Sonne der Wahrheit/Jahrgang 19/Heft 9-10/Text

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SONNE
DER
WAHRHEIT
 
 
Zeitschrift für Weltreligion und Welteinheit
Organ der Bahá’í
in Deutschland und Oesterreich
 
 
Heft 9-10 19. Jahrgang November-Dezember 1949
 


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Die Bahá’i-Weltreligion

Der Glaube, der von Bahá’u’lláh begründet wurde, entstand in Persien um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Nach längerer Verbannung des Gründers, zuletzt nach der türkischen Strafkolonie von Akka, und späterhin nach Seinem Tod und Seiner Beisetzung in Akka, hat der Glaube sein endgültiges Zentrum im Heiligen Land gefunden und ist jetzt im Begriff, die Grundlagen seines Verwaltungszentrums für die ganze Welt in der Stadt Haifa aufzubauen.

Wenn man seinen Anspruch, wie er unmißverständlich durch seinen Begründer verfochten wurde, und die Art des Wachstums der Bahá’i-Gemeinde in allen Teilen der Welt betrachtet, so kann dieser Glaube nicht anders angesehen werden als eine Weltreligion, die dazu bestimmt ist, sich im Laufe der Zeiten in ein weltumfassendes Gemeinwesen zu entwickeln. Dessen Kommen muß das goldene Zeitalter der Menschheit ankündigen, das Zeitalter, das die Einheit des Menschengeschlechtes unerschütterlich begründet, seine Reife erreicht und seine Bestimmung durch die Geburt und das Errichten einer alles umfassenden Zivilisation erfüllen wird.


Neue Darlegung ewiger Wahrheiten

Obwohl dem schiitischen Islam entsprungen und in den ersten Entwicklungsphasen von den Anhängern des mohammedanischen und des christlichen Glaubens nur als eine obskure Sekte, ein asiatischer Kult oder ein Ableger der mohammedanischen Religion betrachtet, beweist dieser Glaube nunmehr in wachsendem Maße sein Anrecht auf eine andere Beurteilung als nur die eines weiteren religiösen Systems, das den sich bekämpfenden Glaubensbekenntnissen, die so viele Geschlechter lang die Menschheit zerspalten und ihre Wohlfahrt verwüstet haben, sich zugesellt hat. Vielmehr ist er eine neue Darlegung der ewigen Wahrheiten, die allen Religionen der Vergangenheit zugrunde liegen, und eine einigende Macht, die den Anhängern dieser Religion einen neuen geistigen Elan einflößt, eine neue Hoffnung und Liebe zur Menschheit und sie durch eine neue Vision befeuert, die der grundsätzlichen Einheit der religiösen Lehren, und vor ihren Augen die herrliche Berufung ausbreitet, die dem Menschengeschlecht winkt.

Die Anhänger dieses Glaubens stehen fest zu dem grundlegenden Prinzip, wie es von Bahá’u’lláh verkündet worden ist, daß religiöse Wahrheit nicht absolut, sondern relativ ist, daß Gottesoffenbarung ein fortdauerndes und fortschreitendes Geschehnis ist, daß alle großen Religionen der Welt göttlich in ihrem Ursprung sind, daß ihre Grundsätze zueinander in völligem Einklang stehen, daß ihre Ziele und Absichten eine und dieselben sind, daß ihre Lehren nur Widerspiegelungen der einen Wahrheit sind, daß ihr Wirken sich ergänzt, daß sie sich nur in unwesentlichen Teilen ihrer Lehren unterscheiden und daß ihre Sendungen aufeinanderfolgende geistige Entwicklungsstufen der Menschheit darstellen.


Zur Versöhnung der sich streitenden Bekenntnisse

Die Ziele Bahá’u’lláh’s, des Propheten dieses neuen und großen Zeitalters, in das die Menschheit eingetreten ist — denn Sein Kommen erfüllt die Prophezeiungen des Neuen und Alten Testamentes wie auch des Koran, die sich auf das Erscheinen des Verheißenen am Ende der Zeiten, am Tage des Gerichtes beziehen — sind nicht die Zerstörung, sondern die Erfüllung der Offenbarungen der Vergangenheit und viel mehr die Versöhnung als die Betonung der Gegensätze der sich streitenden Glaubensbekenntnisse, welche die heutige Menschheit noch zerreißen.

Er ist weit davon entfernt, die Stufe der Ihm vorausgegangenen Propheten herabsetzen oder ihre Lehren schmälern zu wollen. Vielmehr will Er die Grundwahrheiten, die in allen diesen Lehren beschlossen sind, in einer Weise aufs neue darlegen, wie sie den Nöten der Menschheit entsprechen und auf ihre Fassungskraft abgestimmt sind und auf die Fragen, Leiden und Verwirrungen der Zeit, in der wir leben, angewendet werden können.

Seine Sendung ist: zu verkünden, daß die Zeiten der Kindheit und Unreife des Menschengeschlechtes dahin sind, daß die Erschütterungen; der heutigen Stufe der Jugend langsam und schmerzvoll sie zur Stufe der Reife vorbereiten und das Nahen jener Zeit der Zeiten verkünden, da die Schwerter in Pflugscharen umgewandelt werden und das von Jesus Christus verheißene Reich begründet wird und der Friede auf diesem Planeten endgültig und dauernd gesichert ist. Auch stellt Bahá’u’lláh nicht den Anspruch auf Endgültigkeit Seiner eigenen Offenbarung, sondern erklärt vielmehr ausdrücklich, daß ein volleres Maß der Wahrheit, als Ihm von dem Allmächtigen für die Menschheit in einem so kritischen Zeitpunkt gestattet wurde, in den späteren Phasen der endlos weiterschreitenden Menschheitsentwicklung enthüllt werden muß.


Einheit des Menschengeschlechtes

Der Bahá’i-Glaube hält die Einheit Gottes hoch, anerkennt die Einheit Seiner Propheten und betont vor allem den Grundsatz der Einheit und Ganzheit aller Menschenrassen. Er verkündet, daß die Einigung der Menschen notwendig und unvermeidbar ist, hebt hervor, daß wir uns ihr schrittweise nähern und stellt die These auf, daß nichts anderes als der verwandelnde Geist Gottes, der durch Sein erwähltes Sprachrohr an

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SONNE DER WAHRHEIT
Zeitschrift für Weltreligion und Welteinheit
Heft 9-10
Preis: DM —.80
NOVEMBER-DEZEMBER 1949
Qudrat - Masá’il - Kraft- Fragen (106)
19. JAHRGANG
Leitgedanken: Einheit der Menschheit - Universaler Friede - Universale Religion

Inhalt: Gebet von 'Abdu'l-Bahá — Einheit zwischen Wissenschaft und Religion — Ährenlese — Göttliche Lebenskunst — Gedicht — Der verheißene Tag ist gekommen — „Die Bahá’i“.


GEBET[Bearbeiten]

O Du Allmächtiger Gott! Erfülle die Freunde im Abendlande mit dem Odem Deines Heiligen Geistes und erleuchte den Horizont des Westens mit dem Lichte Deiner Führung. Bringe die Fernstehenden uns nahe. Verwandle den Fremdling in einen liebevollen Freund. Erwecke die Schlafenden und erleuchte die Gedankenlosen.

O Du glorreicher Gott! Bestärke und unterstütze diese edlen Freunde mit Deinem gütigen Wohlgefallen. Gib, daß sie gütig seien gegen Freunde und Fremde. Führe sie ein in die Welt des ewigen Königreiches. Lasse sie teilhaben an dem Lebensstrom aus dem Reiche der Macht. Mache sie zu Förderern des Wohlstandes und des ruhigen Gemütes unter den Menschen und zu Dienern des allgemeinen Friedens. Laß alle trunken sein vom Wein Deiner Gebote und Ermahnungen und verleihe allen edle Sitten und gutes Betragen auf dem Pfade Deiner Lehre.

'Abdu'l-Bahá



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EINHEIT ZWISCHEN WISSENSCHAFT UND RELIGION[Bearbeiten]

Von G.A.Shook, Ph.D., F.R.S.A., Prof. der Physik, Wheaton College, Norton, Massachusetts, USA.*)


Das Problem

Wenn der Agnostiker sagt, er könne nicht an die Religion glauben, weil sie im Gegensatz zur Wissenschaft stehe, so ist er sich wahrscheinlich nicht ganz im klaren über die Natur der wahren Religion und die Ausrichtung der modernen Wissenschaft.

Der alte Streit zwischen Wissenschaft und Religion war in Wirklichkeit eine Auseinandersetzung zwischen dem Aberglauben, der in der mittelalterlichen Kirche begründet war, und den Entdeckungen der Wissenschaft, die den Ursprung des Menschen und des Weltalls betrafen. Während eine liberale Religion den größten Teil dieses Aberglaubens abgetan hat, hat sie es doch versäumt, den lebendigen Glauben an Gott zu erneuern, und außerdem unternahm sie nichts, um irgend eines unserer großen sozialen Probleme zu lösen.

Unser Problem ist nicht das des Mittelalters und noch weniger das Problem des neunzehnten Jahrhunderts. Damals war die Intelligenz völlig davon überzeugt, daß die Wissenschaft eine Antwort auf die meisten Fragen unseres Lebens bereit hätte, aber die Massen standen der Wissenschaft noch skeptisch gegenüber. Heutzutage glauben die Massen, daß die wissenschaftlichen Kenntnisse die einzigen zuverlässigen Kenntnisse seien, während die Intelligenz sich der Grenzen der Wissenschaft und ihres Versagens, eine harmonische Welt zu schaffen, bewußt ist.

Zu unserer Zeit ist das Problem wesentlich durch zwei bedeutende Faktoren abgewandelt worden, erstens durch das Erscheinen der göttlichen Offenbarung im Bahá’i-Glauben und zweitens durch die Erkenntnis, daß die Wissenschaft sich mit der Welt der konkreten Wahrnehmungen (der Welt, die wir durch unsere Sinne kennen) befaßt und nicht mit der abstrakten Welt der inneren Erfahrungen. Zusammenfassend kann man sagen, unser Problem ist: die geoffenbarte Erkenntnis mit der empirischen oder wissenschaftlichen Erkenntnis zu versöhnen.


Die Welt der Wissenschaft

In einer Welt, die von der Wissenschaft beherrscht wird, ist es nicht weiter überraschend, daß diejenigen, die sich für Religion interessieren, die Unterstützung der Wissenschaft suchen. Wenn wir aufzeigen können, daß eine Art Einheit besteht zwischen den geistigen oder sozialen Gesetzen, die uns durch die Offenbarung gegeben wurden, und den Gesetzen der Wissenschaft, dann können wir nicht nur die Übereinstimmung zwischen Religion und Wissenschaft beweisen, sondern die Religion wird gleichzeitig durch die Wissenschaft ihre Bestätigung erhalten.

Die Wissenschaft behandelt unveränderliche Gesetze, Gesetze, die nicht durch der Menschen Einflüsse oder Wünsche ausgeschaltet werden können. In der physikalischen Welt können wir sehr oft vorhersagen, was in einer gegebenen Situation geschehen wird. Wenn wir zum Beispiel eine Kraft auf einen Körper einwirken lassen, [Seite 131] beschleunigen wir seine Bewegung. Umgekehrt, wenn keine Kraft auf einen Körper einwirkt, verbleibt er im Ruhezustand oder bewegt sich mit gleicher Geschwindigkeit fort. Nun können wir sagen, daß im Bereiche der Moral ähnliche Verhältnisse vorliegen. Wenn wir uns ein moralisches Gesetz näher ansehen, können wir auch vorhersagen, und das mit wissenschaftlicher Genauigkeit, was geschehen wird. Wir könnten sogar sagen, wenn wir etwas logischer und wissenschaftlicher wären, würden wir aufrichtiger, entsagungsvoller und uneigennütziger sein. Die Erfahrung beweist uns allerdings nicht, daß dies in allen Fällen zutrifft. Und weiter, wenn auch bewiesen werden könnte, daß diese Art der Einheit zwischen Wissenschaft und Religion wirklich besteht, so würde dies doch nicht bedingen, daß des Menschen Glauben an die Religion bestärkt werden würde. In Wirklichkeit würde er sich vielleicht eher den Pfad der Wissenschaft als den der Religion wählen. Und tatsächlich, wenn wir uns die Grausamkeiten vor Augen führen, die im Namen der Religion verübt wurden, so wäre es offensichtlich weit besser, der Wissenschaft anzuhängen, denn die Wissenschaft war nie der Grund für irgendwelche Kriege oder Streitigkeiten wie die Religion es war.

Freilich behauptet hie und da ein Wissenschaftler, daß der Mensch die moralischen und sozialen Gesetze genau so entdecken könnte, wie er die wissenschaftlichen Gesetze entdeckt. Diese Meinung ist sehr alt, die Geschichte zeigt aber deutlich genug, daß ihr jegliche Grundlage fehlt. Der erfahrenere Wissenschaftler von heute beschränkt die Wissenschaft auf das Gebiet der Materie und der Energie und überläßt die Fragen der Werte und menschlichen Beziehungen einem anderen Erkenntniskreise. Damit wird das Problem der Werte und menschlichen Beziehungen wohl nicht gelöst, doch aber der Weg für die geoffenbarte Erkenntnis - im Gegensatz zur wissenschaftlichen Erkenntnis — offengehalten. Und somit werden religiöse Werte nicht dem Urteil der Wissenschaft unterworfen.


Grundlegende Postulate

Wir dürfen ein paar Dinge nicht vergessen, wenn wir die Einheit zwischen Religion und Wissenschaft besprechen.

Die Religion hat ihre Lebenskraft verloren. Die bestehenden Religionen haben insofern versagt, als sie keinerlei Art von Weltbürgertum oder organischer Einheit schufen und außerdem versäumten, den Menschen geistig neu zu beleben. Die Wissenschaft versagte bei der Lösung unserer wichtigsten politischen und sozialen Probleme. Die Wissenschaft hatte auf ihrem eigenen Gebiet, der materiellen Welt, große Erfolge. Dieser Erfolg wird durch die Tatsache bestimmt, daß der Wissenschaftler seine Gedanken bei wissenschaftlichen Forschungen nicht durch persönliche Wünsche oder Gefühle beeinflussen läßt. Dies soll nun nicht heißen, daß der Mensch, weil er seine Gedanken von allem befreit, was ihn von der wissenschaftlichen Forschung ablenken könnte, nur eine Denkmaschine ist, der jegliches Verständnis für Kunst, Musik oder moralische Werte abgeht. Andererseits bedeutet das auch nicht, daß der Geist, der gegen jegliche Ablenkungen gefeit ist, unbedingt immer richtige Schlußfolgerungen träfe. Die Philosophen [Seite 132] und Wissenschaftler des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts glaubten wahrscheinlich, daß dem Geist niemals irgendwelche gröberen Fehler unterlaufen könnten, und dies mag ein Grund mit sein, weswegen sie der Wissenschaft so allgemeine Gültigkeit verliehen.

Schließlich müssen wir zugeben, daß, nachdem die wissenschaftliche Erkenntnis in unserem Zeitalter die einzige universal anerkannte ist, es ziemliche Schwierigkeiten bereitet, der geoffenbarten Erkenntnis eine Bahn zu brechen. Der natürlichen Geistesrichtung entspricht es, religiöse Werte durch Begriffsbestimmungen wissenschaftlicher Werte zu erklären. Dieses Vorurteil ist selbstverständlich nur das Produkt unserer Kultur des sinnlich Wahrnehmbaren, aber vielen würde jede andere Annäherung an die Religion unvernünftig erscheinen. Die Schwierigkeiten dürften jedoch mehr in der Einbildung als in Wirklichkeit bestehen.

Wenn wir den ursprünglichen Unterschied zwischen Wissenschaft und Religion sorgfältig betrachten und dann die Religion in das Gebiet der menschlichen Erfahrungen verlegen, wohin sie ja auch gehört, werden wir finden, daß es die Wissenschaft und nicht die Religion ist, die unserem Erfahrungsbereich fremd ist. Dies ist trotz allem ein vernunftsgemäßer Standpunkt.

