Sonne der Wahrheit/Jahrgang 19/Heft 6-8/Text
| ←Heft 5 | Sonne der Wahrheit August-Oktober 1949 |
Heft 9-10→ |
| |||||||||||||||
Die Bahá’i-Weltreligion
Der Glaube, der von Bahá’u’lláh begründet wurde, entstand in Persien um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Nach längerer Verbannung des Gründers, zuletzt nach der türkischen Strafkolonie von Akka, und späterhin nach Seinem Tod und Seiner Beisetzung in Akka, hat der Glaube sein endgültiges Zentrum im Heiligen Land gefunden und ist jetzt im Begriff, die Grundlagen seines Verwaltungszentrums für die ganze Welt in der Stadt Haifa aufzubauen.
Wenn man seinen Anspruch, wie er unmißverständlich durch seinen Begründer verfochten wurde, und die Art des Wachstums der Bahá’i-Gemeinde in allen Teilen der Welt betrachtet, so kann dieser Glaube nicht anders angesehen werden als eine Weltreligion, die dazu bestimmt ist, sich im Laufe der Zeiten in ein weltumfassendes Gemeinwesen zu entwickeln. Dessen Kommen muß das goldene Zeitalter der Menschheit ankündigen, das Zeitalter, das die Einheit des Menschengeschlechtes unerschütterlich begründet, seine Reife erreicht und seine Bestimmung durch die Geburt und das Errichten einer alles umfassenden Zivilisation erfüllen wird.
Neue Darlegung ewiger Wahrheiten
Obwohl dem schiitischen Islam entsprungen und in den ersten Entwicklungsphasen von den Anhängern des mohammedanischen und des christlichen Glaubens nur als eine obskure Sekte, ein asiatischer Kult oder ein Ableger der mohammedanischen Religion betrachtet, beweist dieser Glaube nunmehr in wachsendem Maße sein Anrecht auf eine andere Beurteilung als nur die eines weiteren religiösen Systems, das den sich bekämpfenden Glaubensbekenntnissen, die so viele Geschlechter lang die Menschheit zerspalten und ihre Wohlfahrt verwüstet haben, sich zugesellt hat. Vielmehr ist er eine neue Darlegung der ewigen Wahrheiten, die allen Religionen der Vergangenheit zugrunde liegen, und eine einigende Macht, die den Anhängern dieser Religion einen neuen geistigen Elan einflößt, eine neue Hoffnung und Liebe zur Menschheit und sie durch eine neue Vision befeuert, die der grundsätzlichen Einheit der religiösen Lehren, und vor ihren Augen die herrliche Berufung ausbreitet, die dem Menschengeschlecht winkt.
Die Anhänger dieses Glaubens stehen fest zu dem grundlegenden Prinzip, wie es von Bahá’u’lláh verkündet worden ist, daß religiöse Wahrheit nicht absolut, sondern relativ ist, daß Gottesoffenbarung ein fortdauerndes und fortschreitendes Geschehnis ist, daß alle großen Religionen der Welt göttlich in ihrem Ursprung sind, daß ihre Grundsätze zueinander in völligem Einklang stehen, daß ihre Ziele und Absichten eine und dieselben sind, daß ihre Lehren nur Widerspiegelungen der einen Wahrheit sind, daß ihr Wirken sich ergänzt, daß sie sich nur in unwesentlichen Teilen ihrer Lehren unterscheiden und daß ihre Sendungen aufeinanderfolgende geistige Entwicklungsstufen der Menschheit darstellen.
Zur Versöhnung der sich streitenden Bekenntnisse
Die Ziele Bahá’u’lláh’s, des Propheten dieses neuen und großen Zeitalters, in das die Menschheit eingetreten ist — denn Sein Kommen erfüllt die Prophezeiungen des Neuen und Alten Testamentes wie auch des Koran, die sich auf das Erscheinen des Verheißenen am Ende der Zeiten, am Tage des Gerichtes beziehen — sind nicht die Zerstörung, sondern die Erfüllung der Offenbarungen der Vergangenheit und viel mehr die Versöhnung als die Betonung der Gegensätze der sich streitenden Glaubensbekenntnisse, welche die heutige Menschheit noch zerreißen.
Er ist weit davon entfernt, die Stufe der Ihm vorausgegangenen Propheten herabsetzen oder ihre Lehren schmälern zu wollen. Vielmehr will Er die Grundwahrheiten, die in allen diesen Lehren beschlossen sind, in einer Weise aufs neue darlegen, wie sie den Nöten der Menschheit entsprechen und auf ihre Fassungskraft abgestimmt sind und auf die Fragen, Leiden und Verwirrungen der Zeit, in der wir leben, angewendet werden können.
Seine Sendung ist: zu verkünden, daß die Zeiten der Kindheit und Unreife des Menschengeschlechtes dahin sind, daß die Erschütterungen; der heutigen Stufe der Jugend langsam und schmerzvoll sie zur Stufe der Reife vorbereiten und das Nahen jener Zeit der Zeiten verkünden, da die Schwerter in Pflugscharen umgewandelt werden und das von Jesus Christus verheißene Reich begründet wird und der Friede auf diesem Planeten endgültig und dauernd gesichert ist. Auch stellt Bahá’u’lláh nicht den Anspruch auf Endgültigkeit Seiner eigenen Offenbarung, sondern erklärt vielmehr ausdrücklich, daß ein volleres Maß der Wahrheit, als Ihm von dem Allmächtigen für die Menschheit in einem so kritischen Zeitpunkt gestattet wurde, in den späteren Phasen der endlos weiterschreitenden Menschheitsentwicklung enthüllt werden muß.
Einheit des Menschengeschlechtes
Der Bahá’i-Glaube hält die Einheit Gottes hoch, anerkennt die Einheit Seiner Propheten und betont vor allem den Grundsatz der Einheit und Ganzheit aller Menschenrassen. Er verkündet, daß die Einigung der Menschen notwendig und unvermeidbar ist, hebt hervor, daß wir uns ihr schrittweise nähern und stellt die These auf, daß nichts anderes als der verwandelnde Geist Gottes, der durch Sein erwähltes Sprachrohr an
| SONNE DER WAHRHEIT Zeitschrift für Weltreligion und Welteinheit |
| Heft 6-8 Preis: DM —.80 |
AUGUST-OKTOBER 1949 Kamál - ’Ilm - Vollkommenheit - Erkenntnis |
19. JAHRGANG |
- Leitgedanken: Einheit der Menschen - Universaler Friede - Universale Religion
Inhalt: Aus „Verborgene Worte“ — „Das Wort“ — Ährenlese — Gottesoffenbarung — Göttliche Lebenskunst — Der verheißene Tag ist gekommen — Worte von Bahá’u’lláh und ’Abdu’l-Bahá — Die 2. Europäische Bahá’i-Lehrkonferenz in Brüssel.
O SOHN DES GEISTES!
Ich habe dich reich erschaffen. Warum machst du dich selber arm? Edel erschuf Ich dich. Warum erniedrigst du dich selbst? Aus den Tiefen des Wissens offenbarte Ich dich. Warum suchst du anderes außer Mir? Aus dem Ton der Liebe formte Ich dich. Warum trachtest du nach anderem als Mir? Schaue in dich selbst, damit du Mich in dir findest, aufrecht und mächtig in Kraft und Beständigkeit.
O SOHN DES MENSCHEN!
Meine Ewigkeit ist Meine Schöpfung. Für dich erschuf Ich sie, mache sie zum Gewande deines Wesens. Meine Einheit ist Mein Werk, um deinetwillen erschuf Ich sie. So schmücke dich mit ihr, damit du für immer eine Offenbarung Meines ewigen Wesens werdest.
Bahá’u’lláh*)*
*)„Verborgene Worte“ (Aus dem Arabischen)
„DAS WORT“[Bearbeiten]
Von Günther Heyd, Hamburg
Es gibt eine alte syrische Handschrift, in der uns 42 „Oden Salomos“
erhalten sind. Diese Oden des Königs Salomo, der uns als ein Weiser
unter den Königen bekannt ist, galten lange als eine der vielen heiligen
Schriften des alten Testamentes, von denen in späteren Jahrhunderten eine
ganze Reihe dem Kanon, den Konzilienbeschlüssen, kurz: dem Dogma
weichen mußten. Aber dies ist für unsere Betrachtung weniger wichtig,
als zu erfahren, einen wie hohen Wert der Begriff des Wortes schon vor
Jahrtausenden hatte. Darum hören wir zur Einführung einige Verse aus
einer dieser schönen Oden, die überschrieben ist:
„Das Wort der Wahrheit“
„Er erfüllte mich mit dem Worte der Wahrheit, daß ich sie künde;
Gleich einem Wasserstrom strömt die Wahrheit aus meinem Munde.
Meine Lippen zeigen ihre Früchte, denn sie mehrte ihre Erkenntnis in mir;
Denn Worte des Herrn sind Worte der Wahrheit und Pforte zu seinem Licht.
Die Schnelligkeit des Wortes ist unsagbar; wie ein Hauch ist es, fein und durchdringend.
Immerdar steht es aufrecht und kennt nicht Weg noch Steg.
Wie sein Wesen, so auch sein Zweck denn es ist Licht und Erleuchtung des Sinnes.
Der Höchste verlieh es den Dolmetschern Seiner Majestät,
Den Predigern Seiner Herrlichkeit, den Herolden Seines Planes und den Kündern Seiner Werke! -
Durch das Wort redeten die Äonen einer zum andern; so wurden redend, die stumm gewesen.
Aus dem Worte entstand Freundschaft und Eintracht, sie erzählten einander, was ihnen geworden.
Sie wurden vom Worte getrieben, weil der Mund des Höchsten zu ihnen geredet,
Und durch Seine Offenbarung sich schnell auf Erden verbreitet hatte.
Denn die Wohnung des Wortes ist der Mensch, sein wahrer Inhalt: die Liebe. -
Selig, die dies alles verstehen und den Höchsten in Seiner Wahrheit erkennen.“
Wenn wir heutigen Menschen hören, wie vielseitige Eigenschaften dem
Wort an sich und im allgemeinen (und dem Worte Gottes hier im besonderen)
schon damals und von je zuerkannt wurden, dann wird es das
Wort schon wert sein, daß wir seinem Ursprung, seiner Bedeutung und
seinen Möglichkeiten einmal nachgehen. Beginnen wir beim Anfang! Der
Anfang liegt so weit zurück, wie wir es wissen:
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. ! Und die Erde war wüst und leer und es war finster auf der Tiefe; /und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. ! Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht!“
Ja, hier stehen wir wirklich am Uranfang allen Seins: Die Erde war
wüst und leer und es war noch finster auf der Tiefe. Aber über den
Wassern — das Wasser war immer das Symbol des Lebens — schwebte der
Geist Gottes! Und Gott sprach ... ! Dieses „und Gott sprach“ war also
die erste Tat,
[Seite 99]
von der wir wissen. Was aber sprach Gott? Er sprach: „Es werde Licht!“ - Wenn
wir über diese Ewigkeitsworte nachsinnen, das heißt: uns um ihren
Sinn mühen, dann wird uns etwas klar, in uns wird etwas Licht. Nämlich,
daß der Geist sich zum Wort und das Wort sich zur Tat formten, und
daß aus dieser Verbindung das Licht ward. (Wir werden im folgenden
noch mehr von solcher Verbindung, von solcher „Ehe“ zwischen dem Geist
und dem empfangsbereiten Wort hören!) Wir halten zunächst fest, daß
dem Wort Schöpferkraft innewohnt. Wie heißt es doch im Johannesevangelium?
„Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.“
Wenn dem Worte Gottes solche Schöpfermacht eignet, dann dürfen wir wohl glauben, daß wir im Menschenworte — wenn auch in viel kleinerem Maßstab und eben in menschlichen Bezirken - ebenfalls Schöpfermöglichkeiten haben. Ja, im Grunde sind unsere Sprachkräfte nämlich nur umgewandelte Zeugungskräfte. So weiß zum Beispiel der Mediziner, der Arzt, von geheimnisvollen Zusammenhängen, die zwischen dem wichtigen Sprachwerkzeug des Kehlkopfes und den biologischen Zeugungsvorgängen bestehen, wie es uns ja auch der Stimmwechsel des „mannbar“, d. h. doch „zeugungsfähig“ werdenden Knaben schon andeutet!
Die Gnade der Sprache allerdings ist — wie alle Gnade - kaum beschwörbar, aber sie hat viel zu schenken dem, der sich in ihre Wurzeln versenkt und sich behutsam tastend in ihre feinsten Adern hineinfühlt, um den Wortaufbau zu erkennen, seine Stimmung zu empfinden, kurz: seinen Geist zu atmen, seine Seele zu suchen. Wir müssen nur öfter auf die Bedeutung des Wortes und seine Herkunft zurückgreifen.
Wir sprachen von Geist und Seele des Wortes!
Es kommt nun das Wort „Geist“ zu uns aus dem nordischen Worte „geysa“ = aufbrechen,
ausströmen - wir erkennen den Zusammenhang noch in der Bezeichnung „Geysir“,dem Namen
für die heißen Quellen Islands, die dort aus dem vulkanischen Boden aufbrechen,
ausströmen. Und besonders anschaulich wird uns das Bild von der
„Ausgießung des Heiligen Geistes“ und von dem Worte, daß der „Geist
auf die Jünger herabströmte“ (Geist = geysir = ausströmen!). Noch
interessanter ist der Ursprung des Wortes Seele: Das althochdeutsche „sela“, aus
dem gotischen „saiwala“, noch früher „saiwolo“, „aiwolo“ deckt sich lautlich
mit dem griechischen „aiolos = beweglich“ - wir finden es heute noch in der
Äolsharfe, der Windharfe. Und in der Tat heißt „Seele“ nichts anderes als
„die Bewegliche“. Das bestätigt uns auch der Volksglaube in den Märchen,
die die Seele als ein bewegliches Wesen, als Vogel — oder wie auf
Grabsteinen — als Schmetterling darstellen. Die „Seele“ ist die griechische
„Psyche = Hauch“, die lateinische „enima — Wind“ (altgriechisch: anemos). Die
Wurzel all dieser Worte ist „an“ hauchen, atmen und steckt in vielen
Sprachen (bis zum Sanskrit: Anilas = Wind, Aniti = er atmet; lateinisch
animus; gotisch Anan = atmen). Und da finden wir auch schon die Sprach- oder
sagen wir Wortbrücke zur Entstehung des Seelenglaubens:
[Seite 100]
Daß es nämlich Dinge gibt, die unsichtbar, ungreifbar, und doch vorhanden sind, das lehrt den Urmenschen schon der Wind. Wind und Hauch entströmt dem Munde des Lebenden; ja, er wird gelegentlich bei Kälte als rätselhaftes weißes Wölkchen vor dem Munde des Menschen sichtbar; er strebt immerfort zu entweichen und wird immer wieder zurückgesogen - bis er im Tode ganz und für immer entweicht. Bei vielen Südseestämmen ist es z.B. die Aufgabe des ältesten Sohnes, diesen letzten Hauch mit dem Munde aufzufangen, um damit die Seele des Toten auf sich zu übertragen. Noch im deutschen Sprachgebrauch heißt es ja, daß „der Sterbende seine Seele aushaucht“. — „Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wind!“ Überall finden wir dies schöne Sinnbild des Windes, der Lüfte Gottes für alles, was aus ihm ausging und in ihn eingeht — und am schönsten wohl in den Worten Bahá’u’lláh’s, da Er von Seiner Berufung („berufung“) spricht, wie nämlich der Ruf an Ihn erging. Er sagt es uns:
„Ich schlief und war ohne Bewußtsein. Die Lüfte Gottes wehten über mich und erweckten mich. Sie befahlen mir, das Wort zu verkündigen.“
So waren es die Lüfte Gottes, die ihn im Windhauch s„an“ft-anwehten. (Erinnern wir uns an die Silbe „an“: Wind = anima = Seele = Hauch!)
Und so fand hier das Wort schon An-(t)-Wort! Und wir erkennen, daß das geistige Reich über den besonderen An-teil der Gedanken — und der bei allen Menschen und Völkern sehr verschiedenen Verstandestätigkeit — hinaus, ein gemeinsames Bewußtsein bildet und ein Bewußtsein des Gemeinsamen. Und das ist genau das, was die. Bahá’i-Weltreligion anstrebt, das sind unsere Ziele - so wie die wahre, die edle Liebe zur Harmonie führt, die Menschen anmutig macht, so geleitet auch das wahre Wort, das uns gemeinsam verbindet, zur Universalität, den einzelnen Menschen zum einzigen Menschen, denn es vermählt die Meinungen und macht uns einander veran(t)wortlich.
