SONNE DER WAHRHEIT | ||
Organ der Bahá’í in Deutschland und Öesterreich |
Heft 3 | 17. Jahrgang | Mai 1937 |
Die Bahá’í-Lehre,[Bearbeiten]
die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.
Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.
Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.
Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.
Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“
Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.
Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.
Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.
SONNE DER WAHRHEIT Organ der Bahá’í in Deutschland und Österreich Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198 Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo Verwaltung: Paul Gollmer • Begründet von Alice Schwarz-Solivo Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark |
Heft 3 | Stuttgart, im Mai 1937 Jamál — Schönheit 94 |
17. Jahrgang |
Inhalt: Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláh’s. — Nabíl’s Erzählung: Ṭáhirih’s Reise von Karbilá nach Khurásán. (Schluß); Die Zusammenkunft in Badasht. — Die sieben Täler. — Der menschliche Verstand als Stufe zum Gottesbewußtsein.
Religion ist ein strahlendes Licht und eine uneinnehmbare Feste für den
Schutz und das Wohlergehen der Völker der Welt, denn die Gottesfurcht
treibt den Menschen an, sich an das festzuhalten, mas gut ist, und alles
Böse zu meiden. Sollte die Lampe der Religion verdunkelt werden, so
werden Chaos und Verwirrung die Folge sein, und die Lichter der Ehrlichkeit,
der Gerechtigkeit, der Ruhe und des Friedens werden zu scheinen aufhören.
Bahá’u’lláh
Ährenlese aus den Schriften von Bahá’u’lláh[Bearbeiten]
VI. Schauet hin, wie die verschiedenen Völker und Geschlechter auf Erden auf das Kommen des Verheißenen gewartet haben. Kaum aber war Er, der die Sonne der Wahrheit ist, geoffenbart worden, siehe, da wandten sich alle von Ihm ab, jene ausgenommen, die Gott zu führen geruhte. Wir wagen nicht, am heutigen Tage den Schleier zu lüften, der die erhabene Stufe verhüllt, welche jeder wahre Gläubige erreichen kann; denn die Freude, die solche Enthüllung hervorrufen muß, möchte wohl manche ermatten und sterben lassen.
Er, welcher Herz und Mittelpunkt des Bayán ist, hat geschrieben: „Der Keim, der in sich das Kraftvermögen der kommenden Offenbarung trägt, ist mit einer höheren Kraft begabt, als die vereinten Kräfte aller, die Mir nachfolgen.“ Und wiederum sprach Er: „Von allen Tributen, die ich Ihm, der nach mir kommen soll, gezollt habe, ist der größte der, mein niedergeschriebenes Bekenntnis, daß keines meiner Worte Ihn angemessen schildern kann, noch irgend ein Hinweis auf Ihn in Meinem Buche, dem Bayán, Seiner Sache gerecht werden kann.“
Wer die Tiefen der Weltenmeere, die in diesen erhabenen Worten verborgen liegen,
durchforscht und ihre Bedeutung ergründet hat, von dem kann man sagen, daß er einen
Schimmer der unaussprechlichen Herrlichkeit entdeckt hat, womit diese mächtige, diese
erhabene, diese hochheilige Offenbarung ausgestattet ist. Man kann sich bei der
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Vollkommenheit einer so großen Offenbarung wohl die Ehre vorstellen, mit der ihre getreuen
Anhänger bekleidet werden müssen. Bei der Gerechtigkeit des einen wahren Gottes! Der
Odem dieser Seelen allein ist schon reicher denn alle Schätze der Erde. Glücklich der
Mensch, der dies erreicht hat, und wehe den Achtlosen!
VII. Wahrlich, ich sage, dies ist der Tag, da das Menschengeschlecht das Antlitz des Verheißenen schauen und Seine Stimme hören kann. Der Ruf Gottes ist erschollen und das Licht Seines Antlitzes hat sich auf die Menschen gerichtet. Es geziemet jedermann, die Spur eines jeden eiteln Wortes aus der Tafel seines Herzens zu tilgen und mit offenem, unbefangenem Gemüt auf die Merkmale Seiner Offenbarung zu schauen, auf die Beweise Seiner Sendung und auf die Zeichen Seiner Herrlichkeit.
Groß in der Tat ist dieser Tag! Die Andeutungen auf ihn in allen heiligen Schriften als auf den Tag Gottes bezeugen seine Größe. Die Seele eines jeden Propheten Gottes, eines jeden Gottgesandten hat nach diesem wunderbaren Tag gedürstet. Alle die verschiedenen Erdengeschlechter haben gleicherweise sich darnach gesehnt, ihn zu erleben. Kaum aber hatte das Tagesgestirn Seiner Offenbarung sich im Himmel von Gottes Willen kundgetan, da wurden alle außer jenen, die der Allmächtige zu führen geruhte, wie vom Schlage gerührt und achtlos befunden.
O du, der du Meiner gedacht hast! Der schmerzlichste Schleier hat die Erdenvölker von Seiner Herrlichkeit abgeschlossen und hat sie verhindert, Seinem Rufe zu lauschen. Gott gebe, daß das Licht der Einheit die ganze Erde umhüllen möge und daß das Siegel „Das Reich ist Gottes“ auf die Stirnen aller ihrer Völker gedrückt werden möge.
