Sonne der Wahrheit/Jahrgang 6/Heft 4/Text

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SONNE

DER

WAHRHEIT
Heft IV JUNI 1926
ORGAN DES DEUTSCHEN BAHAI-BUNDES STUTTGART


[Seite 48] Abdu’l-Bahás Erläuterung der Bahai-Prinzipien.


1. Die ganze Menschheit muss als Einheit betrachtet werden.

Baha’u’lláh wandte Sich an die gesamte Menschheit mit den Worten: „Ihr seid alle die Blätter eines Zweigs und die Früchte eines Baumes“. Das heißt: die Menschheit gleicht einem Baum und die Nationen oder Völker gleichen den verschiedenen Aesten und Zweigen; die einzelnen Menschen aber gleichen den Blüten und Früchten dieses Baumes. In dieser Weise stellte Baha’u’lláh das Prinzip der Einheit der Menschheit dar. Baha’u’lláh verkündigte die Einheit der ganzen Menschheit, er versenkte sie alle im Meer der göttlichen Gnade.


2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.

In religiösen Fragen sollte niemand blindlings seinen Eltern und Voreltern folgen. Jeder muß mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören und die Wahrheit suchen, denn die Religionen sind häufig nichts anderes als Nachahmungen des von den Eltern und Voreltern übernommenen Glaubens.


3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.

Alle göttlichen Verordnungen beruhen auf ein und derselben Wirklichkeit. Diese Grundlage ist die Wahrheit und bildet eine Einheit, nicht eine Mehrheit. Daher beruhen alle Religionen auf einer einheitlichen Grundlage. Im Laufe der Zeit sind gewisse Formen und Zeremonien der Religion beigefügt worden. Dieses bigotte menschliche Beiwerk ist unwesentlich und nebensächlich und verursacht die Abweichungen und Streitigkeiten unter den Religionen. Wenn wir aber diese äußere Form beiseite legen und die Wirklichkeit suchen, so zeigt sich, daß es nur eine göttliche Religion gibt.


4. Die Religion muss die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.

Die Religion ist für die Menschheit die größte göttliche Gabe, die Ursache des wahren Lebens und hohen sittlichen Wertes; sie führt den Menschen zum ewigen Leben. Die Religion sollte weder Haß und Feindschaft noch Tyrannei und Ungerechtigkeiten verursachen. Gegenüber einer Religion, die zu Mißhelligkeit und Zwietracht, zu Spaltungen und Streitigkeiten führt, wäre Religionslosigkeit vorzuziehen. Die religiösen Lehren sind für die Seele das, was die Arznei für den Kranken ist. Wenn aber ein Heilmittel die Krankheit verschlimmert, so ist es besser, es nicht anzuwenden.


5. Die Religion muss mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.

Die Religion muß mit der Wissenschaft übereinstimmen und der Vernunft entsprechen, so daß die Wissenschaft die Religion, die Religion die Wissenschaft stützt. Diese beiden müssen unauflöslich miteinander verbunden sein.


6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.

Dies ist eine besondere Lehre Baha’u’lláhs, denn die früheren Religionen stellen die Männer über die Frauen. Töchter und Söhne müssen gleichwertige Erziehung und Bildung genießen. Dies wird viel zum Fortschritt und zur Einigung der Menschheit beitragen.


7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.

Alle Propheten Gottes kamen, um die Menschen zu einigen, nicht um sie zu trennen. Sie kamen, um das Gesetz der Liebe zu verwirklichen, nicht um Feindschaft unter sie zu bringen. Daher müssen alle Vorurteile rassischer, völkischer, politischer oder religiöser Art abgelegt werden. Wir müssen zur Ursache der Einigung der ganzen Menschheit werden.


8. Der Weltfriede muss verwirklicht werden.

Alle Menschen und Nationen sollen sich bemühen, Frieden unter sich zu schließen. Sie sollen darnach streben, daß der universale Friede zwischen allen Regierungen, Religionen, Rassen und zwischen den Bewohnern der ganzen Welt verwirklicht wird. Die Errichtung des Weltfriedens ist heutzutage die wichtigste Angelegenheit. Die Verwirklichung dieses Prinzips ist eine schreiende Notwendigkeit unserer Zeit.


9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung geniessen.

Alle Menschen müssen erzogen und belehrt werden. Eine Forderung der Religion ist, daß jedermann erzogen werde und daß er die Möglichkeit habe, Wissen und Kenntnisse zu erwerben. Die Erziehung jedes Kindes ist unerläßliche Pflicht. Für Elternlose und Unbemittelte hat die Gemeinde zu sorgen.


10. Die soziale Frage muss gelöst werden.

Keiner der früheren Religionsstifter hat die soziale Frage in so umfassender, vergeistigter Weise gelöst wie Baha’u’lláh. Er hat Anordnungen getroffen, welche die Wohlfahrt und das Glück der ganzen Menschheit sichern. Wenn sich der Reiche eines schönen, sorglosen Lebens erfreut, so hat auch der Arme ein Anrecht auf ein trautes Heim und ein sorgenfreies Dasein. Solange die bisherigen Verhältnisse dauern, wird kein wahrhaft glücklicher Zustand für den Menschen erreicht werden. Vor Gott sind alle Menschen gleich berechtigt, vor Ihm gibt es kein Ansehen der Person; alle stehen im Schutze seiner Gerechtigkeit.


11. Es muss eine Einheitssprache und Einheitsschrift eingeführt werden.

Baha’u’lláh befahl die Einführung einer Welteinheitssprache. Es muß aus allen Ländern ein Ausschuß zusammentreten, der zur Erleichterung des internationalen Verkehrs entweder eine schon bestehende Sprache zur Weitsprache erklären oder eine neue Sprache als Weltsprache schaffen soll; diese Sprache muß in allen Schulen und Hochschulen der Welt gelehrt werden, damit dann niemand mehr nötig hat, außer dieser Sprache und seiner Muttersprache eine weitere zu erlernen.


12. Es muss ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.

Nach dem Gebot Gottes soll durch das ernstliche Bestreben aller Menschen ein Weltschiedsgerichtshof geschaffen werden, der die Streitigkeiten aller Nationen schlichten soll und dessen Entscheidung sich jedermann unterzuordnen hat.

Vor mehr als 50 Jahren befahl Baha’u’lláh der Menschheit, den Weltfrieden aufzurichten und rief alle Nationen zum „internationalen Ausgleich“, damit alle Grenzfragen sowie die Fragen nationaler Ehre, nationalen Eigentums und aller internationalen Lebensinteressen durch ein schiedsrichterliches „Haus der Gerechtigkeit" entschieden werden können.


Baha’u’lláh verkündigte diese Prinzipien allen Herrschern der Welt. Sie sind der Geist und das Licht dieses Zeitalters. Von ihrer Verwirklichung hängt das Wohlergehen für unsere Zeit und das der gesamten Menschheit ab.


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SONNE    DER  WAHRHEIT
Organ des Bahai-Bundes, Deutscher Zweig
Herausgegeben vom Verlag des Bahai-Bundes, Deutscher, Zweig Stuttgart
Verantwortliche Schriftleitung: Alice Schwarz - Solivo, Stuttgart, Alexanderstraße 3
Preis vierteljährlich 1,80 Goldmark, im Ausland 1,90 Goldmark.
Heft 4 Stuttgart, im Juni 1926 6. Jahrgang

Inhalt: Aus Dr. Esslemont: Baha’u’lláh und das Neue Zeitalter. — Qurratu’l-Ayn und ihr Lehrer. - Die Erzieher der Menschheit. — Endevours for Knowledge throughout the world.



Motto: Einheit der Menschheit — Universaler Friede — Universale Religion



Die Einheit im wahren Sinn bedeutet, daß Gott allein als die einzige Macht gedacht werden soll, denn sie belebt und beherrscht alle Dinge, die ja nur Offenbarungen Seiner Energie sind.

Baha’u’lláh.


O liebe Freunde!

Gott sei gelobt, daß wir uns alle wohl und sicher unter dem Obdach göttlicher Herrschaft und des Schutzes befinden. Wir leben in schönster Harmonie. Wir beten Tag und Nacht und erflehen Gottes Gnade für alle Völker der Erde. Wir bitten, daß Er nicht auf die Eigenschaften Seiner Geschöpfe sehe — auf das, was die Menschen verdienen — sondern daß Er mit ihnen tue nach Seinen alleinigen Segnungen und Seinem Verzeihen, damit sie zum Wohlergehen und zur Freude gelangen; damit die Herzen Lampen für Sein Licht werden und die Seelen der Menschen Gottes Wohlgefallen erringen.

Dies ist unser größter Wunsch, unser höchstes Sehnen.

'Abdu'l-Bahá.



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Baha’u’lláh und das Neue Zeitalter.

Von Dr. ]. E. Esslemont. Uebersetzung v. W. Herrigel.

V. Kapitel.

„Der Mensch muß Früchte aufweisen. Ein fruchtlos hingebrachtes Leben des Menschen gleicht nach den Worten des Geistes (d. i. Christus) einem fruchtlosen Baum, und ein unfruchtbarer Baum ist für das Feuer bestimmt.“

Baha’u’lláh, Worte des Paradieses.

Herbert Spencer sagte einmal, es sei keiner politischen Alchemie möglich, ein goldenes Betragen aus bleiernen Instinkten hervorzubringen, und ebenso wahr sei es, daß man durch keine politische Alchemie eine goldene Gesellschaft aus bleiernen Einzelmenschen bilden könne.

Gleich allen früheren Propheten verkündigte Bahá’u’lláh diese Wahrheit, und lehrte, daß das Königreich Gottes auf Erden erst dann aufgerichtet werden könne, wenn es zuerst in den Herzen der Menschen errichtet ist. Beim Erforschen der Baháilehre sollen wir daher vor allem mit den Unterweisungen beginnen, die Bahá’u’lláh für das Betragen des Einzelnen aufgestellt hat, und sollten versuchen, uns ein klares Bild davon zu machen, was es heißt, ein Bahái zu sein.


Das Leben richtig zu leben.

Als 'Abdu'l-Bahá einmal gefragt wurde: „Was ist ein Bahái?“ antwortete Er:

„Ein Bahái zu sein heißt einfach, die ganze Welt, die ganze Menschheit zu lieben und ihr zu dienen. — Für den Weltfrieden und die Menschheitsverbrüderung zu arbeiten.“

Bei einer andern Gelegenheit erläuterte Er den Begriff „Bahái“ wie folgt:

„Ein Bahäi ist ein Mensch, der in seiner Lebensführung alle menschliche Vollkommenheit aufweist.“

In einer Seiner Reden in London sagte Er, ein Mensch könne ein Bahái sein, selbst wenn er den Namen Bahá’u’lláh noch nicht gehört habe. Er sagte ferner:

„Ein Mensch, der nach den Lehren Bahá’u’lláhs lebt, ist schon ein Bahái. Andererseits kann jemand sich 50 Jahre lang Bahái nennen, wenn er aber das Leben eines Bahái nicht lebt, dann ist er es trotzdem nicht. Ein häßlicher Mensch mag sich selbst schön nennen, aber er täuscht niemand, und ein Schwarzer mag sich selbst weiß nennen, doch auch er vermag niemand als sich selbst zu täuschen.“

'Abdu'l-Bahá in London S. 109.