Das bestätigt uns auch Wilhelm von Humboldt, wenn er über die wahre Sendung der gewachsenen Sprache sagt: „In allem, was die Menschenbrust bewegt, namentlich aber in der Sprache, liegt nicht nur ein Streben nach Einheit und Allheit, sondern auch eine Ahndung, ja, eine innere Überzeugung, daß das Menschengeschlecht trotz aller Trennung, trotz aller Verschiedenheit, dennoch in seinem Urwesen und seiner letzten Bestimmung unzertrennlich und Eins ist. Dasselbe Streben, welches das Innere des Menschen zur Einheit hinlenkt, sucht auch äußerlich sein ganzes Geschlecht zu verbinden und so ist die Sprache in allen Beziehungen ein vermittelndes, verknüpfendes Prinzip, das ihn vor der Entartung durch Vereinzelung bewahrt. Der einzelne, wo, wann und wie er lebt, ist ein abgerissenes Bruchstück seines ganzen Geschlechtes und die Sprache beweist und unterhält diesen ewigen, die Schicksale des einzelnen und die Geschichte der Welt leitenden Zusammenhang.“
So ist also die Sprache die unio mystica im Wort, die mit ihrer alles durchdringenden — sozusagen radiumhaften — Strahlung bestimmend und formend im Wandel der Menschheit mitgeht.
Aber wir können unmöglich vom Worte reden, ohne vom Wesen zu reden,
denn diese beiden sind so sehr Eines, wie Haut und Fleisch. Die
[Seite 101]
Größe der Sprache ist ja gerade, daß sie uns so viel zu sagen hat. Ja,
sie verrät uns so viel vom besonderen und allgemeinen, daß niemand sie in
ihren tiefsten Tiefen anrühren kann, ohne im Glockenstuhl der Gestirne
laut zu werden: weltoffen ist sie und doch voller Dämmerungen ihres
romantischen Grundes, angegrünt aus Landschaftstiefe, blau überstrahlt von
Gedankenhöhen - so zeigt sich uns die Sprache, das Wort, als Raum für das
Eigenwillige und für das Mannigfaltige.
Das Wort trägt den Sanften sanft dahin und es stürmt gern mit dem Ungestümen. Es fordert von uns nicht nur den Gehorsam, sondern auch den Wagemut, seine Höhen und Tiefen zu bestehen - oder aber Hals und Bein darin zu brechen.
Gott hat vor die Frucht die Arbeit gesetzt und vor das Verstehen immer. die Mühe. Darum ist auch die Bahá’i-Religion durchaus nicht „bequem“. Wir sind gehalten, zu lernen, viel zu lernen und unser Wissen ständig und auf möglichst vielen Gebieten immer mehr zu erweitern und zu vertiefen. „Wenn wir sprechen“, mahnt ‘Abdu’l-Bahá, „so laßt unsere Rede stets ein äußeres Zeugnis unseres inneren Lichtes sein.“ Die Forderung ‘Abdu’l-Bahá’s geht aber noch weiter und wird recht unbequem — Er fährt nämlich fort: „Ich hoffe, daß ihr alle beredt werdet! Die größten Gaben des Menschen sind die Vernunft und eine beredte Ausdrucksweise. Der vollkommene Mensch ist sowohl intelligent als beredt. Er besitzt Erkenntnis und weiß sie zum Ausdruck zu bringen. Wer sich in diesen Tagen nicht auszudrücken vermag, der gleicht einem verschlossenen Schmuckkästchen, von dem man nicht weiß, ob es Juwelen oder Glas enthält. Ich wünsche, daß ihr alle in klaren und überzeugenden Worten über göttliche und materielle Wissenschaften redet1).“
Doch zurück zum Wort - und zu seiner Wichtigkeit. Das Wort hat einmal den Menschen erweckt. Und es vermag auch heute noch (darum nämlich die Mahnung 'Abdu'l-Bahá’s) Menschen zu erwecken! Oder ist es nicht so? Sind wir nicht alle einmal von einem Worte, irgendwann, irgendwo, zutiefst angesprochen worden? (Vielleicht scheinbar ganz außerhalb der religiösen Sphäre, im Worte der Mutter oder eines liebsten Menschen. Denken wir nur einmal zurück: hat nicht irgendwann ein gutes, ein liebes Wort etwas in uns erweckt? wachgerufen? Das war dann die schöpferische Zeugungskraft, der Geist im Worte. Und ebenso stellen wir uns die Offenbarung des Heiligen Geistes als eine Offenbarung Gottes, als Emanation (hier haben wir wieder die Wurze] an — atmen = Geist) des Einen vor. Wir lesen darüber sehr genaues in dem 54. Kapitel der beantworteten Fragen von ‘Abdu’l-Bahá:
„Das Hervorgehen durch Emanation gleicht dem Hervorgehen einer Tat,
von dem, der die Tat verrichtet, wie beispielsweise die Schrift von dem
Schreibenden hervorgeht und die Rede vom Redenden. Und ebenso geht
der menschliche Geist von Gott aus. .. Der Geist des Menschen jedoch ist in
Bezug auf Gott abhängig von Emanation, genau so wie das Gespräch vom
Sprechenden und die Schrift vom Schreibenden hervorgehen: d.h. der
Sprechende selbst wird nicht zum Gespräch, wie auch der Schreibende nicht
zur Schrift wird. Der Sprechende hat
[Seite 102]
vollkommene Fähigkeit und Kraft und das Gespräch geht von ihm aus wie die
Handlung von dem Handelnden. Der wirkliche Sprecher, das Wesen der
Einheit, war immer in ein und demselben Zustand, der keiner Veränderung
und Verwandlung unterworfen ist. Er ist der Ewige, der Unsterbliche.
Deshalb geht der menschliche Geist durch Emanation von Gott hervor. Wenn
es in der Bibel heißt, Gott habe dem Menschen seinen Geist eingehaucht,
so ist dieser Geist das, was bei einem Gespräch von dem wirklichen Sprecher
hervorgeht und seine Wirkung in dem Wesen des Menschen hat.“
Weiter wird uns in diesem Kapitel noch sehr schön und eindrucksvoll die Bedeutung der Eingangsworte im Johannesevangelium erklärt: „Im Anfang war das Wort“ und Jesus mit einem klaren Spiegel verglichen, der die Sonne der Wirklichkeit widerstrahle. Und im Schlußsatz heißt es:
„Darum sagt Christus im Evangelium: ‚Der Vater ist in dem Sohn‘, das heißt: die Sonne der Wirklichkeit erscheint in dem Spiegel. Preis sei dem Einen, der auf dies heilige Wesen schien, das geheiligt ist unter den Menschen!“
„Der Vater ist in dem Sohn“ — so steht es im Evangelium und 'Abdu'l-Bahá erklärt es uns mit dem schönen Bilde der Sonne. Sohn und Sonne. Betrachten wir nur einmal wieder diese beiden Worte näher und lassen sie durch den Odem, den Atem, den Geist unseres tätigen Willens, lebendig werden. Dann entdecken wir zu unserer Überraschung, daß die Sonne, dieses uralte Symbol der Wahrheit, des Lichtes, durchaus den gleichen Wortursprung hat wie das Wort Sohn. Sonne und Sohn sind ein Gleiches! Im Englischen wird sogar beides gleich ausgesprochen: „ßönn“ ähnlich wie im Niederdeutschen (in Hamburg sagen wir „de sünn“, wenn wir von der Sonne und wenn wir vom Sohn sprechen)! Da wird es uns nun klar, warum in so vielen Religionsmythen die Geburt eines Gottessohnes, also die Geburt des Lichtes, um den 25. Dezember herum angenommen wird, denn das Licht der Welt wird in der Erden-Mitternacht geboren. Dann wird — nämlich wenn es am dunkelsten ist — „the sun“ geboren: das „Licht“, oder der „Sohn“, von dem der Evangelist sagt, daß „sein Angesicht leuchte wie die Sonne“!
Aber so, wie es dann draußen, in unserer grobstofflichen Welt wieder Licht wird, so muß es dann auch in unserm Innern Licht werden. Das innere Licht der Heils-Sonne der Wahrheit muß in unseren Herzen aufgehen und zwar gerade in der dunkelsten und längsten Nacht des tödlichen Zweifels und der Verzweiflung. Ja, wenn alles Dunkelste und Hoffnungsloseste uns zu übermannen droht, bei diesem Sonnentiefstand, wenn die Finsternis am größten ist, dann ist uns gewiß auch Gott am nächsten; dann erfolgt auch am ehesten die Umkehr zum Licht, die Wiedergeburt zu neuem Leben! An diesem Beispiele erfahren wir lebendig die Übereinstimmung der Naturvorgänge draußen in der Welt des Kosmos mit den leiblich-seelischen Vorgängen im kleinen Kosmos unseres Menschen-Daseins, und vor allem, wir erfahren die tiefe Wahrheit des Wortes: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Worte Gottes, das durch seinen Mund geht.“
Alles erscheint uns, sagt 'Abdu'l-Bahá,
[Seite 103]
a
als Bild und Gleichnis und überall können wir die Übereinstimmung
von Natursinnbild und Geistsinnbild entdecken, wenn wir uns nur ein
wenig darum mühen wollen. Allerdings: Niemand vermag einen Blinden
zu überreden, Farben zu sehen; das Organ muß schon da sein. Und wenn
es im Volksmund heißt, daß kein Meister vom Himmel fällt, so fällt
gewiß auch keinem Meister etwas vom Himmel - in den Schoß! Nein, ohne
Mühe werden wir nichts erreichen, und das ist auch gut so.
Das Bemühen, das Ringen nach Wahrheit finden wir in allen Jahrhunderten. Denken wir einmal an den berühmten Doktor Faust in seinem Studierzimmer, wie der sich um das Wort bemüht, als er, des Treibens der Welt überdrüssig, sich nach Klarheit sehnt in den höchsten und letzten Fragen, kurz, nach „Offenbarung,
Die nirgends würdiger und schöner brennt
Als in dem Neuen Testament.“
Aber er will nicht lesen im Neuen Testament, nicht sich erbauen, nein,
er will um die Wahrheit ringen, sich mühen, und so sagt er:
„Mich drängts, den Grundtext aufzuschlagen,
Mit redlichem Gefühl einmal
Das heilige Original
In mein geliebtes Deutsch zu übertragen.
(Er schlägt das Buch auf:)
Geschrieben steht: Im Anfang war das Wort!
Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn!
Bedenke wohl die erste Zeile,
Daß deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch auch, indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat
Und schreibe getrost: „Im Anfang war die Tat!“
Wir sehen: Tätigkeit, Treue und Ausdauer sollen wir ohne Müdigkeit
und Unterlaß üben. Wie im großen im Dienste der Menschheit (und das ist
Gottesdienst), so auch im kleinen und kleinsten. Auch im Verstehen, im
rechten Verstehen des Wortes, jedes Wortes. - „Die Worte sind gut“, sagt Goethe
in Wilhelm Meister, „aber sie sind nicht das Beste. Das Beste wird nicht
deutlich durch Worte. Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste!“ - Da
haben wir ihn wieder, den Geist, den Logos, der so viele Begriffe in sich
vereint (wir hörten schon einige: Wort, Sinn, Kraft, Tat). Darum
„Höre den Rat, den die Leier tönt:
Doch er nützet nur, wenn du fähig bist.
Das glücklichste Wort, es wird verhöhnt,
Wenn der Hörer ein Schiefohr ist. -
Was tönt denn die Leier? Sie tönet laut:
Die Schönste, das ist nicht die beste Braut;
Doch wenn wir dich unter uns zählen sollen,
[Seite 104]
So mußt du das Schönste, das Beste wollen.“ 2)
Wollen heißt also auch hier: sich mühen, im rechten Geiste.
- „Wisset nur, daß Dichterworte
- Um des Paradieses Pforte
- Immer leise klopfend schweben,
- Sich erbittend ewiges Leben.“ 3)
Leben! Darauf kommt es an! Das wird das Wort lebendig machen. - Wenn man das Wort „Brot“ mit noch so voller Kraft ausspricht, wird man dadurch niemals satt werden. Man muß es erwerben, in sich aufnehmen und verdauen. Worte sind wie Schalen, sie müssen erst mit der Kraft der Tat gefüllt werden.
Gewiß, viele Worte sind doppelsinnig, rätselhaft. Und wenn das nicht so wäre, dann wäre uns ja das Mühen genommen, dasselbe Mühen, mit dem Maria den Palmenbaum erst schütteln mußte. (Koran) Goethe vergleicht darum das Wort einmal sehr anschaulich mit einem Fächer und die einzelnen Buchstaben mit den Stäben des Fächers. Nachdem er die „Schiefohren“ gescholten hat, gibt er uns und ihnen diesen Wink:
„Und doch haben sie recht, die ich schelte:
Denn daß ein Wort nicht einfach gelte,
Das müßte sich wohl von selbst verstehn.
Das Wort ist ein Fächer! Zwischen den Stäben
Blicken ein paar schöne Augen hervor:
Der Fächer ist nur ein lieblicher Flor;
Er verdeckt mir zwar das Gesicht,
Aber das Mädchen verbirgt er nicht,
Weil das schönste, was sie besitzt,
Das Auge, mir ins Auge blitzt.“
- (Divan, Buch Hafis.)
Das Auge, in dem wir die Seele des geliebten Menschen suchen, so wie wir
im geliebten Wort den rechten Sinn suchen:
- „Die Worte sind nur die Mauern.
- Dahinter in immer blauern
- Fernen schimmert ihr Sinn.“
Im tiefen Wort sind wir schon sehr nahe dem Reich ohne Grenzen und ohne andere Machtvollkommenheiten als denen des umfassenden Geistigen: der wahren Universalität, der Einheit! Welcher Reichtum an Möglichkeiten, welcher Bestand an Kraft und Zartheit im Worte der Sprache, welche Heimatlichkeit eines herrlichen Reiches weit über Bürgerpapiere und Politik hinaus, welche Macht der Eintracht Gleichgesinnter in einem ungeheuchelten Frieden! Es ist wie eine Besitzergreifung hinüber und herüber, ein Austausch der höchsten Güter! Fängt nicht eigentlich die Tragik dort an, wo der Mensch das Attribut seiner Würde, eben die Sprache, von sich wirft und zu den Mitteln der Gewalt greift! Also auf das gottgegebene Verständigungsmittel verzichtet? Fängt nicht eben da seine Un-Würde an? Die Sprache als gottgegebenes Verständigungsmittel — ja!
Wir Bahá’i haben einen eigenen Kalender und bezeichnen die Namen
der 19 Monate des Bahá’i-Kalenders mit ebensovielen Eigenschaften Gottes.
Nun, einer davon - es ist ein Wintermonat — hat den Namen „Quaw!“, das
heißt auf deutsch: „Sprache“! Denken wir einmal nach über den tiefen Sinn,
daß sich diesem Monat „Quaw!“ = Sprache, der Monat „Masa’il“, das
heißt auf deutsch: „Fragen“, anschließt. Und dies ist tatsächlich für
uns der Monat der meisten Fragen, dieser Wendemonat — der vom
[Seite 105]
12. Dezember bis 30. Dezember läuft — von der Jahresmitternacht, von der
Finsternis zum Licht! Ja, die Sprache ist eines unserer wichtigsten
Verständigungsmittel und wenn wir nur die wahre Liebe besäßen, dann würden
wir mit der Zunge aller Menschen reden können, denn Liebe ist die
Sprache („Quawl“) aller Wesen und aller Geschöpfe Gottes!
- „Was nützt dem Menschenherz ein flüchtiges Begeistern
- Wo wär sein wahres „Ich“ geblieben?
- Das Leben leben heißt: das Leben meistern!
- Das Leben meistern, heißet: Lieben!“
Die Liebe, sie ist ein Geschenk und eine Aufgabe. Und wohl jeder von uns hat dieses Geschenk schon einmal empfangen. Und weil es uns einmal, zweimal, oder gar noch öfter sozusagen in den Schoß fiel, eigentlich ganz ohne unser Verdienst und Dazutun, darum haben wir es vielleicht — damals - zu gering geachtet, dieses große Geschenk der Liebe, (so wie manch einer zwar ganz gerne ein Geschenk hinnimmt, aber sich der Aufgabe, die dies Geschenk ihm auferlegt, entzieht) weil es ihm an Verständnis fehlte, an Ehrfurcht, an der Demut des Herzens. Dann auch ist die Liebe ein Anruf.