Die Neubelebung der Religion durch die Bahá’i-Religion und das Schwinden der mechanistischen Auffassung in der Wissenschaft ermöglichen es uns, die Frage der Einheit zwischen Wissenschaft und Religion neu zu stellen. Wir wollen uns zuerst vor Augen führen, was die Wissenschaft kann, und was sie nicht kann.


Die wissenschaftliche Methode und das Entstehen der mechanistischen Auffassung

Einige wenige Gesichtspunkte über die Methoden und Ziele der Wissenschaft sind hier wohl nicht fehl am Platze. Jedem Fachmann sind sie mehr oder weniger bekannt, aber nicht dem Durchschnittslaien. Der letztere weiß z.B., daß es in dem frühen christlichen Zeitalter praktisch keine Wissenschaft in Europa gab und daß im Mittelalter die Wissenschaft ständig im Kampfe mit der Theologie stand. Er weiß aber wahrscheinlich nicht, daß die experimentellen Methoden im Islam und nicht im christlichen Europa entwickelt wurden und daß bis zum 13. Jahrhundert der Islam die schöpferischste Kraft in Europa war.

Er glaubt wahrscheinlich, daß die wissenschaftliche Erkenntnis die einzig zuverlässige Erkenntnis sei, und daß das Anpacken eines Problems von der wissenschaftlichen Seite her allein einen sicheren Erfolg seiner Lösung verspreche. Der Wissenschaftler ist für den Laien ein vernunftsbestimmtes, analytisches Wesen, dessen Leben vollkommen darin aufgeht, Beobachtungen zu machen, unter Kontrolle stehende Versuche durchzuführen und Gesetze aufzustellen, auf denen die moderne westliche Zivilisation hauptsächlich beruht, die er in jeder Hinsicht für hochwertiger hält als alles Vergangene im Abendlande oder Morgenlande. Er, der Wissenschaftler, ist das genaue Gegenteil des temperamentvollen Künstlers, der gefühlsbetont, unbeständig und eigenbrötlerisch ist. Und sicherlich besteht keine Gemeinsamkeit zwischen ihm und dem mystischen Philosophen, der glaubt, daß die Meditation oder Versenkung für [Seite 133] jede schöpferische Arbeit unerläßlich sei.

Die Tatsache besteht allerdings, daß keine große wissenschaftliche Entdeckung ohne tiefgreifende Überlegungen gemacht wurde. Die Geschichte der Wissenschaft hat unzählige Beispiele dafür. Die Idee über das Gesetz der Schwerkraft kam Newton, als er allein in einem Garten saß. Wie einer seiner Freunde uns berichtet, verfiel er in Nachdenken über die Schwerkraft. Der Wissenschaftler ist in den Augenblicken der Versenkung vom religiösen Mystiker nicht allzu verschieden.

Damit haben wir nun eine grundlegende Einheit zwischen Wissenschaft und Religion. Die schöpferische Kraft des Wissenschaftlers und die schöpferische Kraft des religiösen Genius kommen beide von einer übermenschlichen und von der Vernunft nicht erfaßbaren Macht.

Inspiration und Einfühlungsvermögen sind für die Wissenschaft so notwendig wie für dieschöpferische Kunst oder die schöpferische Musik. Beobachtungen zeigen, daß die meisten Neuentdeckungen, neuen Ideen und neuen Gedankenverbindungen sich in Zeitpunkten des Ausspannens einstellen, d.h. wenn die Gedankenarbeit beinahe ruht und der Mensch sich in einem sich selbst erlebenden Zustand befindet. Andererseits können die Methoden der Wissenschaft nicht auf Kunst und Musik oder Religion angewendet werden, da diese, wie wir sehen werden, in das Gebiet anderer Werte gehören.

Der Wissenschaftler wird oft als ein selbstloser Idealist hingestellt, der nur die Suche nach der Wahrheit kennt, der er folgen wird, wo immer sie ihn auch hinführen möge. Dies trifft zweifellos zu, aber er würde wohl kaum große Fortschritte machen, wenn er nicht etwas Konkreteres vor Augen hätte als dieses ziemlich vage Ziel.

Die Wissenschaft beschäftigt sich mit der Beobachtung der materiellen Welt, führt unter Kontrolle stehende Versuche durch und findet auf diesem Weg Naturgesetze. Wir gehen von der Annahme aus, daß eine Wirklichkeit hinter allem steht und wir zeichnen Bilder, um sie wiederzugeben, aber wir haben keine Möglichkeit, festzustellen, ob diese Bilder mit dieser Wirklichkeit übereinstimmen, oder ob sie nur der Ausfluß unserer Einbildung sind. Doch helfen sie uns die Welt der Erscheinung zu erkennen, und mehr will die Wissenschaft nicht. Wir stellen nicht die Gleichheit der Welt der Erscheinung mit der Welt der Wirklichkeit fest, aber wir leugnen nicht deren Existenz. Die Welt der Erscheinung ist die Welt, die wir durch unsere Sinne erkennen.


Mathematische und wissenschaftliche Hypothesen

Die Vorgänge, mit denen sich die Physik befaßt, können in zwei Gruppen eingeteilt werden.

Einige Vorgänge versuchen wir mit Hilfe von einfachen, abstrakten Hypothesen zu erklären, bei anderen wieder wären solche Hypothesen überflüssig. In Newtons Tagen wurden die meisten beim Licht beobachteten Eigenschaften durch die Annahme erklärt, daß ein Lichtstrahl aus winzigen, unsichtbaren Teilchen bestehe. Im Anfangsstadium der Wellentheorie nahmen wir an, daß aller Raum mit einer hypothetischen Substanz, Äther genannt, erfüllt ist. Dinge, wie Lichtpartikelehen und Äther, nennt man wissenschaftliche Hypothesen. Um die Pendel- oder [Seite 134] Schwingungsgesetze zu entdecken, brauchen wir keine Hypothesen. Newtons universales Gesetz über die Anziehungskraft kann durch Schlußfolgerung von Keplers Gesetzen ohne die Hilfe einer Hypothese abgeleitet werden. Wie im Vorhergehenden schon angedeutet wurde, ist zur Ableitung dieses Gesetzes etwas mehr nötig, als die gewöhnlichen Methoden, die der breiten Masse allgemein bekannt sind.

In jedem Falle, ob eine Hypothese angewendet wird oder ob sie überflüssig ist, möchten die Menschen gerne die Wirklichkeit entdecken, die allem zu Grunde legt. Begabte Menschen aller Zeiten versuchten die Wirklichkeit hinter den Vorgängen zu entschleiern, aber wie wir sehen werden, so viel wir bis jetzt wissen, ist der Weg dazu verschlossen. Vielleicht schauen wir einmal in späteren Zeiten auf dieses Streben wie auf eine reine Wahnvorstellung zurück.

Das Ziel der Wissenschaft, hauptsächlich der Physik, ist, das Warum und das Wie der materiellen Welt zu entdecken. So gibt es Vorgänge in der materiellen Welt, die der Beobachtung und dem Experiment zugänglich sind. Es gibt z. B. die sogenannten physikalischen Eigenschaften wie Länge und Maße, die mit Instrumenten meßbar sind. Die Wissenschaft befaßt sich mit dieser Art der Erkenntnis. Sehr allgemein ausgedrückt, müssen wir zwischen der wissenschaftlichen Erforschung und dem - in Ermangelung eines besseren Ausdrucks können wir vielleicht sagen — wissenschaftlichen Objekt unterscheiden. Die wissenschaftliche Forschung kann auf alle Erkenntnisgebiete angewendet werden, denn sie ist ungehemmte Erforschung der Wahrheit. Es gibt jedoch viele Tatsachen in unserem Leben, die man nicht als wissenschaftliche Objekte behandeln kann. Ästhetisches Bewerten, Liebe und Demut sind ebenso wirklich wie die wissenschaftlichen Tatsachen, aber sie können nicht wie die wissenschaftlichen Objekte direkt oder indirekt gemessen werden, noch können wir ihre Stärke durch wissenschaftliche Methoden bestimmen.


Mathematische Formeln und ihre Begrenzung

Im Falle des Sonnensystems können wir keine Hypothese benützen, um die Kraft, die die Planeten bewegt, zu erklären. Dieser Vorgang ist scheinbar einfacher als jener, der eine Hypothese verlangt, aber in Wirklichkeit können wir nichts weiter dabei tun, als mathematische Gesetze aufstellen, die dem Astronomen verständlich sind, aber für den Laien keine Bedeutung haben.

Einige der alten Griechen wie Philolaos (470-399 v.Chr.), Heraklit (388-310 v.Chr.), Aristarch (270-? v.Chr.) und Eratosthenes (275-194 v. Chr.) waren den richtigen Vorstellungen in den Hauptzügen auf der Spur, aber diese Ideen gingen dem christlichen Europa verloren. Wie wir wissen, erweckte Kopernikus den griechischen Kosmos zu neuem Leben, aber es waren Astronomen wie Tycho Brahe, Kepler, Galilei und Newton, die der Theorie über die Planeten ihre endgültige Form gaben. Außerdem legten diese Männer den Grundstein der modernen Wissenschaft.

Tycho Brahe sammelte ein ungeheuer reichhaltiges Material über die Planeten. Sein Zeitgenosse Kepler, der nicht so sehr ein Beobachter war, übernahm diese Angaben und leitete aus ihnen seine berühmten Gesetze ab. Sie geben uns Hinweise über die [Seite 135] Planetenbahnen, wie der Planet sich auf seiner Bahn bewegt und wie seine Umlaufzeit mit seiner durchschnittlichen Entfernung zusammenhängt. Und doch sind diese Gesetze, wie meistens festgestellt wird, nur mathematische Darstellungen. Sie bilden kein Verbindungsglied zwischen unseren Ermittlungen und der Bewegung der Planeten selbst.

Es ist eine historische Tatsache (die meisten Quellenwerke erwähnen nichts hierüber), daß Kepler ergründen wollte, was die Planeten zu ihrer Bewegung veranlaßt. Und zwar spielte sich das zur Zeit Gilberts ab, der als erster richtige Versuche über den Magnetismus anstellte, lange vor Newton und seinem universalen Gesetz der Gravitation. Gilbert hatte bewiesen, daß die Erde ein Magnet ist, und Kepler nahm an, daß die Sonne und die Planeten auch Magneten seien. Er ging noch weiter und baute eine Theorie des Magnetismus über die Planetenbewegung auf. Diese Theorie war phantastisch, aber schließlich ein Schritt weiter zu einer Erklärung.

Wird die Planetenbewegung durch den Magnetismus erklärt, so sind wir der hinter den Tatsachen verborgenen Wirklichkeit etwas näher gekommen, obgleich die magnetische Kraft noch ein Geheimnis ist. Heutzutage neigen wir eher dazu, sie als eine vom menschlichen Geist konstruierte Theorie zu betrachten. Kepler, wie alle Wissenschaftler, war nicht damit zufrieden, die Planeten einem mathematischen Gesetz folgen zu sehen, und so stellte er seine eigenen Überlegungen an. Seine magnetische Theorie hat für uns heute ihren Wert verloren, und das ist wahrscheinlich der Grund dafür, warum sie niemand mehr erwähnt. Sie hatte jedoch beinahe dreiviertel Jahrhundert lang einige Gültigkeit, und wir dürfen nicht vergessen, daß seine Überlegungen sich auf streng wissenschaftlichen Bahnen hielten.

Der nächste große Schritt wurde von Newton getan. Er konnte von Keplers Gesetzen sein berühmtes Gesetz der universalen Gravitation ableiten. Newton führte den Begriff der Kraft ein. Er vertrat die Ansicht, daß die Kraft, die den Apfel vom Baum auf die Erde fallen läßt, die gleiche sei, die die Himmelskörper auf ihrer Bahn festhält. Mit seinen drei Bewegungsgesetzen und seinem universalen Gravitationsgesetz war es ihm möglich, die Grundbedingungen der Mechanik der Himmelskörper festzulegen.

Dem Anschein nach bekommen wir durch all diese Ergebnisse einen Einblick in die Ursache der Bewegung der Himmelskörper. Bei weiten die Mehrzahl derjenigen, die mit Newtons Arbeiten vertraut sind, wird sagen, daß er die Schwerkraft (Anziehungskraft) erklärt hat, und trotzdem sind wir heute der Auffassung, daß er die Kraft im eigentlichen Sinne nicht erklärt hat. Wir wissen nicht, warum der Apfel von der Erde angezogen wird. Newtons Gravitationsgesetz spricht von dem Ergebnis, aber nicht von der Natur der Kraft. Wenn wir einen Gegenstand bewegen wollen, geben wir ihm einen Stoß. Wenn der Gegenstand jedoch außerhalb unserer Reichweite und nichts zwischen ihm und unserer Hand ist, wird er sich sicherlich nicht bewegen. Nein, das Schwerkraftgesetz gibt uns auch keine Erklärung dafür, warum der Mond Ebbe und Flut auf der Erde verursacht.

Wir sagen, die Anziehungskraft sei der Materie eigen, aber das hilft uns nicht viel weiter. Newton kannte alle diese Schwierigkeiten. Hätte er [Seite 136] angenommen, der Raum sei mit einem Medium (Äther) erfüllt und nicht leer, so hätte er die Anziehungskraft - unter der Voraussetzung gewisser Eigenschaften des Raumes - erklären können, Tatsächlich zog Newton die Möglichkeit eines Äthers in Betracht, aber er versuchte nicht, eine Theorie auf dieser Basis aufzubauen. Aus irgendwelchen unbekannten Gründen werden diese Betrachtungen Newtons über den Raum zwischen den Körpern in den Quellenwerken nicht erwähnt, und doch bezieht sich gerade dieser Teil seines so wichtigen Werkes auf unser Thema.

Bei Einsteins umfassender Relativitätstheorie scheint sich die Kraft zu verflüchtigen, und damit ist die Frage einer Reaktion über eine Entfernung hinweg schon erledigt. Newton ließ die Schwerkraft sich durch den Raum hindurch auswirken, während sie sich bei Einstein auf den Raum auswirkt, aber, wie Jeans bemerkt, „dies schiebt die Schwierigkeiten nur hinaus“. Wir haben eine neue Beschreibung, aber keine Erklärung der Kraft.


Die wissenschaftliche Hypothese und ihre Begrenzung

So viel über mathematische Formulierungen. Nun wollen wir uns der Art von Erscheinungsbildern zuwenden, die durch Hypothesen erklärt werden.

Sehr einfache Erscheinungen, wie die Verdampfung von Wasser oder Kampfer beweisen, daß die Materie nicht kompakt ist, sondern aus einzelnen Teilchen besteht, die sehr klein sein müssen, da sie selbst mit dem stärksten Mikroskop nicht zu sehen sind.

Wenn wir uns mit Gas im geschlossenen Raum beschäftigen, erklären wir seinen Druck mit der Annahme, daß das Gas aus Partikelchen besteht, die gegen die Wand des Kessels geschleudert werden. Sie müssen natürlich auch hier winzig klein sein, aber was ihnen an Masse fehlt, ersetzen sie durch ihre Anzahl und Geschwindigkeit,so daß der beobachtete Druck sich in ausreichendem Maße erklärt. Das moderne Atom ist, wie wir wissen, noch entschieden komplizierter. Es erinnert in mancher Hinsicht an das Sonnensystem, jedoch ist dieses, wie wir schon gezeigt haben, die Einfachheit selbst. Man braucht keine Hypothese zu seiner Darstellung, sondern es gibt uns in gewissem Sinne eine Hypothese für das Atom.

Dem Leser wird die Struktur des modernen Atoms mehr oder weniger bekannt sein, und wir brauchen uns damit nicht zu befassen, aber wir sollten immer daran denken, daß diese moderne Atom-Hypothese im wahrsten Sinne des Wortes eine Schöpfung unserer Einbildungskraft ist. Wir haben keinen Beweis dafür, daß das planetare Elektron um das Proton als Kern kreist. Wir haben jedoch experimentelle Beweise, daß das Elektron existiert und daß wahrscheinlich auch bestimmte Atomarten bestehen. Dies scheint die Annahme der Existenz eines Atom-Vorbildes zu bestätigen, eine Annahme, die etwas mehr ist als nur ein abstrakter Begriff. Trotzdem sind die Eigenschaften des experimentellen Atoms nicht dazu geeignet, komplizierte Naturerscheinungen zu erklären.