Der Mensch, der Gottes Botschaften nicht kennt, gleicht einer Pflanze, die im Schatten wächst. Obschon sie die Sonne nicht kennt, ist sie doch völlig von ihr abhängig. Die großen Propheten sind geistige Sonnen, und Bahá’u’lláh ist die Sonne dieses „Tages“, an dem wir leben. Die Sonnen der früheren Tage haben die Welt erwärmt und belebt, und hätten diese Sonnen nicht geschienen, so würde die Erde jetzt kalt und tot sein, — aber nur der Sonnenschein von heute ist imstande, die Früchte zum Reifen zu bringen, die die Sonnen der früheren Tage zum Leben küßten.


Die Hingabe an Gott.

Um zu einem wahren Bahái-Leben in all seiner Fülle zu gelangen, ist eine bewußte und direkte Beziehung mit Bahá’u’lláh so notwendig, wie der Sonnenschein für die Entfaltung der Lilie oder der Rose ist. Der Bahái verehrt nicht die menschliche Persönlichkeit Bahá’u’lláhs, sondern die Herrlichkeit Gottes, in dieser Persönlichkeit geoffenbart. Er verehrt Christus und Mohammed und alle früheren Gottgesandten, aber er erkennt Bahá’u’lláh an als den Träger der göttlichen Botschaften für den „Neuen Tag“ in dem wir leben, als den großen Weltlehrer, der kam, um das Werk Seiner Vorgänger zum Ziel zu führen und es zu vollenden.

Verstandesmäßige Zustimmung zu dem Glaubensbekenntnis macht noch niemand zu einem Bahái, auch äußerliche Korrektheit im Benehmen tut dies nicht. Bahá’u’lláh verlangt von seinen Anhängern eine völlige Hingabe des Herzens. Gott allein hat das Recht, dies zu verlangen; aber Bahá’u’lláh spricht als die Manifestation Gottes und als der Offenbarer des göttlichen Willens. Ueber diesen Punkt waren sich die früheren Manifestationen auch klar. Christus sagte:

„Wer mir nachfolgen will, verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben verliert, um meinetwillen, der wird es finden.“

Dies verlangten alle göttlichen Manifestationen nur in anderen Worten von ihren Anhängern, und die Religionsgeschichte zeigt deutlich, daß die Religion blühte, so lange dieses Verlangen voll und ganz anerkannt und erfüllt wurde, und dies trotz aller irdischen Gegnerschaft, trotz Schwierigkeiten, Verfolgungen und Märtyrertum der Gläubigen. Wo sich aber andererseits Kompromisse eingeschlichen haben und äußere Verehrung an Stelle völliger Heiligung tritt, da ist die Religion im Abstieg begriffen. Sie ist wohl [Seite 51] Mode geworden, aber sie hat ihre Kraft zu erlösen und zu verwandeln, ihre Kraft, Wunder zu wirken, verloren. Wahre Religion ist bis jetzt noch nie Mode geworden. Gäbe Gott, daß sie es eines Tages würde; aber wie in den Tagen Christi, so ist es heute noch wahr, daß „die Pforte eng und der Weg schmal ist, der zum Leben führt, und daß es ihrer wenige sind, die ihn finden". Die Pforte der geistigen Geburt läßt wie bei der natürlichen Geburt, nur eins nach dem andern hindurch. Gelingt es in der Zukunft, daß mehr Menschen durch diese Pforte gehen, als in der Vergangenheit, so wird dies nicht etwa der Fall sein, weil die Pforte erweitert worden wäre, sondern, weil eine größere Neigung auf seiten der Menschen vorhanden ist, diese „große Uebergabe“, die Gott verlangt, zu vollziehen; weil lange und bittere Erfahrungen ihn alsdann dahin gebracht haben, einzusehen, welche Torheit es ist, eigene Wege anstatt Gottes Wege gehen zu wollen.


'Abdu'l-Bahá in Seinem letzten Lebensjahr


Das Suchen nach Wahrheit.

Bahá’u’lláh macht allen Seinen Anhängern Gerechtigkeit zur Pflicht und erklärt den Begriff der Gerechtigkeit mit folgenden Worten:

„Das Wesentlichste von allem, was wir für dich offenbarten, ist die Gerechtigkeit, die Befreiung des Menschen von wertloser Phantasie und Einbildung. Beobachte Sein herrliches Schöpfungswerk mit dem Auge der Einheit und blicke auf alle Dinge mit einem forschenden Auge.“

Worte der Weisheit.

Es ist vor allem notwendig, daß jedermann die Herrlichkeit Gottes, geoffenbart in dem menschlichen Tempel Bahá’u’lláhs, sieht, und sie sich gegenwärtig macht, andernfalls wäre der Baháiglaube für ihn nichts als ein Name ohne Bedeutung. Der Ruf, der von seiten der Propheten an die Menschen erging, enthielt immer die Aufforderung, sie möchten ihre Augen öffnen, nicht schließen, und ihre Vernunft gebrauchen, nicht sie unterdrücken. Es ist ein klares Sehen und ein freies Denken, nicht eine sklavische Leichgläubigkeit, die den Menschen befähigt, die Wolken der Vorurteile zu durchdringen, die Fesseln blinder Nachahmungen abzuschütteln und zur Verwirklichung der Wahrheit einer neuen heiligen Offenbarung zu gelangen.

Wer ein Bahái werden will, hat vor allem nötig, ein furchtloser Wahrheitsforscher zu sein; [Seite 52] er sollte aber sein Suchen nicht bloß auf diese materielle Ebene beschränken. Sein geistiges Wahrnehmungsvermögen sollte ebenso wach sein, wie sein physisches. Er sollte alle ihm von Gott verliehenen Fähigkeiten gebrauchen, um die Wahrheit zu erlangen, und ohne triftigen und genügenden Grund nichts glauben. Wenn sein Herz rein und sein Geist vorurteilsfrei ist, wird der ernste Sucher nicht verfehlen, die göttliche Herrlichkeit zu erkennen, einerlei in welchem menschlichen Tempel sie auch zum Vorschein kommen mag.

Bahá’u’lláh erklärt ferner:

„Der Mensch sollte sein eigenes Selbst erkennen und wissen, was ihn zur Erhabenheit oder zur Erniedrigung, zu Schande oder zu Ehren, zu Reichtum oder Armut führt.“

Tablett Tarasat.

„Die Quelle alles Wissens ist die Erkenntnis Gottes, (erhaben ist Seine Herrlichkeit) und diese kann durch nichts anderes als durch die Erkenntnis Seiner göttlichen Manifestation erlangt werden.“

Worte der Weisheit.

Die göttliche Manifestation ist der vollkommene Mensch, das größte Vorbild für die Menschen, die vorzüglichste Frucht am Baum der Menschheit. Solange wir die Manifestation nicht kennen, kennen wir die in uns verborgenen Möglichkeiten nicht. Christus lehrt uns, wir sollen die Lilien betrachten, wie sie wachsen und blühen, und er erklärt uns, daß Salomo in all seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen sei, wie eine dieser Lilien. Die Lilie wächst aus einer sehr unansehnlichen Knolle hervor. Wenn wir noch nie eine blühende Lilie gesehen und niemals auf den unvergleichlichen Reiz ihrer Blätter und Blüte geblickt hätten, wie könnten wir uns alsdann die Wirklichkeit, die die Knolle enthält, vorstellen? Wenn wir sie auch noch so sorgfältig zerlegen und ihr Inneres auch noch so genau erforschen würden, die in ihr schlafende Schönheit, die der Gärtner zu wecken weiß, würden wir doch nie entdecken. So ist es auch in bezug auf uns. Solange wir die Herrlichkeit Gottes, in der Manifestation geoffenbart, nicht geschaut haben, so lange haben wir keine Idee von der geistigen Schönheit, die in unserer eigenen Natur und in der unserer Nebenmenschen verborgen liegt. Dadurch, daß wir die Manifestation Gottes erkennen und lieben und Seine Lehren befolgen, werden wir befähigt, uns allmählich der in uns schlummernden, potentiellen Vollkommenheit bewußt zu werden; dann, aber nur dann wird uns der Sinn und der Zweck des Lebens und des Weltalls klar werden,


Die Liebe zu Gott.

Die Manifestation Gottes zu erkennen, heißt sie auch zu lieben. Eines ist unmöglich ohne das andere. Nach Bahá’u’lláhs Lehre ist der Zweck der Erschaffung des Menschen der, daß er Gott erkennen und lieben soll. In einem Seiner Tabblets sagt Er:

„Die Ursache der Erschaffung aller irdischen Wesen war Liebe, wie in einer wohlbekannten Ueberlieferung gesagt ist: „Ich war ein verborgener Schatz und wünschte erkannt zu werden. Um erkannt zu werden, schuf Ich die Schöpfung.“

Und in den Verborgenen Worten sagt Er:

„O Sohn des Daseins! Liebe Mich, damit Ich dich liebe. Wenn du Mich nicht liebst, kann dich Meine Liebe niemals erreichen. Merke dir dies, o Diener!

„O Sohn der höchsten Einsicht!”

Ich habe einen Hauch Meines Geistes in dich gehaucht, damit Du Mich lieben mögest. Warum hast du Mich verlassen und suchst einen andern zu lieben?“

Gott wahrhaft zu lieben, ist der alleinige Lebenszweck für den Bahái. Sein Ziel ist, Gott als seinen nächsten Gefährten, seinen besten Freund und seinen unvergleichlichen Geliebten zu haben, in dessen Gegenwart Freude in Fülle ist. Und Gott zu lieben heißt alles und jedermann zu lieben, denn alle sind von Gott. Der wirkliche Bahái wird die vollkommene Liebe besitzen. Mit reinem Herzen wird er jedermann innig lieben. Er wird niemand hassen. Er wird niemand verwerfen, denn er wird gelernt haben, das Antlitz seines Geliebten in jedem Antlitz zu sehen und Seine Spur überall zu finden. Seine Liebe wird keine Grenzen kennen in bezug auf Bekenntnisse, Gemeinschaften, Nationen, Klassen und Rassen.

Bahá’u’lláh sagt:

„Früher wurde gesagt: „Sein Vaterland zu lieben ist Glaube“. Aber in den Tagen der Manifestation sagt der Mund des Höchsten:

„Ruhm gebührt nicht dem, der sein Vaterland liebt, sondern dem, der die ganze Menschheit liebt (wörtlich, der seine Art liebt).

(Tablett an die Welt.)

Ferner: „Gesegnet ist, wer seinen Bruder sich selbst vorzieht, ein solcher gehört zum Volke Bahás.“ — Worte des Paradieses.

'Abdu’l-Bahá sagt uns, wir sollen sein „wie eine Seele in vielen Körpern, denn je mehr wir einander lieben, desto näher werden wir Gott sein“.

Zu einem christlichen Geistlichen sagte Er:

„Alle Propheten wurden gesandt und alle heiligen Bücher geoffenbart, damit das [Seite 53] Gesetz der Liebe gefördert und betätigt werde. Laßt uns mehr und immer mehr Liebe haben, eine Liebe, die alle Gegnerschaft hinwegschmilzt, eine Liebe, die alle Feinde besiegt, eine Liebe, die alle Schranken hinwegfegt, die überfließt von Werken der Barmherzigkeit, von Großherzigkeit, Duldsamkeit und edlem Streben; eine Liebe, die alle Hindernisse überwindet; eine grenzenlose, unwiderstehliche, allumfassende Liebe laßt uns haben.“

Juni 1914. Aus Ahmad Sohrabs Tagebuchverzeichnis.