Ja, der Liebe muß sich die Demut zugesellen, — ganz besonders auch die Demut im Lehren und im Überzeugen. Es ist schon so: Der Weise hat oft das größere Sein, selten aber das größere (äußere) Können, und doch wiegen seine Worte unendlich mehr als die von tausend Schönrednern und Wortvirtuosen. Ihm, dem Weisen, mehr noch dem Demütigen, kann es leicht gehen wie jenem schottischen Märtyrer (es war der Prediger Cargell, gest. 1681), der, mit einem Fuße schon auf der Leiter zum Galgen, ausrief: „Der Herr weiß, daß ich diese Leiter mit weniger Furcht hinaufsteige, als ich jemals die Kanzel zum Predigen bestieg.“ Dieser wahrhaft Demütige im Geiste hatte sich die Worte des Jakobusbriefes (3,2) zu Herzen genommen:
„Tretet nicht so zahlreich als Lehrer auf, meine Brüder, ihr wisset, wir haben nur größere Verantwortung. Denn wir fehlen allesamt in vielem: wenn einer im Worte nicht fehlt, der ist ein vollkommener Mann.“
„Tretet nicht so zahlreich als Lehrer auf“ — sagt uns das nicht im tieferen Grunde: tritt du überhaupt nicht auf, d. h. setze dich nie in Szene, sondern laß dich rufen! Hier liegen nämlich die starken Wurzeln der Kraft jedes Propheten und Offenbarers in allen Zeiten und Ländern im Gegensatz zu den allzuvielen Schwätzern.... Wir hören die Abrechnung des großen Jeremia (Kap. 23, 18. 28) mit den Schönrednern seiner Zeit: „Wer ist im Rat des Herrn gestanden, der Sein Wort gesehen und gehört habe? Wer hat Sein Wort vernommen und gehört?“ Und „wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht“. Eine ganz ähnliche Mahnung hören wir in den Verborgenen Worten Bahá’u’lláh’s:
„O Sohn der Erde! Die Weisen unter den Menschen sind die, welche
nicht reden, ehe sie einen Hörer finden, gleichwie der Mundschenk den
Kelch nicht darreicht, ehe er ein Verlangen (danach) sieht und wie der
Liebende nicht aus tiefster Seele ruft, ehe er zur Schönheit der Geliebten
gelangt ist! Darum sollt ihr den Samen der Erkenntnis und Weisheit in die
gute Erde des Herzens in Fülle ausstreuen und dort verborgen halten,
damit die Hyazinthen göttlicher Weisheit
[Seite 106]
aus dem Herzen aufsprießen und nicht aus dem Lehm.“ (Aus dem Persischen, 35.)
Und wenn Christus vom Geist der Wahrheit gesprochen hat, der kommen wird, uns in die ganze Wahrheit zu führen, so darf kein Mensch auf seine eigene Unfehlbarkeit bauen und andere „im Namen Gottes“ - in die Irre leiten! Denn dieser Geist der Wahrheit, der gekommen ist, hilft dem Sprecher wie dem Hörer. Der Sprecher hat von ihm nur das rechte Wort, der Hörer nur den rechten Geist zu erbitten. Beide, Wort und Geist müssen zusammenwirken, um fruchtbar zu werden:
- „Sei das Wort die Braut genannt,
- Bräutigam der Geist,
- Diese Hochzeit hat gekannt,
- Wer den Höchsten preist.“
Was wäre eine Braut — in diesem Falle das Wort - ohne den Bräutigam, — in diesem Falle also ohne Geist? Auch im Johannesbrief (1. Joh. 5, 6) heißt es: „Der Geist ist es, der zeugt, denn der Geist ist die Wahrheit“ — so ist es auch der Geist, der das Gewebe zustande bringt, das aus den Fäden der hinüber und herüber spielenden Gedanken zwischen Sprecher und Hörer das Bild der Wahrheit abzeichnet und formen hilft. Wir müssen uns nur ganz und völlig, in Treue, Lauterkeit, Selbstlosigkeit und frei von Vorurteilen in den Dienst des Wortes stellen. Es ist der schmale, aber einfache Weg zur Wahrheit, die sich uns allerdings kaum im Gesellschaftskleid bietet. (Das wäre wie die Madonna, die Gottesmutter, in großer Abendtoilette!) - Es läuft bei der Warnung des Jakobus letztlich auf zwei Grundfragen hinaus, die sich jeder vorlegen muß. Sie zu beantworten, heißt auch schon sie lösen. „Bist du berufen oder ein Unberufener?“, das ist die eine. Und die andere: „Bist du ein Sprecher der Wahrheit und ein Diener Gottes oder Lohndiener der Welt (und des Publikums) und Liebhaber deiner selbst?“ -
Wir sahen einst „durch einen Spiegel in einem dunklen Wort (dann aber von Angesicht zu Angesicht)“. Das Wort entspringt der Magie. Seine Wiederholung — bei uns im Glockenklang des Reimes schwingend - ist die Seele z. B. des hebräischen Verses. Der Prophet, der Offenbarer, der aus dem Alleinsein in der Wüste (aus dem All = Eins sein) wieder unter die Menschen geht, hat die Dinge wieder aus der Wurzel erfaßt. Nun ist ihm das Wort die Brücke über Ungestaltetes, ein Weg. Dieses Wort ist aber nicht nur Brücke zur Freiheit für den, der drüber schreitet, es kann auch Joch und Fallstrick sein, wie die Geschichte uns lehrt. Denn oft kennzeichnen Aufruhr und Terror die Kreuzwege des Wortes, Am eindringlichsten ist das Wort, wenn es, Fleisch geworden, standhält bis zu jedem ihm auferlegten Opfer. Die Überlieferung von solchem Leben ist von tiefstem Einfluß!
Aber wie sich das Wort über den Buchstaben, der Satz über den Worten
und der Sinn über den Sätzen wölbt, so kann doch auch das bescheidenste
Wort schon einen unglaublichen Reichtum an Farben und Schattierungen
entwickeln. Wir können es geradezu fühlend miterleben, daß
sprachliche Ausdrucksmittel weit mehr als einen Wortschatz zu bilden
vermögen. Denn nicht nur das Wort wohnt im Dinge, sondern das Ding
auch im Worte, genau so, wie in der Frucht der Kern wohnt und im Kern
der ganze Baum. Darum können wir das Menschenwort mit der Pflanze
[Seite 107]
vergleichen, denn es hat Wurzel, Zweig und Stamm: so wächst es aus den
Gründen der Volkssprache in die Luft der Hochrede und der Dichtung und
es finden sich, wie im Leben der Kulturpflanzen, auch hier Verfall und
Erneuerung. Es wachsen Wildlinge aus der Mundart in den Adel der
Schriftsprache und der Dichtkunst, und diese Wildlinge bewahren mit ihrer
jungen Kraft die oberen Schichten vor Degeneration und Verkrustung.
Nun müssen wir zum Schluß noch den Unterschied zwischen dem gesprochenen und dem geschriebenen Wort kurz beleuchten. Das gesprochene Wort läßt sich immer wieder durch ein weiteres erklären, verbessern, zurücknehmen, während das geschriebene fest und starr vor dem Auge des Lesers steht. Dem gesprochenen Wort kommen Stimme, Ausdruck, Tonfall zu Hilfe, während das geschriebene Wort diese Hilfe entbehren muß. Da wollen wir noch einmal als Beispiel den Mephistopheles zitieren und den Rat, den er dem unerfahrenen, gläubigen Schüler erteilt:
Meph.:
- „Im Ganzen haltet euch an Worte!
- Dann geht ihr durch die sichre Pforte
- Zum Tempel der Gewißheit ein!“
Ganz schüchtern entgegnet ihm der Schüler:
- „Doch ein Begriff muß bei dem Worte sein.“
Mephisto will aber von den Begriffen, also vom Geist, wenig wissen und den Schüler lieber auf sture Buchstabengläubigkeit festnageln. Er lehnt darum den Geist im Wort ab und schildert die Vorzüge der Wortgläubigkeit. Hören wir ihn:
Meph.:
- „Schon gut! Nur muß man sich nicht allzu ängstlich quälen;
- Denn eben, wo Begriffe fehlen,
- Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
- Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
- Mit Worten ein System bereiten,
- An Worte läßt sich trefflich glauben,
- Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben.“
Hier wird also nicht etwa — wie manche glauben — die Leerheit des Wortes erwiesen, sondern vielmehr die Unzulänglichkeit des Wortes gegenüber dem Begriffe, dem Geist aufgezeigt (also wieder die Wortbraut, die ohne den Bräutigam Geist unfruchtbar bleibt!) das, und nur das hat Goethe aufzeigen wollen, denn er sagt einmal zu Eckermann: „Um Gedanken und Anschauungen ist es den Leuten auch gar nicht zu tun. Sie sind zufrieden, wenn sie nur Worte haben, womit sie verkehren; was schon mein Mephistopheles gewußt und gar nicht übel ausgesprochen hat!“ (Goethe, der sich nach seinem eigenen Eingeständnis „vor nichts so sehr als vor leeren Worten gehütet“ hat und der von sich sagte: „Eine Phrase, wobei nichts gedacht oder empfunden war, verursachte mir tiefe Pein; an anderen unerträglich, war sie mir von je unmöglich.“ --
Wenn ich so manches aus Heiligen Schriften und auch manches Dichterwort
zitiert habe, so geschah das aus einem bestimmten Grunde. Denn
wirklich: „Poesie deutet auf die Geheimnisse der Natur und sucht sie
durchs Bild zu lösen, Philosophie deutet auf die Geheimnisse der Vernunft
und sucht sie durchs Wort zu lösen“, der Glaube aber (das Mystische,
Unaussprechliche) zeigt uns die Geheimnisse der Natur und Vernunft und
sucht sie uns durch Wort und Bild zu lösen.
[Seite 108]
Jedes Wort ist ein Symbol, und jedes Symbol verwandelt die irdische Erscheinung in eine Idee, die Idee in ein Bild. Diese Idee im Bild, das ist der Geist, bleibt immer unendlich wirksam und im letzten vielleicht unaussprechlich.
Worte haften und verklingen, so wie in unserm Leben die Erinnerungen an Tage und Stunden als Erlebnisse haften, verschweben und verklingen. Von allem Streben und Sehnen bleibt uns: der Abglanz.
Mit der Durchdringung der Materie durch die Idee (= des Wortes durch den Geist) vermag wie der Welten- so auch der Sprachschöpfer sein Geschöpf vom Niederen zum Höheren emporzusteigern, Verengungen zu überwinden, das Begrenzte zu erweitern und die Schwere zum Schweben zu bringen. Dann werden die Wortbilder zum farbigen Abglanz des Lebens und zu einem Höheren: zu ahnenden Schatten der Seele.
- „Worte sind der Seele Bild
- Nicht ein Bild, sie sind ein Schatten!
- Sagen herbe, deuten mild,
- Was wir haben, was wir hatten.
- Und was ist’s denn, was wir haben?
- Nun, wir sprechen! Rasch im Fliegen
- Haschen wir des Lebens Gaben.“
So wie die Synthese immer wichtiger ist als die Analyse, so ist die Zusammenschau der Welt im Wert und im Wort erst die rechte Weltanschauung. Und wenn die Suche der Werterkenntnis und der Worterfüllung mit sehenden Augen angetreten wird, dann gelangen wir zu den ewigen Wahrheiten. Je weiter wir dabei wandern, umso mehr werden wir den Ernst für eine große, heilige Sache mit der echten Liebe für alles Menschliche verbinden. Gewiß, der Suchende hat es nicht immer leicht, er darf weder verbissen, fanatisch noch empfindlich sein, denn er muß immer unter der Sache stehen, der er dient und zugleich über jeder Situation, in die ihn sein Dienst täglich führen kann. Aber was wir alle suchen und wollen, ist im Grunde so einfach. Es ist ganz schlicht: Das Gute! Und das Gute ist gar nicht tragisch. Darum wird auch der auf das Gute gerichtete Blick immer freudig sein — inmitten jeder Wirklichkeit.
Wir Bahá’i glauben fest an den „Sieg des Guten“, an diesen letzten „Endsieg“. Dies ist unser Glaube. Mancher wird an diesen Sieg des Guten auch in irdischen Dingen nur schwer glauben können. Mag der Suchende vielleicht darum auch an den Sieg des Guten nicht recht glauben können, aber an eines muß er doch glauben: An die Kraft des Guten. Die kann niemand leugnen, denn jeder hat sie schon einmal gefühlt und gespürt, bei irgendeiner Gelegenheit in seinem Leben. In sich oder in anderen. Die Kraft des Guten — auch die Kraft des guten Wortes. Und das wollen wir erkennen: die Kraft des guten Wortes ist schlichte, schöne Wirklichkeit. Lassen wir sie in uns und aus uns wirken!
- „Können wir uns je vollenden?
- Wenn wir uns nur gern verschwenden!“
1) Vgl. SdW. 1925, Oktober. Aus „Göttliche Philosophie“.
2) Divan, Buch der Betrachtungen, Tefkir Nameh.
3) Divan, Buch des Sängers, Moganni Nameh.
ÄHRENLESE AUS DEN SCHRIFTEN VON BAHA’U’LLAH[Bearbeiten]
Nach der englischen Übersetzung von Shoghi Effendi (New York, Bahá’i Publishing Committee 1935) ins Deutsche übertragen.
(Fortsetzung)
Die Propheten Gottes sollten als Ärzte betrachtet werden, deren Aufgabe es
ist, das Wohlbefinden der Welt und derer Völker zu fördern, damit sie durch
den Geist der Einheit die Krankheit einer zerspalteten Menschheit heilen.
Niemandem ist das Recht gegeben, ihre Worte in Frage zu stellen und ihre
Führung zu verunglimpfen, denn sie sind die einzigen, die beanspruchen können,
den Kranken zu verstehen und seine Leiden einwandfrei festzustellen. Kein
Mensch, wie scharf auch sein Wahrnehmungsvermögen sein mag, kann jemals
hoffen, die Höhe der Weisheit und des Verständnisses des göttlichen Arztes zu
erreichen. Was Wunder daher, wenn an diesem Tag die durch den Arzt
vorgeschriebene Behandlung nicht die gleiche ist, wie die ehedem von ihm
verschriebene! Wie könnte es anders sein, wenn die den Leidenden befallenden
Übel in jedem Zustand seiner Krankheit ein besonderes Heilmittel nötig
machen? So haben auch die Propheten Gottes jedesmal, wenn sie die Welt
mit dem strahlenden Glanz der Sonne göttlicher Erkenntnis erleuchtet haben,
die Völker beständig durch solche Mittel aufgefordert, das Licht Gottes zu
empfangen, wie sie den Erfordernissen des Zeitalters, in welchem sie erschienen,
am besten entsprachen. Auf diese Weise waren sie imstande, das Dunkel der
Unwissenheit zu zerstreuen und den Glanz ihrer Erkenntnis über die Welt zu
verbreiten. Daher muß das Auge eines jeden Einsichtigen auf das innerste
Wesen dieser Propheten gerichtet sein, weil ihre eine und einzige Absicht immer
die gewesen ist, die Irrenden zu führen und den Betrübten Frieden zu bringen.
Dies sind keine Tage des Wohlergehens und Triumphes. Die ganze Menschheit
wird von mannigfachen Übeln umklammert. Bemühe dich daher, ihr Leben
durch die heilsame Arznei zu retten, welche die allmächtige Hand des nie
irrenden Arztes bereitet hat.
Und nun zu deiner Frage über das Wesen der Religion. Wisse, daß die wahren Weisen die Welt mit einem menschlichen Tempel verglichen haben. Wie der Körper des Menschen ein Gewand braucht, ihn zu kleiden, so muß der Körper der Menschheit notwendigerweise mit dem Mantel der Gerechtigkeit und Weisheit geschmückt sein. Sein Kleid ist die ihm von Gott gewährte Offenbarung. Wenn dieses Kleid seinen Zweck erfüllt hat, wird der Allmächtige es gewißlich erneuern. Denn jedes Zeitalter erfordert ein frisches Maß des Lichtes Gottes. Jede göttliche Offenbarung wurde so herabgesandt, wie sie den Umständen des Zeitalters entsprach, in welchem sie erschien.
Und nun deine Frage, die sich auf die Reden der Führer vergangener
Religionen bezieht! Jeder weise und lobenswerte Mensch wird ohne Zweifel ein
so leeres und nutzloses Gespräch vermeiden. Der unvergleichliche Schöpfer hat
alle Menschen aus dem gleichen Stoff erschaffen und hat ihre Wirklichkeit
über Seine übrigen Geschöpfe erhoben. Erfolg oder Fehlschlag, Gewinn oder
Verlust müssen daher von des Menschen eigenem Bemühen abhängen. Je mehr
er strebt, desto größer wird sein Fortschritt sein. Wir hoffen daher, daß die
[Seite 110]
Frühlingsschauer der Güte Gottes die Blumen wahren Verstehens auf dem Boden
der Menschenherzen sprießen lassen und alle irdische Verunreinigung von
ihnen abwaschen.