Die moderne Einstellung gegenüber den wissenschaftlichen Hypothesen

Die modernen Wissenschaftler neigen dazu, die Atom-Hypothese und andere Hypothesen wie den Äther für [Seite 137] Schöpfungen unserer Einbildungskraft zu halten, die als solche wichtig sind für den Fortschritt der Wissenschaft. Sie sind geschaffen, um bestimmte Erscheinungen darzustellen. Jedes Spezialgebiet hat seine eigene Hypothese. Unter den verschiedenen Hypothesen finden wir manchmal Widersprüche. Einige Eigenschaften des Lichtes z. B. können wir mit der Partikeltheorie, andere mit der Wellentheorie erklären. Selbst in diesem eng abgegrenzten Gebiet haben wir keine Annahme, die allen Eigenschaften gerecht wird.

Für unsere Untersuchung ist es außerordentlich wichtig, sich die grundlegenden Änderungen unserer Anschauung in bezug auf Hypothesen vor Augen zu halten. Das Hauptziel der Physiker aus der viktorianischen Zeit war, Hypothesen zu schaffen, die alle Erscheinungen der Natur darstellten. Wenn eine Hypothese eine Erscheinung nachbilden konnte, dann stimmte sie vermutlich überein mit der Wirklichkeit, die hinter der Erscheinung stand. Die moderne Wissenschaft ist sich klar darüber, daß dies unmöglich ist. Jeans erinnert uns daran, daß die Physik uns nur „ein Abbild der Naturerscheinungen“ vermitteln kann. Schließlich haben wir nur fünf Sinne und unser Denken bewegt sich in mechanischen Begriffen. Die moderne Physik hat bewiesen, daß die mechanischen Hypothesen nicht imstande sind, die Natur vollkommen zu erklären. Wir haben gesehen, daß Newtons Gravitationsgesetz die Kraft nicht erklärt. Die tiefste Wirklichkeit der Natur können wir nicht durch wissenschaftliche Hilfsmittel begreifen, und die fundamentalen Vorgänge in der Natur können durch Annahmen nicht erklärt werden. Wenn eine exakte Wissenschaft wie die Physik uns nur Bruchstücke der Wahrheit vermitteln kann, besteht wenig Hoffnung, daß irgendein anderer Zweig der Wissenschaft mehr erreicht.

All dies bringt uns wieder einem Punkt näher, wo sich Wissenschaft und Religion die Hand reichen können. Die tiefste Wirklichkeit des Menschen und der Natur liegt jenseits der menschlichen Fassungskraft.

Die Bahá’i-Religion betont immer wieder die Tatsache, daß der Mensch weder die Wirklichkeit des Unendlichen noch in Wahrheit sein eigenes Sein verstehen kann. Mit Worten von Bahá’u’lláh ausgedrückt: „Wenn du deine Ohnmacht erkannt hast, zu einem vollständigen Begreifen der Wirklichkeit, die in dir wohnt, zu gelangen, dann wirst du bereitwillig die Nutzlosigkeit solcher Anstrengungen zugeben, die von dir oder irgend einem anderen erschaffenen Wesen gemacht werden mögen, um das Geheimnis des lebendigen Gottes zu ergründen ...“ Er weist dann noch auf das wahre Ziel des Menschen hin: „Dieses Bekenntnis der Machtlosigkeit, zu dem jedes tiefe Nachdenken den menschlichen Geist schließlich zwingt, ist an sich der Gipfel menschlichen Verstehens und bezeichnet den Höhepunkt menschlicher Entwicklung.“

Wir müssen uns stets bewußt sein, daß die Unfähigkeit der Wissenschaft, die Wirklichkeit der Natur zu erklären, nicht bedeutet, daß die Wissenschaft versagt hätte. Sie hat wohl auf diesem besonderen Gebiet versagt, aber sie hat jetzt eingesehen, daß diese Suche jenseits der wissenschaftlichen Erkenntnis liegt. Dies beweist uns, daß wir auf dem Wege zur Reife sind und nicht das Gegenteil der Fall ist.

Die großen Geister eines jeden Zeitalters wie Plato und Newton waren [Seite 138] frei von diesem krassen Materialismus, dem kleine Geister verfallen sind, und heutzutage führt die Tendenz auch wieder von der rein mechanistischen Auffassung des Menschen hinweg.

Der Fortschritt der Wissenschaft hängt ab von Beobachtung, Versuch und Folgerung.

Beim Aufstellen von Theorien sind zwei Wege erforderlich, das Ableiten (vom Allgemeinen zum Einzelnen) und das Hinleiten (vom Einzelnen auf das Ganze). Schließlich verlangt jede schöpferische wissenschaftliche Tätigkeit sowohl Einbildungskraft und Einfühlungsvermögen als auch durch die Sinne Wahrgenommenes.

Aus dem Vorhergesagten geht hervor, daß sich die Wissenschaft nur mit der Welt der Erscheinungen befaßt. Sie gibt zu, daß es einen Bereich der Werte gibt, einen Bereich, der vollkommen getrennt und unabhängig ist von der Wissenschaft. Die Wissenschaft hat nichts über Güte, Schönheit oder Wahrheit zu sagen, sie kann keine „Werturteile“ fällen. Heutzutage mag der Mensch an das Göttliche glauben, wenn er will, es ist nicht unwissenschaftlich. Die Wissenschaft hat in der Tat nichts zu sagen über das, was jenseits des Verstandes und der Sinneswahrnehmungen liegt.


Die Welt der Werte

Die äußere Welt, die uns so wirklich und körperhaft erscheint, können wir nur durch Schlußfolgerungen erkennen. Die Welt der Werte erkennen wir jedoch unmittelbar und nicht durch Schlußfolgerungen. Wir folgern nicht, daß wir ein bestimmtes Bild lieben. Wenn wir glücklich sind, genügt uns unser eigenes Zeugnis, um dies festzustellen, wir brauchen nicht zu beweisen, daß wir glücklich sind,

Während wir für gewöhnlich zwischen der Welt der Wissenschaft und der Welt der Religion unterscheiden, mag es uns hier eine Hilfe sein, wenn wir eine Grenzlinie ziehen zwischen der Welt der Wissenschaft und der Welt der Werte, d.h. der Welt der Kunst, Musik und Literatur. Die Sprache der wissenschaftlichen Welt ist symbolisch und den meisten von uns recht fremd, aber die Sprache der Welt der Werte ist uns vertrauter und verständlicher.

Im Reiche der Musik, Kunst und Literatur (dem Reich der Werte) haben wir weder den Glauben verloren noch unsere Schau vom wissenschaftlichen Fortschritt verdunkeln lassen, wie es auf religiösem Gebiet der Fall ist. Wir haben sogar nicht einmal die Welt der Werte der wissenschaftlichen Zerlegung unterworfen. Die Welt der Werte ist ebenso wirklich wie die Welt der Wissenschaft. Die ästhetische Bewertung trägt ihre Bestätigung in sich selbst, und wir brauchen sie nicht zu begründen.

Wir dürfen nun die Religion nicht nur als eine der Ausdrucksformen in der Welt der Werte betrachten, denn sie ist der Ursprung aller Werte; trotzdem sollten wir, wenn wir uns mit der Religion befassen, mehr in Wertbegriffen als in wissenschaftlichen Begriffen denken. Wir sollten unsere Entsprechungen in der Welt der Werte und nicht in der Welt der Wissenschaft suchen. Das Problem der geoffenbarten Erkenntnis wird beträchtlich einfacher, wenn Religion und Werte verbunden werden.

Indem wir so eine umfassendere und grundlegendere Anschauung der Religion im Auge behalten, wollen wir sie in das Reich der Werte einbeziehen, das Reich, das ästhetische Wahrheiten umschließt, die wir für [Seite 139] gewöhnlich mit der Kunst, und ethische Wahrheiten, die wir mit der Religion verbinden.

Im tiefsten Sinne ergänzen sich die Gebiete der Wissenschaft und der Religion, jedes hat eigene Aufgaben. Die Wissenschaft kann nie die Religion ersetzen. Andererseits können keine nennenswerten Fortschritte in der Wissenschaft erreicht werden, wenn die Welt nicht geistig erleuchtet wird.

Der Leser mag nun einwenden, daß wir trotz unseres krassen Materialismus eine der größten Entdeckungen aller Zeiten, nämlich die der Atomenergie, gemacht haben. Atomphysiker betrachten jedoch diese ganze Entwicklung nicht als grundlegendes Forschen. Im Bericht des Direktors des Amerikanischen Instituts für Physik lesen wir: „Die führenden Köpfe der Atombombenforschung nahmen trotz des ungeheuren Kraft- und Zeitaufwandes nicht für sich in Anspruch, beträchtliche Fortschritte in der Grundlagenforschung der Physik gemacht zu haben. Sie fürchten vielmehr, daß die Erwägungen hinsichtlich des Lebens in der Vermassung und des Massensterbens künftighin der freien Forschung und Veröffentlichung Steine in den Weg werfen können; und ohne diese Freiheit ist die Entwicklung der Wissenschaft im Dienste der Menschheit unmöglich.“

Die Wissenschaft begnügt sich mit der Kenntnis des Warum und Wie. Sie befaßt sich nicht mit dem Problem der menschlichen Werte, kann jedoch, indem sie die nutzbringenden Tätigkeiten des Menschen fördert, indirekt die religiöse Welt unterstützen, wie auch Empfindungen zur wissenschaftlichen Erkenntnis beitragen, obwohl sie an sich wenig Wert und Interesse für die wissenschaftliche Welt haben.

Hier ist ein weiterer Punkt der Einheit zwischen Wissenschaft und Religion: die soziale Weiterentwicklung hängt vom Fortschritt der Wissenschaft und vom Fortschritt der Religion ab.

Unsere Kenntnis von der religiösen Welt wird nicht durch wissenschaftliche Untersuchungen gewonnen noch durch irgend etwas, das ihnen gleicht, sondern vielmehr durch ein inneres Gewahrwerden oder Erfassen. Die Wertschätzung eines Kunstwerkes wird natürlich durch Sachkenntnis gesteigert. Wir setzen voraus, daß es so etwas wie einen guten Geschmack gibt, trotz der Debatten über seine Regeln. Um einen Maßstab für die Ablehnung oder Bewunderung eines Kunstwerkes zu finden, müssen wir wissen, was als gut oder schlecht bezeichnet wird. In gewissem Sinne zergliedern wir auch ein Gedicht oder eine Symphonie, aber doch wieder nicht auf dieselbe Weise wie unsere materielle Umwelt. In der Welt der Religion suchen wir nach dem wahren Wert, d.h. nach dem Sinne des Ganzen. Wir befassen uns daher mit der Ergänzung und der Synthese und nicht mit der Analyse wie in der Wissenschaft. Die Wissenschaft kümmert sich nicht um richtig oder falsch, sie kennt keine moralische Wertung. Sie befaßt sich auch nicht mit Schönheit oder Häßlichkeit. Die Wissenschaft muß unpersönlich sein, und ihre unerhörten Erfolge verdankt sie zum großen Teil der Tatsache, daß sie unpersönlich war.

Das soll nun nicht heißen, daß der Mensch diese Haltung allen Wirklichkeiten des Lebens gegenüber bewahren muß oder kann. Sogar der exakteste Wissenschaftler steht dem Wert nicht völlig gleichgültig gegenüber. Täte er es, würde er wahrscheinlich [Seite 140] sein Werk nicht weiterführen. Etwas in ihm drängt ihn, auf seiner Suche nach einem Verstehen des Naturreiches zu beharren. Und in einem anderen Bereich seines intellektuellen oder geistigen Rüstzeuges mag er eine Art von Zwang fühlen, der Religion nachzuforschen. Auf seiner Suche nach der Religion legt er oft sein wissenschaftliches Rüstzeug zur Seite, was nicht heißen soll, daß er gelehrter oder reifer sei auf dem einen oder dem anderen Gebiet. Kritiker, denen es an Verständnis für die Sendung der Religion bei der Entwicklung der Menschen fehlt, finden meistens die Tatsache beklagenswert, daß sich einige hervorragende Wissenschaftler von den harten, nüchternen Gegebenheiten abzuwenden scheinen und das Gefühl sprechen lassen. Solch eine Haltung verrät einen vollkommenen Mangel an Wertschätzung dessen, was jenseits des Verstandes und der Sinneswahrnehmungen liegt.


Geoffenbarte Erkenntnis und das Problem alles Erlebens

Für den durchschnittlich intelligenten, denkenden Menschen ist göttliche Offenbarung zu wenig vernunftsgemäß, als daß er ihr ernstliche Aufmerksamkeit schenken würde. Er mag an das Vorhandensein einer übermenschlichen Macht glauben, die einigen Einfluß auf das Leben ausübt, oder an eine unpersönliche übernatürliche Kraft, die das Weltall beherrscht. Er mag sogar Beweise für die Existenz eines Gottes in solchem Sinne beibringen. Solange er aber nicht nach etwas sucht, das jenseits steht von allen bestehenden Begriffslehren, wird er es doch sehr schwer, wenn nicht unmöglich, finden, zu glauben, daß eine große geistige Kraft (außerhalb des Menschen) auf diesen Planeten kommen und Herzen und Gewissen der Menschheit ändern könnte. Und er wird es wahrscheinlich für noch schwieriger halten, zu glauben, daß neue Gesetze und Grundsätze (für eine neue Sozialordnung) der Menschheit je geoffenbart werden könnten. Doch zu gleicher Zeit ist er sich bewußt, daß, wenn das scheinbar Unmögliche nicht eintrifft, die soziale Ordnung zerfallen könnte.

Die bestehenden Religionen bieten ihm nur wenig Beistand. Die liberale Religion hat den Offenbarungsgedanken schon vor langem verworfen. Das konservative Element in jeder von Propheten begründeten Religion versagt der geoffenbarten Wahrheit in allen anderen Religionen die Anerkennung. Die orthodoxen Sekten der Christenheit haben jetzt eingesehen, daß eine Art von Einheit in der Christenheit bestehen muß, aber andere Glaubensrichtungen lassen sie noch völlig außer acht. Die liberalen Sekten, besonders die extrem liberalen, sehen über eine christliche Einheit hinweg die Welteinheit, aber im allgemeinen können sie sich nicht vorstellen, daß die Menschheit zu einem universalen Glauben durch das Mittel göttlicher Offenbarung kommen könnte.

Vielleicht hat sich diese Zwangslage durch des Menschen einseitige Betrachtung seiner Erfahrungen ergeben. Er neigt dazu zu glauben, daß es innerhalb seines Erfahrungsbereiches nichts gibt, was mit der Offenbarung in Beziehung steht. Wie kann er dann die Kluft zwischen seiner Erfahrung und der geoffenbarten Erkenntnis überbrücken? Das Leben ist ein beständiger Kampf zwischen dem inneren Selbst und der Umgebung. Manch [Seite 141] einer, der die Möglichkeit übersinnlicher Erkenntnis leugnet, würde in die Religion einzudringen versuchen, wenn er erkennen könnte, daß sie nicht unvereinbar ist mit seiner Erfahrung. In den Grenzen seines kulturellen Bereiches ist er ehrlich und aufrichtig.

Wie wir schon gezeigt haben, gibt es im wahrsten Sinne genommen, doch nichts in unserer Erfahrung, das mit der wissenschaftlichen Wahrheit in Beziehung steht. Der Wissenschaft ist es nicht gelungen, die uns verborgene Wirklichkeit der Natur in Form von mechanischen Formeln zu erklären, und für den durchschnittlichen Leser sind mathematische Zeichen genau so beziehungslos wie die Vorstellung von der Offenbarung.

Andererseits ist uns die Idee der geoffenbarten Wahrheit nicht gänzlich fremd, aber wir müssen in Begriffe aller Erfahrungsgebiete denken, nicht nur in denen der Wissenschaft, wie wir es zu gerne tun, wenn es sich um die Religion handelt. Wir haben die Bedeutung der Welt der Werte besonders betont, gerade weil der Mensch dort noch ziemlich wenig Erfahrungen hat.