Und wieder sagte Er:

„Jedes der Geliebten muß die andern lieben und seine Besitztümer und sein Leben für sie einsetzen. Jedenfalls müssen sie sich bemühen, die andern glücklich zu machen und ihnen Freude zu bereiten. Aber die andern müssen ebenfalls selbstlos und selbstaufopfernd sein. Möge dieser Sonnenaufgang die Horizonte überfluten, diese Melodie die Herzen erfreuen und alle Menschen glücklich machen; möge dieses göttliche Heilmittel das Universalmittel für jegliche Krankheit sein und dieser Geist die Ursache des Lebens für jede Seele werden.“

Tablette 'Abdu'l-Bahás B. I, S. 147.


Trennung.

Die Hingabe an Gott schließt auch die Trennung von allem, was nicht von Gott ist, in sich. Trennung in diesem Sinne heißt, sich zu lösen von allen selbstischen, weltlichen und selbst von Jenseits-Wünschen. Der Pfad Gottes mag durch Reichtum oder Armut, durch Gesundheit oder Krankheit, durch den Palast oder den Kerker, durch den Rosengarten oder die Folterkammer führen, wie dem auch sei, der Bahái wird sein Los mit strahlender Ergebung tragen. Unter dieser Trennung ist aber nicht törichte Gleichgültigkeit seiner Umgebung gegenüber oder untätige Ergebung in schlimme Zustände gemeint; auch die Verachtung der guten Dinge, die Gott erschaffen hat, ist hierunter nicht zu verstehen. Der wahre Bahái wird nicht abgestumpft, noch apatisch, noch asketisch sein. In dem Pfade Gottes wird er eine Fülle von Interesse, eine Fülle Arbeit und eine Fülle Freude finden, er wird aber nicht um Haaresbreite von diesem Pfade abweichen, um Vergnügungen nachzujagen, noch sich nach irgend etwas sehnen, das ihm Gott versagt hat. Wenn jemand Bahái wird, wird Gottes Wille sein Wille, denn im Widerspruch mit Gott zu sein, ist das Einzige, das er nicht zu ertragen vermag. Im Pfade Gottes vermögen ihn weder Schrecken noch Schwierigkeiten zu entmutigen. Das Licht der Liebe erleuchtet seine dunkelsten Tage, verwandelt Leiden in Freude und selbst Märtyrertum in eine Ekstase des Entzückens. Das Leben ist zum Heldentum erhoben, und der Tod wird zu einer frohen Begebenheit.

Bahá’u’lláh sagt:

„Wer in seinem Herzen für irgend etwas außer Mir Liebe hat, auch wenn sie kleiner ist als ein Senfkorn, kann wahrlich nicht in mein Königreich eintreten.“

„O Sohn des Menschen! Wenn Du mich liebst, dann wende dich ab von dir selbst; wenn du mein Wohlgefallen suchst, dann sieh nicht auf das, was dir gefällt, damit du gänzlich in Mir sterben mögest und Ich in dir lebe.“

„O, Mein Diener! Befreie dich von den Fesseln dieser Welt und entrinne aus dem Gefängnis des Selbst. Benütze diese Gelegenheit, denn sie wird dir nie mehr geboten werden.“

(Verborgene Worte).


Gehorsam.

Die Hingabe an Gott schließt auch den unbedingten Gehorsam Seinen geoffenbarten Geboten gegenüber in sich, selbst dann, wenn der Grund dieser Gebote nicht verstanden wird. Der Matrose gehorcht stillschweigend den Befehlen seines Kapitäns, auch wenn er den Grund derselben nicht versteht; aber deshalb ist seine Anerkennung der Autorität keine blinde. Er ist sich dessen wohl bewußt, daß der Kapitän eine umfassende Prüfung abgelegt und genügend Beweise seiner Fähigkeit als Seemann erbracht hat. Wenn dem nicht so wäre, so wäre es in der Tat töricht von ihm, unter ihm zu dienen. So muß auch der Bahái dem Kapitän seiner Erlösung stillschweigend gehorchen, aber er würde in der Tat töricht sein, wenn er sich nicht zuerst Gewißheit verschaffen würde, daß der Kapitän auch genügend Beweise seiner Vertrauenswürdigkeit erbracht hat. Hat er aber solche Beweise empfangen, dann würde es eine noch größere Torheit sein, den Gehorsam zu verweigern; denn nur dadurch, daß wir dem weisen Meister mit offenen Augen und in vernünftiger Weise Gehorsam leisten, können wir die Segnungen von seiner Weisheit ernten und uns diese Weisheit zu eigen machen. Wäre der Kapitän nicht so weise und würde niemand von der Besatzung ihm gehorchen, wie sollte alsdann das Schiff seinen Hafen erreichen, oder der Matrose die Kunst der Navigation erlernen? Christus erklärt deutlich, daß Gehorsam der Pfad zur Erkenntnis ist.

Er sagt:

„Meine Lehre ist nicht mein, sondern dessen Der mich gesandt hat. So jemand will deß Willen tun, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei, oder ob ich von mir selbst rede.“

Johs. 7, 16-17. [Seite 54]I

Bahá’u’lláh sagt:

„Der Glaube an Gott und die Gotteserkenntnis können nur dadurch völlig erlangt werden, daß wir an alles glauben, was von Ihm (dem Manifestierten) hervorging, und wir das bestätigen, was Er befohlen und durch die Feder der Herrlichkeit in dem Buch geoffenbart hat.“

Tablett Taschalliat S. 73.

Stillschweigender Gehorsam ist in diesen demokratischen Zeiten keine volkstümliche Tugend und gänzliche Unterwerfung unter den Willen eines einzigen Menschen würde in der Tat unheilvoll sein. Aber die Einigung der Menschheit kann nur dadurch erlangt werden, daß jeder Einzelne und alle in eine völlige Uebereinstimmung mit dem göttlichen Willen gebracht werden. Solange dieser Wille nicht klar geoffenbart ist und die Menschen nicht jedem andern Führer entsagen und dem göttlichen Botschafter gehorchen, wird Kampf und Streit weitergehen und die Menschen werden nicht aufhören, einander zu bekämpfen; sie werden einen großen Teil ihrer Kräfte aufwenden, um die Bemühungen ihrer Nebenmenschen zu durchkreuzen, anstatt harmonisch zusammen zu arbeiten für die Verherrlichung Gottes und für das allgemeine Wohl.


Dienst.

Die Hingabe an Gott erfordert ein Leben des Dienstes unseren Mitmenschen gegenüber. Wir können Gott in keiner anderen Weise dienen. Wenn wir unseren Nebenmenschen den Rücken kehren, kehren wir Gott den Rücken. Christus sagte:

„Was ihr nicht getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir nicht getan.“

Bahá’u’lláh sagt:

„O Sohn des Menschen! Würdest du Barmherzigkeit beachten, dann würdest du nicht dein eigenes Interesse, sondern das Interesse der Menschheit im Auge behalten. Würdest du Gerechtigkeit beachten, dann würdest du für andere nur wählen, was du für dich selbst erwähltest.“

Worte des Paradieses.

'Abdu'l-Bahá sagt:

„In der Baháisache sind Künste, Wissenschaften, und alle Gewerbe als Gottesdienst angesehen. Ein Mensch, der sei es auch nur ein Stück Notizpapier, nach seinem besten Können herstellt und dabei bewußt alle seine Kräfte darauf konzentriert, um es zu vervollkommnen, preist damit Gott. Kurz, alle Bemühungen und Anstrengungen, die ein Mensch macht, sofern sie von ganzem Herzen kommen, und er von den höchsten Beweggründen und dem Willen dazu getrieben wird, der Menschheit zu dienen, sind Gottesdienst. Gott zu dienen heißt: der Menschheit dienen und den Nöten der Nebenmenschen abzuhelfen. Dienst ist Gebet. Ein Arzt, der dem Kranken, frei von Vorurteilen, freundlich und sorgsam hilft und an die Solidarität der menschlichen Rasse glaubt, preist damit Gott.“

Pariser Ansprachen 2. Ausgabe, S. 164.


Das Lehren.

Der wirkliche Bahái wird nicht nur an die Lehren Bahá’u’lláhs glauben, sondern in ihnen Führung und Inspiration für sein ganzes Leben finden und voll Freude wird er andern die Erkenntnis übermitteln, die die Quelle seines eigenen Wesens ist. Nur auf diese Weise wird er „die Macht und Bestätigung des Geistes“ in vollem Maße empfangen. Alle können durch das Beispiel ihres Lebens lehren.

Bahá’u’lláh sagt:

„Die Bahái müssen dem Herrn mit Weisheit dienen, andere durch ihr Leben belehren und das Licht Gottes in ihren Taten offenbaren. Die Wirkung der Taten ist in Wahrheit mächtiger als die der Worte... Die Wirkung des durch den Lehrer gesprochenen Worts ist abhängig von der Reinheit seiner Absichten und seiner Trennung vom Irdischen. Manche begnügen sich nur mit Worten, aber die Wahrheit der Worte wird durch Taten bezeugt und hängt von der Lebensführung ab. Taten offenbaren die Stufe des Menschen. Die Worte müssen in Uebereinstimmung mit dem sein, was aus dem Munde des Willens Gottes hervorgeht und in den heiligen Schriften berichtet ist.“

Worte der Weisheit.

Der Bahái wird seine Ansichten in keinem Fall denen aufdrängen, die sie nicht hören wollen. Er wird die Menschen zum Königreiche Gottes anziehen und nicht versuchen, sie gewaltsam hineinzutreiben. Er wird sein wie ein guter Hirte, der seiner Herde vorangeht und die Schafe durch seinen Ruf lockt und erfreut, anstatt sie, wie andere es tun sie von hinten mit Hund und Stecken gewaltsam vorwärts zu treiben. Bahá’u’lláh sagt:

„O Sohn des Staubes! Weise sind, die nicht sprechen, es sei denn, daß sie Hörer finden, wie es auch der Mundschenk macht, der nie seinen Kelch anbietet, es sei denn, er findet einen, der darnach verlangt.“

Verb. W.P. 36.

Im Tablett Ischrakat sagt Er ferner:

„O Volk Bahás! Ihr seid die Dämmerungsorte der Liebe und die Aufgangspunkte der Gunst Gottes. Beflecket eure Zunge nicht dadurch, daß ihr irgend jemand [Seite 55] verflucht oder verwünscht und hütet eure Augen vor dem, was unwürdig ist! Zeiget, was in euch ist! Wird es angenommen, ist das Ziel erreicht; wird es abgelehnt, so ist es nicht erlaubt, mit denen, die es verwerfen, zu streiten oder sie zu tadeln. Ueberlasset sie sich selbst und schreitet vorwärts, hin zu Gott, dem Beschützer dem Selbstbestehenden. Seid nicht die Ursache des Kummers, viel weniger des Aufruhrs und des Streites! Wir hoffen, daß ihr im Schatten des Baumes der göttlichen Gunst erzogen werdet, und daß ıhr stets handelt nach Gottes Willen. Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die Tropfen eines Meeres.“


Höflichkeit und Ehrerbietung.

Bahá’u’lláh sagt:

„O Volk Gottes! Ich ermahne dich zur Höflichkeit. Höflichkeit ist in der Tat der Herr über alle Tugenden. Gesegnet ist, wer geschmückt ist mit dem Mantel der Aufrichtigkeit und wer erleuchtet ist mit dem Lichte der Höflichkeit. Wer mit Höflichkeit (oder Ehrerbietung) ausgestattet ist, hat einen hohen Rang erlangt. Es ist zu hoffen, daß ihn dieser Unterdrückte und alle andern erlangen, sich an ihn halten und ihn beachten. Dies ist der unwiderlegliche Befehl, der aus der Feder des Größten Namens floß.“

Tablet of the World.