XXXV. Überlege ein wenig! Was mag in jeder Ausgießung die Völker der Erde getrieben haben, die Manifestation des Allbarmherzigen zu meiden? Was kann sie gedrängt haben, sich von Ihm abzuwenden und Seine Autorität in Frage zu stellen? Würden die Menschen über die aus der Feder des göttlichen Verordners geflossenen Worte nachdenken, so würden sie sich alle beeilen, die Wahrheit dieser gottgegebenen und ewigwährenden Offenbarung zu erfassen und würden bezeugen, was Er feierlich bestätigt hat. Es ist der Schleier eitler Einbildungen, der sich in den Tagen der Manifestationen der Einheit Gottes und der Morgendämmerungen Seiner ewigen Herrlichkeit zwischen sie und die übrige Menschheit gelegt hat und es auch weiterhin tun wird. Denn in jenen Tagen offenbart sich Der, welcher die ewige Wahrheit ist, in Übereinstimmung mit dem, was Er beabsichtigt hat, und nicht entsprechend den Wünschen und Erwartungen der Menschen, so wie Er offenbarte: „Bläht ihr euch nicht jedesmal voll Stolz, wenn ein Apostel zu euch kommt mit dem, was eure Seele nicht wünscht, und behandelt einige von ihnen wie Betrüger, und andere tötet ihr gar?“
Wenn diese Apostel in vergangenen Zeitaltern und Zyklen, den leeren Einbildungen entsprechend, welche die Herzen der Menschen ersannen, erschienen wären, so hätte zweifellos niemand die Wahrheit dieser geheiligten Wesen zurückgewiesen. Obwohl derartige Menschen Tag und Nacht des einen, wahren Gottes gedachten und fromm mit der Ausübung ihrer Andachtsübungen beschäftigt waren, versäumten sie dennoch am Ende, die Morgendämmerungen der Zeichen Gottes und die Manifestationen Seiner unwiderleglichen Beweise zu erkennen und an ihrer Gnade teilzuhaben. Das bezeugen die Schriften. Du hast ohne Zweifel hiervon gehört.
Betrachte die Sendung Jesu Christi. Obwohl alle Gelehrten des damaligen Geschlechtes das Kommen des Verheißenen begierig erwarteten, verleugneten sie Ihn dennoch. Sowohl Hannas, der gelehrteste unter den Theologen seiner Zeit, wie auch Kaiphas, der Hohepriester, klagten Ihn öffentlich an und sprachen Sein Todesurteil aus.
Als Muhammad, der Prophet Gottes — mögen alle Menschen ein Opfer für
Ihn sein - erschien, erhoben sich gleichfalls die Gelehrten Mekkas und Medinas
in den frühen Tagen Seiner Offenbarung gegen Ihn und verwarfen Seine Botschaft,
während diejenigen, die aller Gelehrsamkeit entbehrten, Seinen Glauben
erkannten und erfassten. Überlege ein wenig! Betrachte, wie Balál, der
Äthiopier, ungelehrt wie er war, in den Himmel des Glaubens und der Gewißheit
aufstieg, während ‘Abdu’lláh Ubayy, ein Führer unter den Gelehrten, sich
heimtückisch mühte, Ihm Widerstand zu leisten. Siehe, wie ein einfacher
Schafhirt so von Begeisterung für die Worte Gottes hingerissen wurde, daß er
fähig war, Zutritt zum Wohnsitz seines Geliebten zu erhalten, und mit Ihm,
dem Herrn der Menschheit, vereint wurde, während diejenigen, die sich mit
ihrer Erkenntnis und Weisheit brüsteten, weit von Seinem Pfade abirrten und
Seiner Gnade beraubt blieben. Aus diesem Grund hat Er geschrieben: „Wer
[Seite 111]
unter euch erhöht ist, soll erniedrigt werden, und wer erniedrigt ist, soll erhöht
werden.“ In den meisten der himmlischen Bücher sowohl als in den Aussprüchen
der Propheten und Boten Gottes sind Hinweise auf diesen Gegenstand zu finden.
Wahrlich, Ich sage, solcherart ist die Größe dieser Sache, daß der Vater seinen Sohn verläßt und der Sohn seinen Vater. Rufe dir die Geschichte von Noah und Kanaan ins Gedächtnis zurück. Gott gebe, daß ihr in diesen Tagen himmlischer Freude euch nicht selber der süßen Düfte des allherrlichen Gottes beraubt und daß ihr in dieser geistigen Frühlingszeit an den Ergüssen Seiner Gnade teilhaben möget. Erhebt euch im Namen Dessen, der das Ziel aller Erkenntnis ist, und in vollkommener Loslösung von der Gelehrsamkeit der Menschen erhebt eure Stimme und verkündet Seine Sache. Ich schwöre bei der Sonne göttlicher Offenbarung! Im gleichen Augenblick, da ihr euch erhebt, werdet ihr wahrnehmen, wie eine Flut göttlicher Erkenntnis euren Herzen entströmt, und ihr werdet die Wunder Seiner himmlischen Weisheit in all ihrer Herrlichkeit vor euch enthüllt sehen. Würdet ihr die Süße der Worte des Allbarmherzigen kosten, ihr würdet ohne Zögern eurem Selbst entsagen und euer Leben für den Vielgeliebten hingeben.
Wer kann jemals glauben, daß dieser Diener Gottes zu irgendeiner Zeit in Seinem Herzen ein Verlangen nach irgendwelchem irdischen Ansehen und Gewinn gehegt hätte? Die Sache, die mit Seinem Namen verknüpft ist, steht weit über den vergänglichen Dingen dieser Welt. Sieh Ihn, einen Verbannten, ein Opfer der Gewalt, in diesem größten Gefängnis! Von allen Seiten haben Seine Feinde Ihn überfallen und werden es auch weiter tun bis zum Ende Seines Lebens. Was Er euch daher auch immer sagt, geschieht völlig um Gottes Willen, damit vielleicht die Völker der Erde ihre Herzen vom Makel bösen Verlangens reinigen, dessen Schleier zerreißen und zur Erkenntnis des einen, wahren Gottes — der erhabensten Stufe, die ein Mensch erstreben kann — gelangen. Ihr Glaube oder Unglaube in Meiner Sache kann Mir weder nützen noch schaden. Wir fordern sie ganz allein um Gottes willen auf. Er, wahrlich, kann alle Geschöpfe entbehren.
XXXVI. Wisse, daß die ganze Schöpfung in großer Trauer weinte, als der Menschensohn Seinen Geist zu Gott aufgab. Indem Er sich selber opferte, wurde eine neue Fähigkeit allem Erschaffenen eingeflößt. Die Beweise hiefür, die sich in allen Menschen der Erde dartun, sind nun vor dir offenbar. Die tiefste Weisheit, welche die Weisen zum Ausdruck gebracht haben, die gründlichste Gelehrsamkeit, die irgend ein Geist entfaltet hat, die Künste, welche die fähigsten Hände hervorgebracht haben, der Einfluß, der durch die allermächtigsten Herrscher ausgeübt wurde, sind nur Offenbarungen der beseelenden Kraft, die durch Seinen erhabenen, Seinen alldurchdringenden und strahlenden Geist entfesselt wurde.
Wir bezeugen, daß Er den Glanz Seiner Herrlichkeit über alles Erschaffene
goß, als Er in die Welt trat. Durch Ihn wurde der Aussätzige vom Aussatz der
Verderbtheit und Unwissenheit geheilt. Durch ihn wurden der Unreine und der
Widerspenstige geläutert. Durch Seine aus dem allmächtigen Gott geborene
[Seite 112]
Macht wurden die Augen der Blinden geöffnet und die Seelen der Sünder geheiligt.
Der Aussatz mag als ein Schleier gedeutet werden, der zwischen den Menschen und die Erkenntnis des Herrn, seines Gottes, tritt. Wer sich von Ihm trennen läßt, ist in der Tat ein Aussätziger, dessen im Reiche Gottes, des Mächtigen, des Allgepriesenen, nicht gedacht werden wird. Wir bezeugen, daß durch die Macht des Wortes Gottes jeder Aussätzige gereinigt, jede Krankheit geheilt, jede menschliche Schwäche gebannt wurde. Er ist es, der die Welt läuterte. Gesegnet ist der Mensch, der sich Ihm mit einem von Licht strahlenden Angesicht zugewandt hat.
XXXVII. Gesegnet ist der Mensch, der seinen Glauben an Gott und Seine Zeichen bekannt und erkannt hat: „Er soll nicht über Sein Tun befragt werden.“ Eine solche Erkenntnis wurde von Gott zur Zierde jeden Glaubens und zu seiner wahren Grundlage gemacht. Von ihr muß die Annahme jeder guten Tat abhängen. Heftet euer Auge darauf, damit es geschehe, daß das Geflüster der Widerspenstigen euch nicht zum Straucheln bringe.
Würde Er erlauben, was seit undenklicher Zeit verboten ist, und das verbieten, was zu allen Zeiten als erlaubt gegolten hat, so ist keinem das Recht gegeben, Seine Autorität in Frage zu stellen. Wer zögert, und sei es auch weniger als einen Augenblick lang, sollte als Übertreter betrachtet werden.
Wer diese hohe und grundlegende Wahrheit nicht erkannt hat und versäumte, jene erhabene Stufe zu erreichen, den werden die Winde des Zweifels rütteln, und die Reden der Ungläubigen werden seine Seele zerreißen. Derjenige, der diesen Grundsatz anerkannt hat, wird mit vollkommener Standhaftigkeit ausgestattet werden. Alle Ehre sei dieser allherrlichen Stufe, deren Erwähnung jedes erhabene Tablet ziert. Das ist die Lehre, die Gott dir erteilt, eine Lehre, die dich von jeder Art Zweifel und Verwirrung befreien und dich befähigen wird, in dieser Welt wie in der nächsten Erlösung zu finden. Er, wahrlich, ist der Ewigvergebende, der Großmütige.
GOTTESOFFENBARUNG[Bearbeiten]
Worte von Bahá’u’lláh *)
Wisse gewiß, daß der Unsichtbare auf keine Weise Seine Wesenheit dem Menschen offenbaren kann. Er ist und war seit je unendlich über alles, was beschrieben oder wahrgenommen werden kann, erhaben. Aus Seiner Zurückgezogenheit der Herrlichkeit verkündet Seine Stimme immerdar: ‚Wahrhaftig, Ich bin Gott; es gibt keinen Gott außer Mir, dem Allwissenden, dem Allweisen. Ich habe mich den Menschen kundgetan und Den herabgesandt, der das Morgenrot der Zeichen Meiner Offenbarung ist. Durch Ihn habe Ich alles Erschaffene bezeugen lassen, daß es keinen Gott gibt außer Ihm, dem Unvergleichlichen, dem Allwissenden, dem Allweisen‘. Er, der allezeit den Menschenaugen verborgen ist, kann nie erkannt werden, es sei denn durch Seine Offenbarung.
*) Entnommen und ins Deutsche übertragen aus „Bahá’u’lláh“, Bahá’i World Faith.
GÖTTLICHE LEBENSKUNST[Bearbeiten]
- Aus dem Englischen übertragen
- (Fortsetzung)
8. KAPITEL: PRAKTISCHE ANWENDUNG DES GEISTIGEN LEBENS
Dienen
Es gibt nichts Höheres, als im Dienste am Reiche Gottes gebunden und beflissen zu sein, dem Herrn wohlzugefallen. Ich wünsche daher, daß eure Herzen sich dem Königreich Gottes zuwenden, eure Absichten rein und aufrichtig seien, daß euer Streben dem Dienste am Mitmenschen ohne Rücksicht auf euer persönliches Wohlergehen gelten möge, ja, daß vielmehr all euer Trachten auf das Wohlergehen der Menschheit gerichtet sei und ihr nach dem Pfade suchen möget, auf dem ihr euch für das Wohl der Menschheit aufopfert. So, wie Seine Heiligkeit Jesus Christus Sein Leben zum Pfand gab, so sollt auch ihr euch für eine bessere Welt aufopfern, und so wie Seine Heiligkeit Bahá’u’lláh fast fünfzig Jahre lang schwere Ungemach und harte Prüfungen für euch ertrug, so sollt auch ihr gewillt sein, für die Menschheit als solche Unbill zu ertragen und Katastrophen zu überstehen. (1)
Abseits vom allgemeinen Wohl kann es keine wahre Befriedigung und Zufriedenheit geben. (2)
O Volk Gottes! Denkt nicht an euch selbst. Seid auf die Besserung der Welt und die Erziehung der Völker bedacht. Eine Besserung der Welt läßt sich durch lautere und hervorragende Taten, durch wohlanständiges und angenehmes Verhalten erreichen. (3)
Die Früchte am Baume der Menschheit waren und sind immer noch: rechtschaffene Taten und ein lobenswerter Charakter. Vorenthalte diese Früchte den Unbesonnenen nicht. Wenn sie angenommen werden, so ist dein Ziel erreicht und der Sinn des Lebens erfüllt. Wenn nicht, dann mögen sie sich ihre Zeit mit zwecklosen Disputen vertreiben. O Volk Gottes! Strebe darnach, daß die Herzen all der verschiedenen Völker auf Erden durch die Wasser deiner Langmut und Güte geheiligt und gereinigt werden von aller Feindseligkeit und allem Haß, daß sie würdige und hinreichende Empfänger werden des Strahlenglanzes aus der Sonne der Wahrheit. (4)
Wenn du nach der ewigen Herrlichkeit strebst, so sei bescheiden und demütig in der Gegenwart der Geliebten Gottes. Werde zum Diener aller und diene allen gleich. Dienst an Freunden ist nicht ihre Sache, sondern Gottes Sache. Strebe darnach, zu einer Quelle von Harmonie, Durchgeistigung und Freudigkeit für die Herzen der Freunde zu werden! (5)
Sei nicht müßig, sondern tätig und furchtlos. (6)
Wenn du nach einer Arbeit suchst, die interessanter und ansprechender, köstlicher und lehrreicher ist als alles andere, so ist es der Dienst an der Schwelle des Allmächtigen und das Dienen für Seine Hoheit, den Herrn der Macht. (7)
Um ein Kurzes wird das Wort Gottes einen wunderbaren Einfluß ausüben und
schließlich wird dieses Gebiet (Amerika) zum Paradies Abhás werden. Strebet
daher wacker danach,
[Seite 114]
daß dieses Ziel in absehbarer Zeit erreicht werden möge. Dieses Streben
aber besteht darin: ihr sollt nach den göttlichen Geboten und Vorschriften
leben, einig sein in freudiger und jubelnder Liebe... Seid beständig im
Dienste der Sache Gottes. (8)
Kindererziehung
Und nun zu dieser Frage, die Erziehung der Kinder betreffend: es ist deine Pflicht, sie mit der Nahrung aus der Brust göttlicher Liebe zu versehen, sie zu geistigen Dingen anzutreiben, sie Gott zuzuwenden und gute Sitten, beste Charakterzüge, ihnen und den Menschen wohlgefällige Tugenden und Eigenschaften beizubringen, sie zum fleißigsten Studium der Wissenschaften anzuhalten, damit sie von Kindheit an durchgeistigt, himmlisch und den Wohlgerüchen der Heiligkeit von Kindesbeinen an zugeneigt und so in religiöser, geistiger, himmlischer Art erzogen werden. Wahrlich, ich bete zu Gott, daß Er sie in solchem allem bestärken möge. (9)
Die Geliebten Gottes und die Dienerinnen des Barmherzigen sollen ihre Kinder durch das Vorbild ihres Lebens und mit dem Herzen erziehen und sie in Tugend und Vollkommenheit unterweisen. Sie dürfen hierin nicht lässig, nicht untüchtig sein. Fürwahr, es wäre besser für ein Kind, daß es stürbe, ehe es in Unwissenheit aufwächst, denn in seinem späteren Leben würde dieses unschuldige Kindlein mit zahllosen Fehlern behaftet sein, für die es von Gott verantwortlich gemacht und zur Rechenschaft gezogen würde, während die Menschen es mit Vorwürfen überhäufen und verstoßen. Welche Sünde wäre dies und welche Versäumnis! Vornehmste Pflicht der Geliebten Gottes und der Dienerinnen des Barmherzigen ist es, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln beide Geschlechter, das männliche wie das weibliche, sowohl Mädchen als auch Knaben, zu bilden; es gibt keinerlei Unterschied zwischen ihnen. Unwissenheit ist bei beiden tadelnswert und Nachlässigkeit ist in beiden Fällen sträflich. „Sind die, welche wissen, und die, welche nicht wissen, gleich?“
Dies Gebot ist entscheidend für beide. Praktisch gesehen ist es sogar wichtiger, für die Erziehung und Bildung der Töchter zu sorgen, als für die der Söhne, denn diese Mädchen werden einmal Mütter sein und das Leben ihrer Kinder gestalten. Die Mutter ist die erste Erzieherin des Kindes. Dieses wird wie ein zartes grünes Reis so wachsen, wie es gezogen ist. Wenn es recht gezogen ist, wird es auch recht wachsen, ist es aber verbogen, so wird es auch so wachsen und sich bis an sein Lebensende entsprechend verhalten.