Wenn wir uns der Welt der Werte zuwenden, entdecken wir zwei Dinge, die sich auf unser Problem beziehen. Erstens: Regeln werden uns durch inspirierte Menschen vermittelt und nicht durch irgendein wissenschaftliches Verfahren. Zweitens: diese Regeln werden von Zeit zu Zeit erneuert.

Um dies anschaulicher zu machen, wollen wir die Musik als Beispiel heranziehen: Was wir gute Musik nennen, ist die Musik der großen Meister. Wir erklären nicht, warum die Musik von Mozart gut ist, wir nehmen seine Musik als Ausgangspunkt. Dies wurde zu seiner Zeit bis zu einem gewissen Grade von bedeutenden Musikern anerkannt, und noch viel mehr nach seinem Tode. Für Mozart, wie für jeden anderen Meister, war seine Musik das Mittel, um uns ein außerordentliches geistiges Erleben mitzuteilen. Indem wir zuhören und seine Musik zu verstehen suchen, nehmen wir in begrenztem Maße an seinem Erleben teil. Als Mozart seine erste Komposition schrieb, war er noch zu jung, um von den „Akademien“ beeinflußt zu werden. Er fühlte, daß er der Menschheit etwas zu geben hatte, und dieser Aufgabe widmete er sein Leben.

Zwei Fragen ergeben sich hier natürlich: kann man einen Menschen lehren, wie Mozart zu komponieren; und unterscheidet sich ein musikalisches Genie durch seine Art oder nur durch seinen Befähigungsgrad? Es wurde über das Warum und Wie eines Genies viel geschrieben, aber trotzdem bleibt es uns noch ein Geheimnis. Wir müssen jedoch bei jedem Wissensgebiet einige Vorbedingungen voraussetzen, die durch die Erfahrung bestätigt werden können. Das ist so ziemlich alles, was wir über die Wertstufen sagen können, aber es ist ausreichend. Wenn wir alles zusammenfassend in Betracht ziehen, dürfen wir wohl behaupten, daß das musikalische Genie sich durch seine Art unterscheidet. Die gleiche Feststellung gilt auch für die Kunst und Literatur. Wir stellen Shakespeares Stil nicht zur Debatte, er ist ein Vorbild für uns.

All dies ist unserem Denken völlig vertraut, da diese Art von geoffenbarter Erkenntnis unserer Erfahrung nicht fremd ist. Das Gebiet der Moral bildet hierbei keine Ausnahme, obwohl es wieder andere Probleme aufwirft. Der Schöpfer neuartiger Kunst oder [Seite 142] Musik verursacht, dadurch, daß er die Menschen erhebt, keine vollkommene Neubildung der Gesellschaft. Der Verkünder neuer Maßstäbe moralischer Werte und Sozialgesetze dagegen leitet eine neue Kulturepoche ein. Seine Aufgabe ist also umfassender. Es mag nun eingewendet werden, und dies wird auch oft getan, daß Maßstäbe, die moralische Werte schaffen, durch die Menschen selbst erreicht werden, und nicht durch einen geistigen Genius, wie den der großen Weltlehrer. Solch eine Behauptung ist sehr schwer zu widerlegen, obwohl sie in keiner Weise von der Geschichte bestätigt wird.

Es gibt wilde Stämme, die nicht nur himmelschreiende Bräuche dulden, sondern einige, wie Stehlen und Töten sogar als edle Tugenden betrachten. Ein Mitglied eines solchen Stammes würde sofort seine Stammeszugehörigkeit verlieren, wenn es nicht hie und da ein wenig stehlen und töten würde. Haben wir irgendwelche Urkunden von solch einer Gemeinschaft von Wilden, daß sie sich selbst durch irgendwelche technischen Mittel auf den Stand der zivilisierten Gesellschaft erhob? Wissen wir denn mit einiger Sicherheit, ob Gemeinschaften dieser Art durch die Erfahrung gelernt haben, daß eine moralisch niedere Einstellung sich auf die Dauer nicht lohnt? Ist es andererseits nicht wahr, daß der Prophet Arabiens, um nur ein Beispiel aus vielen herauszugreifen, in weniger als drei Jahrhunderten ein Volk wilder Araber auf einen hohen Zivilisationsstand erhob? Bis zum dreizehnten Jahrhundert war die Kultur des Islam das befruchtende Moment im Mittelalter.

Es ist wahr, daß keine der historischen Religionen die Gesellschaft für eine relativ lange Zeitdauer auf hoher Kulturstufe gehalten hat, aber es ist nicht weniger wahr, daß die Menschheit sich noch im Entwicklungsstadium befindet.

Wenn wir nicht auf eine Herrschaft der Weltgerechtigkeit hoffen dürfen, so sind alle anderen Werte, wie Kunst, Musik und Literatur in Wirklichkeit von sehr geringem Wert für uns. Wenn sich aber andererseits die Herrschaft der Rechtlichkeit und Gerechtigkeit durchsetzt, wird der ganze Bereich der Werte erst voll zur Entfaltung kommen.

Abschließend läßt sich also sagen: Die Maßstäbe moralischer Werte und neuer Sozialgesetze kommen uns nicht durch wissenschaftliche Zerlegung noch durch die Erfahrungen der Masse noch durch die Natur (was immer sie bedeuten möge), sondern allein durch die Offenbarung.

Alle neue Erkenntnis haben wir der Offenbarung zu verdanken. Die Offenbarung in ihrer Vollkommenheit können wir jedoch nur bei prophetischen Religionen finden.

Nun erhebt sich natürlich die Frage: Kann eine Offenbarung sich erneuern? Im Reiche der Musik richten wir unsere Erwartung auf eine neue Musik, und wir würden sicherlich einen neuen Beethoven oder Bach freudig begrüßen. Ebenso ist es in der Welt der Kunst, wir wären froh, einen Phidias oder Leonardo zu sehen. Dies ist jedoch bei der kirchlich erstarrten Religion nicht der Fall. Die verschiedenen religiösen Systeme mögen sich nicht vertragen, aber in einer Grundlehre sind sie sich ziemlich einig. Sie stimmen überein in der Ansicht, daß im Reiche der Religion die Offenbarungen vorüber sind. Dies ist offensichtlich unvereinbar mit den Erwartungen, die bei Musik, Kunst und [Seite 143] Wissenschaft gehegt werden. Welch eine Berechtigung solch eine Lehre auch immer haben möge, auf historischen Tatsachen beruht sie nicht. Kein Begründer einer Religion hat je die Behauptung aufgestellt, daß seine Botschaft endgültig sei. Wie wir aus der Geschichte ersehen, hat diese unbegründete Behauptung mehr als die Schlechtigkeit der Menschen dazu getan, den Fortschritt der Menschheit zu hemmen. Die Wiederkehr der göttlichen Offenbarung ist genau so einleuchtend wie die Wiederbelebung von Kunst und Musik.

Die Wiedererweckung im Iran, die während der letzten hundert Jahre vor sich ging, sollte daher von größtem Interesse für den Studenten der vergleichenden Religionswissenschaft und den Studenten der Sozialwissenschaften sein. Obgleich die Zahl ihrer Anhänger noch relativ klein ist, hat sie doch schon den ganzen Erdball umspannt. Ihre Gesetze und Grundsätze, ihre Ziele und Bestrebungen passen für ein wissenschaftliches Zeitalter. Während der Mangel an Raum nicht einmal einen flüchtigen Überblick über diese Ziele erlaubt, dürfen wir doch einige davon nicht übersehen, die sich auf unser Thema beziehen.

Ganz zuerst stellt der Begründer dieses neuen Glaubens, Bahá’u’lláh, unwiderruflich fest, daß die göttliche Offenbarung fortschreitend ist. Die großen prophetischen Religionen der Vergangenheit (nicht unbedingt aber die Institutionen, die sie heute vertreten) sind alle göttlichen Ursprungs. Dies ist der Ausgangspunkt für den Glauben, daß es eine Einheit zwischen den Religionen gibt.

Das höchste Ziel dieses Glaubens ist, die organische Einheit zwischen den verschiedenen sozialen Gebieten, Tätigkeiten und Einrichtungen wieder herzustellen. Er erneuert die uralten Wahrheiten, die in der Vergangenheit so segensreich waren, und ergänzt sie mit Grundsätzen, die einem erleuchteten Zeitalter entsprechen. Mit den Worten des verstorbenen Sir Francis Younghusband ausgedrückt: „Seine Wurzeln reichen tief in die Vergangenheit zurück und gleichzeitig wendet er sich der Zukunft zu.“


*) Aus dem Englischen übertragen.



ÄHRENLESE AUS DEN SCHRIFTEN VON BAHA’U’LLAH[Bearbeiten]

Nach der englischen Übersetzung von Shoghi Effendi (New York, Bahá’i Publishing Committee 1935) ins Deutsche übertragen.

(Fortsetzung)


XXXVIII. Wisse wahrlich, daß in jeder Ausgießung das Licht göttlicher Offenbarung den Menschen im unmittelbaren Verhältnis zu ihrer geistigen Aufnahmefähigkeit gespendet wurde. Betrachte die Sonne! Wie schwach sind ihre Strahlen im Augenblick ihres Erscheinens über dem Horizont. Wie nehmen ihre Wärme und ihre Kraft allmählich zu, während sie sich ihrem Mittagspunkte nähert und unterdessen alles Erschaffene befähigt, sich der zunehmenden Stärke ihres Lichtes anzupassen. Wie gleichmäßig nimmt sie wieder ab, bis sie den Punkt ihres Untergangs erreicht hat. Würde sie plötzlich alle in ihr verborgenen Kräfte offenbaren, so würde das zweifellos allem Erschaffenen [Seite 144] Schaden bringen ... Wenn nun die Sonne der Wahrheit in den frühesten Graden ihrer Offenbarung plötzlich das volle Maß der Kräfte, das die Vorsehung des Allmächtigen ihr verliehen hat, enthüllte, so würde die Erde menschlichen Begreifens dahinschwinden und vergehen, denn die Herzen der Menschen würden weder die Stärke ihrer Offenbarung ertragen noch imstande sein, den Glanz ihres Lichtes weiterzuspiegeln. Sie würden bestürzt und überwältigt aufhören zu bestehen.

XXXIX. Preis sei Dir, o Herr, Mein Gott, für die wunderbaren Offenbarungen Deines unerforschlichen Ratschlusses und die mannigfachen Leiden und Heimsuchungen, die Du für Mich bestimmt hast. Zu einer Zeit hast Du Mich den Händen Nimrods überantwortet, zu einer andern hast Du gestattet, daß Pharaos Zuchtrute Mich peinigte. Du allein kannst durch Deine allumfassende Erkenntnis und das Wirken Deines Willens die unsagbaren Schmerzen ermessen, die Ich unter ihren Händen erduldete. Und wieder warfst Du Mich in die Gefängniszelle der Gottlosen aus dem einzigen Grund, weil Ich Mich getrieben fühlte, den wohlbegünstigten Bewohnern Deines Reiches eine Andeutung von dem Gesicht ins Ohr zu flüstern, das Du Mich durch Deine Erkenntnis schauen ließest und dessen Bedeutung Du Mir durch die Kraft Deiner Macht geoffenbart hast. Und wieder bestimmtest Du, daß Ich durch das Schwert der Ungläubigen enthauptet würde. Dann wieder ward Ich gekreuzigt, weil Ich den Augen der Menschen die verborgenen Edelsteine Deiner herrlichen Einheit enthüllte, weil Ich ihnen die wunderbaren Zeichen Deiner unumschränkten und ewigen Macht offenbarte. Wie bitter häuften sich in einem späteren Zeitalter auf der Ebene von Karbilá die Demütigungen auf Mich! Wie einsam fühlte Ich Mich inmitten Deines Volkes! Zu welch einem Zustand der Hilflosigkeit wurde Ich in jenem Land herabgewürdigt! Von solchen Schändlichkeiten noch nicht befriedigt, schlugen Meine Verfolger Mir das Haupt ab und trugen es hoch von Land zu Land, stellten es den gaffenden Blicken der ungläubigen Menge zur Schau und legten es auf den Sitzen der Verderbten und Ungetreuen nieder. In einem späteren Zeitalter wurde Ich erhängt und Meine Brust zur Zielscheibe für die Pfeile der heimtückischen Grausamkeit Meiner Gegner gemacht. Meine Glieder wurden von Kugeln durchlöchert und Mein Körper ward auseinandergerissen. Siehe endlich, wie sich an diesem Tag Meine verräterischen Feinde gegen Mich verbündet haben und dauernd darauf sinnen, das Gift des Hasses und der Bosheit in die Seelen Deiner Diener zu träufeln. Mit aller Macht schmieden sie Ränke, um ihre Absicht auszuführen. ... So bitter auch Meine Lage ist, o Gott, Mein Geliebter, Ich zolle Dir Dank, und Mein Geist ist erkenntlich für alles, was Mir auch immer auf dem Pfade Deines Wohlgefallens begegnet ist. Ich bin wohlzufrieden mit dem, was Du für Mich verordnet hast und heiße — wie betrübend sie auch sein mögen - die Schmerzen und Leiden willkommen, die Ich erfahren muß.

XL. O mein Geliebter! Du hast Mir Deinen Odem eingeblasen und Mich von Meinem Selbst getrennt. Darnach hast Du verordnet, daß nicht mehr als ein schwacher Abglanz, ein bloßes Sinnbild Deiner Wirklichkeit in Mir unter den Bösen und Mißgünstigen verbleibe. Siehe, wie sie sich, von diesem Sinnbild enttäuscht, gegen Mich erhoben und Mich mit Absagen überhäuften! [Seite 145] Enthülle daher Dein Selbst, o Mein innigst Geliebter, und erlöse Mich aus Meinem Zustand.

Hierauf antwortete eine Stimme: „Ich liebe, Ich hege dieses Sinnbild zärtlich. Wie kann Ich einwilligen, daß Meine Augen allein auf dieses Sinnbild schauen und daß kein Herz außer Meinem Herzen es erkenne? Bei Meiner Schönheit, die die gleiche ist, wie Deine Schönheit! Mein Wunsch ist, Dich vor Meinen Augen zu verbergen — wie viel mehr vor den Augen der Menschen!“

Ich war im Begriff zu antworten, als, ach, die Tafel plötzlich zu Ende war und so Mein Plan nicht erfüllt ward und die Perlen Meiner Äußerung nicht aufgereiht wurden.

XLI. Gott ist Mein Zeuge, o Volk! Ich schlief auf Meinem Lager, als, siehe da, der Hauch Gottes, der über Mir schwebte, Mich von Meinem Schlummer erweckte. Sein beseelender Geist belebte Mich neu und Meine Zunge wurde gelöst, Seinen Ruf zu verkünden. Zeihet Mich nicht der Sünde gegen Gott. Betrachtet Mich nicht mit euren Augen, sondern mit den Meinigen. Also ermahnt euch Er, der Gnädige, der Allwissende. Glaubst du, o Volk, daß in Meiner Gewalt die Überwachung von Gottes letztem Willen und Plan läge? Fern sei Mir, einen derartigen Anspruch zu erheben. Das bezeuge Ich vor Gott, dem Allmächtigen, dem Erhabenen, dem Allwissenden, dem Allweisen. Hätte das endgültige Schicksal von Gottes Glauben in Meinen Händen gelegen, Ich würde niemals — und sei es auch nur für einen Augenblick - eingewilligt haben, Mich euch zu offenbaren, und Ich würde nie auch nur einem Worte gestattet haben, von Meinen Lippen zu fließen. Dessen ist Gott wahrlich Zeuge.

XLII. O Sohn der Gerechtigkeit! Zur Nachtzeit hat sich die Schönheit des Unsterblichen von der smaragdenen Höhe der Treue zum Sadratu’l-Muntahá begeben und mit solch einem Weinen geweint, daß die himmlischen Heerscharen und die Bewohner der Reiche droben ob Seines Jammerns klagten, worauf nach dem Grund des Klagens und Weinens gefragt wurde. Er gab zur Antwort: Wie geheißen, weilte Ich erwartend auf dem Hügel der Treue, ohne von denen, die auf Erden wohnen, den Wohlgeruch der Treue zu atmen. Darnach zur Rückkehr aufgefordert, schaute Ich um Mich und siehe — gewisse Tauben der Heiligkeit wurden in den Krallen der Erdenhunde schmerzlich geprüft. Daraufhin eilte die Himmelsdienerin entschleiert und strahlend aus ihrer geheimnisvollen Wohnstatt hervor und fragte nach ihren Namen, und alle wurden genannt, bis auf einen. Und auf dringendes Bitten ward der erste Buchstabe desselben ausgesprochen, worauf die Bewohner der himmlischen Gemächer aus ihrer Wohnstätte der Herrlichkeit eilten. Und da der zweite Buchstabe ausgesprochen wurde, fielen sie allesamt nieder in den Staub. In diesem Augenblick ward eine Stimme aus dem Innersten des Heiligtumes vernommen: „Bis hierher und nicht weiter.“ Wahrlich, Wir bezeugen, was sie getan haben und noch tun.