Wieder und wieder betont Er:

„Laßt alle Nationen der Welt miteinander verkehren mit Freude und in Harmonie. Verkehret, o Menschen, mit allen Religionsangehörigen in Freude und Einklang.“

'Abdu'l-Bahá sagt in einem Brief an die Bahái in Amerika:

„Hütet euch, hütet euch! Daß ihr nicht irgend ein Herz beleidigt! Hütet Euch, hütet euch! Daß ihr euch gegen niemand unfreundlich benehmt. Hütet euch, hütet euch! Daß ihr nicht für irgend ein Geschöpf zur Ursache der Verzweiflung werdet!

„Sollte jemand für irgend ein Herz zur Ursache des Kummers oder für irgend eine Seele zur Ursache der Mutlosigkeit werden, so würde es für denselben besser sein, sich in die tiefsten Tiefen der Erde zu verbergen, als auf ihr zu wandeln.“

'Abdu'l-Bahá lehrt, daß, so wie die Blume in der Knospe verborgen sei, in jedem Menschenherzen ein Geist von Gott wohne, einerlei wie hart und unliebsam ein solcher Mensch auch äußerlich erscheine. Der wahre Bahái wird daher jeden Menschen behandeln, wie der Gärtner eine seltene und schöne Pflanze pflegt. Der Gärtner weiß, daß kein ungeduldiger Eingriff seinerseits die Knospe öffnen und die Blume entfalten kann, daß nur Gottes Sonnenschein dies zu vollbringen vermag. Die Absicht eines Bahái ist daher, diesen lebengebenden Sonnenschein in jedes verdunkelte Herz und in alle Heimstätten zu bringen.

'Abdu'l-Bahá sagt ferner:

„In den Lehren Bahá’u’lláhs finden wir auch, daß man einem um Vergebung bittenden Menschen unter allen Umständen vergeben muß; ferner, daß wir unsere Feinde lieben und die bös Gesinnten als wohlwollend betrachten sollen. Es sollte niemand einen andern als seinen Feind ansehen und dann mit ihm abbrechen — und nachsichtig gegen ihn sein. Dies ist Heuchelei und keine wahre Liebe.“

„Nein, du mußt vielmehr deine Feinde als deine Freunde ansehen, die dir Uebelwollenden als Wohlwollende und sie dementsprechend behandeln. Deine Liebe und Freundlichkeit muß echt sein... nicht nur Nachsicht, denn Nachsicht, wenn sie nicht von Herzen kommt, ist Heuchelei.“

Star of the West, Jahrg. IV, S. 191).

Solche Anweisungen erscheinen uns unverständlich und sich selbst widersprechend, bis wir einsehen, daß, obwohl im natürlichen Menschen Haß und Uebelwollen wohnen, es doch in jedem Menschen eine innere, geistige Natur gibt, die der wirkliche Mensch ist, von dem nur Liebe und Wohlwollen ausgehen können. Es ist dieser wirkliche, innere Mensch in jedem unserer Nebenmenschen, auf den wir unsere Gedanken und unsere Liebe richten müssen. Wenn dieser innere Mensch zur Tätigkeit erwacht, dann wird der äußere verwandelt und erneuert.


Das sündenbedeckende Auge.

Die Baháilehre ist in keinem Punkte gebieterischer und unbeugsamer als bei der Aufforderung, sich der Fehlererwähnung zu enthalten. Christus sprach sehr nachdrücklich über diesen Punkt, aber es ist jetzt üblich geworden, die Bergpredigt so zu betrachten, als bringe sie sogenannte Ratschläge der Vollkommenheit zum Ausdruck, die zu leben, von einem gewöhnlichen Christen nicht erwartet werden könne. Sowohl Bahá’u’lláh als ’Abdu’l-Bahá gaben sich die größte Mühe, klar zu machen, daß sie in bezug auf diesen Punkt in allem auch meinen, was sie sagen. Wir lesen in den Verborgenen Worten:

„O Sohn des Menschen! Sprich nicht über die Sünden anderer, solange du selbst ein Sünder bist. Tust du es dennoch, so bist du ein Verworfener. Dies bezeuge Ich dir.“

A. 27. [Seite 56]

„O Sohn des Geistes! Wisse: der Mensch, der die andern zur Gerechtigkeit ruft und selbst sündhaft ist, ist nicht von Mir...“

A. 28.

'Abdu'l-Bahá gebietet uns:

„Ueber die Fehler anderer zu schweigen, für sie zu beten und ihnen aufs Freundlichste behilflich zu sein, ihre Fehler zu beseitigen.

Immer auf das Gute zu blicken und nicht auf das Schlechte. Wenn ein Mensch zehn gute und eine schlechte Eigenschaft hat, auf die zehn guten zu blicken und die eine schlechte zu übersehen. Und wenn ein Mensch zehn schlechte und eine gute Eigenschaft hat, auf die eine gute zu blicken und die zehn schlechten zu übersehen.

Sich niemals zu erlauben, ein unfreundliches Wort über einen andern zu sprechen, selbst wenn dieser unser Feind wäre."

An einen Baháifreund in Amerika schrieb er:

„Die schlimmste Eigenschaft und die größte Sünde ist die Verleumdung, ganz besonders wenn sie von dem Munde der Gläubigen Gottes ausgeht. Wenn ein Mittel erfunden würde, durch das die Tore der Verleumdung für ewig geschlossen werden könnten, und jeder der Gläubigen Gottes seine Lippen zum Lobe der andern öffnen würde, dann würden die Lehren Bahá’u’lláhs verbreitet, die Herzen erleuchtet, der Geist der Menschen veredelt und die Menschheit würde ewiges Glück erlangen.“

Star of the West, Jahrg. IV, S. 192.


Demut.

Während uns geboten ist, die Fehler anderer zu übersehen und nur auf ihre Tugenden zu blicken, ist uns andererseits auch geboten, unsere eigenen Fehler herauszufinden und uns nichts auf unsere Tugenden einzubilden.

Bahá’u’lláh sagt:

O Sohn des Seins!

„Warum hast du deine eigenen Fehler übersehen und beschäftigst dich mit den Fehlern der andern? Wer das tut, ist durch Mich gerichtet.“

Verb. Worte 26.

„Die Zunge habe Ich für Meine Erwähnung bestimmt, beflecket sie nicht mit Verleumdung. Wenn euch das Feuer eures Selbsts übermannt, so denket an eure eigenen Fehler und nicht an die Fehler Meiner Geschöpfe; denn ein jedes von euch kennt sein eigenes Selbst besser, als das der andern.“

Verb. Worte P. 66.

'Abdu'l-Bahá sagt:

„Laßt euer Leben einen Ausfluß des Reiches Christi sein. Er kam nicht, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen... In der Religion Bahá’u’lláhs sind alle Diener und Dienerinnen, Brüder und Schwestern. Sobald man sich für ein wenig besser, für ein wenig höher hält als die übrigen, befindet man sich in einer gefährlichen Lage, und solange man die Samenkörner solch übler Gedanken nicht wegwirft, ist man kein taugliches Werkzeug für den Dienst im Königreiche Gottes.

„Mit sich selbst unzufrieden zu sein, ist ein Zeichen des Fortschritts. Die Seele, die mit sich selbst zufrieden ist, ist die Offenbarung des Satans, und wer mit sich selbst unzufrieden ist, ist die Offenbarung des Barmherzigen. Wenn jemand tausend gute Eigenschaften hat, so darf er nicht auf diese blicken; nein, er soll vielmehr darnach streben, seine eigenen Mängel und Unvollkommenheiten herauszufinden. Wie sehr ein Mensch auch Fortschritte machen mag, er ist dennoch unvollkommen, weil es immer noch eine Stufe über ihm gibt. Zu dieser Stufe blickt er aber nicht eher empor und trachtet nicht eher darnach, sie zu erlangen, als bis er mit seinem eigenen Zustand unzufrieden ist. Wenn sich jemand selbst lobt, so ist das ein Zeichen der Selbstsucht.“

Aus Tagebuchnotizen von Mirza Ahmed Sohrab 1914.

Obschon uns befohlen ist, unsere Sünden einzusehen und sie aufrichtig zu bereuen, ist doch das übliche Bekennen der Sünden vor den Priestern und andern nachdrücklich verboten.

Bahá’u’lláh sagt in den Frohen Botschaften S. 11:

„Wenn sich der Sünder in einem Zustand befindet, in dem er sich von allem andern außer Gott gelöst fühlt, muß er Gottes Vergebung und Verzeihung erbitten. Es ist nicht erlaubt, seine Sünden und Uebertretungen vor irgend jemand auszusprechen, weil dies nicht zur Erlangung von Gottes Vergebung und Verzeihung führt, noch je führte. Diese Art des Bekennens der Sünden vor den Geschöpfen führt gleichzeitig zu des Menschen Demütigung und Erniedrigung, und Gott — erhaben in Seiner Herrlichkeit — wünscht die Erniedrigung Seiner Diener nicht. Wahrlich, Er ist der Mitleidige, der Wohltätige. Allein mit seinem Gott muß der Sünder um Gnade aus der See der Barmherzigkeit flehen und Vergebungen von dem Himmel der Gnade erbitten. [Seite 57]Le


Wahrhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit.

Bahá’u’lláh sagt in dem Tablett Tarasat S. 56:

„Wahrlich, die Vertrauenswürdigkeit ist die Türe zur Ruhe für alle in der Welt und das Zeichen der Herrlichkeit und Gegenwart des Barmherzigen. Wer die Vertrauenswürdigkeit erlangt, besitzt reiche Schätze im Ueberfluß. Die Vertrauenswürdigkeit ist auch das größte Tor zur Ruhe und Sicherheit der Menschheit; die Stabilität eines jeglichen Geschäfts ist von ihr abhängig, und die Welten der Ehre, des Ruhmes und der Wohlhabenheit sind von ihrem Licht erleuchtet...

„Kinder des Lichts! Vertrauenswürdigkeit ist das beste Gewand für eure Tempel (Körper) und die prächtigste Krone für eure Häupter. Haltet euch an sie, nach dem Befehl des allmächtigen Gebieters!"

Ferner sagte Er:

„Das Wesen des Glaubens ist, wenig Worte zu machen und eine Fülle von Taten aufzuweisen. Wisse, daß für den, dessen Worte seine Taten übertreffen, wahrlich der Tod besser wäre als sein Leben.“

Worte der Weisheit S. 64.

'Abdu'l-Bahá sagt:

„Wahrhaftigkeit ist das Fundament aller Tugenden der Menschen. Ohne Wahrhaftigkeit sind Fortschritt und Erfolg für eine Seele in allen Welten unmöglich. Wenn diese heilige Eigenschaft in einem Menschen besteht, werden auch alle andern göttlichen Eigenschaften erzielt.“

Tablette 'Abdu'l-Bahás, Band 2, Seite 459.

Ferner:

„Laßt das Licht der Wahrheit und der Ehrlichkeit aus eurem Gesicht leuchten, damit alle erkennen mögen, daß euer Wort im Geschäftsleben oder beim Vergnügen ein Wort ist, auf das man trauen und dessen man sicher sein kann. Vergesset euer Selbst und arbeitet für die Gesamtheit.“

Botschaft an die Londoner Baháis 1911.


Selbst-Verwirklichung.