Es steht also fest, daß eine unerzogene und eingebildete Tochter, sobald sie selbst Kinder hat, zur ersten Ursache der Entartung, Unwissenheit, Nachlässigkeit und mangelhaften Erziehung vieler Kinder wird.
O ihr Geliebten Gottes und Dienerinnen des Barmherzigen! Nach den
maßgeblichen Texten der Gesegneten Schönheit (Bahá’u’lláh) ist Lehren
und Lernen eine Pflicht. Wer darin Gleichgültigkeit walten läßt, beraubt
sich selbst der großen Gabe. Achtet, achtet darauf, daß ihr hierin nicht
versagt! Sucht mit ganzem Herzen, mit einem ganzen Leben eure Kinder
zu erziehen, insbesondere eure Töchter! Jedes Versagen hierin ist
unentschuldbar!
[Seite 115]
So möge ewiger Glanz und ständige Überlegenheit der Mittagssonne gleich über dem gesamten Volke Bahá’s strahlen und das Herz ‘Abdu’l-Bahá’s beglückt und dankbar machen. (10)
Lehrt eure Kinder die Offenbarungen der erhabenen Feder, unterweist sie in dem, was vom Himmel der Größe und Allmacht herabstieg. Sorget, daß sie die Tablete des Barmherzigen sich einprägen. (11)
Gebete für Kinder
O Gott! Erziehe diese Kinder! Diese Kinder sind die jungen Stämmchen in Deinem Obstgarten, die Blumen auf Deiner Wiese, die Rosen in Deinem Garten.
Möge Dein Regen auf sie fallen. Möge die Sonne der Wirklichkeit sie mit Deiner Liebe bestrahlen. Möge Dein Windhauch sie erfrischen, damit sie erzogen werden, heranwachsen, sich entfalten, und schließlich in äußerster Vollkommenheit erstrahlen! Du bist der Gebende! Du bist der Barmherzige!
O Du unvergleichlicher Herr! Beschirme dieses hilflose Kind! Sei milde und vergib dem Schwachen und Sündigen! O Schöpfer! Wenn wir auch nur nutzloses Gras sind, so gehören wir doch zu Deinem Garten. Wenn wir auch nur junge Stämmchen sind, ohne Blätter und Blüten, so gehören wir doch zu Deinem Obstgarten. Ernähre daher dieses Reis mit dem Regen Deiner Güte; erfrische und belebe diese matten, jungen Stämmchen mit dem Lufthauch Deines geistigen Frühlings.
Erwecke, erleuchte, erhalte uns. Gib uns ewiges Leben und nimm uns in Dein Königreich auf! (13)
Erziehung
Es ist die Pflicht eines jeden Menschen, Wissen zu erwerben; aber es sollte eine Wissenschaft sein, die für die Völker der Welt von Nutzen ist, nicht eine, die nur mit Worten beginnt und mit Worten endet. Wissenschaftler und Künstler stehen unter den Völkern der Erde in hohem Ansehen ... Wahrlich, der hervorragendste Schatz eines Menschen ist sein Wissen. Wissen ist der Weg zu Ehren, Wohlstand, Freude, Glück und Frohlocken!
Du fragst an, ob du die wissenschaftliche Fortbildung in Paris aufgeben und dich ganz der Verkündigung dieser Wahrheit widmen solltest. Diese Absicht ist in der Tat lobenswert und angebracht, doch wäre es besser und vollkommener, wenn du beides vereinigen könntest, denn in diesem neuen Jahrhundert sind Kenntnisse und Wissenschaften, Technik und schöne Künste, ob göttlicher oder weltlicher, materieller oder geistiger Art, eine Gott wohlgefällige Angelegenheit und eine Pflicht, deren Erfüllung von uns allen verlangt wird. Gib daher nie die geistigen Dinge zugunsten der materiellen auf, denn du bist zu beiden verpflichtet. Trotzdem sollst du, während du dich der wissenschaftlichen Ausbildung widmest, dich von der Anziehungskraft der Liebe deines herrlichen Herrn lenken lassen und stets daran denken, Seinen strahlenden Namen zu preisen. Wenn du dich darnach richtest, mußt du die vollkommene Beherrschung des von dir studierten Wissensgutes erreichen. (15)
Arbeit und Reichtum
Der Mensch muß sein ganzes Ich erkennen und wissen, was zu Erhabenheit
[Seite 116]
oder Gemeinheit, zu Schande oder Ehre, zu Wohlstand oder Armut
führt. Wenn dann der Mensch sein eigenes Ich erkannt hat und reif
geworden ist, dann braucht er Wohlstand. Es ist löblich, wenn dieser
Wohlstand durch Ausübung eines Berufes oder einer Kunstfertigkeit
erworben wird. (16)
In der Bahá’i-Lehre werden Künste, Technik und jegliches Handwerk als Gottesdienst bewertet. Der Mann, der nach bestem Wissen und Können ein Stück Notizpapier herstellt, indem er gewissenhaft alle seine Anstrengungen auf die vollkommenste Ausführung richtet, preist Gott. Kurzum, jede Anstrengung, die ein Mensch aus überströmendem Herzen macht, ist Gottesdienst, wenn sie aus edelsten Motiven und im Willen erfolgt, der Menschheit zu dienen. Gottesdienst ist es, der Menschheit zu dienen und ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Dienen ist Gehet. (17)
Wahres Vertrauen liegt für den Dienenden darin, seinen Beruf und Wirkungskreis in dieser Welt zu erfüllen, sich an Gott zu halten und nichts außer Seiner Gnade anzustreben, da in Seiner Hand das Schicksal all Seiner Diener liegt. (18)
O Mein Diener! Die besten Menschen sind die, welche ihren Lebensunterhalt für sich und ihre Angehörigen in der Liebe zu Gott, dem Herrn der Welten, verdienen. (19)
Du sollst dich von allem Verlangen lösen außer dem Verlangen nach deinem Herrn, dem Allerhöchsten, und weder Hilfe noch Unterstützung von irgendjemandem in der Welt erwarten, nicht einmal von deinem Vater oder deinen Kindern. Schicke dich in Gott! Begnüge dich mit wenigem an irdischen Gütern! Wahrlich, Sparsamkeit ist ein großer Schatz. Wenn ein Verwandter dich bedrückt, so verklage ihn nicht vor den Behörden, ertrage vielmehr alles Ungemach und alle Schwierigkeiten mit wunderbarer Geduld. Wahrlich, dein Gebieter ist der Herr der Treue. Vergib und übersieh die Fehler dieser Menschen im Namen der Liebe und Zuneigung. Wisse, daß nichts in diesem Leben dir nützen wird außer dem Flehen zur Gott und dem Gebet zu Ihm, Dienst in Seinem Weinberg und ständige Hingabe an Ihn mit einem Herzen voller Liebe. (20)
O Ihr Prahler mit irdischen Gütern! Wisset, daß der Reichtum eine starke Schranke bildet zwischen dem Sucher und dem Gesuchten und zwischen den Liebenden und dem Geliebten. Höchst selten nur wird ein Reicher zur Gottesnähe kommen und zur Stätte der Zufriedenheit und Ergebung gelangen. Gut steht es also um den Reichen, dessen Besitz ihn nicht fernhält vom ewigen Königreiche und ihn des ewigen Besitzes nicht beraubt. Bei dem Größten Namen! Das Licht eines solchen Reichen wird für die Bewohner des Himmels ebenso leuchten, wie die Sonne für die Bewohner der Erde leuchtet. (21)
Wer reich ist... muß stets der Armen gedenken, denn groß ist die Ehre,
die Gott solchen Armen bestimmt hat, die in Geduld beständig sind.
Bei Meinem Leben! Mit dieser Ehre läßt sich nur das vergleichen, was
Gott sonst noch verleihen mag. Groß sind die Segnungen, die solche
Armen erwarten, welche geduldig ausharren und ihre Leiden verbergen, und
wohl den Reichen, die von ihren Schätzen den Notleidenden mitteilen und ihnen
vor sich selbst den Vorrang geben. Wollte Gott, daß die Armen sich anstrengen
und darnach streben wollten, ihren
[Seite 117]
Unterhalt zu verdienen. Es ist dies eine Pflicht, welche in dieser größten
Offenbarung einem jeden vorgeschrieben ist und vor Gott als eine fromme
Tat angesehen wird. Denen, die dieser Pflicht nachkommen, ist die Hilfe des
Unsichtbaren gewiß. Seine Gnade kann Seinen Auserwählten Reichtum
verleihen. Wahrlich, Er hat die Macht über alle Dinge... (22)
Ein Gebet um das Lebensnotwendigste
Herr, wir sind betrübt, sei Du uns gnädig. Wir sind arm, lasse uns teilhaben am Meere Deines Reichtums. Wir sind bedürftig, gib uns, was wir brauchen. Wir sind erniedrigt, gib uns von dem Glanz Deiner Herrlichkeit! Den Vögeln in der Luft und den Tieren auf dem Felde weisest Du täglich ihre Nahrung zu, und alle Wesen unterstehen Deiner Fürsorge und Liebe. — Beraube dieses schwache Geschöpf nicht Deiner wunderbaren Gnade und gewähre durch Deine Macht Deine Wohltaten dieser hilflosen Seele! Gib uns unser tägliches Brot und mehre Du, was wir fürs Leben brauchen, damit wir von niemandem außer von Dir abhängen, ganz in Dir aufgehen, auf Deinen Wegen wandeln und Deine Geheimnisse verkünden. Du bist der Allmächtige, der Liebende, der Versorger der ganzen Menschheit. (23)
Großmut und Spende
O ihr Reichen auf Erden! Die Armen sind Meine Anvertrauten unter euch. Darum hütet Meine Anvertrauten wohl und verharret nicht völlig in einer behaglichen Ruhe. (24)
Der Mensch sollte fortwährend ein Quell des Wohlbefindens und eine immer bereite Hilfe zum Wohlstand für die Massen der Völker sein. (25)
Er (der wahre Sucher) sollte dem Besitzlosen beistehen und dem Hilflosen nie seine Gunst versagen. Er sollte den Tieren Güte erweisen — wieviel mehr aber noch seinem Nächsten, der mit der Gabe der Verständigung versehen ist. (26)
Gott verlangt von jedem nur nach seinen Fähigkeiten...
Wer eine gute Tat begeht, dem wird Gott es zehnfach vergelten.
Zweifelt nicht daran, daß der lebendige Gott einer großmütigen Seele beistehen und sie stützen wird. (27)
Kraft und Schönheit des Charakters
Bitte Gott darum, daß du das Alter der Reife erlangen mögest, so daß du die Schönheit und Häßlichkeit von Taten und Handlungen erkennest. (28)
Christus sprach zur Welt: „So ihr nicht werdet wie die Kindlein, so
werdet ihr nicht in das Königreich eingehen.“ Das bedeutet, daß die
Menschen reinen Herzens werden müssen, um Gott zu erkennen. ... Die
Herzen der Kinder sind kristallrein, sie sind Spiegel, auf die kein
Staubkorn gefallen ist. Doch diese Reinheit kommt aus Schwäche und Unschuld,
nicht aus Stärke und Erfahrung, denn in dieser Frühzeit der Entwicklung
sind Herz und Gemüt noch unbefleckt von der Welt. Sie können noch von
keiner hohen Intelligenz zeugen. Sie kennen weder Heuchelei noch Betrug.