VIII. Bei der Rechtschaffenheit Gottes! Dies sind die Tage, an welchen Gott die Herzen der ganzen Schar Seiner Gesandten und Propheten erprobt hat, und neben ihnen jene, die über sein ehrwürdiges und unverletzliches Heiligtum wachen, die Bewohner des himmlischen Zeltes und Bewohner des Zeltes der Herrlichkeit. Wie streng daher die Prüfung, der die, welche sich mit Gott verbinden, notwendigerweise unterworfen werden müssen!
IX. O Ḥusayn! Betrachte das Verlangen, mit welchem gewisse Völker und Nationen die Wiederkunft des Imám Ḥusayn erwartet haben, dessen Kommen nach dem Erscheinen des Qá’im durch die Erwählten Gottes in vergangenen Tagen prophezeit wurde, erhaben sei Seine Herrlichkeit. Diese Heiligen kündigten überdies an, daß, wenn der, welcher der Aufgangsort der mannigfachen Gnade Gottes ist, sich selbst offenbart, alle Propheten und Gesandten einschließlich des Qá’im sich unter dem Schatten der geheiligten Fahne, die der Verheißene erheben wird, versammeln werden. Diese Stunde ist nun gekommen. Die Welt ist von der strahlenden Herrlichkeit Seines Antlitzes erleuchtet. Und doch, siehe wie weit ihre Völker von Seinem Pfad abgeirrt sind! Niemand hat an Ihn geglaubt, außer jenen, die durch die Macht des Herrn der Namen die Trugbilder ihrer wesenlosen Einbildungen und verderblichen Wünsche zertrümmert und in die Stadt der Gewißheit eingetreten sind. Das Siegel des auserlesenen Weines Seiner Offenbarung wurde an diesem Tag und in Seinem Namen, dem Selbstgenügenden, zerbrochen. Seine Gnade ergießt sich über die Menschen. Fülle deinen Becher und trinke aus ihm in Seinem Namen, dem Höchstheiligen, dem Allgepriesenen.
X. Die vorbestimmte Zeit für die Völker und Geschlechter der Erde ist jetzt gekommen. Die Verheißungen Gottes, wie in den heiligen Schriften berichtet, sind alle erfüllt worden. Von Zion ist das Gesetz ausgegangen und Jerusalem, und Hügel und Land daselbst, sind von der Herrlichkeit Seiner Offenbarung erfüllt. Glücklich ist der Mensch, der in seinem Herzen darüber nachsinnt, was in den Büchern Gottes, des Helfers in Gefahr, des Selbstbestehenden, geoffenbart wurde. Denke über dies nach, o du Geliebter Gottes, und lasse dein Gehör aufmerksam auf Sein Wort gerichtet sein, auf daß du durch Seine Gnade und Barmherzigkeit deine Fülle von den kristallklaren Wassern der Beständigkeit trinken und in Seiner Sache ebenso standhaft und unbeweglich werden mögest wie das Gebirge.
In dem Buche Jesaja ist es geschrieben: „Trete in den Felsen ein und verbirg dich im
Staube, aus Furcht vor dem Herrn und um der Herrlichkeit Seiner Erhabenheit Willen.“
Kein Mensch, der über diesen Vers nachsinnt, kann verfehlen, die Größe dieser Sache zu
erkennen oder den erhabenen Charakter
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dieses Tages — des Tages von Gott Selbst bezweifeln. Eben dieser Vers wird von diesen
Worten gefolgt: „Und der Herr allein soll an jenem Tag erhöht werden.“ Dies ist der Tag,
welchen die Feder des Allerhöchsten in allen heiligen Schriften verherrlicht hat. Es gibt in
ihnen keinen Vers, der nicht die Herrlichkeit Seines heiligen Namens erklärt, und kein
Buch, das nicht für die Erhabenheit dieses höchsten Planes Zeugnis ablegt. Wollten Wir
alles das erwähnen, was in diesen himmlischen Büchern und heiligen Schriften im
Hinblick auf diese Offenbarung geoffenbart wurde, so würde dieses Tablet unmögliche
Ausmaße annehmen. Es ist an diesem Tage jedem Menschen zur Pflicht gemacht, sein
ganzes Vertrauen auf die mannigfachen Gaben Gottes zu richten und sich zu erheben, um
mit der größten Weisheit die Wahrheiten Seiner Sache zu verbreiten. Dann und nur
dann wird die ganze Erde von dem Morgenlicht Seiner Offenbarung umhüllt sein.
Nabíl’s Erzählung[Bearbeiten]
Übersetzung aus „The Dawn-Breakers“, Nabíl’s Narrative of the early days of the Bahá’í Revelation, New York 1932
Aus Kapitel XV: Ṭáhirih’s Reise von Karbilá nach Khurásán.