Bahá’u’lláh dringt immer darauf, daß sich der Mensch der in ihm verborgenen Vollkommenheiten, des wahren inneren Selbst, bewußt werde und diese völlig zum Ausdruck bringen soll. Dieses innere Selbst unterscheidet sich vom begrenzten äußeren Selbst, welch letzteres bestenfalls nichts anderes als ein Tempel ist und nur zu oft zum Gefängnis des wirklichen Menschen wird.

In den Verborgenen Worten A. 12 sagt Bahá’u’lláh:

„O Sohn des Seins!

Mit den Händen der Macht habe Ich dich geformt und mit den Fingern der Kraft habe Ich dich erschaffen. In dich habe Ich das Wesen Meines Lichts gelegt, begnüge dich damit und ziehe es allem andern vor; denn Mein Werk ist vollkommen und Mein Gebot ist bindend. Stelle es nicht in Frage und zweifle nicht.“

„O Sohn des Geistes!

Ich erschuf dich reich. Warum machst du dich selbst arm? Edel schuf Ich dich. Warum erniedrigst du dich selbst? Aus dem Wesen des Wissens ließ Ich dich hervorgehen. Warum suchst du einen andern als Mich? Aus dem Ton der Liebe habe Ich dich geformt. Warum trachtest du nach anderem außer Mir? Blicke in dich, damit du Mich in dir wohnend findest, kraftvoll, mächtig und selbstexistierend.“

P.-13.

„O Mein Diener! Du gleichst einem gut gehärteten Schwert, das in der Dunkelheit seiner Scheide verborgen liegt und dessen Wert dem kundigen Auge unbekannt ist. Deshalb komme hervor aus der Scheide der Begierden und Leidenschaften, daß deine Vorzüge vor aller Welt glänzen und offenbar werden.“

P-72.

„O mein Freund!

Du bist das Tagesgestirn des Himmel Meiner Heiligkeit, laß dir deinen Glanz nicht verdunkeln durch die Verunreinigung der Welt. Zerreiße den Schleier der Nachlässigkeit, damit du strahlend hinter den Wolken hervorkommst und alles mit dem Gewand des Lebens kleidest.“

P. 73.

Das Leben, zu dem Bahá’u’lláh Seine Nachfolger erzieht, ist sicherlich von solcher Erhabenheit und solchem Adel, daß es in dem gewaltigen Umfang menschlicher Möglichkeiten nichts gibt, das erhabener, schöner und unseres Begehrens würdiger wäre. Das Erkennen des geistigen Selbst in uns bedeutet das Bewußtwerden der erhabenen Wahrheit, daß wir von Gott sind, und zu Ihm zurückkehren werden. Dieses Zurückkehren zu Gott ist das herrliche Ziel der Bahái; doch um dieses Ziel zu erreichen, gibt es nur einen Weg, und dies ist der Weg des Gehorsams gegenüber Seinen Botschaftern und ganz besonders gegenüber Seinen Botschaftern für diese Zeit, in der wir leben, Gehorsan gegenüber Bahá’u’lláh, dem Propheten des „Neuen Zeitalters“.

[Seite 58]


Qurratu’l-Ayn und ihr Lehrer.

(Jinab-i-Avarih’s Ansprachen in London.)

Zusammengestellt von Dr. Lotfullah S. Hakim. Aus „The Dawn“, Birma, I. u. II. Jahrgang.

Uebersetzt von H. Küstner. (Schluß.)

Nach Seiner Ankunft in Kerbela suchte Er Hadschi Sejid Jawad auf, einen der Jünger des Scheik Hadschi Sejid Jawad war beim Zusammenkommen mit Bahá’u’lláh die erste Zeit tief betroffen von dessen Erkenntnis, Gelehrsamkeit, und der Majestät und Größe Seiner Persönlichkeit. Er dachte daran, wie er vom Báb angezogen worden war, als dieser noch ein kleiner Knabe von nur wenigen Jahren war und im Hause seines Onkels lebte. Er dachte an die wundervollen Zeichen, die er damals an dem Jungen entdeckt hatte. Er fand nun in der Person von Bahá’u’lláh etwas noch weit mehr Bestrickendes, weit mehr Inspirierendes und weit Edleres. Er wandte sich mit einemale zu den übrigen Jüngern des Scheik und erklärte: „Wenn auch der Báb den Märtyrertod erleiden mußte, so braucht ihr doch nicht zu verzweifeln, denn es gibt einen Anderen, Größeren als den Báb, nicht sehr ferne von uns.“ Er erinnerte sie auch an die Prophezeiung des Báb vom Kommen eines Größeren als er selbst.

Obgleich Bahá’u’lláh damals Seine Sendung nicht verkündigte, ahnten die Jünger, wer er sei, doch aus den Zeichen und Prophezeiungen, die sich in des Bábs Schriften fanden, und die klar bewiesen, daß Er der Eine sei, auf den sie warteten. Während diese Reise Bahá’u’lláhs nach Kerbela viele Menschen dazu führte, ihn kennen zu lernen und ihm nachzufolgen, wurde sie für Qurratu’l-Ayn die Ursache großen Unglücks, denn in Seiner Abwesenheit gab es niemand, der sie hätte beschützen können. Freilich gab es manche Freunde, die nach ihr sahen, aber sie besaßen nicht die Macht und den Einfluß, wie ihn Bahá’u’lláh hatte.

Nassr-ed-din Schah, der damalige König von Persien, der den Generalbefehl ausgegeben hatte, daß die Bábis zu töten seien, wo man sie fände, setzte, als er von dem Gerücht von einer herrlichen Frau namens Qurratu’l-Ayn hörte, eine Belohnung aus für den, der ihre Spur fände und das Haus, in dem sie weilte. Während einmal Qurratu’l-Ayn Nachts in einer Versammlung im Hause eines Freundes redete, bekamen die Nachbarn Kenntnis von ihrer Anwesenheit daselbst und erstatteten sofort dem Stadtkommandant Bericht. Kalanter war damals wie die Hauptregierung sehr einflußreich. Er schickte mehrere seiner Knechte zu dieser Versammlung und ließ Qurratu’l-Ayn auf der Stelle festnehmen.

Kalanter besaß einen Garten, in welchem sich ein kleines Bauwerk mit einem kleinen Zimmer im oberen Stockwerk befand. Diesem Bauwerk war ein Treppenhaus nicht beigegeben. In diesen kleinen Zimmer wurde Qurratu’l-Ayn von Kalanter verschiedene Monate gefangen gehalten.

Als Nassr-ed-Din Schah von Qurratu’l-Ayns Gefangensetzung hörte, schrieb er ihr einen Brief folgenden Inhalts „Wende Dich ab und verleugne den falschen Glauben und werde wieder eine echte Mohammedanerin. Wenn Du tust, was ich von Dir verlange, will ich Dich über alle Frauen meines Haushalts setzen.“ Aber Qurratu’l-Ayn schrieb ein von ihr verfaßtes Gedicht auf die Rückseite dieses Briefs und sandte dies an den Schah zurück. Das Gedicht, das sie geschrieben hatte, war schön und rührend. Es lautet in der Uebersetzung:


„Königtum, Reichtum und Herrschertum seien für Dich,

Ruhelosigkeit, Armut eines Derwisches und Schwierigkeit sind für mich.

Wenn jene Stufe herrlich ist, laß sie sein die Deine,

Und ist diese schlecht, so sehne ich mich nach ihr, so laß sie sein die meine.“


Als der Schah das Gedicht las, wunderte er sich sehr über ihren wundervollen Geist und ihren Mut, den ihre Worte so gut widerspiegelten. Dies sind seine eigenen Worte: „Die Geschichte weist weit und breit keine solche Frau auf wie diese.“ Er erließ einen Befehl, sie unter strenger Bewachung zu halten, bis zur endgültigen Entscheidung, was mit ihr geschehen sollte. Die Folge war, daß Kalanter und seine Leute sie die ganze Zeit mit unverminderter Wachsamkeit gefangen hielten in dem kleinen Zimmer in Kalanters Garten. Wenn sie zu irgend etwas Wichtigem herabkommen wollte, stellten sie ihr die Leiter hin, die unmittelbar nach ihrer Rückkehr wieder weggenommen wurde. Obgleich sie im Gefängnis war und das ganze Land sich gegen sie stellte, war sie doch nicht im geringsten unglücklich; schwer aber betrübte sie der Märtyrertod des Báb, der ihr teurer war als das Leben, und dann auch die Trennung von Bahá’u’lláh, der Sich fern in Kerbela auf der Pilgerreise befand.

Für jemand wie sie, die gewohnt war, unausgesetzt zu schreiben und Federn und Papier immer zur Verfügung zu haben, war es ein starker, geistiger Druck, daß man ihr nicht ein einziges Blatt Papier oder sonstiges Schreibmaterial bewilligte, um ihre Gedanken niederzuschreiben. Als sie eines Tags in den Garten herunterging, um sich etwas zu waschen, hob sie ein wenig Gras und ein Stück Packpapier [Seite 59] auf, und dazu ein dünnes Stäbchen aus einem Besen. Diese Dinge nahm sie mit hinauf in ihre kleine Stube und gebrauchte sie als Tinte, Feder und Papier.

Eine der Verwandten des Schah, eine junge Prinzessin namens Shamsi-Jahan Khanum (bedeutet wörtlich „Sonne der Welt“), die man seit ihrer Pilgerreise nach Mekka Hadschi Khanum nannte, war eine Frau von starker religiöser und dichterischer Geistesrichtung. Als sie von Qurratu’l-Ayn hörte und einige ihrer Gedichte las, wünschte sie sehr, sie zu sehen. Eines Tages ging sie mit ihren Mädchen aus unter dem Vorgeben, einen Spaziergang machen zu wollen, und kamen zu dem Garten von Kalanter, wo Qurratu’l-Ayn eingekerkert war. Schrittweise näherten sie sich leise dem Gebäude, in dessen oberen Teil Qurratu’l-Ayn sich befand. Die Prinzessin hat selbst ein Buch geschrieben, worin sie einen interessanten Bericht über ihre Begegnung mit Qurratu’l-Ayn in Kalanters Garten gibt. Sie erzählt, daß sie, als sie unten an dem Bauwerk angekommen war, ihre Gedanken zu Gott wandte und sagte: „O Gott, wenn diese Sache echt ist, so mache, daß Qurratu’l-Ayn hervorkommt und es mir möglich wird, sie zu sehen.“ Sie schreibt dann weiter: „Sobald ich so gebetet hatte, öffnete sich oben plötzlich das Fenster, und Qurratu’l-Ayn schaute heraus, leuchtend wie die Sonne, und redete mich an: „Was wünschest Du, Prinzessin?“ Ich war ganz überrascht davon, ich war so überwältigt, daß ich sprachlos zu ihr aufschaute und laut zu weinen anfing. Ich sah sie lächeln und lachen. Es bewegte mich tief, daß ich sie in einem so freudigen Zustand fand. Es fiel mir auf, wie seltsam es sei, daß ich, eine Prinzessin und frei, in diesen Garten gegangen war und weinte, während sie, eine Gefangene, beschränkt auf jene kleine Stube, so von Herzen lachte, ohne daß man ihr die geringste Sorge oder Not anmerkte. Ich fragte sie: „O Khanum! Ich wüßte gerne, warum du eingekerkert bist.“ Sie sagte: „Weil ich die Wahrheit gesprochen habe. Warum erduldeten die Nachkommen, Mohammeds den Märtyrertod, da sie doch auch nur die Wahrheit sagten?“