Dies, weil sie schwache Kindlein sind, während ein Erwachsener durch
seine Kraft zur Reinheit gelangt. Dank seiner Einsicht gelangt er zur
Einfalt; aus großer Urteilskraft und Verständnis, nicht aus Schwäche,
wird er aufrichtig; wenn er das Stadium der
[Seite 118]
Vollkommenheit erlangt, wird er all dieser Eigenschaften teilhaftig; sein
Herz wird geläutert, sein Geist erleuchtet, seine Seele wird feinfühlig und
zart und alles dies durch seine große Kraft. Hierin liegt der Unterschied
zwischen einem Kind und einem vollkommenen Menschen. In beiden liegen Einfalt
und Aufrichtigkeit. (29)
Die Förderung des Reiches Gottes und Standhaftigkeit in Seiner Liebe sind eine Quelle des Mutes und der Kraft. (30)
O Mein Sohn! Die Gesellschaft der Gottlosen vermehrt das Leid, und die Freundschaft der Gerechten löst den Rost vom Herzen. „Wer mit Gott vertraut werden will, der möge mit Seinen Geliebten vertraut werden, und wer Gottes Wort hören will, der möge die Worte Seiner Auserwählten hören.“ (31)
Höflichkeit ist wahrlich ein Gewand, das alle Menschen, jung und alt, gut kleidet. Wohl dem, der seinen Tempel damit schmücket, und wehe dem, der dieses großen Gnadengeschenkes beraubt ist. (32)
Mäßigung ist in allen Dingen nötig. Man muß aus göttlichen Taten und Handlungen lernen, denn Gott läßt einem Baum lange Zeit zum Wachsen, ehe dieser seine Vollkommenheit erreicht. Er könnte einen Baum dazu bringen, im Augenblick Früchte zu tragen, doch die Weisheit verlangt eine Entwicklung Schritt für Schritt. (33)
Das Wesen aller Weisheit ist Gottesfurcht, die Furcht vor Seiner Zuchtrute und das Ahnen um Seine Gerechtigkeit und Seine Gebote. (34)
Diese Gottesfurcht ist der höchste Befehlshaber im Heere deines Herrn. Seine Scharen sind lobenswerter Charakter und gute Taten. Dadurch sind in allen Zeiten und Jahrhunderten die Städte der Menschenherzen erobert und die Fahnen des Sieges und des Triumphes hoch über allen andern Fahnen gehißt worden. (35)
(Fortsetzung folgt)
DER VERHEISSENE TAG IST GEKOMMEN[Bearbeiten]
Von Shoghi Effendi
(Fortsetzung)
„Die heidnischen Priester“, steht noch in einer anderen Schrift geschrieben,
„und die jüdischen und die christlichen Geistlichen haben eben diese
Dinge begangen, wie sie die Geistlichen zur Zeit dieser Sendung
begangen haben und noch begehen. Nein, sie haben sogar schmerzlichere
Grausamkeit und grimmigere Bosheit entfaltet. Jedes Atom ist Zeuge dessen,
was Ich sage.“
Diese Führer, die „sich selbst für die besten aller Geschöpfe einschätzen
und von Ihm, der die Wahrheit ist, für die gemeinsten angesehen worden
sind“, welche die Stühle der Erkenntnis und Gelehrsamkeit besetzen und
welche Unwissen Erkenntnis und Unterdrückung Gerechtigkeit genannt
haben und welche „keinen Gott, sondern ihr eigenes Begehren anbeten,
welche nichts huldigen als dem Gold, welche in die dichtesten Schleier der
Gelehrsamkeit verwickelt sind und welche, in ihrer Finsternis verfangen,
in den Wildnissen des Irrtums verloren sind“, — diese hat Bahá’u’lláh
mit folgenden Worten anzureden beliebt: „O Schar der Geistlichen! Ihr
werdet euch künftighin nicht mehr im Besitze irgendeiner Macht sehen,
denn Wir haben sie von euch weggenommen
[Seite 119]
und für solche bestimmt, die an Gott geglaubt haben, den Einen, den
Allgewaltigen, den Allmächtigen, den Unbeschränkten.“
Im Kitáb-i-Aqdas lesen wir folgendes: „Sprich: O Führer der Religion! Wäget nicht das Buch Gottes mit solchen Maßen und Kenntnissen, wie sie unter euch im Schwange sind, denn das Buch selbst ist die untrügliche, inmitten der Menschen aufgestellte Waage. Auf dieser vollkommensten Waage muß alles gewogen werden, was die Völker und Geschlechter der Erde besitzen, während das Maß ihres Gewichtes nach ihrer eigenen Norm geprüft werden muß — würdet ihr das doch erkennen! Das Auge Meiner göttlichen Gnade weint schmerzlich über euch, da ihr doch versäumt habt, den Einen zu erkennen, nach welchem ihr gerufen habt am Tage und zur Nachtzeit, am Morgen und am Abend. ...O ihr Führer der Religion! Wo ist der Mann unter euch, der es Mir gleichtun kann im Schauen oder in der Einsicht? Wo ist der zu finden, der zu dem Anspruch sich erkühnt, meinesgleichen zu sein in der Verkündung oder in der Weisheit? Nein, bei Meinem Herrn, dem Allbarmherzigen! Alles auf Erden wird dahinschwinden; doch dies ist das Antlitz eures Herrn, des Allmächtigen, des Vielgeliebten. ...Sprich: Wahrlich, das ist der Himmel, in welchem das Mutterbuch verwahrt ist — könntet ihr das doch begreifen! Er ist es, der den Felsen aufjauchzen und den brennenden Busch seine Stimme erheben ließ auf dem Berg, der über dem heiligen Lande aufsteigt, um zu verkünden: ‚Das Reich ist Gottes, des obersten Herrn über alles, des Allgewaltigen, des Liebenden!‘ Wir sind in keine Schule gegangen und haben keine eurer Abhandlungen gelesen. Neiget euer Ohr den Worten dieses Ungelehrten, womit Er euch vor Gott lädt, den Ewigwährenden. Besser ist dies für euch als alle Schätze der Erde — könntet ihr das doch begreifen!“
„O Scharen von Geistlichen“, hat Er noch des weiteren geschrieben, „als
Meine Verse herabgesandt und Meine klaren Zeichen enthüllt waren, fanden
Wir euch hinter Schleiern. Dies, wahrlich, ist etwas Seltsames... Wir
haben die Schleier entzweigerissen. Hütet euch, das Volk durch noch
einen anderen Schleier abzuschließen. Zerbrechet die Ketten eitler
Einbildungen im Namen des Herrn aller Menschen und gehöret nicht zu den
Hinterlistigen. Solltet ihr euch Gott zuwenden und Seine Sache annehmen,
so streuet keine Unordnung hinein und messet nicht das Buch Gottes
mit euren selbstischen Begierden. Wahrlich, dies ist Gottes Rat ehedem
und immerdar... Hättet ihr an Gott geglaubt, als Er sich selbst offenbarte,
so hätte sich das Volk nicht von Ihm abgewandt, noch hätte das uns heute
befallen, dessen ihr Zeugen seid. Fürchtet Gott und gehöret nicht zu den
Achtlosen! ... Dies ist die Sache, die allen euren Aberglauben und eure
Götzenbilder erzittern ließ ... O Schar der Geistlichen! Hütet euch, zur Ursache
von Streit im Lande zu werden, so wie ihr die Ursache der Verwerfung des
Glaubens gewesen seid in seinen früheren Tagen. Sammelt das Volk um dieses
Wort, das die Kieselsteine ausrufen ließ: ‚Das Reich ist Gottes, des
Aufgangsortes aller Zeichen!‘ Zerreißet die Schleier in solcher Weise, daß die
Bewohner des Königreiches hören, wie sie zerrissen werden. Dies ist der
Befehl Gottes, in den vergangenen Tagen und für die kommenden. Gesegnet
[Seite 120]
der Mensch, der befolgt, wozu er befohlen ward, und wehe den Nachlässigen.“
Und wiederum: „Wie lange wollt ihr, o Schar der Geistlichen, die Speere des Hasses gegen das Antlitz Bahá’s richten? Zügelt eure Feder! Seht, die erhabenste Feder spricht zwischen Erde und Himmel. Fürchtet Gott und folget nicht euren Begierden, die das Antlitz der Schöpfung entstellt haben! Reinigt eure Ohren, auf daß sie der Stimme Gottes lauschen mögen. Bei Gott! Sie ist wie ein Feuer, das die Schleier verzehrt, und wie Wasser, das die Seelen aller wäscht, die im Weltall sind.“
„Sprich: O Schar der Geistlichen!“ so redet Er sie weiterhin an, „kann einer von euch mit dem göttlichen Jüngling in der Kampfbahn der Weisheit und der Verkündung um die Wette laufen oder sich mit Ihm in den Himmel der inneren Bedeutung und der Auslegung erheben? Nein, bei Meinem Herrn, dem Gotte der Barmherzigkeit! Alle sind am heutigen Tage durch das Wort deines Herrn in Ohnmacht gefallen. Sie sind sogar wie tot und leblos außer dem, den dein Herr, der Allmächtige, der Unbeschränkte, zu verschonen gewillt ist. Solch einer gehört wahrlich zu den mit Erkenntnis Begabten in Seinen, des Allwissenden, Augen. Die Insassen des Paradieses und die Bewohner der geheiligten Hürden segnen ihn zur Abendzeit und zur Dämmerung. Kann einer mit Holzbeinen dem widerstehen, dessen Füße Gott aus Stahl gemacht hat? Nein, bei Ihm, welcher das All der Schöpfung erleuchtet!“
„Als Wir genau darauf schauten“, bemerkt Er bedeutungsvoll, „entdeckten Wir, daß Unsere Feinde meistenteils die Geistlichen sind.“ „Unter dem Volke sind sie es, die sagten: ‚Er hat die Geistlichen verworfen.‘ Sprich: ‚Ja, bei Meinem Herrn! Ich war ganz gewißlich Der, welcher die Götzenbilder abschuf‘.“ „Wahrlich, Wir haben die Trompete erschallen lassen, die Unsere erhabenste Feder ist, und siehe da, die Geistlichen und die Gelehrten und die Doktoren und die Herrscher fielen betäubt nieder, ausgenommen solche, die Gott bewahrte als Zeichen Seiner Gnade, und Er, wahrlich, ist der Allgütige, der Urewige, aller Tage.“
„O Schar der Geistlichen! Werft eitle Neigungen und Einbildungen beiseite und wendet euch dann dem Horizonte der Gewißheit entgegen. Ich schwöre bei Gott. Alles, was ihr besitzet, wird euch nichts nützen, weder alle Schätze der Erde noch die Führerschaft, die ihr euch angeeignet habt. Fürchtet Gott und gehöret nicht zu den Verlorenen!“ „Sprich: O Schar der Geistlichen! Legt alle eure Schleier und Hüllen beiseite. Schenkt euer Ohr dem, wozu euch die erhabenste Feder ruft an diesem wundersamen Tage ... Die Welt ist mit Staub überladen durch eure eitlen Einbildungen, und die Herzen solcher, die sich eines nahen Zugangs zu Gott erfreuen, sind durch eure Grausamkeit gequält. Fürchtet Gott und gehöret zu denen, die gerecht urteilen.“
„O ihr Dämmerungsorte der Erkenntnis“, so ermahnt Er sie, „hütet
euch davor, daß ihr euch wandelt. Denn wenn ihr euch wandelt, werden
sich die meisten Menschen desgleichen wandeln. Wahrlich, dies ist ein
Unrecht an euch und an anderen ... Ihr seid gleich wie eine Quelle. Wenn sie
sich wandelt, so werden die Ströme, die ihr entstammen, sich wandeln.
Fürchtet Gott und seid unter die
[Seite 121]
Gottesfürchtigen gezählt! Gleicherweise werden, wenn das Menschenherz
verdorben wird, seine Glieder auch verdorben werden. Und ähnlich, wenn die
Wurzel eines Baumes verdorben wird, so werden seine Äste und seine Triebe
und seine Blätter und seine Früchte verdorben werden.“
„Sprich: O Schar der Geistlichen“, so ruft Er sie an, „seid ehrlich, ich beschwöre euch bei Gott, und erkläret die Wahrheit nicht für nichtig durch die Dinge, die ihr besitzet. Durchleset genau, was Wir in Wahrheit herabgesandt haben. Wahrlich, es wird euch helfen und wird euch Gott nahe bringen, dem Mächtigen, dem Großen. Betrachtet und ruft euch ins Gedächtnis, wie das Volk, als Muhammad, der Apostel Gottes, erschien, Ihn verleugnete. Sie beschuldigten Ihn so, daß der Geist (Jesus) in Seiner erhabensten Stufe wehklagte und der Geist des Glaubens aufschrie. Betrachte des weiteren, was die Apostel und Gottgesandten vor Ihm durch die Hände der Ungerechten befallen hat. Wir erwähnen dies vor euch um der Sache Gottes willen und erinnern euch an Seine Zeichen und verkünden euch die Dinge, die denen verordnet sind, die Ihm nahe sind im erhabensten Paradiese und im allerhöchsten Himmel, und wahrlich, Ich bin der Verkünder, der Allwissende. Er ist für eure Erlösung gekommen und hat Trübsale ertragen, damit ihr auf der Leiter der Worte zum Gipfel des Verständnisses emporsteigen möget... Leset mit Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit das durch, was herabgesandt worden ist. Wahrlich, es wird euch erhöhen durch die Wahrheit und wird euch die Dinge schauen lassen, die euch verschlossen waren, und wird euch befähigen, Seinen perlenden Wein zu trinken.“
Worte an die mohammedanischen Geistlichen
Laßt uns jetzt die besonderen Hinweise und die vom Báb und von
Bahá’u’lláh unmittelbar an die mohammedanischen Geistlichen gerichteten
Worte noch genauer betrachten. Der Báb hat, wie im Kitáb-i-Iqán bezeugt,
„ein besonderes Sendschreiben an die Geistlichen einer jeden Stadt
geoffenbart, worin er die Wesensart der Verleugnung und Zurückweisung
durch einen jeden von ihnen vollständig darlegte.“ Während Er in Jsfáhán
weilte, jenem altehrwürdigen Bollwerk mohammedanischer Geistlichkeit, lud
Er durch Vermittlung des Gouverneurs Manuchihr-Khán schriftlich die
Geistlichen jener Stadt ein, mit Ihm in einen Wortkampf einzutreten,
um, wie Er es ausdrückte, „die Wahrheit festzustellen und die Falschheit
zu zerstreuen“. Nicht einer aus der Menge von Geistlichen, die sich um
diesen großen Sitz der Gelehrsamkeit drängten, hatte den Mut, diese
Herausforderung anzunehmen. Bahá’u’lláh seinerseits gab, während Er in
Adrianopel weilte, wie es in Seinem eigenen Schreiben an den Schah von Persien
bezeugt ist, Seinen Wunsch zu verstehen, „Auge in Auge den Geistlichen
Seiner Zeit gegenübergestellt zu werden und Beweise und Zeugnisse in der
Gegenwart Seiner Majestät des Schahs herbeizubringen“. Dieses Anerbieten
wurde als „eine große Anmaßung und erstaunliche Kühnheit“ von den Geistlichen
Teherans gerügt, und sie rieten in ihrer Furcht ihrem Staatsoberhaupt,
augenblicklich den Überbringer jenes Schreibens zu bestrafen. Früher schon
hatte Bahá’u’lláh, während Er in Baghdad weilte, Seine Bereitwilligkeit
ausgesprochen, unverzüglich ein Wunder zu vollbringen, unter der [Seite 122]
Voraussetzung, daß die Geistlichen von Najaf und Karbilá, den beiden heiligsten
Städten nächst Mekka und Medina in den Augen der Schiiten, sich versammelten
und bezüglich eines solchen Wunders, das sie wünschten, übereinkämen und eine
Erklärung unterzeichneten und besiegelten, die bekräftigt, daß sie bei Vorführung
dieses Wunders die Wahrheit Seiner Sendung anerkennen würden. Auf diese
Herausforderung konnten sie, wie durch ‘Abdu’l-Bahá in Seinen „Beantworteten
Fragen“ bezeugt ist, keine bessere Antwort bieten als diese: „Dieser
Mann ist ein Zauberer. Vielleicht will er ein Zauberkunststück vorführen,
und dann würden wir nichts mehr zu sagen haben.“ „Zwölf Jahre lang“, hat
Bahá’u’lláh selbst bezeugt, „haben Wir in Baghdad geweilt. So sehr Wir
auch wünschten, eine große Versammlung Geistlicher und ehrlich gesinnter
Männer käme zusammen, um Wahrheit von Trug zu unterscheiden, so ist
doch nichts dazu geschehen.“ Und wiederum: „Und ebenso, während Wir
im Irak wohnten, wünschten Wir, mit den Geistlichen Persiens zusammenzukommen.
Kaum hörten sie davon, so flohen sie und sprachen: ‚Er ist tatsächlich ein
offenkundiger Zauberer!‘ Dieses Wort ging schon früher aus
dem Munde von ihresgleichen. Diese Geistlichen tadelten, was jene gesagt
hatten, und wiederholen heutzutage doch selbst, was vor ihnen gesprochen
wurde, und begreifen es nicht. Bei Meinem Leben! Sie sind wie Asche in
den Augen deines Herrn. Wenn Er gewillt ist, so werden gewaltige Stürme
über sie brausen und sie zu Staube kehren, Wahrlich, dein Herr tut, was
Ihm gefällt.“
Diese falschen, diese grausamen und feigen schiitischen Geistlichen, ohne deren Einmischung, wie Bahá’u’lláh erklärte, Persien in kaum mehr als zwei Jahren der Macht Gottes unterworfen worden wäre, sind im Qayyumu’l-Asmá folgendermaßen angeredet worden: „O Schar der Geistlichen! Fürchtet Gott von diesem Tage an, je weiter ihr im Schauen fortschreiten werdet, denn Er, welcher Unser Gedenken in eurer Mitte ist, und welcher von uns kommt, ist in Wahrheit der Richter und der Zeuge. Wendet euch ab von dem, was ihr festhaltet und was das Buch Gottes, des Wahren, nicht gutgeheißen hat, denn wahrlich am Tage der Auferstehung werdet ihr auf der Brücke für die Haltung, die ihr einnahmet, verantwortlich gemacht werden.“
Im gleichen Buche redet der Báb sowohl die Schiiten als auch die ganze Körperschaft der Anhänger des Propheten folgendermaßen an: „O Schar der Schiiten! Fürchtet Gott und Unsere Sache, die Ihn betrifft, welcher das größte Gedenken Gottes ist. Denn groß ist ihr Feuer, wie im Mutterbuch beschlossen ist.“ „O Volk des Korans! Ihr seid wie nichts, es sei denn, ihr unterwerfet euch dem Gedenken Gottes und diesem Buch. Wenn ihr der Sache Gottes folget, werden Wir euch eure Sünden vergeben, und wenn ihr euch abwendet von Unserem Befehl, werden Wir wahrlich eure Seelen in Unserem Buche verdammen zum größten Feuer. Wahrlich, Wir verfahren nicht ungerecht mit den Menschen, auch nicht so viel wie ein Fleckchen auf einem Dattelkern.“
Und schließlich ist in dem gleichen Kommentar diese ergreifende Weissagung
verzeichnet: „Binnen kurzem werden Wir, wahrlich jene, die gegen
Husayn (Imám Husayn) Krieg führten im Lande des Euphrat, mit der
[Seite 123]
schmerzlichsten Qual heimsuchen und mit der ärgsten und abschreckendsten
Strafe.“ „Binnen kurzem“, hat Er, auf dieses gleiche Volk sich beziehend,
im gleichen Buche geschrieben, „wird Gott an ihnen Seine Vergeltung üben
zur Zeit Unserer Wiederkehr, und Er hat, wahrlich, für sie in der künftigen
Welt eine strenge Qual vorbereitet“.