XLIII. O Afnán, o du, der du Meinem urewigen Stamm entsprossen bist! Meine Herrlichkeit und Meine liebende Güte ruhen auf dir. Wie mächtig ist die Stiftshütte der Sache Gottes! Sie hat alle Menschen und Geschlechter der Erde überschattet und wird binnen kurzem die ganze Menschheit unter ihrem Schutze versammeln. Dein Tag des Dienstes ist nun gekommen. Zahllose [Seite 146] Tafeln legen Zeugnis von der Gabe ab, die dir gewährt wurde. Erhebe dich für den Triumph Meiner Sache, und besiege die Herzen der Menschen durch die Macht deiner Äußerung. Du mußt das verkünden, was den Frieden und das Wohlergehen der Unglücklichen und Niedergebeugten sichert. Gürte deine Lenden mit deinem Bemühen, damit du vielleicht den Gefangenen von seinen Ketten befreien und dazu führen kannst, wahre Freiheit zu erlangen.

Die Gerechtigkeit beklagt an diesem Tag die Schwere ihrer Lage und die Billigkeit stöhnt unter dem Joch der Unterdrückung. Die dichten Wolken der Gewalt haben das Antlitz der Erde verdunkelt und ihre Völker umhüllt. Durch die Bewegung Unserer Feder der Herrlichkeit haben Wir auf Befehl des allmächtigen Verordners neues Leben in jede menschliche Hülle gehaucht und in jedes Wort frische Kraft geflößt. Alles Erschaffene verkündet die Beweise dieser weltweiten Erneuerung. Dies ist die größte, die froheste Botschaft, die der Menschheit durch die Feder dieses Unterdrückten übermittelt wurde. Warum fürchtet ihr euch daher, o Meine Geliebten? Wer könnte euch erschrecken? Ein Hauch von Feuchtigkeit genügt, um den verhärteten Lehm zu lösen, aus dem dieses verderbte Geschlecht gebildet ist. Die bloße Tat eures Beisammenseins genügt, um die Kräfte dieses hohlen und wertlosen Volkes zu zerstreuen...

Jeder einsichtige Mensch wird an diesem Tag bereitwillig zugeben, daß der Plan, den die Feder dieses Unterdrückten geoffenbart hat, die höchste belebende Kraft für den Fortschritt der Welt und die Erhöhung ihrer Völker darstellt. Erhebt euch, o Menschen, und entschließt euch durch die Macht der göttlichen Kraft, den Sieg über euer Selbst zu erringen, damit vielleicht die ganze Menschheit aus ihrer Hörigkeit gegenüber den Götzen ihrer eitlen Einbildung erlöst werde — Götzen, die ihren erbärmlichen Anbetern einen so groBen Schaden zugefügt haben und für ihr Elend verantwortlich sind. Diese Trugbilder sind das Hindernis, das den Menschen in seinem Bemühen, auf dem Pfade der Vervollkommnung vorwärtszuschreiten, hemmt. Wir hegen die Hoffnung, daß die Hand göttlicher Macht der Menschheit ihre Hilfe leihen und sie aus ihrem Zustand schmerzlicher Erniedrigung befreien möge.

Auf einer der Tafeln sind diese Worte enthüllt worden: O Volk Gottes! Beschäftige dich nicht mit deinen eigenen Angelegenheiten. Lenke deine Gedanken vielmehr auf das, was das Glück der Menschheit wiederherstellt und die Herzen und Seelen der Menschen heiligt. Das kann am besten durch reine und heilige Taten, durch ein Leben der Tugend und durch gutes Betragen vollbracht werden. Mutiges Handeln wird den Sieg dieser Sache sichern und eine fromme Wesenshaltung ihre Kraft verstärken. Folge der Rechtlichkeit, o Volk Bahá’s! Das ist wahrlich das Gebot, das dieser Unterdrückte euch gegeben hat, und die erlesene Wahl Seines unumschränkten Willens für einen jeden von euch.

O Freunde! Es geziemt euch, eure Seelen zu erfrischen und zu beleben durch die gnädigen Gunstbeweise, die in dieser göttlichen, dieser herzbewegenden Frühlingszeit über euch ausgegossen werden. Die Sonne Seiner hohen Herrlichkeit hat ihren Glanz über euch ergossen und die Wolken Seiner grenzenlosen Gnade haben euch überschattet. Wie groß ist der Lohn dessen, der sich [Seite 147] nicht einer so großen Wohltat beraubt noch versäumt hat, die Schönheit seines Meistgeliebten in diesem, Seinem neuen Gewande, zu erkennen. Wacht über euch, denn der Böse liegt auf der Lauer, bereit, euch zu überlisten. Rüstet euch gegen seine verruchten Anschläge und, geführt von dem Lichte des Namens des allsehenden Gottes, entflieht der Dunkelheit, die euch umgibt. Laßt euern Blick weltumfassend sein, anstatt ihn auf euer Selbst zu beschränken. Der Böse ist es, der den Aufstieg hemmt und den geistigen Fortschritt der Menschenkinder aufhält.

Es geziemt an diesem Tage jedem Menschen, an dem festzuhalten, was das Wohl aller Nationen und gerechten Regierungen fördert und ihre Stufe erhöht. Durch jeden einzelnen der Verse, welche die Feder des Höchsten geoffenbart hat, sind die Tore der Liebe und Einigkeit geöffnet worden und weit vor dem Antlitz der Menschen aufgetan. Wir haben zuvor erklärt - und Unser Wort ist die Wahrheit -: „Verkehret mit den Anhängern aller Religionen im Geiste des Wohlwollens und der Kameradschaft.“ Was auch immer die Menschenkinder einander meiden hieß und Zwietracht und Spaltung unter ihnen erregte, ist nun durch die Offenbarung dieser Worte ungültig gemacht und aufgehoben worden. Aus dem Himmel des Willens Gottes und in der Absicht, die Welt des Daseins zu veredeln und Sinn und Seelen der Menschen zu erheben, wurde das herabgesandt, was das wirksamste Mittel zur Erziehung der ganzen menschlichen Rasse ist. Der tiefste Sinn und der vollkommenste Ausdruck dessen, was immer die Völker vor alters gesagt und geschrieben haben, wurde durch diese mächtigste Offenbarung aus dem Himmel des Willens des Allbesitzenden, des immerwährenden Gottes, herniedergesandt. Ehemals wurde geoffenbart: „Die Liebe zum Vaterland ist ein Grundbestandteil des Glaubens Gottes.“ Die Zunge der Größe hat indessen am Tag Ihrer Offenbarung verkündet: „Es rühme sich nicht der, welcher sein Vaterland liebt, sondern der, welcher die Welt liebt.“ Durch die Kraft, die durch diese erhabenen Worte frei wurde, hat Er den Vögeln der Menschenherzen frischen Schwung und neue Richtung verliehen und jede Spur von Beschränkung und Begrenzung aus Gottes heiligem Buche getilgt.

O Volk der Gerechtigkeit! Sei strahlend wie das Licht und leuchtend wie das Feuer, das im brennenden Busche lohte. Der Glanz des Feuers eurer Liebe wird zweifellos die sich bekämpfenden Völker und Geschlechter der Erde vereinen und verschmelzen, während die Wildheit der Flamme der Feindschaft und des Hasses nur Streit und Untergang zur Folge haben. Wir flehen zu Gott, daß Er Seine Geschöpfe vor den üblen Absichten Seiner Feinde behüten möge. Er, wahrlich, hat Macht über alle Dinge.

Aller Ruhm sei dem einen, wahren Gott — erhaben sei Seine Herrlichkeit — da Er durch die Feder des Höchsten die Türen der Menschenherzen geöffnet hat. Jeder Vers, den diese Feder offenbarte, ist ein strahlendes und glänzendes Tor, das die Herrlichkeiten eines heiligen und gottesfürchtigen Lebens und reiner und fleckenloser Taten enthüllt. Wir haben niemals beabsichtigt, daß die Ermahnungen und die Botschaft, die Wir gaben, nur ein Land oder ein Volk erreichen und begünstigen sollten. Die Menschheit als Ganzes muß entschlossen dem folgen, was immer ihr geoffenbart und gewährt worden ist. Dann und [Seite 148] nur dann wird sie zu wahrer Freiheit gelangen. Die ganze Erde ist durch die strahlende Herrlichkeit der Offenbarung Gottes erleuchtet. Im Jahre sechzig erhob sich Der, der das Licht göttlicher Führung verkündete — möge die ganze Schöpfung ein Opfer für Ihn sein — um eine neue Offenbarung des göttlichen Geistes anzukünden, und Ihm folgte zwanzig Jahre später Der, durch dessen Kommen die Welt zur Empfängerin dieser verheißenen Herrlichkeit, dieser ungeheuren Gunst wurde. Siehe, wie die Menschheit im ganzen mit der Fähigkeit ausgestattet wurde, Gottes erhabenstem Worte zu lauschen, — dem Wort, von dem das Zusammenfinden und die geistige Auferstehung aller Menschen abhängen muß...

Neige dein Herz, o Volk Gottes, den Ratschlägen deines wahren, deines unvergleichlichen Freundes. Das Wort Gottes ist einem jungen Baume vergleichbar, dessen Wurzeln in die Herzen der Menschen gepflanzt sind. Es geziemt euch, sein Wachstum durch die lebendigen Wasser der Weisheit und geweihter und heiliger Worte zu fördern, auf daß seine Wurzeln festwachsen und seine Zweige sich zur Höhe der Himmel und darüber hinaus erheben.

O ihr, die ihr auf Erden wohnt! Das unterscheidende Merkmal, das den hervorragenden Charakter dieser höchsten Offenbarung kennzeichnet, besteht darin, daß Wir einerseits aus den Seiten von Gottes heiligem Buch gelöscht haben, was immer die Ursache von Streit, von Bosheit und Unrecht unter den Menschenkindern gewesen ist, und andererseits die wesentlichen Vorbedingungen zur Eintracht, zur Verständigung, zu völliger und dauernder Einigkeit niedergelegt haben. Wohl dem, der Meine Gesetze hält!

Wieder und wieder haben Wir Unsere Geliebten ermahnt, alles zu meiden, nein, vielmehr dem zu entfliehen, dem auch nur der Geruch eines Unrechtes anhaftet. Die Welt ist in großem Aufruhr und der Geist ihres Volkes in einem Zustand äußerster Verwirrung. Wir flehen zum Allmächtigen, daß Er es gnädig durch den Glanz Seiner Gerechtigkeit erleuchte und es befähigen möge, das zu finden, was ihm zu allen Zeiten und unter allen Umständen Nutzen bringt. Er, wahrlich, ist der Allbesitzende, der Höchste.

(Fortsetzung folgt)



GÖTTLICHE LEBENSKUNST[Bearbeiten]

Aus dem Englischen übertragen


9. KAPITEL: LOSLÖSUNG UND AUFOPFERUNG


Loslösung

Als die Menschen zu ‘Abdu’l-Bahá sprachen: „Wir sind ja so froh, so froh, daß Du wieder frei bist“, da antwortete Er: „Freiheit ist kein Ortsbegriff, sondern ein Zustand. Ich war glücklich in jenem Gefängnis, denn diese Tage verliefen auf dem Pfade des Dienens.

Gefangenschaft bedeutete mir Freiheit. Schwierigkeiten sind mir Erholung. Tod ist Leben.

Es ist eine Ehre, verachtet zu werden.

Ich war daher glückselig während der ganzen Dauer meiner Haft.

Wahre Freiheit ist es, wenn man [Seite 149] von der Verhaftung an sein eigenes Selbst befreit wird; denn das Selbst ist das größte Gefängnis.

Wenn man davon frei wird, kann man nie mehr gefangen gehalten werden. Doch diese Freiheit wird einem erst zuteil, wenn man gelernt hat, die größten Widerwärtigkeiten in strahlender Ergebung, nicht in stumpfem Entsagen, zu ertragen.“ (1)

O Mein Diener! Befreie dich von den Banden des Besitzes und erhebe dich aus dem Kerker deines Ichs. Werde dir des Wertes der Zeit bewußt, denn siehe, sie eilet dahin und diese Tage findest du niemals wieder. (2)

O du, der den einzigen Freund nicht kennt! Die Kerze deines Herzens ist entzündet durch die Hand Meiner Macht. Verlösche sie nicht durch Windstöße der Selbstsucht und der Leidenschaften. Der Heiler all deiner Gebrechen ist dein Denken an Mich, vergiß dies nie! Mache Meine Liebe zu deinem Kraftquell und halte sie so wert wie dein Augenlicht und dein Leben. (3)

O Sohn der Erde! Wenn du Mich willst, so wolle nichts außer Mir, und wenn du nach Meiner Schönheit verlangst, so schließe deine Augen vor dem Treiben der Welt. Denn Mein Wille und der Wille der anderen sind wie Wasser und Feuer und können nicht in einem Herzen wohnen. (4)

Loslösung ist wie die Sonne, die das Feuer der Begehrlichkeit und Selbstsucht löscht in dem Herzen, in dem sie erstrahlet. Der, dessen Schauen vom Lichte der Einsicht erleuchtet ist, wird sich von der Welt und ihren Nichtigkeiten sicherlich lossagen. Laß die Welt und ihre Gemeinheit dich nicht betrüben. Glücklich ist der Mensch, der im Reichtum nicht hoffärtig und in der Armut nicht betrübt ist. (5)

Nimm dankbar hin, was der Herr schenkt, und schicke dich in Gottes Fügungen, so trinkst du aus dem Quell aller Herrlichkeit. (6)

Der Sucher muß allezeit sein Vertrauen in Gott setzen, sich abkehren von den Menschen der Welt, sich lösen von der Welt des Staubes, und Ihm, dem Herrn der Herren, anhangen ...

Er sollte auch wissen, daß Verleumdung schmerzliche Verirrung ist, und sich fern von ihrem Bereiche halten, denn Verleumdung löscht das Licht des Herzens und erstickt das Leben der Seele. Er sollte sich mit wenigem begnügen und frei werden von allem ungehörigen Begehren. Er sollte den Verkehr mit jenen schätzen, die der Welt entsagt haben, und als kostbare Wohltatbetrachten, prahlerische, weltgesinnte Menschen zu meiden. Er sollte jeden eigensüchtigen Gedanken mit der Flamme der liebevollen Erwähnung Gottes verzehren und mit Blitzesschnelle an allem vorübergehen außer Ihm... Er sollte nicht zögern, sein Leben für seinen Geliebten zu opfern, noch sollte er dem Tadel der Menschen gestatten, ihn von der Wahrheit abzubringen. Er sollte nicht für andere wünschen, was er nicht für sich selbst wünscht, noch versprechen, was er nicht erfüllt. (7)

Der Gipfel der Loslösung ist es, wenn der Mensch sein Antlitz den Regionen des Herrn zuwendet, sich Seiner Gegenwart naht, Sein Antlitz schaut und als Zeuge vor Ihm steht. (8)


Loslösung, nicht Askese

Löset euch von allen Fesseln, die euch mit dieser Welt und ihrer Nichtigkeit verbinden... Hütet euch davor, ihnen nahezukommen, denn sie verführen euch dazu, euren eigenen [Seite 150] Wünschen und Begierden nachzugehen und hindern euch daran, den geraden, leuchtenden Pfad zu betreten.