Ich fragte sie weiter: „Wo ist die Wahrheit?“ Sie sagte: „Der Mittelpunkt der Wahrheit erschien auf der Welt, und sie töteten ihn.“ „Ist es der gewesen, den sie kürzlich in Täbris töteten?“ „Ja“, erwiderte sie, "es war unser Verheißener, euer und mein Verheißener, und sie ließen ihn den Märtyrertod erleiden. Er kam von Gott, wie Christus kam, und er wurde geradeso gekreuzigt, wie Christus.“ Ich fragte weiter: „Was waren jenes für Leute, die in der Befestigung von Tabrsi waren?“ Sie sagte: „Das waren seine Jünger.“ Die Prinzessin fährt dann in ihrem Bericht fort: „Als unsere Unterredung soweit gekommen war, kamen die Wächter hergeeilt. Ehe ich merkte, daß diese kämen, warnte mich Qurratu’l-Ayn: „Prinzessin, gehe, Du wirst sonst Unannehmlichkeiten haben.“ Sie schloß dann das Fenster und ging in das Zimmer hinein. Gleich darauf kamen die Diener Kalanters und fragten mich: „Was tust Du hier, Khanum?“ Ich erwiderte unwillig: „Ich kam hieher auf meinem Spaziergang.“ Obgleich sie verstanden, warum ich in diesen Garten gekommen war, sagten sie doch aus Hochachtung nichts weiter mehr zu mir. Sie sagten nur: „Ganz recht, nachdem Du jetzt Deinen Spaziergang beendet hast, sei so gut, und verlasse diesen Ort.“ Ich schrie und jammerte während verschiedener Tage und sehnte mich außerordentlich, diese herrliche Gefangene noch einmal zu sehen. Vielleicht hat Gott mein Gebet erhört, denn ich hatte noch einmal die Gelegenheit, Qurratu’l-Ayn zu sehen, und zwar bei der Hochzeit von Kalanters Sohn. Hier ist ein Bericht, was sich bei dieser Hochzeit ereignete:

In der Nacht von der Hochzeit von Kalanters Sohn versammelten sich alle die Prinzessinnen und die Frauen des Königlichen Haushalts, die eingeladen waren, in dessen Hause. Eine der Königlichen Frauen riet: „Es wäre doch ganz hübsch für uns, jene Baháifrau zu sehen, die hier im Gefängnis ist.“ Alle die Frauen stimmten bei und verbanden sich zu der Forderung; und endlich wurde im Namen aller Gäste eine Botschaft zu Kalanter geschickt, in der er ersucht wurde, Qurratu’l-Ayn aus dem Gefängnis zum Hochzeitsfest bringen zu lassen. Qurratu’l-Ayn wurde nun geholt und in Kalanters Haus gebracht. Eine der Prinzessinnen sagte: „Als ich sie sah, floß mein Herz über vor Freude.“ Sie schilderte dann: „Als Qurratu’l-Ayn in das Zimmer trat, zog ihre magnetische Schönheit, ihre Ehrfurcht gebietende Persönlichkeit, ihre würdige Haltung und ihre wundervolle Beredsamkeit nach und nach alle die Frauen zu ihr hin und sie lauschten ihr in solch entzückter Aufmerksamkeit, daß sie die Hochzeit vergaßen. Sie sprach mit großer Begeisterung, und ihr Sprechen war so eindrucksvoll und treffend, daß einige der Frauen tatsächlich zu weinen anfingen. Sie erzählte ihnen aus ihrer eigenen Leidensgeschichte. Manchmal ging sie im Zimmer auf und ab und sang eines ihrer herrlichen Gedichte auf ganz bezaubernde Art.

Kurz, keine dieser Frauen wünschte mehr etwas von den Hochzeitsfestlichkeiten zu hören oder zu sehen. Sie hörten ihr tatsächlich den ganzen Abend zu. Die Erlebnisse dieser Nacht hatten zur Folge, daß einige der Frauen feste Anhänger der Sache wurden; und unter ihnen [Seite 60] befand sich auch die Prinzessin, von der wir bereits sprachen.

Der letzte Teil des Lebens von Qurratu’l-Ayn war überaus traurig. Sie hatte sich, wie wir bereits sahen, durch ihre furchtlose Antwort auf seinen Brief und durch ihre feste Anhänglichkeit an die Sache das strenge Mißfallen des Schah zugezogen. Ueberdies besaß sie in Teheran niemand, der ihr hätte helfen können. Um ihr Mißgeschick vollkommen zu machen, ereignete sich um jene Zeit der unglückliche Vorfall, daß auf den Schah geschossen wurde. Einige törichte Menschen schossen auf den Schah, und man dachte, daß dies von den Babis ausgegangen sei, Es war dies nur wenige Tage nach Bahá’u’lláhs Rückkehr von Kerbela nach Teheran. Zur Zeit, als der Schah angeschossen wurde, weilte Bahá’u’lláh in der Nähe an einem Ort namens Afschih als Gast des Premier-Ministers. Bahá’u’lláh wurde plötzlich ergriffen und ins Gefängnis geworfen, und über Qurratu’l-Ayn wurde der Märtyrertod verhängt. Hier folgt ein kurzer Bericht über Qurratu’l-Ayns Märtyrertod.

Von der Hochzeitsnacht an waren alle Frauen, die zum Haushalt von Kalanter gehörten, Qurratu’l-Ayn sehr zugetan. Sie erbaten sich von Kalanter die Erlaubnis, Qurratu’l-Ayn im Hause bei sich behalten zu dürfen, statt sie in jene kleine Stube im Garten zu sperren. So brachte man sie in das Haus von Kalanter, wo sie ganz vertraut mit den Frauen verkehren durfte. Eines der Mädchen vom Haus des Kalanter erzählt, daß die gefangene Frau solche Liebe, Zuneigung, Größe, Macht und Majestät auf die Frauen ausstrahle, daß alle, Frauen wie Mädchen, ihr so zugetan wurden, daß sie glücklich gewesen wären, ihr Leben für sie hingeben zu dürfen. In der Nacht vor ihrem Märtyrertod merkte man, daß sie ganz anders war. Sie durchwachte diese ganze Nacht, und die ganze Nacht brannte die Lampe in ihrem Zimmer. Das Mädchen, das die Aufsicht über sie hatte, ging mehrere Male an ihr Fenster und erblickte sie in tiefer Andacht und Gebet und sah, daß sie noch nicht zu Bett gegangen war.

Am frühen Morgen trat sie aus ihrem Zimmer und fragte, ob jemand schon wach sei. Außer dem Mädchen, das sie bewachte, schlief aber noch alles. Dieses sah sie zum Ziehbrunnen gehen, Wasser schöpfen, und sah wie sie sich den ganzen Leib mit kaltem Wasser wusch. Dann legte Qurratu’l-Ayn ein neues weißes seidenes Gewand an und salbte sich mit wohlriechenden Essenzen. Das Mädchen sagte: „Ich war erstaunt darüber, sie schien mir gleich einer Braut, die im Begriff ist, mit dem Bräutigam zusammenzutreffen.“ Als dann am Morgen die Sonne aufgegangen war, erzählte das Mädchen den Frauen des Haushalts, was in der Nacht vorgegangen war. Eine Weile darauf schickte Qurratu’l-Ayn nach allen Frauen des Haushalts und sagte: „Ich möchte Euch allen Lebewohl sagen.“ Sie fragten: „Wo gehst Du hin? Wir hoffen, daß es eine gesegnete Reise ist.“ Und sie sagte: "Ja, und eine lange dazu.“ Sie versuchten, zu erfahren, wohin sie ginge, aber sie wollte es nicht sagen. Sie sagte nur: „Ihr werdet es bald erfahren.“ Den ganzen Tag über bat sie alle um Verzeihung, sogar die Kinder.

Bei Sonnenuntergang kam Kalanter in das Haus. Er ließ Qurratu’l-Ayn zu sich kommen, und sie sprachen im Geheimen miteinander, so daß niemand hören konnte, über was sie sich unterhielten. Unmittelbar darauf verließ Kalanter das Haus, und sein Neffe kam. Da stand Qurratu’l-Ayn auf, legte ihren Schleier an, wendete sich zu ihm und sagte: „Ja, ich weiß, wohin Du mich bringst. Da bin ich, ich bin bereit.“ Der junge Mann, der sie zu holen gekommen war, sagte: „Ja, ich bin gekommen, Dich mit mir in den Garten von Sardar Ajudan Bashi zu nehmen. Mein Onkel hieß mich, einen persischen Ueberwurf über Dich zu werfen, damit niemand sieht, daß Du eine Frau bist, Dich auf ein Pferd zu setzen und zu jenem Garten zu bringen.“ Diese Maßregeln traf man aus Furcht, daß wenn ihnen auf dem Weg zufällig die Babis begegneten, sie die Frau mit sich fortnehmen würden.

Kurz: er sagte: „Ich brachte sie mit zwei Dienern zum Garten. Ich brachte sie hier in einen Raum in der Nähe des Gartentores und begab mich zum Sardar. Ich meldete ihm, ich hätte die Frau gebracht, wie er gewünscht habe. Ich erbat mir dann von ihm ein Anerkenntnis, daß er sie in seine Obhut übernommen habe, das ich Kalanter bringen wollte. Der Sardar verhielt eine Weil in Gedanken und sagte dann: „Ich werde Dir die Empfangsbestätigung nicht geben, ehe Du nicht selbst gesehen hast, zu welchem Ende es geschehen.“ Im Augenblick, als ich dies hörte, merkte ich, daß man im Begriff war, sie zu töten, und mir schauderte. Es war sehr niederdrückend für mich, und ich wünschte, sie wäre nicht durch mich hieher gebracht worden. Der Sardar rief einen seiner vertrauten Diener, der ein ganz hübscher junger Mann zu sein schien. Er zog sein seidenes Taschentuch heraus, händigte es diesem Diener aus und sagte: „Ich bin Dir sehr zugetan und werde dem Schah gegenüber alles rühmend erwähnen, was Du geleistet hast. Ich hätte nun gern, daß Du etwas Geringfügiges für mich tust. Es befindet sich eine Frau hier über uns, die sich von der Religion abgewendet hat, die Gott und die Religion des Islam verleugnet hat. Der Schah zürnt ihr sehr. Nimm dies Taschentuch, erdrossle sie damit und komme dann wieder hieher.“ Der junge Mann ergriff das Taschentuch, ohne Näheres über sie zu wissen, und ging weg, [Seite 61] um seinen Auftrag zu vollziehen. Der Sardar bat mich, dem Jüngling zu folgen und zu sehen, ob es getan sei. Ich folgte ihm, und als wir zur Tür von dem Zimmer kamen, in dem Qurratu’l-Ayn weilte, öffnete ich und sagte zu ihm: „Hier ist die Frau, gehe hinein.“ In dem Augenblick, als ich die Tür öffnete, erblickte ich Qurratu’l-Ayn in tiefer Andacht und tiefem Gebet. Als der Diener des Sardar das Zimmer betrat, trocknete Qurratu’l-Ayn ihre Augen und lächelte den Jüngling an. Ihr mitleidiger Blick durchdrang sein Herz und rührte ihn tief. Sie sagte mit klarer Stimme zu ihm: „Habe Mitleid mit Deiner Jugend. Du bist im Begriff, eine Sünde zu begehen, die Dir niemand vergeben wird. Dein eigener Herr wird Dich morgen gleichfalls töten.“ Diese feierliche Warnung war zuviel für den jungen Mann. Er wurde vollkommen überwältigt von ihren Worten. Er konnte es nicht mehr aushalten, rannte in voller Aufregung aus dem Zimmer und eilte zu dem Sardar. Diesem erklärte er: „Nein, ich will sie nicht töten. Ich will dieses Verbrechen nicht begehen. Ich bin bereit, mich von Dir töten zu lassen, wenn Du es gern tust.“ Als der Sardar dies hörte, wurde er sehr zornig über ihn, nahm ihm das Taschentuch ab und entließ ihn auf der Stelle aus seinem Dienst.