Was Bahá’u’lláh betrifft, so bilden die Stellen, die ich auf diesen Seiten anführe, nur einen Bruchteil der in Seinen Schriften häufigen Hinweise auf mohammedanische Geistliche. „Der Lotosbaum, über den hinaus kein Weg führt“, ruft Er aus, „schreit auf wegen der Grausamkeit der Geistlichen. Er schreit laut und wehklagt über sich.“ „Wie groß auch seit Beginn dieser Sekte“ (Schiismus), hat Er in Seinem „Brief an den Sohn des Wolfes“ geschrieben, „bis auf den heutigen Tag die Zahl der Geistlichen gewesen ist, die aufgetaucht sind, so hat doch keiner unter ihnen Kenntnis bekommen von der Natur dieser Offenbarung. Was könnte die Ursache dieser Verirrung gewesen sein? Wollten Wir sie erwähnen, so würden ihre Glieder sich spalten. Es tut ihnen not, nachzusinnen, ja, tausendmal tausend Jahre nachzusinnen, so daß sie vielleicht ein paar Tropfen aus dem Ozean der Erkenntnis erlangen und entdecken mögen, was sie an diesem Tage noch nicht beachten. Ich wandelte im Lande Tá (Teheran), dem Tagesanbruch der Zeichen deines Herrn, - siehe, da hörte ich das Wehklagen von den Kanzeln und die Stimme des Flehens zu Gott — gesegnet und verherrlicht sei Er. Sie schrieen auf und sagten: ‚O Gott der Welt und Herr der Völker! Du siehst unseren Zustand und, was über uns gekommen ist durch die Grausamkeit Deiner Diener. Du hast uns erschaffen und geoffenbart zu Deiner Verherrlichung und zu Deinem Preis. Du hörst nun, was die Widerspenstigen über uns verkünden in Deinen Tagen. Bei Deiner Macht! Unsere Seelen zerfließen und unsere Glieder erzittern. Wehe! Wehe! Wären wir doch nie von Dir erschaffen und geoffenbart worden!‘ Die Herzen jener, die sich nahen Zutritts zu Gott erfreuen, werden von diesen Worten verzehrt und lassen die Wehrufe derer ertönen, die Ihm ergeben sind.“
„Diese dicken Wolken“, hat Er in dem gleichen Sendschreiben dargelegt,
„sind Auswüchse müßiger Phantasie und eitler Einbildungen, die von keinen
anderen stammen, als von den Geistlichen Persiens.“ „Unter ‚Geistlichen‘
werden an der oben erwähnten Stelle“, so erklärt Er im gleichen
Zusammenhang, „jene Menschen verstanden, die sich äußerlich mit dem
Kleide der Erkenntnis schmücken, die aber innerlich ihrer beraubt sind. In
Verbindung damit führen Wir aus dem Schreiben an Seine Majestät den
Schah einige Stellen von den ‚Verborgenen Worten‘ an, die durch die
Abhá-Feder unter dem Namen ‚Buch Fátimíh‘ — möge Gottes Segen auf ihr
ruhen — geoffenbart worden sind. ‚O ihr Törichten, die ihr den Namen der
Weisen tragt! Weshalb tragt ihr das Hirtengewand, da ihr doch innerlich
nichts als Wölfe seid, die es auf Meine Herde abgesehen haben? Ihr gleicht
dem Stern, welcher vor der Dämmerung strahlend und hell scheint und
dennoch die Wanderer zu Meiner Stadt irreführt auf die Pfade des Verderbens.‘
Und ebenso spricht Er: ‚O ihr, die ihr dem Scheine nach tadellos, innerlich
aber verdorben seid! Ihr seid wie klares, jedoch bitteres
Wasser, das äußerlich kristallklar
[Seite 124]
erscheint, von dem aber, wenn es der göttliche Prüfer versucht, kein Tropfen
angenommen wird. Ja, der Sonnenstrahl fällt ebenso auf den Staub
wie auf den Spiegel, doch in ihrer Widerspiegelung sind sie so
verschieden wie der Stern und die Erde - ja, unermeßlich ist
der Unterschied.‘“
„Wir haben alle Menschen eingeladen“, hat Bahá’u’lláh in einem anderen Tablet klargelegt, „sich Gott zuzuwenden, und haben sie mit dem geraden Pfad bekannt gemacht. Sie (die Geistlichen) erhoben sich gegen Uns mit solcher Grausamkeit, daß dies die Kraft des Islam untergraben hat, und doch sind die meisten Leute achtlos!“
„Die Kinder Dessen, welcher der Freund Gottes ist“ (Abraham), so hat Er des weiteren geschrieben, „und die Erben Dessen, der mit Gott verkehrte (Moses), die zu den Verworfensten der Menschen gezählt wurden, haben die Schleier zerspalten und die Hüllen zerrissen und den versiegelten Wein aus den Händen der Güte des Selbstbestehenden ergriffen und sich satt getrunken, während die verabscheuungswürdigen schiitischen Geistlichen bis heute zaudernd und verstockt geblieben sind.“ Und wiederum: „Die Geistlichen Persiens begingen, was kein Volk unter den Völkern der Welt begangen hat.“
(Fortsetzung folgt)
Worte von Bahá’u’lláh und 'Abdu'l-Bahá[Bearbeiten]
Zusammengestellt für eine Rundfunk-Sendung 1)
Völkerverständigung und gerechte Weltordnung sind die Lebensfragen
der Menschheit geworden. Die Bahá’i-Weltreligion weist den Weg zur Einheit
von Glauben und Wissen, zu einer gerechten Menschheitsordnung.
Aus den Schriften von Bahá’u’lláh, dem Begründer der Bahá’i-Weltreligion, sowie Seinem Sohn, ‘Abdu’l-Bahá, dem von Ihm eingesetzten Ausleger Seiner Lehren, hören Sie ausgewählte Worte:
Die Quelle alles Wissens ist die Erkenntnis Gottes. Und diese Erkenntnis
kann auf keine andere Weise erlangt werden, als durch die Erkenntnis
Seiner göttlichen Manifestation. Die Sonne der Wahrheit ist das Wort
Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig
ist. Es ist der Geist der Wirklichkeit und das Wasser des Lebens. Alle
Dinge der Welt erheben sich durch den Menschen und kommen durch ihn
zum Vorschein. Durch ihn finden sie Leben und Entwicklung, und der
Mensch ist bezüglich seines geistigen Seins von der Sonne des Wortes
Gottes abhängig. Alle guten Namen und edlen Eigenschaften sind Ergebnisse
des Wortes Gottes. Das Wort ist das Feuer, das in den Herzen der Menschen
glüht und alles verbrennt, was nicht von Gott ist.
Religion ist der äußere Ausdruck der göttlichen Wirklichkeit. Sie soll
daher lebendig, kraftvoll, beweglich und fortschrittlich sein. Mangelt sie
der Bewegung und des Fortschritts, so fehlt ihr das göttliche Leben - sie
ist tot. Da die göttlichen Gesetze stets wirksam und in der Entwicklung
begriffen sind, muß ihre Offenbarung immer eine fortschreitende sein. Alle
[Seite 125]
Dinge sind der Neugestaltung unterworfen. Wir befinden uns in einem
Jahrhundert des Lebens und der Erneuerung. Das Wesen aller Religionen
ist die Liebe Gottes und sie ist die Grundlage aller Heiligen Lehren. Alle
göttlichen Verordnungen beruhen auf ein und derselben Wirklichkeit. Diese
Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit,
nicht eine Mehrheit bilden.
Bahá’u’lláh hat einen Plan niedergelegt für die Vereinigung der Völker, um sie alle unter dem schützenden Zelt der Einigkeit zu sammeln.
Ein neues Leben regt sich in diesem Zeitalter in allen Völkern der Erde, und dennoch hat niemand seine Ursache entdeckt oder seine Triebkraft wahrgenommen. Das Wohlergehen der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit sind nicht zu erreichen, wofern nicht und ehe nicht ihre Einheit fest begründet ist.
An diesem Tage müssen die Menschen ihrem Gott mit Reinheit und Tugenden dienen. Manche begnügen sich nur mit Worten, aber die Wahrheit der Worte wird durch Taten bezeugt und hängt von der Lebensführung ab.
Taten offenbaren die Stufe des Menschen.
Die Quelle des Mutes und der Macht ist: das Wort Gottes zu fördern und in Seiner Liebe standhaft zu bleiben. Das Wesen des Glaubens ist: wenig Worte zu machen und eine Fülle von Taten aufzuweisen. Das Wesen von allem, was wir für dich offenbarten, ist die Gerechtigkeit. Es ist ferner die Befreiung des Menschen von eitler Einbildung und Nachahmung; Seine herrliche Schöpfung mit dem Auge der Einheit zu betrachten und auf alle Dinge mit einem forschenden Auge zu blicken. -
O Sohn des Geistes! Besitze ein gutes, reines und strahlendes Herz, auf daß ein Besitz dein eigen sei, der immer währt, bleibend von Ewigkeit zu Ewigkeit. Meine Ewigkeit ist Meine Schöpfung. Für dich erschuf Ich sie, mache sie zum Gewande deines Wesens. Meine Einheit ist Mein Werk, um deinetwillen erschuf Ich sie. So schmücke dich mit ihr, damit du für immer eine Offenbarung Meines ewigen Wesens werdest. Wisset ihr, warum Wir euch aus einer Erde erschaffen haben? Damit keiner sich über den anderen erhebe. Lasset alle Völker in einem Glauben sich vereinen und alle Menschen Brüder werden. Diese Kämpfe, dieses Blutvergießen und diese Uneinigkeit müssen aufhören, und alle Menschen müssen sein, als gehörten sie einer Rasse und einer Familie an.
Der wahrlich ist ein Mensch, der sich heute dem Dienste am ganzen Menschengeschlecht weiht!
- Und es wird gepredigt werden das
- Evangelium vom Reich in der ganzen
- Welt, zu einem Zeugnis über alle Völker;
- dann wird das Ende kommen.
- Christus2)
1) Die Sendung wurde vom Süddeutschen Rundfunk am 3. 10. 1949 übertragen.
2) Matth. 24, 14.
AUS DER BAHA’I-WELT[Bearbeiten]
Die 2. Europäische Bahá’i-Lehrkonferenz in Brüssel vom 5. bis 7. August 1949
Der Europäische Lehrausschuß des Nationalen Geistigen Rats der Bahá’i der
Vereinigten Staaten, dem im Rahmen des derzeitigen zweiten amerikanischen
Bahá’i-Siebenjahresplans seit etwa drei Jahren die oft unter schwierigsten Verhältnissen
mit aufopfernder Einsatzfreudigkeit vorangetragene Pionierarbeit in einer Reihe
europäischer Staaten zufällt, hatte für die Zeit vom 5. bis 7. August 1949 zu seiner
2. Europäischen Lehrkonferenz nach Brüssel eingeladen. An dieser Tagung, die mit Ausnahme
einer öffentlichen Kundgebung internen Bahá’i-Aufgaben gewidmet war, nahmen die
zehn Zielländer des Europäischen Lehrausschusses, nämlich Italien, Spanien, Portugal,
die Schweiz, Luxemburg, Belgien, die Niederlande, Dänemark, Norwegen und Schweden,
sowie Vertreter und Gäste aus Frankreich, England, Deutschland, den Vereinigten
Staaten, Kanada, Persien und Australien, insgesamt 130 Bahá’i aus 17 Staaten teil.
Als Tagungsstätte waren die ansprechenden Räume und ausgedehnten Gartenanlagen der Cité des Étudiants, des mustergültigen Studentenheims in Nähe der Universität, samt ihren Unterkunfts- und Verpflegungsmöglichkeiten durch freundliches Entgegenkommen zur völlig zwanglosen Verfügung überlassen worden, eine Annehmlichkeit, die alle Teilnehmer mit Dankbarkeit empfunden haben. Zweifellos hat die Wahl dieses von sicherer Kultur zeugenden Platzes wie überhaupt die kultivierte Art der Veranstaltung und die so liebenswürdige Gastfreundschaft der jungen Brüsseler Bahá’i-Gemeinde in starkem Maße zu dem so überaus glücklichen Gelingen dieser Tagung beigetragen. Der tiefe Eindruck, den die Konferenz auf alle Beteiligten gemacht hat, ist selbst für die so manchen stolzen Höhepunkt innerhalb der Bahá’i-Arbeit erinnernden langjährigen Bahá’i von überwältigender Kraft gewesen und wird allen, die dabei sein konnten, noch lange richtunggebend Ansporn und Verpflichtung bleiben. Der von größter Wärme, Freudigkeit und Hingabe an die Sache Bahá’u’lláh’s getragene Geist geschlossenen Zusammenwirkens hatte hier drei Tage hindurch in konzentriertester Tätigkeit und angestrengter Inanspruchnahme gleicherweise alterfahrene und junge Gläubige, die Pioniere und ihre Schützlinge, hinreißend in den Bann gezogen. Angehörige der verschiedenartigen Nationen und mannigfachsten Eigentümlichkeiten — freilich alle Bahá’i — sahen sich als eine einzige Einheit gleichen Wollens, gleichen Bereitseins und gleichen freien und aufrechten Gehorsams gegenüber den Bündnissen Bahá’u’lláh’s und ‘Abdu’l-Bahá’s unlösbar miteinander verbunden.
In keinem einzigen Augenblick war bei den um wesentliche und tiefgreifende Fragen gehenden Aussprachen und Beratungen die geringste Gegensätzlichkeit zu spüren, keinerlei Mißton störte die ernste und verantwortungsbewußte und doch von innerlicher Freudigkeit erfüllte Sachlichkeit der mit gutem Takt und zielsicherer Festigkeit durch Edna True als der Vorsitzenden des Europäischen Bahá’i-Lehrausschusses geleiteten Beratungen. Überraschend war dabei die völlige Belanglosigkeit der Sprachenvielheit, obwohl zum mindesten Englisch, Französisch, Deutsch und Italienisch fortwährend gleichwertig nebeneinander und ineinander klangen. Hier wie bei den eröffnenden und abschließenden Gebeten, die die Sprecher jeweils in ihrer Muttersprache darbrachten, zeigte sich, wie sehr der Geist auch ohne vollwörtliches Verstehen, ja oft nur aus dem bloßen Rhythmus des Vorgetragenen heraus, das Wesen zu erfassen vermag. Es mutete wie eine Weltsprache des Geistes an, die unwillkürlich an den biblischen Pfingstbericht erinnerte, und ließ im Verein mit der Gemeinschaft dieser Tage gleichsam durch einen feinen Spalt in eine Zukunft schauen, da sich die Verheißung der Weihnachtsbotschaft: „und Frieden denen, die guten Willens sind“ unter dem machtvollen Geist Bahá’u’lláh’s in einer erneuerten Welt erfüllt haben wird.
Auch die Unterhaltung während der Mahlzeiten und in den kurzen Erholungspausen
ging um Fragen des Glaubens und der Lehre und verlor sich nicht in Alltäglichkeiten
oder Gebiete, die dem Charakter der Veranstaltung nicht entsprochen hätten.
Bewundernswert war bei allen der Geist des Gehorsams im Bündnis Gottes und die
unbedingte Achtung gegenüber der Autorität, wie sie, aus Bahá’u’lláh fließend, über
‘Abdu’l-Bahá in dessen Willen und Testament auf die Institution des Hüters übergegangen
ist, vorbildlich, wie dieses unbedingte und vorbehaltlose Befolgen der Gebote
Bahá’u’lláh’s selbst
[Seite 127]
bei ganz jungen Gläubigen zum Ausdruck kam. Hier war in Wahrheit eine Gemeinschaft
freier Menschen, die den unvergleichlichen Wert der völligen Gelöstheit von
allem eigenen Begehren und der strahlenden Ergebung in jene höhere Weisheit des
offenbarten Wortes erkannt und mit dem Herzen erlebt hatten, Gläubige, die bewußt
und dankbar die Segnungen Seiner Ordnung an diesem neuen Weltentag entgegennahmen,
um aus freien Stücken der höchsten Erfüllung des Menschenseins im hingegebenen
Dienst auf Seinem Pfade zuzustreben.
Mehr als einmal glitten dem Vertreter Deutschlands unter dem Erlebnis dieser Tage die Gedanken unversehens in sein Land hinüber. Ungewollt drängte sich angesichts des hier Geschauten das Bild der Verhältnisse dort hervor und ließ in seiner Seele heiß die Bitte aufglühen: möchte doch dieses Land, das ‘Abdu’l-Bahá so sehr geliebt hat, das dem Hüter in so hohem Maße wert ist, endlich aufwachen und die Gelegenheit voll begreifen! Möchte aus innerer Not und bitterster Erfahrung die Erkenntnis reifen, daß nichts als eine solche wahre Freiheit selbsterkorenen Dienens im Gehorsam gegenüber Gottes segenbringenden Geboten helfen, nichts das einzig mögliche Verhältnis zwischen Mensch und Mensch und zur Gemeinschaft bringen kann, als die Annahme der unverbrüchlichen Ordnung aus der Hand des Größten Göttlichen Arztes. Nicht einzelne Persönlichkeiten, denen wir begegnen mögen, sondern Seinen Glanz in ihnen, nicht menschliche Größe in Menschentaten, sondern Gottes Größe, Allmacht und Geneigtheit, die durch sie das Große um der Geschöpfe willen werden läßt, das ist es, was wir auf Schritt und Tritt in jeglichem Geschehen erkennen sollten, um endlich zu gesunden. Dann würden wir auch vergessen, uns selber und unsere eigenen Mutmaßungen zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen und Urteile zu nehmen (die so nur allzuleicht zu Vorurteilen werden), und statt dessen Sein Wort und Heißen als Grundlage und Maßstab wählen, das uns anderen gegenüber die Selbsteinkehr gebietet: „denk: seine Stufe ist hoch und meine niedrig“ (‘Abdu’l-Bahá).