Wisset, daß unter „Welt“ euer Nichtwissen um Ihn, der euer Erschaffer ist, verstanden wird, und euer Eingenommensein von allem, was nicht Er ist. Andererseits bedeutet das „künftige Leben“ alles, was euch einen sicheren Zugang zu Gott gewährt, dem Allherrlichen, dem Unvergleichlichen. Alles, was euch zu dieser Zeit vom liebenden Gott abschreckt, ist nichts als die Welt. Fliehet sie, damit ihr zu den Gesegneten zählen möget. Sollte jemand den Wunsch hegen, sich mit dem Zierat dieser Welt zu schmücken, ihre Tracht zu tragen oder teilzuhaben an den Vorteilen, die sie bieten kann, so wird es ihm nicht schaden, sofern er nicht zuläßt, daß etwas zwischen ihn und Gott trete, denn Gott hat alle guten Dinge, seien sie Schöpfung der Himmel oder der Erde, denen unter seinen Dienern zugedacht, die wahrhaft an Ihn glauben. Esset, o Menschen, von den guten Dingen, die Gott euch erlaubt hat, und beraubt euch nicht selbst Seiner wunderbaren Gaben. Spendet Ihm Ruhm und Preis und seid Ihm von Herzen dankbar. (9)

Der frommen Übungen der Mönche und Priester Seiner Heiligkeit des Geistes (Christi) wird vor Gott gedacht werden, doch an diesem Tag müssen sie aus ihrer Zurückgezogenheit treten, die Gesellschaft der Menschen suchen und sich mit dem beschäftigen, was sowohl sie selbst als auch andere Menschen voranbringt. (10)

Jedem einzelnen von euch ist es zur Pflicht gemacht, sich in irgend einem Beruf - sei es eine Kunst, ein Gewerbe und anderes — zu betätigen. Wir veranlaßten, daß diese eure Arbeit dem Dienste Gottes, des Wahrhaftigen, gleich geachtet wird. Bedenket, o Menschen, die Barmherzigkeit Gottes und Seine Gunst; alsdann danket Ihm am Morgen und am Abend! (11)

Wenn gesagt ist, daß der Mensch ganz sich selbst vergessen müsse, so ist damit gemeint, daß er sich zum Mysterium des Opfers erheben soll, das heißt zum Verschwinden sterblicher Gefühle und zum Verlöschen tadelnswerter Gewohnheiten, die sein Leben zeitweilig verdüstern. Es bedeutet aber nicht, daß körperliche Gesundheit zu Schwäche und Gebrechlichkeit werden soll. (12)


Das Mysterium des Opfers

Das Mysterium des Opfers ist ein sehr großes Thema und unerschöpflich.

Um es kurz zu fassen: Der Nachtfalter opfert sich dem Kerzenlicht, die Quelle dem Dürstenden, der aufrichtig Liebende dem Geliebten. Es kommt darauf an, völlig seiner selbst zu vergessen... nur nach dem Wohlgefallen des Wahrhaften zu streben, nur nach dem Angesicht des Wahrhaften zu begehren und nur auf dem Pfade des Wahrhaften zu wandeln... Dies ist die erste Stufe des Opfers.

Die zweite Stufe des Opfers ist, wie das Eisen zu werden, das in das Schmiedefeuer geworfen wird. Die irdischen Eigenschaften des Eisens — Schwärze, Kälte, Härte — verschwinden, während die Eigenschaften des Feuers — Röte, Glut und Hitze — die dem Königreich zugehören, sichtbar hervortreten. Das Eisen hat also seine Eigenschaften und seinen Zustand dem Feuer geopfert und die Tugenden dieses Elementes angenommen.

Und so wird es sein, wenn die Seelen von den Banden dieser Welt, den menschlichen Unzulänglichkeiten und der tierischen Düsterkeit, erlöst sind [Seite 151] und... einen Anteil an den Segnungen des Raumlosen empfangen und göttliche Vollkommenheiten erlangt haben. Dann werden sie die „Erlösten“ der Sonne der Wahrheit sein... (13)

Da du das Wissen um Gott und Seine Liebe erlangt hast, ist es deine Pflicht, deinen Geist und all deine äußeren Lebensumstände aufzuopfern, alle Schwierigkeiten zu ertragen, um Seelen zu trösten, und auf den Grund des Meeres der Prüfungen zu sinken aus Liebe zur Treue.

Das Mysterium des Opfers ist, daß der Mensch seine ganze Natur der heiligen Stufe Gottes opfert. Gottes Stufe ist Barmherzigkeit, Milde, Vergebung, Opfer, Wohlwollen, Gnade, Belebung der Geister und das Entzünden des Feuers der Liebe zu Ihm in den Herzen und Adern... (14)

Gottesnähe wird durch Hingabe an Ihn, durch Betreten Seines Königreiches und durch Dienst an der Menschheit ermöglicht; sie wird durch Einheit mit der Menschheit und durch liebevolle Güte gegen alle erreicht; sie hängt davon ab, daß du nach der Wahrheit forschest, dir lobenswerte Tugenden aneignest, der Sache des Weltfriedens dienst und nach persönlicher Heiligung strebst. Mit einem Wort: Gottesnähe verlangt Aufopferung, Loslösung und völlige Hingabe an Ihn. Nähe ist Ähnlichkeit. (15)

Eines der Erfordernisse der Glaubenstreue ist dies, daß du dich aufopferst und auf dem göttlichen Pfade dein Auge vor jeder Lust schließest und mit ganzer Seele darnach strebest, wie ein Tropfen im Ozean der Liebe Gottes zu verschwinden und unterzugehen. (16)

Wisse, daß, als der Menschensohn Seinen Geist Gott überließ, die ganze Schöpfung in großer Trauer weinte. Doch Sein Opfer flößte allem Erschaffenen eine neue Fähigkeit ein. Die Beweise hierfür, die sich in allen Menschen der Erde dartun, sind nun vor dir offenbar. Die tiefste Weisheit, welche die Weisen verkündeten, die gründlichste Gelehrsamkeit, die je ein Menschengeist entfaltete, die Künste, welche die fähigsten Hände hervorgebracht haben, der Einfluß, den die mächtigsten Herrscher ausübten, sind nur Offenbarungen der beseelenden Macht, die durch Seinen überragenden, Seinen alldurchdringenden und strahlenden Geist entfesselt wurde. (17)


Sieg durch Loslösung

...Darum ist am heutigen Tage „Sieg“ nicht mehr gleichbedeutend gewesen mit Widerstreit gegen jemand oder mit Fehde gegen jemand — noch wird es dies je wieder sein —, sondern vielmehr das, was den Festungen der Menschenherzen wohlgefällig ist, die unter der Gewalt der Heerscharen der Selbstsucht und Wollust stehen und dem Schwerte des Wortes, der Weisheit und der Ermahnung unterliegen sollen. Jeder, der den „Sieg“ erstrebt, muß daher die Festung seines eigenen Herzens mit dem Schwerte der geistigen Wahrheit und des Wortes unterwerfen und sie davor beschirmen, an etwas anderes als an Gott zu denken; dann erst möge er sich um die Festungen in anderer Leute Herzen kümmern. Und dies ist es, was der „Sieg“ erreichen soll: Aufruhr hat niemals Gottes Beifall gehabt und hat ihn überhaupt nie, und das, was einige unwissende Leute einst taten, fand nie Anerkennung. Wahrlich, es wäre noch besser, wenn ihr zu Seinem Ruhme getötet würdet, als daß ihr selbst tötetet. Heute müssen die Freunde [Seite 152] Gottes in solcher Haltung unter Seinen Dienern wandeln, daß sie durch ihre Taten alle zum Herrn der Herrlichkeit hinführen. Ich schwöre bei der Sonne am Himmelszelt der Heiligkeit, daß die Freunde Gottes nie auf die Güter der Erde und ihre vergänglichen Reichtümer geschaut haben noch je darauf schauen werden. (18)

O Sohn des Seins! Dein Herz ist Meine Heimat. Heilige es für Mein Kommen. Ich erscheine in deinem Geiste. Läutere ihn für Meine Offenbarung. (19)

O Sohn der Asche! Laß dir nicht genügen an der Ruhe eines Tages und verzichte nicht auf die unvergängliche, die ewige Ruhe. Vertausche nicht den unverwelklichen Rosengarten ewigen Lebens mit dem Aschenhügel der Vergänglichkeit. Erhebe dich aus dem Kerker hin zu den herrlichen Gefilden der Seele, und eile aus dem Käfig des Irdischen hin zu dem Paradies des Unendlichen. (20)

O Sohn des Staubes! Werde blind, damit du Meine Schönheit schauest. Werde taub, damit du Meine Melodie und Meine liebliche Stimme hörest. Werde unwissend, damit du von Meinem Wissen einen Teil gewinnest. Und werde arm, damit du aus dem Meer des nie versiegenden Reichtums einen unvergänglichen Anteil erlangest. Werde blind, das heißt für alles außer Meiner Schönheit. Werde taub, das heißt für alles außer Meinem Worte. Und werde unwissend, das heißt in allem, außer Meinem Wissen, damit du mit klarem Auge, mit reinem Herzen und feinem Ohre in die Weite Meiner Heiligkeit eingehest. (21)

Der Mensch muß ganz in Gott aufgehen und muß seine Eigensucht vergessen, um sich so zur Stufe des Opfers zu erheben. Es sollte so weit kommen, daß er nicht zu seinem Vergnügen schläft, sondern nur, um dem Körper Ruhe zu gönnen, damit er besser arbeiten, besser sprechen, schöner erklären, den Dienern Gottes besser dienen und die Wahrheiten besser beweisen kann. Wenn er wach ist, so sollte er darnach trachten, aufmerksam zu sein, der Sache Gottes zu dienen und seinen eigenen Standpunkt dem göttlichen zu opfern. Wenn er soweit gekommen ist, werden die Bestätigungen des Heiligen Geistes ihn sicherlich erreichen, und ein Mensch mit solchen Kräften kann allem, was auf Erden lebt, widerstehen. (22)

Wahrlich, Ich sage dir, die Welt ist wie eine Spiegelung in der Wüste, in welcher der Dürstende eine Oase zu sehen vermeint, der er mit allen Kräften zustrebt, nur um zu finden, daß es lediglich ein Trugbild war... O Meine Diener! Trauert nicht, wenn heute auf dieser Erde Dinge von Gott befohlen und geoffenbart wurden, die euren Wünschen zuwiderlaufen, denn Tage seliger Freude, himmlischer Wonne stehen euch gewißlich bevor. Welten, heilig und hehr, werden vor euren Augen enthüllt werden. Ihr seid von Ihm dazu bestimmt, in dieser Welt und in der künftigen an ihren Vorrechten teilzuhaben, ihre Freuden zu genießen und einen Anteil an ihrer helfenden Gnade zu erlangen. Ohne Zweifel werdet ihr alles dieses erreichen. (23)


Gebete um Loslösung

O Gott, hilf mir, bescheiden und demütig zu sein, und gib mir die Kraft, mich von allem zu lösen und mich an den Saum des Gewandes Deiner Gnade zu klammern, damit mein Herz von Deiner Liebe erfüllt werde und kein Raum mehr bleibe für die Liebe [Seite 153] zur Welt und die Hinneigung zu ihren Wesen... Wahrlich, Du bist barmherzig, und wahrlich, Du bist der Großmütige, der Helfende. (24)

...O Gott, mein Gott! Blicke nicht auf mein Hoffen und Tun, nein, siehe auf Deinen Willen, der Himmel und Erde umfaßt. (25)

(Fortsetzung folgt)



LIEBE[Bearbeiten]

Liebe gibt es nur eine, —
was sich so nennt, ist meistens keine.
Drum laßt uns nach ihr suchen!
Sie läßt sich wahrlich rufen,
und läßt sich dann gestalten
in menschenwürdigem Walten. —
Liebe, du Sonnenglanz!
Ewiger Sterne Tanz!
Ach, daß du uns alle
ständig durchwirktest!
O.G.



DER VERHEISSENE TAG IST GEKOMMEN[Bearbeiten]

Von ShoghiEffendi

(Fortsetzung)


„Wenn diese Sache von Gott ist“, so redete Er den Gesandten des Schahs in Konstantinopel an, „so kann kein Mensch gegen sie aufkommen, und wenn sie nicht von Gott ist, so werden die Geistlichen unter euch und die, welche ihren verdorbenen Begierden folgen, und solche, die sich wider ihn gelehnt haben, sicherlich genügen, sie zu überwältigen.“

„Von allen Völkern der Welt“, so bemerkt Er in einem anderen Tablet, „ist dasjenige, das den größten Verlust erlitten hat, das Volk Persiens gewesen und ist es noch. Ich schwöre bei dem Tagesgestirn der Äußerungen, das in seinem Mittagsglanz auf die Welt scheint! Das Wehklagen der Kanzeln in diesem Lande ertönet immerfort. Schon in den ersten Tagen ward solches Wehklagen im Lande Tá (Teheran) gehört, denn Kanzeln, die zum Gedächtnis des Wahren errichtet waren — erhaben sei Seine Herrlichkeit —, sind jetzt in Persien Plätze geworden, von denen aus Lästerungen gegen Ihn, der die Sehnsucht der Welten ist, ausgesprochen werden.“

„An diesem Tage“, so lautet Seine scharfe Rüge, „duftet die Welt von den Wohlgerüchen des Gewandes der Offenbarung des altehrwürdigen Königs... und doch haben sie (die Priester) sich versammelt und sich auf ihren Sitzen niedergelassen und gesprochen, was ein Tier in Scham bringen müßte, wieviel mehr einen Menschen. Würden sie sich einer ihrer Taten bewußt werden und das Unheil wahrnehmen, das sie geschaffen haben, [Seite 154] so würden sie mit eigener Hand sich zu ihrem endgültigen Wohnort befördern.“

„O Schar von Geistlichen!“, so befiehlt ihnen Bahá’u’lláh, „...legt beiseite, was ihr besitzet, und haltet Frieden und leiht euer Ohr sodann dem, was die Zunge der Größe und Erhabenheit spricht. Wie viele verschleierte Dienerinnen wandten sich Mir zu und glaubten, und wie zahlreiche Turbanträger waren von Mir abgeschlossen und folgten den Fußstapfen vergangener Geschlechter!“

„Ich schwöre bei dem Tagesgestirn, das über dem Horizont der Äußerung scheint“, so sagt Er aus, „ein Spänchen vom Fingernagel einer der gläubigen Dienerinnen wird am heutigen Tage vor den Augen Gottes mehr geachtet als die Geistlichen Persiens, die nach dreizehnhundert Jahren Warten das verübt haben, was die Juden während der Offenbarung Dessen, welcher der Geist ist (Jesus), nicht verübt haben.“ „Obwohl sie sich über die Widerwärtigkeiten, die Uns betroffen haben, freuen“, lautet Seine Warnung, „so wird doch der Tag kommen, da sie wehklagen und weinen.“

„O Achtloser“, so redet Er im Lawh-i-Burhán einen berüchtigten persischen Mujtahid an, dessen Hände mit dem Blut von Bahá’i-Märtyrern befleckt waren, „verlasse dich nicht auf deinen Ruhm und deine Macht. Du bist wie die letzte Spur von Sonnenschein auf dem Bergesgipfel. Bald wird sie dahinschwinden, wie es beschlossen ist von Gott, dem Allbesitzenden, dem Höchsten. Dein Ruhm und der Ruhm von deinesgleichen sind von euch genommen, und dies wahrlich ist von Ihm, Dessen die Muttertafel ist, verordnet worden... Um euretwillen klagte der Apostel (Muhammad) und die Reine (Fátimih) schrie auf und wurden die Länder verwüstet und fiel Finsternis auf alle Regionen. O Schar von Geistlichen! Um euretwillen wurde das Volk erniedrigt und das Banner des Islams niedergeholt und sein mächtiger Thron gestürzt. Jedesmal, wenn ein Mann von Scharfsinn an dem festzuhalten suchte, was den Islam erhöhen würde, habt ihr ein Geschrei erhoben, und dadurch ward er verhindert, seinen Plan auszuführen, während das Land offensichtlich dem Verderben preisgegeben war.“