Nach diesem Vorfall wandelte der Sardar einige Zeit in tiefem Nachdenken im Zimmer auf und ab. Er hatte einen schwarzen Diener, dem er seit einiger Zeit zürnte, und den er ins Gefängnis geworfen hatte. Er ließ diesen schwarzen Diener holen, und als er vor ihm erschien, fing er an, ihn heftig zu tadeln. Dann sagte er: „Du bist jetzt eine Weile im Gefängnis gewesen. Hast Du jetzt genug davon?“ Der farbige Diener warf sich zu Boden und sagte: „Ich will tun, was Dir gefallen wird, mir zu befehlen.“ Da zog der Sardar etwas Geld aus seiner Tasche, warf es vor hin und sagte: „Nimm, und geh und verbrauche es, wie Du willst.“ Als der Diener sich entfernen wollte, redete ihn der Sardar wieder an und sagte: „Ich glaube, Du hast lange Zeit nicht den Genuß eines Getränkes gehabt,“ und bot ihm dann ein Glas Wein an. Der Diener verbeugte sich, nahm das Glas und trank. Der Herr schenkte ihm noch einmal ein, und der Diener trank mit großer Gier. Als er sah, daß der Diener leicht berauscht war, reichte ihm der Sardar das seidene Taschentuch und befahl: „Begib Dich damit in jenes Zimmer und erdrossle die Frau dort, die wahnsinnig ist und sich von der Religion abgewendet hat.“ Er ging hin, die Tat zu vollbringen. Der Diener betrat ruhig, ohne sich etwas merken zu lassen, das Zimmer, wo Qurratu’l-Ayn war. Er legte ihr ganz unversehens das Taschentuch um den Nacken und erdrosselte sie; und als sie bewußtlos war, nahm er sie auf seine Schultern und trug sie in den Garten. Obwohl sie noch lebte, warf er sie in einen Brunnen. Er bat die Gärtner, ihm zu helfen, den Brunnen aufzufüllen. So wurde sie lebendig in dem Brunnen begraben. Eine Zeitlang wurde, gemäß dem Befehl Kalanters und dem Wunsche des Schahs, das Schicksal von Qurratu’l-Ayn geheim gehalten, denn einerseits fürchtete man die Babis, andererseits war es im Islam nicht üblich, eine Frau wegen Abtrünnigkeit von der Religion zu töten. Aber später wurde das Geheimnis ihres Schicksals offenbar. Die Verwandten von dem Sardar und von Kalanter pflegten von ihr mit Trauer zu sprechen und allmählich wurde es bekannt, daß Qurratu’l-Ayn den Märtyrertod erlitten hatte.“



Die Erzieher der Menschheit.

Nach der Bahái (Licht)-Lehre gibt es in jedem Menschen zwei Naturen, eine geistige und eine materielle. In seiner geistigen Natur bringt er Liebe, Barmherzigkeit, Freundlichkeit, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit zum Ausdruck, in seiner materiellen: Zorn, Leidenschaft, Weltsinn, Stolz, Lügenhaftigkeit, Heuchelei, Frömmelei, Betrügerei und Eigenliebe.

Die göttliche Erziehung führt den Menschen zur Erringung göttlicher Eigenschaften, denn in diesem Zustande wird er die Erfüllung des Wortes; „Lasset Uns Menschen machen, ein Bild, das Uns gleich sei.“ Die Bibel sagt, daß der natürliche Mensch nichts von diesen göttlichen Eigenschaften vernimmt, und sie nicht erkennen kann. Goethe läßt den Geist im „Faust“ erklären: „Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!"

Nach der Bahái-Lehre ist der menschliche Geist unfähig, Gott zu erfassen. Er mag Fortschritte machen, so viel er will, er sieht die göttlichen Eigenschaften doch nur in der erschaffenen Welt, aber nicht in der Welt Gottes.

Die Bahái-Botschaft lehrt, daß Gott zu allen Zeiten ein großes Licht zu uns sendet, durch welches wir neues Leben, neue geistige Eigenschaften empfangen können. Gleich einem mächtigen Magneten der Liebe berührt es die Herzen der Menschen, leuchtet in die Höhlen der Unwissenheit hinein, zerstreut die Dunkelheit des Aberglaubens und löscht die Irrlichter der falschen Lehren aus. Die Bahái-Lehre sagt, daß die Lehre aller Propheten dieselbe ist. Es ist ein Glaube, ein göttliches Licht, das durch sie in die Welt strahlt. Ihre äußere Erscheinung ist verschieden, aber ihre Eigenschaften sind dieselben. In ihrer [Seite 62] geistigen Macht bringen sie die Vollkommenheit Gottes zum Ausdruck. Die Körper sind nur Werkzeuge für das Wesen des Geistes. In den hl. Schriften finden wir daher viele Stellen, in denen die Gottgesandten nach dem Wesen ihres Geistes wie eine Person betrachtet werden, obgleich sie sich der Person, und dem Namen nach, sowie hinsichtlich der Zeit und des Ortes ihres Erscheinens wesentlich voneinander unterscheiden. „Und (so ihr’s wollt annehmen) er ist Elias, der da soll zukünftig sein.“ (Matth. 11,14) „Nach welcher Seligkeit haben gesucht und geforschet die Propheten, die von der zukünftigen Gnade auf euch geweissagt haben und haben geforschet, auf welche und welcherlei, Zeit deutete der Geist Christ, der in ihnen war, und zuvor bezeugt hat die Leiden, die in Christo sind und die Herrlichkeit darnach.“ (1. Petri 1, 10—11.)

Das einemal ist es das Gewand von Abraham und Moses, das andremal das von Jesus und Bahá’u’lláh. Die Einheit aller dieser Offenbarungen erkennen, heißt nach der Bahái-Lehre wahre Erleuchtung erlangen. 'Abdu'l-Bahá sagt: „Wie die Christen an Moses glauben, so sollten die Juden Jesus Christus anerkennen. Wie die Mohammedaner an Christus glauben und die Christen an Moses, so sollten auch die Juden und Christen Mohammed annehmen.“ In Matth. 24 ist von der Wiederkunft Christi die Rede. Unter „Wiederkunft“ ist die Wiederkehr der Offenbarung dieser hl. Wirklichkeit zu verstehen. Aber die „Wiederkunft“, wie sie im Sinne des Volkes erwartet wird, ist etwas Unverständliches, weil diese Annahme den Naturgesetzen zuwider ist, auf denen Gott Seine Schöpfung gegründet hat.

'Abdu'l-Bahá sagt: „Die Zeichen und Ereignisse, die vorausgesagt wurden, haben eine symbolische Bedeutung, sind also nicht wörtlich zu nehmen. Wenn z. B. gesagt ist, daß die Sterne vom Himmel fallen werden, so ist zu bedenken, daß es unzählige Sterne gibt, und die neuzeitliche Astronomie hat festgestellt und wissenschaftlich erhärtet, daß der Sonnenball etwa 1 1/2 Millionen mal größer als die Erde ist, und daß manche Fixsterne tausendmal größer als die Sonne sind.

Sollten diese Sterne auf die Erde fallen, wie könnten sie daselbst Raum finden? Es wäre etwa so, wie wenn tausend Millionen Himalaya-Gebirge auf ein Senfkorn fielen. Wissenschaftlich und vernünftig gedacht ist so etwas ganz unmöglich. Was noch bedeutungsvoller ist, sind die Worte Christi: ‚Das Kommen des Menschensohns ist wie das Kommen des Diebs in der Nacht! Vielleicht ist schon der Dieb im Hause, und des Hauses Herr weiß nichts davon.‘

Es ist klar und verständlich, daß diesen Zeichen eine symbolische Bedeutung zu Grunde liegt, und daß sie nicht wörtlich zu nehmen sind. Sie sind erschöpfend in Kitab el Ighan erklärt.“

Christus sagte: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“ In Offenbarung 22, 17 lesen wir: „Der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es hört, der spreche: Komm! Und wen dürstet, der komme, und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst!“ Amos 8, 11 lautet: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, daß Ich einen Hunger in das Land schicken werde. Nicht einen Hunger nach Brot oder Durst nach Wasser, sondern nach dem Wort des Herrn zu hören.“

An alle geistig Hungrigen und Durstigen ergeht die frohe Botschaft, daß in der Persönlichkeit von Bahá’u’lláh ein neuer Gottgesandter erschienen ist, dessen geistige Nahrung, allen denen, die an ihr teilnehmen, Friede, Freude, Leben, Sicherheit, Gewißheit, Vertrauen, Zuversicht und Willensstärke verleiht. Durch die Macht Seines göttlichen Wortes durchdringt Er die Hüllen der Selbstsucht, den Mittelpunkt unseres Wesens und entzündet eine Flamme der Liebe, die alle Schranken der Trennung hinwegschmilzt und des Menschen Geist für den Geist Gottes öffnet.

Heute ergeht wie vor 1900 Jahren an die irregeführte Menschheit der Ruf: „Kommt zu mir, o Menschenkinder, kommt zu mir, die ihr durstig seid und trinket von dem süßen Wasser, welches auf alle Teile der Erde in Strömen herabfließt.“ Von dieser himmlischen Tafel geht keiner, der hungrig und durstig ist, unbefriedigt weg. Der uns Verheißene ist gekommen, und der „Engel Seiner Gegenwart“ hat die Welt vom Tode errettet.

(Zusammengestellt von Karl Klitzing.)


Endevours for Knowledge throughout the world.

I. Although we positively know, that science and religion will in future have the same results, we could nevertheless, apart from promising signs, hardly notice that this principle is about to be realized.

But now for the attentive observer the signs increase, that a change is at hand. The true belief in God necessitates the belief in a life after death. As long as people believe that there is no life after death, [Seite 63] and that life is merely one proper object, they consequently cannot believe in God, nor can they believe that He created the world still less so, as they are unaware, why man was created, as Bahá’u’lláh writes in His Hidden Words: „God was a hidden treasure and He wanted to be known.“ But now we everywhere perceive signs of progress of the Para-psychology, the knowledge of the existence of the soul after death, in science. Here and there we hear, that well-known scientists are studying the occult phenomens and do not always see fraud in the effects, but find a serious source of knowledge in it. It is very important that scientists and teachers of the socalled exact sciences should enter into these investigations.

A new testimony of the triumph of the increase of knowledge is the introduction of a new „Magazin for Parapsychology“. Well-known scientists in Germany, Italy, England and America are working at this paper.

Month after month we hear of new successes in this sphere. Therefore it is remarkable that a short time ago the English „Society for Psychical Research" was obliged to acknowledge, the positive result of the investigations in this matter. This is all the more important as this English Society, notwithstanding its great merits in the study of the parapsychologic phenomens refused to acknowledge the truth of the socalled physical phenomens.

The far reaching consequences of these newly discovered facts of certain scientific fundamental theories of life will not be long asserting themselves. Especially philosophy will have to learn by it.