Fragen wir uns, wie es möglich war, daß die Pioniere des Europäischen Lehrausschusses innerhalb der so kurzen Zeit von zweieinhalb Jahren in zehn Ländern eine fest gegründete Bahá’i-Gemeinschaft gleichsam aus dem Nichts heraus zuwege brachten, und daß diese junge Arbeit heute mit einem Dutzend Geistiger Räte in ihrer Begeisterungsfähigkeit, Ergebenheit und Aktivität die um Jahrzehnte ältere Bahá’i-Arbeit in manchem anderen Lande überflügelt hat, so erkennen wir drei die Tätigkeit des Europäischen Lehrausschusses in den Zielländern besonders kennzeichnende Punkte:
l. Die Verwirklichung eines neuen Menschentyps, der sein Handeln nicht nur aus verstandesmäßigen Überlegungen fließen läßt, sondern vor allem die Kraft und Realität des Glaubens erkannt hat und um das Geheimnis der nicht mangelnden Hilfe Bahá’u’lláh’s auch dort weiß, wo die Vernunft nur ein „unmöglich“ sieht. Wer sein inneres Auge diesem Geheimnis zukehrt, wird der Fülle der Wunder auf dem Weg Bahá’u’lláh’s im großen wie im kleinsten inne werden. Er läßt sich durch sie erheben, kennt die zauberhafte Kraft, die vom losgelösten Gebet in Tagen und Nächten auszugehen vermag und erfährt die Gewißheit, daß die Verheißungen unseres Glaubens nicht leere Worte, sondern machtvolle Wirklichkeiten sind, deren schließliche Erfüllung durch keine Macht der Erde verhindert werden kann.
Was der Vertreter Deutschlands hier in Brüssel erlebt hat, ist eine Generation, die in jeder Beziehung mit den Forderungen Bahá’u’lláh’s Ernst gemacht hat und weiß, daß wir aus der Epoche nachsichtiger Geduld, die das große Werk ‘Abdu’l-Bahás im Kindheitsstadium des Glaubens notwendig bezeichnen mußte, mit dem Hüter und der administrativen Ordnung in das Mannesalter selbstverantwortlich disziplinierter und entschlossener Verwirklichung getreten sind. Ganzheit des Strebens, Gehorsam und Aufgabe des alten Ichs, das Opfer unserer Bequemlichkeit und unseres Herkommens, das sind die Tugenden, mit denen die verzweifelnde Menschheit erlöst werden kann und endlich mit dem ganzen Einsatz unserer Glaubenskraft erlöst werden muß. Befreiung von uns selbst, Befreiung von der Vorherrschaft des Intellektes und Hingabe an die Macht des Glaubens, des Gebetes und der täglichen Wunder um uns, die uns Gewißheit geben, das ist es, was uns Brüssel lehrt. Geht nicht statt dessen unser Verstand an ungezählten Wundern in unserem täglichen Geschehen vorüber, ohne sie zu erkennen? Wir nehmen sie als Zufall an und verschließen uns dadurch der Kraft, die uns aus ihnen zufließen möchte.
2. Das andere, das auf der Konferenz von Brüssel in diesem neuen Typ so klar
[Seite 128]
gebildet vor uns hintritt, ist das völlige Aufgehen im Bündnis, jene Einordnung unter
seine Autorität, die nicht am Wort zu rütteln sucht, wo es vielleicht einmal unbequem sein
möchte und die weiß, daß damit bereits der erste Schritt auf dem Weg zu den
Bündnisbrechern unternommen wäre. Diese neuen Gläubigen sind ganz Kinder der neuen
Epoche, Bürger bereits in der Weltordnung Bahá’u’lláh’s, die eine Ordnung bewußter
Einheit und Zusammenarbeit und nicht mehr eines überholten, nur mit einigen bequemeren
Bahá’i-Gedanken verbrämten kraftlosen und gefährlichen Individualismus
ist. Sicher hat auch die Arbeit des Europäischen Lehrausschusses ihre Probleme, gewiß
jedes dieser zehn Zielländer noch manche eigene Erfahrung zu sammeln und seine
besonderen Schwierigkeiten zu überwinden, aber es ist ein Unterschied, ob am Anfang
die Sache Bahá’u’lláh’s mit ihrer ganzen unbezweifelbaren Autorität oder ein
übertünchter Individualismus steht.
3. Das dritte hervorstechende Merkmal ist das tiefe und selbstverständliche Erfassen der Bahá’i-Administration als eines unablöslichen Teiles des Bündnisses. Nur allzusehr neigt man in Deutschland dazu, das, was das Wesen der Administration ausmacht, nämlich den Geist und die Kunst wahrhaftiger Zusammenarbeit, mit Organisation, Autorität mit dem Recht auf Diktatur und Unterordnung mit bloßer instinktloser Unterwürfigkeit zu verwechseln. Wir pflegen unsere eigenen Gedanken und Vorstellungen von etwas, was wir Ordnung nennen, mehr zu lieben als die gottverordnete Ordnung und meinen, unser begrenztes Wissen sehe klarer als die unbegrenzte allumfassende Weisheit Gottes, die durch den Mund Seines Gesandten zu uns spricht und nach Seinem Willen durch die uns von Ihm gesetzten Institutionen weiterwirkt. Nichts davon in Brüssel: dort herrschte das klar begriffene Wort, keine bloße Meinung und keine Person, und alle waren gemeinsam Diener und Schüler des Wortes. Dort wurden die Prinzipien und der Geist der Administration sorgsamst von jedem einzelnen studiert, niemand stand ihr als Fertiger, sondern jeder als Lernender, die wir doch alle immer bleiben, gegenüber. Und darum konnte auch die Harmonie in allen Beratungen trotz verschieden vorgetragener Auffassungen stets so vollkommen gewahrt bleiben, darum dieses Erleben des Wirklichkeit gewordenen, neuen Menschen in einer neuen Ordnung, das schlichte Wunder selbstverständlichen Bahá’i-Tums, so stark die Herzen aller Teilnehmer ergreifen, wie ein Blick durch einen schmalen Spalt, in eine dereinstige glücklichere Menschheitszeit, die für die ganze Welt kommen wird, weil Bahá’u’lláh sie verheißen hat und — weil sie um der Menschheit willen kommen muß!
H.G.
Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá’i in Deutschland und Österreich, e. V., Stuttgart. Verantwortlich für die Herausgabe: Paul Gollmer, Stuttgart O, Neckarstraße 127. In der „Sonne der Wahrheit“ finden nur solche Manuskripte Veröffentlichung, bezüglich deren Weiterverbreitung keine Vorbehalte gemacht werden. — Alle auf den Inhalt der Zeitschrift bezüglichen Anfragen, ferner schriftliche Beiträge, Besprechungsexemplare wie auch alle die Schriftleitung betreffenden Zuschriften sind an Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart N, Menzelstr. 24, zu senden. — Abonnementbestellungen sowie Zahlungen sind an die Geschäftsstelle der „Sonne der Wahrheit“, Paul Gollmer, Stuttgart O, Neckarstraße 127, Postscheckkonto Stuttgart Nr. 35 768, zu richten.
Druck von J. Fink KG., Stuttgart N — Auflage 1500 — August-Oktober 1949
Veröffentlicht unter Lizenz US-W-Nr. 6871 der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung.
[Seite 129]
diesem Tage wirkt, letzten Endes diesen Zustand herbeizuführen fähig ist. Noch mehr: Der
Bahá’i-Glaube legt seinen Anhängern vor allem die Pflicht des ungehemmten Suchens nach
Wahrheit auf, verwirft alle Arten von Vorurteil und Aberglauben und erklärt, daß der Zweck
der Religion die Förderung von Freundschaft und Eintracht sei; er verkündet in wesentlichen Fragen
ihr Zusammengehen mit der Wissenschaft und erkennt sie als die größte Kraft der Befriedigung
und des geregelten Fortschrittes der Menschheit. Er hält ohne Zweideutigkeit den Grundsatz
gleicher Rechte, gleicher Möglichkeiten und Vorrechte für Männer und Frauen hoch, besteht auf
guter Erziehung als Pflicht, tilgt die Extreme von Armut und Reichtum aus, schafft die Einrichtungen
eines Priesterstandes ab, verbietet Sklaverei, Askese, Bettelei und Mönchtum und schreibt
Einehe vor, mißbilligt Scheidung, betont die Notwendigkeit festen Gehorsams zur Regierung,
erhöht jede Arbeit, die im Geiste des Dienens getan wird, auf den Rang des Gottesdienstes, drängt
auf die Schaffung oder Auswahl einer Welthilfssprache und gibt einen Umriß für die Einrichtungen,
welche den Weltfrieden begründen und dauerhaft machen sollen.
Der Herold
Der Bahá’i-Glaube kreist um drei Hauptgestalten, deren erste ein Jüngling aus Schiras namens Mirzá ‘Ali Muhammád war, bekannt als der Báb (das Tor). Er erhob im Mai 1844, im Alter von 25 Jahren den Anspruch, der Herold Dessen zu sein, der nach den Heiligen Schriften früherer Offenbarungen den Einen, der größer ist als Er selbst, verkünden und den Weg für Sein Kommen bereiten soll. Seine Sendung sei, nach eben diesen Schriften, eine Ära des Friedens und der Gerechtigkeit einzuleiten, die als die Vollendung aller früheren Sendungen begrüßt würde, um einen neuen Zyklus in der Religionsgeschichte der Menschheit einzuleiten. Rasch setzte strenge Verfolgung ein, die von den organisierten Mächten der Kirche und des Staates Seines Geburtslandes ausging und schließlich zu Seiner Gefangenschaft, Verbannung und zu Seiner Hinrichtung im Juli 1850 in Täbris führten. Nicht weniger als 20000 Seiner Anhänger wurden in so barbarischer Grausamkeit hingemordet, daß sie das warme Mitgefühl und die unbegrenzte Bewunderung abendländischer Schriftsteller, Diplomaten, Reisender und Gelehrter hervorrief.
Bahá’u’lláh
Mirzá Husayn - ‘Ali, genannt Bahá’u’lláh (die Herrlichkeit Gottes), aus der Provinz Mázindarán stammend, dessen Kommen der Báb verkündet hatte, wurde von diesen gleichen Mächten der Dummheit und des Fanatismus angegriffen, in Teheran eingekerkert, 1852 aus Seinem Heimatland nach Bagdad verbannt und von dort nach Konstantinopel und Adrianopel und schließlich in die Gefängnisstadt Akka, wo Er nicht weniger als 24 Jahre noch gefangengehalten wurde. Unweit davon starb Er im Jahre 1892. In der Zeit seiner Verbannung, vor allem in Adrianopel und in Akka, gab Er den Gesetzen und Vorschriften Seiner Sendung Ausdruck und erklärte in mehr als hundert Bänden die Grundsätze Seines Glaubens, verkündete Seine Botschaft den Königen und Herrschern des Ostens und des Westens, Christen sowohl wie Mohammedanern.
‘Abdu’l-Bahá
Sein ältester Sohn, ‘Abbás Effendi, bekannt als ‘Abdu’l-Bahá (Diener Bahá’s), war von Bahá’u’lláh zu dessen gesetzlichem Nachfolger und bevollmächtigtem Ausleger Seiner Lehren ernannt worden. Er war seit Seiner frühesten Kindheit Seinem Vater eng verbunden und teilte dessen Verbannung und Leiden. Er blieb ein Gefangener bis 1908, wo Er in Auswirkung der jungtürkischen Revolution aus der Haft entlassen wurde. Nunmehr verlegte Er Seinen Wohnsitz nach Haifa, schiffte sich dann bald zu einer drei Jahre langen Reise nach Ägypten, Europa und Nordamerika ein, in deren Verlauf Er vor einer zahlreichen Hörerschaft die Lehren Seines Vaters auslegte und das Nahen der Katastrophe voraussagte, die bald darauf die Menschheit überfallen sollte. Er kehrte nach Hause zurück am Vorabend des ersten Weltkrieges, in dessen Verlauf Er dauernd Gefahren ausgesetzt war bis zur Befreiung Palästinas.
1921 verließ Er diese Welt. Er wurde in dem auf dem Berge Karmel errichteten Grabmal beigesetzt, das nach dem Gebot Bahá’u’lláh’s für die sterblichen Reste des Báb errichtet war.
Die Verwaltungsordnung
Das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahá’s bedeutete das Ende des heroischen Zeitalters des Bahá’i-Glaubens und bezeichnete zugleich den Beginn des gestaltgebenden Zeitalters, das den schrittweisen Aufstieg der Verwaltungsordnung des Glaubens schaffen soll. Ihre Errichtung war von dem Báb vorhergesagt, ihre Gesetze wurden von Bahá’u’lláh geoffenbart, ihre Umrisse wurden von 'Abdu'l-Bahá in Seinem Willen und Testament vorgezeichnet.
Die Verwaltungsordnung des Glaubens von Bahá’u’lláh ist dazu bestimmt, sich zu einem
Bahá’i-Weltgemeinwesen zu entwickeln. Sie hat schon die Angriffe überdauert, die solche
furchtbaren Feinde wie die Könige der Kadscharen-Dynastie, die Kalifen des Islam, die führenden
Geistlichen Ägyptens und das Naziregime in Deutschland gegen ihre Einrichtungen gerichtet
hatten, und hat ihre Zweige in alle Teile der Erde ausgedehnt, von Island bis zum äußersten
Chile. Sie hat in ihren Bereichen die Vertreter von nicht weniger als 31 Rassen, darunter
Christen verschiedener Bekenntnisse, Muselmänner der
[Seite 130]
sunnitischen und schiitischen Sekten, Juden, Hindu, Sikhs, Zoroastrer und Buddhisten. Sie hat
durch ihre festgesetzten Organe Bahá’i-Schriften in 48 Sprachen veröffentlicht und verbreitet.
Diese Verwaltungsordnung ist, im Unterschied von den anderen Systemen, die sich nach dem Tode der Gründer in den verschiedenen Religionen entwickelt haben, göttlich in ihrem Ursprung, beruht mit Gewißheit auf den Gesetzen, Vorschriften, Verordnungen und Einrichtungen, die vom Begründer des Glaubens selbst ausdrücklich niedergelegt und unzweideutig festgesetzt sind und waltet in fester Übereinstimmung mit den Auslegungen der bevollmächtigten Ausleger der heiligen Texte.
Der Glaube, dem diese Ordnung dient, den sie schützt und fördert, ist, das sollte in diesem Zusammenhang wohl bemerkt werden, in seinem Wesen übernatürlich, übernational, gänzlich unpolitisch, parteilos und jedem System oder jeder Schule von Ideen, die irgendeine besondere Rasse, Klasse oder Nation über die andere zu stellen sucht, völlig entgegengesetzt. Er ist frei von jeglicher Form von Kirchentum, hat weder Priesterstand noch Riten und wird allein durch freiwillige Gaben seiner erklärten Anhänger getragen.
Wenn auch die Bekenner des Bahá’i-Glaubens ihren Regierungen treu ergeben sind, in Liebe ihrem Vaterland verbunden und darauf bedacht, zu allen Zeiten dessen Wohl zu fördern, so werden sie doch, weil sie die Menschheit als eine Einheit betrachten und deren Lebensinteressen tief verpflichtet sind, ohne Zögern jedes Einzelwohl, sei es persönlich, örtlich oder national, dem übergeordneten Wohl der Menschheit als Ganzes unterordnen; denn sie wissen gar wohl, daß in einer Welt der gegenseitigen Abhängigkeit der Völker und Nationen der Vorteil des Teiles am besten durch den Vorteil des Ganzen erreicht werden kann, und daß kein Dauererfolg durch eines der zugehörigen Teile erreicht werden kann, wenn das Allgemeinwohl des Ganzen hintangestellt wird.
- Shoghi Effendi
Die zwölf Grundsätze der Bahá’i-Weltreligion
1. Die gesamte Menschheit muß als Einheit betrachtet werden.
2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.
3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.
4. Die Religion muß die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.
5. Die Religion muß mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.
6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.
7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.
8. Der Weltfrieden muß verwirklicht werden.
9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung erfahren.
10. Die sozialen Fragen müssen gelöst werden.
11. Es muß eine Einheitssprache und eine Einheitsschrift eingeführt werden.
12. Es muß ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.