„Sprich: O Schar persischer Geistlicher“, so weissagt Bahá’u’lláh wiederum, „in Meinem Namen habt ihr die Zügel der Menschen ergriffen und durch euere Beziehung zu Mir nehmt ihr die Ehrensitze ein. Als Ich Mich aber offenbarte, wandtet ihr euch ab und verübtet, was die Tränen derer, die Mich erkannt haben, fließen ließ. Binnen kurzem wird alles, was ihr besitzet, verderben, und euer Ruhm wird sich zu jämmerlichster Erniedrigung wandeln, und ihr werdet die Strafe sehen für das, was ihr getan habt, wie von Gott beschlossen, dem Verordner, dem Allweisen.“

In der Suriy-i-Muluk hat Er sich an den ganzen Verein der kirchlichen Führer des sunnitischen Islam in Konstantinopel, der Reichshauptstadt und dem Sitze des Kalifates, gewandt und geschrieben: „O ihr Geistlichen der Stadt! Wir kamen zu euch mit der Wahrheit, während ihr deren nicht achtetet. Mich dünkt, ihr seid wie die Toten, in die Decken eures eigenen Selbstes gehüllt. Ihr suchtet nicht Unsere Gegenwart, als dies zu tun besser für euch gewesen wäre als alle eure Taten... Wisset, daß, wenn eure Führer, denen ihr Ergebenheit schuldet und auf die ihr stolz seid und die ihr [Seite 155] bei Tag und bei Nacht erwähnet und in deren Spuren ihr Führung sucht — wenn sie in diesen Tagen gelebt hätten, so wären sie um Mich gewesen und hätten sich nimmer von Mir getrennt, weder am Abend noch am Morgen. Ihr jedoch wandtet euer Antlitz nicht Meinem Antlitz zu, auch nicht weniger als einen Augenblick, und wurdet hochmütig und achtetet nicht dieses Mißhandelten, der von den Menschen so gequält worden ist, daß sie mit Ihm verfuhren, wie es ihnen beliebte. Ihr unterließet es, über Meine Lage nachzuforschen; auch unterrichtetet ihr euch nicht selbst darüber, was Mir zustieß. Dadurch habt ihr die Winde der Heiligkeit von euch abgehalten und die Lüfte der Güte, die von diesem leuchtenden und sichtbaren Orte wehen. Mich dünkt, ihr habt euch an Äußerliches gehängt und das Innerliche vergessen und ihr redet, was ihr nicht tut. Ihr liebt Namen und scheint euch ganz ihnen hingegeben zu haben. Aus diesem Grunde tut ihr der Namen eurer Führer Erwähnung. Und sollte einer ihresgleichen oder ein Höherer als sie zu euch kommen, so fliehet ihr ihn. Durch jene Namen habt ihr euch erhöhet und euch eure Stellung gesichert und lebet und gedeihet ihr. Und würden euere Führer wieder erscheinen, so würdet ihr auf euere Führerschaft nicht verzichten, noch würdet ihr euch deren Richtung zuwenden noch euer Antlitz auf sie richten. Wir fanden euch, wie die meisten Menschen, Namen anbetend, die sie all die Tage ihres Lebens erwähnen und mit denen sie sich beschäftigen. Kaum jedoch erscheinen die Träger dieser Namen, da verwerfen sie sie und kehren sie ihnen den Rücken... Wisset, daß Gott an diesem Tage euere Gedanken nicht annehmen wird noch euer Gedenken an Ihn, noch euere Haltung zu Ihm, noch euere Andachtsübungen, noch euere Wachsamkeit, es sei denn, ihr werdet neuerschaffen durch die Wertschätzung dieses Dieners - könntet ihr dies doch begreifen.“

(Fortsetzung folgt)



„DIE BAHA’I“[Bearbeiten]

Betrachtungen zu einem Buch


Unter obigem Titel erschien vor kurzem im Buchhandel1) eine Schrift von Universitätsprofessor Dr. Gerhard Rosenkranz, Heidelberg, die Wesen und Ziele des Bahá’i-Glaubens beurteilt. Die nachfolgende Stellungnahme dazu will in der Hauptsache nicht auf Einzelheiten eingehen - dies bleibe möglicherweise anderer Gelegenheit überlassen —, sondern sie will einiges Wesentliches prüfend betrachten.

Das grundlegend Verschiedene in der Denkweise wahrer Geisteswissenschaft, einschließlich der religionsgeschichtlichen, wird in Zukunft darin bestehen, daß sie sich nach dem von ihr letzten Endes nie voll zu ergründenden Wort Gottes ständig neu auszurichten sucht und nicht dieses mehr oder weniger bewußt an sich selbst mißt. Sie wird sich dabei weniger mehr in gewordenen und verhärteten Kategorien bewegen, vor allem aber wird sie die Grundlage ihres Ruhmes nicht mehr vornehmlich darin erblicken, diese Kategorien überblicken und nach ihrem Gutdünken verteilen zu können, unter Berufung auf Kronzeugen aus eben dieser Kategorienwelt. Vielmehr wird sie den ursprünglichen [Seite 156] lebendigen Hauch des im Laufe der Zeiten unter den verschiedensten Namen kundgewordenen und in seinem innersten Wesen stets gleichen göttlichen Wortes immer erneut zu erspüren und nicht mehr zu trennendem, sondern zu alleinigendem Zwecke zu verwerten eifrig bestrebt sein. Sie wird immer mehr und immer tiefer von der Erkenntnis erfaßt werden, daß der Urgrund alles vielnamigen Wissens nur einer ist, jener „Punkt, aus dem“, wie Bahá’u’lláh sagt, „Toren ein Gebirge gemacht haben.“ Sie wird von der Erkenntnis durchdrungen werden, daß ihr, der Wissenschaft, unüberschreitbare Grenzen gesetzt sind und daß ihre Produkte selbst im besten Falle „nur Schall und Rauch sind, umnebelnd Himmelsglut“, mit anderen Worten, daß der Vorrang dem denkenden Erleben zukommt und nicht dem erlebenden Denken, dem Wort Gottes und nicht der das Wort Gottes behandelnden Wissenschaft, deren Klärungsversuche schon auf Grund der Unzulänglichkeit des gesprochenen Wortes wie der babylonisch verwirrenden Vielfalt der Begriffe Gefahr laufen, gleichzeitig ebenso viele, wenn nicht sogar mehr neue Irrtümer und Zweifel zu schaffen als Aufhellungen. Jahrtausende lang hat man so aneinander vorbeigeredet.

Der Ruhm der Geisteswissenschaft wird vielmehr in Zukunft darin bestehen, zu erkennen und vornweg dafür den Beweis zu führen, daß sie selbst, gemessen am Wort Gottes, nichts weiß, wozu wahrhaftig große Einsicht gehört und das ganze Rüstzeug der Wissenschaft voll Verwertung finden kann, Sie wird schon gar nicht mehr etwa sich und andere vor dem Anblick ihres Gebirges in die Knie sinken lassen, noch sich in dessen Schluchten und Spalten verlieren, sondern sie wird immer erneut zu dem einen, höchsten Gipfelpunkt emporstreben, der das ganze Gebirge unter sich versinken und seine „beiden Seiten“ zugleich, d. h. seine Schönheiten wie auch Gefahren erst richtig erkennen läßt. Sie wird, von der in Bahá’u’lláh erfolgten neuen und größten Ausgießung des Heiligen Geistes bewußt oder unbewußt befruchtet und von den kommenden weiteren Nöten in der ganzen Welt getrieben, zu der Erkenntnis gelangen, daß „Gott allein groß ist“, und wird vermöge solch eigenen ehrfürchtig erschauernden Erlebens auch z.B. dieses „Allah-u-Akbar“ nicht mehr nur in die islamische Gedankenwelt einreihen wollen (Seite 52, Mitte). Und in dieser gezügelten Freiheit wird sie göttlicher Erleuchtung teilhaftig werden und zu nie geahntem Aufstieg und Werteschaffen gelangen, in einer einigen Welt, wo sie auch nicht mehr den größten Teil ihrer Kräfte an Gegensätzen zu verzehren braucht. Dann wird sie eines der Diademe höchsten Dienertums am Worte Gottes und am neuen Menschheitsbau tragen.

Ja, Ehrfurcht, — nicht genug Ehrfurcht und Vorsicht kann die Wissenschaft walten lassen, besonders da, wo es um Heiligstes, Höchstes und Fundamentalstes geht. Auf Seite 56 lesen wir: „Das Bahái-tum ist, religionsgeschichtlich gesehen, in seinem Aufbruch eine echte prophetische Bewegung...“ Dies hat notwendigerweise zur Voraussetzung, daß der Urheber dieser Bewegung ein echter Prophet ist. Das Merkmal des echten Propheten besteht aber in seiner unfehlbaren Erleuchtung und Leitung durch den Heiligen Geist, ja, Er ist in gewissem Sinne identisch mit Ihm. Seine [Seite 157] Wahrheit kann nur eine sein, wo immer sie sich manifestiert, und es ist eigentlich unerklärlich, weshalb die Menschen nicht ganz von selbst zu diesem Schlusse kommen. Auch steht es menschlichem Geiste nicht zu, bei dem der Sphäre des Heiligen Geistes angehörenden echten Prophetentum willkürlich irgendwelche Abstufungen oder sonstige Unterscheidungen vorzunehmen und festzulegen, so wenig wie die Pflanze das Tier oder das Tier den Menschen zu beurteilen vermag. — Weiter: in Seinem Wissen ist der Prophet völlig unabhängig und bedarf wahrlich keiner Entlehnungen aus der Ismen-Welt Seines Geschöpfes, der von Ihm völlig abhängigen Wissenschaft2). — Und die Absolutheit Seines Anspruchs und die Seiner sonstigen Worte, die Er ja „nicht aus Sich selber redet“, unter dem Gesichtswinkel hoher Selbsteinschätzung (Seite 26) und dergleichen zu betrachten, steht so sehr im Widerspruch zur Bahá’i-Lehre über das Wesen des Propheten, daß es keinem ihrer Anhänger möglich wäre, z. B. an dergleichen Worte aus dem Munde Jesu noch irgendeines anderen Gottgesandten solche Maßstäbe anzulegen.

Wie eingangs erwähnt, wird als Folge der neuen göttlichen Offenbarung für die ganze Menschheit auf dem Wege rein geistiger Impulse wie der äußeren Verbreitung der Lehre die Betrachtungsweise der gesamten Wissenschaften, insbesondere natürlich der Religionswissenschaft und in ihr nicht zuletzt der vergleichenden Religionsgeschichte, eine durchgreifende Änderung erfahren. Diese wird vor allem auf einem grundlegenden Erkenntniswandel fußen, der sich vollziehen muß

1. zwischen der bisherigen Auffassung jedes Religionsbereiches, daß sein Offenbarer der höchste und letzte sei, zu dem sich die übrige Welt letzten Endes werde bekennen müssen — und der nunmehr von allerhöchster Warte erfolgten Verkündigung, daß die göttliche Offenbarung sich in Wirklichkeit nicht in einer einmaligen Erscheinung erschöpft, sondern daß alle bisherigen Gottgesandten Wegbereiter für den von ihnen allen prophezeiten großen Einiger der ganzen Menschheit waren und daß auch in Zukunft der jeweiligen Fassungskraft der Menschen und den jeweiligen Zeiterfordernissen entsprechend, bis zum Ende des Planeten weitere Offenbarer erscheinen werden;

2. zwischen der bisherigen allgemeinen Ansicht, daß Religion und Wissenschaft bestenfalls mehr oder weniger friedlich nebeneinander herzugehen vermögen — und der durch gleichzeitige eingehende Beweisführung erhärteten Verkündigung der Bahá’i-Offenbarung, daß Religion und Wissenschaft sich gegenseitig ergänzen und befruchten können und müssen.

Freilich wird das Goldene Zeitalter nicht heraufkommen können (Seite 41, Mitte), solange die Menschen im allgemeinen und ihre geistigen Führer im besonderen in den alteingefahrenen Bahnen weiterdenken, solange sie ohne völlig ausreichende und in erster Linie aus dem Originalschrifttum geschöpfte Kenntnis der neuen Lehre, sowie unter Vorurteilen an die öffentliche Beurteilung derselben herangehen, solange sie ferner dabei nicht zum mindesten in echter Forscherweise die Möglichkeit der [Seite 158] eigenen Täuschung ausdrücklich offen lassen — zumal angesichts des zugegebenen echten prophetischen Charakters der Bewegung — und solange sie sich nicht vor Augen halten, welche geistige Verantwortung sie für sich selbst wie u. U. zahllose andere auf sich laden, wenn es sich mit der Sache, vor der sie die Öffentlichkeit warnen, am Ende doch anders verhielte, als sie es darstellen. Denn auch im Geistigen — und wenn irgendwo, dann hier - gilt der bekannte Satz des Bürgerlichen Gesetzbuches, daß selbst Irrtum und Nichtwissen nicht vor Verantwortung schützen.

Vielmehr droht es unter solchen Umständen immer mehr dahin zu kommen, daß die Menschheit noch durch ein Meer von Tränen hindurchgehen muß, bis sie sich zum Umdenken in die neuen Bahnen und damit auch in der Richtung ihrer endlichen Einigung auf allen Lebensgebieten bereit finden wird, wie Bahá’u’lláh bereits vor mehr als 60 Jahren es angedeutet hat mit den Worten:

„Die Welt befindet sich in Wehen, und ihre Erschütterung nimmt von Tag zu Tag zu. Ihr Blick ist der Verstocktheit und dem Unglauben zugewandt. Ihr Zustand wird derart werden, daß es weder gut noch angebracht ist, ihn jetzt zu enthüllen. Ihre Verderbtheit wird noch lange dauern. Und wenn die festgesetzte Stunde da ist, wird plötzlich erscheinen, was die Glieder der Menschheit erzittern läßt. Dann und nur dann wird das göttliche Banner entfaltet werden und die Nachtigall des Paradieses ihre Lieder erheben.“

Es ist die merkwürdige Tatsache feststellbar, daß heute die Wissenschaft vielfach dem Verständnis des Wortes Gottes näher steht als alle Religion, daß in ihr auch Ehrfurcht und Vorsicht fast eher zu finden sind als dort. Das kommt wohl daher, weil jene Kreise der Wissenschaft den Zusammenbruch ihres seitherigen Weltbildes einsehen und zum Weitersuchen und Umdenken bereit sind, während die Religion die Ohnmacht ihres Sicherungsstrebens mit den Mitteln ihrer durch die Entwicklung überholten Denkweise, wie auch den evolutionären Wandlungscharakter des Gegenstandes ihres Sicherungsstrebens selbst und die Gottferne alles äußeren Sicherheitsstrebens überhaupt bis jetzt nicht oder nicht genügend erkannt zu haben scheint. „Wer sein Leben zu erhalten sucht, der wird’s verlieren.“ Auch die Religion wird ihr Leben nur dann neu gewinnen, wenn sie es um des Wortes Gottes willen verliert und nicht um seiner Erhaltung willen am Worte Gottes vorübergeht. Ach, daß sie sich doch dazu entschließen könnte, ehe ihr durch den Strudel sonst unvermeidlicher weiterer Drangsale und Nöte ihr Leben gewaltsam entrissen wird!

Der in die Erdsphäre eingeströmte neue und größte Impuls Heiligen Geistes wird Sein Ziel erreichen. Es wäre kindlich, zu glauben, daß Er aufgehalten werden könne. Er wirkt mit unumschränkter Macht im Unsichtbaren und will ohne Unterlaß den Willen des Menschen dem Seinigen einen. Und menschliche Antennen spüren es, fangen es auf, mehr oder weniger rein, mehr oder weniger verworren, ihrer eigenen geistigen Verfassung entsprechend; und verarbeiten es, auch mehr oder weniger verworren, rein, artgemäß; dies in verstärktem Maße erneut seit hundert Jahren, auf dem ganzen Erdenrund. Sie brauchen dabei „den Namen, den [Seite 159] neuen“ noch gar nicht gehört, noch von Seiner äußeren Lehre Kenntnis erhalten zu haben. Und so geht es weiter, unaufhaltsam, unausweichlich. — Durch solche Befruchtung auf geistigem Wege kam es u. a. auch - so sehen es wenigstens die Bahá’i — zu jenen „säkularen Aufklärungs- und Weltverbrüderungsbewegungen des Abendlandes“ (Seite 7 Mitte und S. 30, Zeile 11/12) bis her zur Uno und zum Weltbürger Nr. 1 - soweit diese Bewegungen nicht auch schon bewußt aus der Bahá’i-Lehre geschöpft haben und soweit sie nicht nur auf rein vernunftsmäßigen Erwägungen angesichts der Erfordernisse der materiellen Entwicklung und der Nöte der Zeit fußen oder gar hintergründigen Interessen dienstbar sind3).