II. Disgraceful as it is to humanity, that it should be necessary to speak about God and that every human heart is not His impregnable stronghold all the more satisfactory it is that considering prevailing conditions settlements take place between affirmative and negative directions. At the „Monistenbund Stuttgart“ Professor Hartwig a short time ago lectured on the subject „God, how He lived and how He died“. There is nothing to be said about this lecture. The subject alone condemns him. In as much as Monism is right, in denying dualism of „spirit and matter“ in as much it is a mistake to seek unity in matter instead of in the spirit. But it is very important for us to remark that this lecture was the cause of a counterlecture on the same subject: „God lives and works“. But it would be too much to go into details. It is sufficient for us to stick to the fact. The second lecture proves, that general knowledge is progressing. In course it was made clear, that Religion and Church must not be confounded with one another. The unity of the world will lead to a mutual understanding of the individuality of other nations. But a certain spiritual pride has hitherto been opposed to this mutual understanding between the old and the new world — Europe and America. For a long time Europe would not admit that America had an independant tendency of its own culture and spirit. People clung to the theory, that the novelties which America introduced to the good old spirit of the mothercountries, consisted in vain utilitarianism which is destructif to the sound foundation of traditional European culture. New Europe is realizing on the contrary that just on the spiritual plane old Europe has much to learn from America.

The „Stuttgarter Neues Tagblatt“ writes on this subject on Febr. ı2th 1926: It would be wrong and absolutely out of the way to permit the German nation to regard the teaching, which commenced to be unfolded to us during the war and after the war as worth nothing more than merely civilisation as a development and improvement of wordly goods and to ignore the fact that it is a question of a new form of culture full of higher educational gifts. It is the world of absolute acknowledgment of the right of free research without prejudice, of the absolute right of free personality of the unconditional claim of the principle of equality of all social classes of the state, the principle of absolute fairness as chief maxim in all human dealings of society state and economy and in consequence also of self-administration and of the right of self-determination. It is the world, which has carried humanity from one successtoanother by thouroughly studying the powers of nature and the [Seite 64] spirit, which caused us to open the sealed book of the bygone history of mankind and of the bann of superstitutions, dogmas and prejudices and caused mankind to face his surroundings openly, which brought a change in the groundwork of the states and of the hidden forces of nature, which broke the whole world; which severed the chains of slavery and with a clear conscience joined rising moneyed economy, whilst Lutherism ond Katholicism shut thems:lves out from this world; and which therefore brought about fabulous industrial and. economic development amongst the nations and gave arise to the idea of a peace-organisation in the league of nations. This world. is not rooted in vain utilitarism and Americanism, but in a firm theory of life.

K.


Verlag des Deutschen Bahai-Bundes Stuttgart

Fernsprecher S. A. 23996 — — Postscheckkonto 25419 Stuttgart — — Hölderlinstrasse 35

In unserem Verlag sind erschienen:

1. Die Geschichte der Bahai-Bewegung, von S. S. Deutsch von Wilhelm Herrigel. Dritte Ausgabe . . . -.20

2. Bahai-Perlen, Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . . -.20

3. Ehe Abraham war, war Ich, v. Thornton Chase. Deutsch v. W.Herrigel . . . . -.10

4. Das heilige Tablet, ein Sendschreiben Baha’o’llahs an die Christenheit. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . -.10

5. Die Universale Weltreligion. Ein Blick in die Bahai-Lehre von Alice T, Schwarz . . . . -.50

6. Die Offenbarung Baha’u’llahs, von J.D. Brittingham. Deutsch von Wilhelm. Herrigel . . . -.50

7. Verborgene Worte von Baha o’llah. Deutsch v. A. Braun u. E. Ruoff . . . 1.--

8. Baha’u’llah, Frohe Botschaften, Worte des Paradieses, Tablet Tarasat, Tablet Taschalliat, Tablet Ischrakat. Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Halbleinen gebunden . . . 2.--

in feinstem Ganzleinen gebunden . . . . . 2.50

9. Einheitsreligion. Ihre Wirkung auf Staat, Erziehung, Sozialpolitik, Frauenrehte und die einzelne Persönlichkeit, von Dr. jur. H. Dreyfus, Deutsch von Wilhelm Herrigel. Neue Auflage . . . -.50

10. Die Bahaibewegung im allgemeinen und ihre großen Wirkungen in Indien, von Wilhelm Herrigel . . . . -.50

11. Eine Botschaft an die Juden, von Abdul Baha Abbas. Deutsch von Wilhelm Herrigel . . . -.15

12. Abdul Baha Abbas, Ansprachen über die Bahailehre. Deutsch von Wilhelm Herrigel,

in Halbleinen gebunden . . . . . 2.50

in feinstem Ganzleinen gebunden. . . . . 3.--

13. Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahaireligion, von Mirza Abul Fazl. Deutsch von W. Herrigel,

in Halbleinen geb. . . . . 4.--

In Ganzleinen gebunden . . . . 4.50

14. Abdul Baha Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps.

Deutsch von Wilhelm Herrigel, in Ganzleinen gebunden . . . . 3.50

15. Das Hinscheiden Abdul Bahas, ("The Passing of Abdul Baha") Deutsch von Alice T. Schwarz . . . -.50

16. Das neue Zeitalter von Ch. M. Remey. "Deutsch von Wilhelm Herrigel —.50

17. Die soziale Frage und ihre Lösung im Sinne der Bahailehre von Dr. Hermann Grossmann . . —.20

18. Die Bahai-Offenbarung, ein Lehrbuch von Thornton Chase, deutsch von W. Herrigel, kartoniert M. 4.--, in Halbleinen gebunden M. 4.60


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Anfragen, schriftliche Beiträge und alle die Schriftleitung betreffenden Zuschriften beliebe man an die Schriftleitung: Stuttgart, Alexanderstr. 3 zu senden :-: Bestellungen von Abonnements, Büchern und Broschüren sowie Geldsendungen sind an den Verlag des Deutschen Bahaibundes Stuttgart, Hölderlinstraße 35 zu richten.


Druck: Wilhelm Heppeler, Stuttgart.


[Seite 65]

Geschichte und Bedeutung der Bahailehre.

Die Bahai-Bewegung tritt vor allem ein für die „Universale Religion" und den „Universalen Frieden“ — die Hoffnung aller Zeitalter. Sie zeigt den Weg und die Mittel, die zur Einigung der Menschheit unter dem hohen Banner der Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit führen. Sie ist göttlich ihrem Ursprung nach, menschlich in ihrer Darstellung, praktisch für jede Lebenslage. In Glaubenssachen gilt bei ihr nichts als die Wahrheit, in den Handlungen nichts als das Gute, in ihren Beziehungen zu den Menschen nichts als liebevoller Dienst.

Zur Aufklärung für diejenigen, die noch wenig oder nichts von der Bahaibewegung wissen, führen wir hier Folgendes an: „Die Bahaireligion ging aus dem Babismus hervor. Sie ist die Religion der Nachfolger Baha ’Ullahs, Mirza Hussein Ali Nuri (welches sein eigentlicher Name war) wurde im Jahre 1817 in Teheran (Persien) geboren. Vom Jahr 1844 an war er einer der angesehensten Anhänger des Bab und widmete sich der Verbreitung seiner Lehren in Persien. Nach dem Märtyrertod des Bab wurde er mit den Hauptanhängern desselben von der türkischen Regierung nach Bagdad und später nach Konstantinopel und Adrianopel verbannt. In Bagdad verkündete er seine göttliche Sendung (als „Der, den Gott offenbaren werde") und erklärte, daß er der sei, den der Bab in seinen Schriften als die „Große Manifestation", die in den letzten Tagen kommen werde, angekündigt und verheißen hatte. In seinen Briefen an die Regenten der bedeutendsten Staaten Europas forderte er diese auf, sie möchten ihm bei der Hochhaltung der Religion und bei der Einführung des universalen Friedens beistehen. Nach dem öffentlichen Hervortreten Baha ’Ullahs wurden seine Anhänger, die ihn als den Verheißenen anerkannten, Bahai (Kinder des Lichts) genannt. Im Jahr 1868 wurde Baha ’Ullah vom Sultan der Türkei nach Akka in Syrien verbannt, wo er den größten Teil seiner lehrreichen Werke verfaßte und wo er am 28. Mai 1892 starb. Zuvor übertrug er seinem Sohn Abbas Effendi (Abdul Baha) die Verbreitung seiner Lehre und bestimmte ihn zum Mittelpunkt und Lehrer für alle Bahai der Welt.

Es gibt nicht nur in den mohammedanischen Ländern Bahai, sondern auch in allen Ländern Europas, sowie in Amerika, Japan, Indien, China etc. Dies kommt daher, daß Baha ’Ullah den Babismus, der mehr nationale Bedeutung hatte, in eine universale Religion umwandelte, die als die Erfüllung und Vollendung aller bisherigen Religionen gelten kann. Die Juden erwarten den Messias, die Christen das Wiederkommen Christi, die Mohammedaner den Mahdi, die Buddhisten den fünften Buddha, die Zoroastrier den Schah Bahram, die Hindus die Wiederverkörperung Krischnas und die Atheisten — eine bessere soziale Organisation.

In Baha ’Ullah sind alle diese Erwartungen erfüllt. Seine Lehre beseitigt alle Eifersucht und Feindseligkeit, die zwischen den verschiedenen Religionen besteht; sie befreit die Religionen von ihren Verfälschungen, die im Lauf der Zeit durch Einführung von Dogmen und Riten entstanden und bringt sie alle durch Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Reinheit in Einklang. In der Bahaireligion gibt es keine Priesterschaft und keine religiösen Zeremonien. Ihr einziges Dogma ist der Glaube an den einigen Gott und an seine Manifestationen (Zoroaster, Buddha, Mose, Jesus, Mohammed, Baha ’Ullah),

Die Hauptschriften Baha ’Ullahs sind der Kitab el Ighan (Buch der Gewißheit), der Kitab el Akdas (Buch der Gesetze), der Kitab el Ahd (Buch des Bundes) und zahlreiche Sendschreiben, genannt „Tablets“, die er an die wichtigsten Herrscher oder an Privatpersonen richtete. Rituale haben keinen Platz in dieser Religion; letztere muß vielmehr in allen Handlungen des Lebens zum Ausdruck kommen und in wahrer Gottes- und Nächstenliebe gipfeln. Jedermann muß einen Beruf haben und ihn ausüben. Gute Erziehung der Kinder ist zur Pflicht gemacht und geregelt. Niemand ist mit der Macht betraut, Sündenbekenntnisse entgegenzunehmen oder Absolution zu erteilen.

Die Priester der bestehenden Religionen sollen den Zölibat (Ehelosigkeit) aufgeben, durch ihr Beispiel predigen und sich im praktischen Leben unter das Volk mischen. Monogamie (die Einehe) ist allgemein gefordert, Streitfragen, welche nicht anders beigelegt werden können, sind der Entscheidung des Zivilgesetzes jeden Landes und dem Bait’ul’Adl oder „Haus der Gerechtigkeit“, das durch Baha ’Ullah eingesetzt wurde, unterworfen. Achtung gegenüber jeder Regierungs- und Staatseinrichtung ist als einem Teil der Achtung, die wir Gott schulden, gefordert. Um die Kriege aus der Welt zu schaffen, ist ein internationaler Schiedsgerichtshof zu errichten. Auch soll neben der Muttersprache eine universale Einheits-Sprache eingeführt werden. „Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die Tropfen eines Meeres“ sagt Baha ’Ullah.

Es ist also weniger die Einführung einer neuen Religion, als die Erneuerung und Vereinigung aller Religionen, was heute von Abdul Baha erstrebt wird. (Vgl. Naveau Larousse, illustré supplement, p. 66.)