Das zweite Einzigartige, noch größer, aber auch noch ferner, mag wohl dies sein: Durch das Wirken der geistigen Sonne Bahá’u’lláhs, unmittelbar von Seiner höchsten Gegenwart aus, wie mittelbar durch den Widerglanz der Segnungen Seiner neuen Zeit auf Erden, wird im Laufe der kommenden Geschlechter die seelisch-körperliche Verfassung der Menschen so sehr geläutert, entfaltet und umgestaltet werden, daß auch die Gesetze seelischen und körperlichen Alterns der Einzelnen wie der Völker, Kulturen und Religionen verfeinert oder, besser gesagt, durch geistigere ersetzt werden. Die Auswirkung geistiger Gesetze auf Erden wird maßgebender sein im Ablauf körperlich-materieller Gesetzmäßigkeiten als bisher. Die Spenglerschen Tabellen der Reife- und Untergangszeiten werden nicht mehr gelten. "Tod, wo ist dein Stachel“ [Seite 32] (in erster Linie im geistigen Sinne natürlich), werden Tausende und Millionen sagen dürfen, nicht nur einzelne Begnadete, wie einst der Apostel. Immer mehr Menschen werden erstehen, die täglich, stündlich, in so unmittelbarer Verbindung mit der kosmisch-göttlichen Quelle leben, daß die Mängel, Schäden und Irrtümer des kleinen Erdendaseins nicht mehr wie heute sie beherrschen können.

Für das Gras ist der Frühling Jugend und der Herbst Alter. Der höher entwickelte Baum aber mißt mit anderem Maße. Er überdauert solche Jugend und solches Alter wohl hundertmal, bis endlich sein Alter herannaht. Welch ein Fest voll sieghafter Bedeutung war es für die Entwicklung des Pflanzengeistes auf Erden, als das erste Gewächs, der erste „Baum" dem Jahreslauf sein mehrjähriges Leben abgerungen!

Wie jubelt da heute der Menschengeist! Friede, Freude, Frühling auf Erden!

Mögen alle, denen es vergönnt ist, zu den ersten Zellen dieses neuen jungfrohen Reises zu gehören, sich unermüdlich läutern und veredeln, damit der Grundbau künftigen Wachsens, Blühens und Früchtetragens stark und rein sei! Dann wird auch das Gesetz des Alterns für den Baháibaum in den Schooß unendlicher Zukunft versenkt sein.

Dr. Mühlschlegel.


Verlag des Deutschen Bahai-Bundes Stuttgart

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In unserem Verlag sind erschienen:

1. Die Geschichte der Bahai-Bewegung, von S. S. Deutsch von Wilhelm Herrigel. Dritte Ausgabe . . . -.20

2. Bahai-Perlen, Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . . -.20

3. Ehe Abraham war, war Ich, v. Thornton Chase. Deutsch v. W.Herrigel . . . . -.10

4. Das heilige Tablet, ein Sendschreiben Baha’o’llahs an die Christenheit. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . -.10

5. Die Universale Weltreligion. Ein Blick in die Bahai-Lehre von Alice T, Schwarz . . . . -.50

6. Die Offenbarung Baha’u’llahs, von J.D. Brittingham. Deutsch von Wilhelm. Herrigel . . . -.50

7. Verborgene Worte von Baha o’llah. Deutsch v. A. Braun u. E. Ruoff . . . 1.--

8. Baha’u’llah, Frohe Botschaften, Worte des Paradieses, Tablet Tarasat, Tablet Taschalliat, Tablet Ischrakat. Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Halbleinen gebunden . . . 2.--

in feinstem Ganzleinen gebunden . . . . . 2.50

9. Einheitsreligion. Ihre Wirkung auf Staat, Erziehung, Sozialpolitik, Frauenrechte und die einzelne Persönlichkeit, von Dr. jur. H. Dreyfus, Deutsch von Wilhelm Herrigel. Neue Auflage . . . -.50

10. Die Bahaibewegung im allgemeinen und ihre großen Wirkungen in Indien, von Wilhelm Herrigel . . . . -.50

11. Eine Botschaft an die Juden, von Abdul Baha Abbas. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . -.15

12. Abdul Baha Abbas, Ansprachen über die Bahailehre. Deutsch von Wilhelm Herrigel,

in Halbleinen gebunden . . . . . 2.50

in feinstem Ganzleinen gebunden. . . . . 3.--

13. Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahaireligion, von Mirza Abul Fazl. Deutsch von W. Herrigel,

in Halbleinen geb. . . . . 4.--

In Ganzleinen gebunden . . . . 4.50

14. Abdul Baha Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps.

Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Ganzleinen gebunden . . . . 3.50

15. Das Hinscheiden Abdul Bahas, ("The Passing of Abdul Baha") Deutsch von Alice T. Schwarz . . . -.50

16. Das neue Zeitalter von Ch. M. Remey. "Deutsch von Wilhelm Herrigel —.50

17. Die soziale Frage und ihre Lösung im Sinne der Bahailehre von Dr. Hermann Grossmann . . —.20

18. Die Bahai-Offenbarung, ein Lehrbuch von Thornton Chase, deutsch von W. Herrigel, kartoniert M. 4.--, in Halbleinen gebunden M. 4.60


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Druck: Wilhelm Heppeler, Stuttgart.


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Geschichte und Bedeutung der Bahailehre.