Doch die endgültige und dauerhafte Erfüllung auch dieser lobenswerten Sehnsüchte des Menschenherzens für die äußere Gestaltung des irdischen Daseins, ihre Erfüllung in einer Form, die dem Willen Gottes entspricht und allein Seiner Verherrlichung dient, diese Erfüllung wird erst dann kommen, wenn auch der Name der neuen mächtigen Geistwelle zu siegreichem Durchbruch gelangt, d. h. wenn Seine Lehre von der Menschheit angenommen und auf allen Gebieten verwirklicht wird. Dann, wenn die Menschen in allen ihren Fasern zur ‚harmonienreichen Einheit‘ wollen - in sich und um sich — aus der Liebe zu Gott, zum Mitmenschen und zu sich selbst. Vordem wird ihnen kein wahrer Friede beschieden sein.

So ging, vom Geistwehen berührt, auch mancher daran, die heiligen Schriften aller Zeiten und Völker auf andere Art zu durchforschen, als es in der Religionswissenschaft zur Sicherung gegenüber anderer Meinung stets üblich war und für notwendig gehalten wurde. Er wurde dazu unwiderstehlich getrieben, weil er zum mindesten dumpf empfand: es kann nicht sein, daß solch hohe geistige Darbietungen, für die zu allen Zeiten Tausende ihr Leben gaben und die jeweils mächtige und staunenswerte Kulturen im Gefolge hatten, einen verschiedenen Sinn haben können; es kann einfach nicht sein, daß z. B. Buddha unter Seinem Nirwana etwas anderes verstanden hat als Christus unter Seinem Himmelreich oder Mohammed unter Seinem Paradies. Und er fand damit die Art, wie diese Schriften alle in Wirklichkeit durchforscht sein wollen, die Art, die weniger vom Verstand als vom Herzen geleitet ist, die Art, die besonders auch die aller Wortprägung anhaftende Unzulänglichkeit wie die volklichen, örtlichen und zeitlichen Bedingtheiten der seitherigen Offenbarungen erkannt hat und ihnen Rechnung trägt. Und es ist — vor allem betont — die Art, in der die Sehnsucht und der Wille zur Einheit zum Ausdruck kommt, die das Merkmal wahren Menschentums darstellen, so sie allein von der Liebe getragen sind, die selbst zu größten Opfern bereit ist.

Orthodoxe Einstellung lehnt freilich diese Art, in den anderen heiligen Schriften zu forschen, ab. Dies liegt in ihrem Wesen begründet. Sie hat und hatte von jeher überall ihr eigenes, ja geradezu einzigartiges Leben. In welcher Art und welchem Maße, das läßt sich vielleicht am besten und einfachsten durch die Feststellung veranschaulichen, daß die Haltung der Schriftgelehrten und Pharisäer gegenüber Christus, vom Standpunkt ihrer [Seite 160] Denkweise und ihrer Auffassung des alttestamentlichen Wortes Gottes aus betrachtet, durchaus begründet war, daß sie also wirklich mit Fug und Recht glauben konnten, selbst mit der Tötung Jesu Gott einen Dienst erwiesen zu haben, — während Christus seinerseits nicht abließ, vor ihrer Religionsauffassung zu warnen, und ebendeshalb auch in Vorausschau auf die Zeit der nächstfolgenden Gottesoffenbarung die besorgte Frage stellte: „Wenn des Menschen Sohn wieder kommen wird, wird Er auch Glauben finden auf Erden?“ Das war die Bekümmernis eines jeden Gottgesandten, denn stets glaubt die Orthodoxie, endgültig und allein in Händen zu haben, was auch deren Vertreter immer erneut suchen sollten.

Um eben dieses Suchen geht es in erster Linie. Ihm galt und gilt die erste Aufforderung jedes Gottgesandten. Und allein auf den dazu einladenden Ruf kann sich das äußere Wirken seiner Anhänger erstrecken, um dem Suchenden dann freilich auch freudig darzubieten, was man selbst empfangen durfte. Und alles übrige ergibt sich aus der in völlig freier Entscheidung stehenden Annahme der Lehre auf Grund selbstgewonnener Überzeugung. Überredung wie Zwang liegen uns fern, denn Bahá’u’lláh verlangt, daß jeder selbständig nach der Wahrheit forsche und sich dabei von den Vorurteilen der Vergangenheit frei mache, wie auch Christus zum Suchen aufrief und zum Ablassen vom herkömmlichen Denken. Wo nicht Unruhe zu Gott allein dazu treibt, dürfte wahrlich der Anblick des heutigen Zustandes der Welt auf allen Gebieten genügenden Anlaß dazu geben!

Das hier Gesagte entspringt der felsenfesten Überzeugung, ja Gewißheit, welche wir Anhänger Bahá’u’lláh’s aus Seiner Lehre wie aus den Erkenntnissen gewonnen haben, die wir auf Grund unserer Bemühungen, die Lehre zu leben, empfangen durften. Wir können nicht anders — abgesehen davon, daß es sonst für uns Sünde wider den Heiligen Geist bedeutete, und dies gleicherweise, wenn wir nicht vor aller Welt glühend für diese Lehre einträten. Sie ist so klar und den Ahnungen aufrichtigen Gottsuchens entsprechend, daß sie von jedem Menschen, selbst dem einfachsten, gleich welcher Rasse, begriffen und angenommen werden kann. Es wird dann ein jeder selber auf seiner Stufe wahre Gottesweisheit schöpfen und ausstrahlen können. Eine herrliche Zeit ist im Anbruch. Gott helfe uns, Seinen Geschöpfen allen!

0.G.


1) Akademische Schriftenreihe „Lebendige Wissenschaft“, Kreuz-Verlag Stuttgart, H. 11.

2) Bekanntlich haben ja auch weder Bahá’u’lláh noch der Báb je eine Schule besucht.

3) Woodrow Wilson z. B., der Vater des Völkerbundes, hat die Bahá’i-Lehre gekannt.


Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’i in Deutschland und Österreich, e. V., Stuttgart. Verantwortlich für die Herausgabe: Paul Gollmer, Stuttgart O, Neckarstraße 127. In der „Sonne der Wahrheit“ finden nur solche Manuskripte Veröffentlichung, bezüglich deren Weiterverbreitung keine Vorbehalte gemacht werden. — Alle auf den Inhalt der Zeitschrift bezüglichen Anfragen, ferner schriftliche Beiträge, Besprechungsexemplare wie auch alle die Schriftleitung betreffenden Zuschriften sind an Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart N, Menzelstr. 24, zu senden. — Abonnementbestellungen sowie Zahlungen sind an die Geschäftsstelle der „Sonne der Wahrheit“, Paul Gollmer, Stuttgart O, Neckarstraße 127, Postscheckkonto Stuttgart Nr. 35 768, zu richten.

Druck von J. Fink KG., Stuttgart N — Auflage 1500 — November/Dezember 1949

Veröffentlicht unter Lizenz US-W-Nr. 6871 der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung.


[Seite 161]

diesem Tage wirkt, letzten Endes diesen Zustand herbeizuführen fähig ist. Noch mehr: Der Bahá’i-Glaube legt seinen Anhängern vor allem die Pflicht des ungehemmten Suchens nach Wahrheit auf, verwirft alle Arten von Vorurteil und Aberglauben und erklärt, daß der Zweck der Religion die Förderung von Freundschaft und Eintracht sei; er verkündet in wesentlichen Fragen ihr Zusammengehen mit der Wissenschaft und erkennt sie als die größte Kraft der Befriedigung und des geregelten Fortschrittes der Menschheit. Er hält ohne Zweideutigkeit den Grundsatz gleicher Rechte, gleicher Möglichkeiten und Vorrechte für Männer und Frauen hoch, besteht auf guter Erziehung als Pflicht, tilgt die Extreme von Armut und Reichtum aus, schafft die Einrichtungen eines Priesterstandes ab, verbietet Sklaverei, Askese, Bettelei und Mönchtum und schreibt Einehe vor, mißbilligt Scheidung, betont die Notwendigkeit festen Gehorsams zur Regierung, erhöht jede Arbeit, die im Geiste des Dienens getan wird, auf den Rang des Gottesdienstes, drängt auf die Schaffung oder Auswahl einer Welthilfssprache und gibt einen Umriß für die Einrichtungen, welche den Weltfrieden begründen und dauerhaft machen sollen.


Der Herold

Der Bahá’i-Glaube kreist um drei Hauptgestalten, deren erste ein Jüngling aus Schiras namens Mirzá ‘Ali Muhammád war, bekannt als der Báb (das Tor). Er erhob im Mai 1844, im Alter von 25 Jahren den Anspruch, der Herold Dessen zu sein, der nach den Heiligen Schriften früherer Offenbarungen den Einen, der größer ist als Er selbst, verkünden und den Weg für Sein Kommen bereiten soll. Seine Sendung sei, nach eben diesen Schriften, eine Ära des Friedens und der Gerechtigkeit einzuleiten, die als die Vollendung aller früheren Sendungen begrüßt würde, um einen neuen Zyklus in der Religionsgeschichte der Menschheit einzuleiten. Rasch setzte strenge Verfolgung ein, die von den organisierten Mächten der Kirche und des Staates Seines Geburtslandes ausging und schließlich zu Seiner Gefangenschaft, Verbannung und zu Seiner Hinrichtung im Juli 1850 in Täbris führten. Nicht weniger als 20000 Seiner Anhänger wurden in so barbarischer Grausamkeit hingemordet, daß sie das warme Mitgefühl und die unbegrenzte Bewunderung abendländischer Schriftsteller, Diplomaten, Reisender und Gelehrter hervorrief.


Bahá’u’lláh

Mirzá Husayn - ‘Ali, genannt Bahá’u’lláh (die Herrlichkeit Gottes), aus der Provinz Mázindarán stammend, dessen Kommen der Báb verkündet hatte, wurde von diesen gleichen Mächten der Dummheit und des Fanatismus angegriffen, in Teheran eingekerkert, 1852 aus Seinem Heimatland nach Bagdad verbannt und von dort nach Konstantinopel und Adrianopel und schließlich in die Gefängnisstadt Akka, wo Er nicht weniger als 24 Jahre noch gefangengehalten wurde. Unweit davon starb Er im Jahre 1892. In der Zeit seiner Verbannung, vor allem in Adrianopel und in Akka, gab Er den Gesetzen und Vorschriften Seiner Sendung Ausdruck und erklärte in mehr als hundert Bänden die Grundsätze Seines Glaubens, verkündete Seine Botschaft den Königen und Herrschern des Ostens und des Westens, Christen sowohl wie Mohammedanern.


‘Abdu’l-Bahá

Sein ältester Sohn, ‘Abbás Effendi, bekannt als ‘Abdu’l-Bahá (Diener Bahá’s), war von Bahá’u’lláh zu dessen gesetzlichem Nachfolger und bevollmächtigtem Ausleger Seiner Lehren ernannt worden. Er war seit Seiner frühesten Kindheit Seinem Vater eng verbunden und teilte dessen Verbannung und Leiden. Er blieb ein Gefangener bis 1908, wo Er in Auswirkung der jungtürkischen Revolution aus der Haft entlassen wurde. Nunmehr verlegte Er Seinen Wohnsitz nach Haifa, schiffte sich dann bald zu einer drei Jahre langen Reise nach Ägypten, Europa und Nordamerika ein, in deren Verlauf Er vor einer zahlreichen Hörerschaft die Lehren Seines Vaters auslegte und das Nahen der Katastrophe voraussagte, die bald darauf die Menschheit überfallen sollte. Er kehrte nach Hause zurück am Vorabend des ersten Weltkrieges, in dessen Verlauf Er dauernd Gefahren ausgesetzt war bis zur Befreiung Palästinas.

1921 verließ Er diese Welt. Er wurde in dem auf dem Berge Karmel errichteten Grabmal beigesetzt, das nach dem Gebot Bahá’u’lláh’s für die sterblichen Reste des Báb errichtet war.


Die Verwaltungsordnung

Das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahá’s bedeutete das Ende des heroischen Zeitalters des Bahá’i-Glaubens und bezeichnete zugleich den Beginn des gestaltgebenden Zeitalters, das den schrittweisen Aufstieg der Verwaltungsordnung des Glaubens schaffen soll. Ihre Errichtung war von dem Báb vorhergesagt, ihre Gesetze wurden von Bahá’u’lláh geoffenbart, ihre Umrisse wurden von 'Abdu'l-Bahá in Seinem Willen und Testament vorgezeichnet.

Die Verwaltungsordnung des Glaubens von Bahá’u’lláh ist dazu bestimmt, sich zu einem Bahá’i-Weltgemeinwesen zu entwickeln. Sie hat schon die Angriffe überdauert, die solche furchtbaren Feinde wie die Könige der Kadscharen-Dynastie, die Kalifen des Islam, die führenden Geistlichen Ägyptens und das Naziregime in Deutschland gegen ihre Einrichtungen gerichtet hatten, und hat ihre Zweige in alle Teile der Erde ausgedehnt, von Island bis zum äußersten Chile. Sie hat in ihren Bereichen die Vertreter von nicht weniger als 31 Rassen, darunter Christen verschiedener Bekenntnisse, Muselmänner der [Seite 162] sunnitischen und schiitischen Sekten, Juden, Hindu, Sikhs, Zoroastrer und Buddhisten. Sie hat durch ihre festgesetzten Organe Bahá’i-Schriften in 48 Sprachen veröffentlicht und verbreitet.

Diese Verwaltungsordnung ist, im Unterschied von den anderen Systemen, die sich nach dem Tode der Gründer in den verschiedenen Religionen entwickelt haben, göttlich in ihrem Ursprung, beruht mit Gewißheit auf den Gesetzen, Vorschriften, Verordnungen und Einrichtungen, die vom Begründer des Glaubens selbst ausdrücklich niedergelegt und unzweideutig festgesetzt sind und waltet in fester Übereinstimmung mit den Auslegungen der bevollmächtigten Ausleger der heiligen Texte.

Der Glaube, dem diese Ordnung dient, den sie schützt und fördert, ist, das sollte in diesem Zusammenhang wohl bemerkt werden, in seinem Wesen übernatürlich, übernational, gänzlich unpolitisch, parteilos und jedem System oder jeder Schule von Ideen, die irgendeine besondere Rasse, Klasse oder Nation über die andere zu stellen sucht, völlig entgegengesetzt. Er ist frei von jeglicher Form von Kirchentum, hat weder Priesterstand noch Riten und wird allein durch freiwillige Gaben seiner erklärten Anhänger getragen.

Wenn auch die Bekenner des Bahá’i-Glaubens ihren Regierungen treu ergeben sind, in Liebe ihrem Vaterland verbunden und darauf bedacht, zu allen Zeiten dessen Wohl zu fördern, so werden sie doch, weil sie die Menschheit als eine Einheit betrachten und deren Lebensinteressen tief verpflichtet sind, ohne Zögern jedes Einzelwohl, sei es persönlich, örtlich oder national, dem übergeordneten Wohl der Menschheit als Ganzes unterordnen; denn sie wissen gar wohl, daß in einer Welt der gegenseitigen Abhängigkeit der Völker und Nationen der Vorteil des Teiles am besten durch den Vorteil des Ganzen erreicht werden kann, und daß kein Dauererfolg durch eines der zugehörigen Teile erreicht werden kann, wenn das Allgemeinwohl des Ganzen hintangestellt wird.

Shoghi Effendi


Die zwölf Grundsätze der Bahá’i-Weltreligion


1. Die gesamte Menschheit muß als Einheit betrachtet werden.

2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.

3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.

4. Die Religion muß die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.

5. Die Religion muß mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.

6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.

7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.

8. Der Weltfrieden muß verwirklicht werden.

9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung erfahren.

10. Die sozialen Fragen müssen gelöst werden.

11. Es muß eine Einheitssprache und eine Einheitsschrift eingeführt werden.

12. Es muß ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.