Die Bahai-Bewegung tritt vor allem ein für die „Universale Religion" und den „Universalen Frieden“ — die Hoffnung aller Zeitalter. Sie zeigt den Weg und die Mittel, die zur Einigung der Menschheit unter dem hohen Banner der Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit führen. Sie ist göttlich ihrem Ursprung nach, menschlich in ihrer Darstellung, praktisch für jede Lebenslage. In Glaubenssachen gilt bei ihr nichts als die Wahrheit, in den Handlungen nichts als das Gute, in ihren Beziehungen zu den Menschen nichts als liebevoller Dienst.

Zur Aufklärung für diejenigen, die noch wenig oder nichts von der Bahaibewegung wissen, führen wir hier Folgendes an: „Die Bahaireligion ging aus dem Babismus hervor. Sie ist die Religion der Nachfolger Bahá’u’lláhs. Mirza Hussein Ali Nuri (welches sein eigentlicher Name war) wurde im Jahre 1817 in Teheran (Persien) geboren. Vom Jahr 1844 an war er einer der angesehensten Anhänger des Bab und widmete sich der Verbreitung seiner Lehren in Persien. Nach dem Märtyrertod des Bab wurde er mit den Hauptanhängern desselben von der türkischen Regierung nach Bagdad und später nach Konstantinopel und Adrianopel verbannt. In Bagdad verkündete er seine göttliche Sendung (als „Der, den Gott offenbaren werde") und erklärte, daß er der sei, den der Bab in seinen Schriften als die „Große Manifestation", die in den letzten Tagen kommen werde, angekündigt und verheißen hatte. In seinen Briefen an die Regenten der bedeutendsten Staaten Europas forderte er diese auf, sie möchten ihm bei der Hochhaltung der Religion und bei der Einführung des universalen Friedens beistehen. Nach dem öffentlichen Hervortreten Bahá’u’lláhs wurden seine Anhänger, die ihn als den Verheißenen anerkannten, Bahai (Kinder des Lichts) genannt. Im Jahr 1868 wurde Bahá’u’lláh vom Sultan der Türkei nach Akka in Syrien verbannt, wo er den größten Teil seiner lehrreichen Werke verfaßte und wo er am 28. Mai 1892 starb. Zuvor übertrug er seinem Sohn Abbas Effendi ('Abdu'l-Bahá) die Verbreitung seiner Lehre und bestimmte ihn zum Mittelpunkt und Lehrer für alle Bahai der Welt.

Es gibt nicht nur in den mohammedanischen Ländern Bahai, sondern auch in allen Ländern Europas, sowie in Amerika, Japan, Indien, China etc. Dies kommt daher, daß Bahá’u’lláh den Babismus, der mehr nationale Bedeutung hatte, in eine universale Religion umwandelte, die als die Erfüllung und Vollendung aller bisherigen Religionen gelten kann. Die Juden erwarten den Messias, die Christen das Wiederkommen Christi, die Mohammedaner den Mahdi, die Buddhisten den fünften Buddha, die Zoroastrier den Schah Bahram, die Hindus die Wiederverkörperung Krischnas und die Atheisten — eine bessere soziale Organisation.

In Bahá’u’lláh sind alle diese Erwartungen erfüllt. Seine Lehre beseitigt alle Eifersucht und Feindseligkeit, die zwischen den verschiedenen Religionen besteht; sie befreit die Religionen von ihren Verfälschungen, die im Lauf der Zeit durch Einführung von Dogmen und Riten entstanden und bringt sie alle durch Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Reinheit in Einklang. Das einzige Dogma der Lehre ist der Glaube an den einigen Gott und an seine Manifestationen (Zoroaster, Buddha, Mose, Jesus, Mohammed, Bahá’u’lláh).

Die Hauptschriften Bahá’u’lláhs sind der Kitab el Ighan (Buch der Gewißheit), der Kitab el Akdas (Buch der Gesetze), der Kitab el Ahd (Buch des Bundes) und zahlreiche Sendschreiben, genannt „Tablets“, die er an die wichtigsten Herrscher oder an Privatpersonen richtete. Rituale haben keinen Platz in dieser Religion; letztere muß vielmehr in allen Handlungen des Lebens zum Ausdruck kommen und in wahrer Gottes- und Nächstenliebe gipfeln. Jedermann muß einen Beruf haben und ihn ausüben. Gute Erziehung der Kinder ist zur Pflicht gemacht und geregelt.

Streitfragen, welche nicht anders beigelegt werden können, sind der Entscheidung des Zivilgesetzes jeden Landes und dem Bait’ul’Adl oder „Haus der Gerechtigkeit“, das durch Bahá’u’lláh eingesetzt wurde, unterworfen. Achtung gegenüber jeder Regierungs- und Staatseinrichtung ist als einem Teil der Achtung, die wir Gott schulden, gefordert. Um die Kriege aus der Welt zu schaffen, ist ein internationaler Schiedsgerichtshof zu errichten. Auch soll neben der Muttersprache eine universale Einheits-Sprache eingeführt werden. „Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die Tropfen eines Meeres“ sagt Bahá’u’lláh.

Es ist also weniger die Einführung einer neuen Religion, als die Erneuerung und Vereinigung aller Religionen, was heute von 'Abdu'l-Bahá erstrebt wird. (Vgl. Nouveau, Larousse, illustré supplement, p. 66.)