(Fortsetzung)
Die Stunde, die Ṭáhirih als die ihrer Befreiung angegeben hatte, sah sie bereits in Sicherheit unter dem schützenden Schatten von Bahá’u’lláh, Sie wußte genau, in wessen Gegenwart sie geführt worden war; sie war sich vollständig der Heiligkeit der Gastfreundschaft bewußt, die ihr so liebevoll gewährt wurde. Wie es mit der Annahme des vom Báb verkündeten Glaubens war, da sie ungerufen und ungezwungen Seine Botschaft begrüßt und deren Wahrheit erkannt hatte, so empfand sie auch aus eigener intuitiver Erkenntnis die künftige. Herrlichkeit von Bahá’u’lláh. Im Jahre ’60, als sie in Karbilá war, deutete sie in ihren Oden ihr Erkennen der Wahrheit an, die Er offenbaren werde. Mir selbst wurden in Ṭihrán im Hause von Siyyid Muḥammad, den Ṭáhirih Fata’l-Malih benannt hatte, die Verse gezeigt, die sie mit eigener Hand niederschrieb, von denen jeder Buchstabe beredter Zeuge ihres Glaubens an die erhabene Sendung von Báb und Bahá’u’lláh ist. In jener Ode fand ich folgenden Vers: „Das Leuchten der Abhá-Schönheit hat den Schleier der Nacht durchbrochen. Sehet die Seelen Seiner Anbeter, die wie die Sonnenstäubchen in dem Lichte tanzen, das von Seinem Angesicht erstrahlt ist!“ Es war ihre felsenfeste Überzeugung, daß die unbesiegbare Macht von Bahá’u’lláh sie getrieben habe, ihre Voraussagungen mit solcher Zuversicht zu äußern und ihre Herausforderung so kühn ihren Feinden ins Gesicht zu schleudern. Nur ein unerschütterlicher Glaube an die nie versagende Schlagkraft dieser Macht konnte sie veranlaßt haben, in den trübsten Stunden ihrer Gefangenschaft mit solchem Mut und mit solcher Gewißheit von ihrem künftigen Sieg zu sprechen.
Einige Tage nach dem Eintreffen Ṭáhirih’s in Ṭihrán entschied sich Bahá’u’lláh, sie nach Khurásán, in Begleitung der Gläubigen zu schicken, die sich soeben zum Aufbruch nach jener Provinz anschickten. Auch Er hatte sich entschlossen, die Residenz zu verlassen und einige Tage später denselben Weg zu nehmen. Demzufolge rief Er Áqáy-i-Kalím zu sich und wies ihn an, sofort die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um den Umzug Ṭáhirih’s und ihrer Dienerin Qánitih nach einem Platz vor den Stadttoren zu bewerkstelligen, von wo sie später dann weiter nach Khurásán reisen sollten. Er riet ihm, die größte Vorsicht und Wachsamkeit zu beobachten, damit nicht die Wachen, die am Eingang der Stadt aufgestellt waren und die den Befehl hatten, keine Frauen ohne Erlaubnisschein aus den Toren gehen zu lassen, ihre Person erkennen und ihre Abreise vereiteln möchten.
Ich habe Áqáy-i-Kalím folgenden Bericht erzählen hören: „Unser Vertrauen in Gott
setzend ritten wir, Ṭáhirih, ihre Dienerin und ich, an einen Ort in der Umgebung der
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Hauptstadt. Keine der Wachen, die am Shimírán-Tore Dienst taten, machte den
geringsten Einwand, auch frugen sie nicht nach unserer Reisebestimmung. In der Entfernung
von zwei Farsakh von der Hauptstadt gelangten wir in einen Obstgarten mit reichlich
Wasser, am Fuß eines Berges gelegen, in dessen Mitte ein Haus stand, das ganz verödet
schien. Als ich nach dessen Besitzer Umschau hielt, traf ich einen alten Mann, der seine
Pflanzen begoß. Auf meine Frage hin erklärte er mir, daß ein Streit zwischen dem Besitzer
und seinem Mieter entstanden sei, und daß daraufhin die Bewohner das Haus verlassen
hätten. „Ich bin von dem Besitzer beauftragt worden“, setzte er hinzu, „auf dieses Gut hier
acht zu haben, bis der Streit beigelegt ist.“ Ich war hochbefriedigt von diesem Bericht und
lud ihn zu unserem Mittagsmahl ein. Als ich im Laufe des Tages mich dann entschloß, nach
Ṭihrán zurückzureisen, war er gerne bereit, Ṭáhirih und ihre Dienerin zu beschützen und
zu behüten. Als ich sie seiner Obhut anvertraute, versicherte ich ihm, daß ich am gleichen
Abend selbst zurückkommen oder einen zuverlässigen Diener schicken werde, dem ich
am nächsten Morgen folgen würde mit allem notwendigen Bedarf zur Weiterreise nach
Khurásán.
Bei meiner Ankunft in Ṭihrán sandte ich Mullá Báqir, einen der Buchstaben des Lebendigen, als Eilboten mit einem Diener zu Ṭáhirih. Ich benachrichtigte Bahá’u’lláh von ihrer geglückten Abreise aus der Hauptstadt. Er war sehr erfreut über meinen Bericht und nannte den Obstgarten Bágh-i-Jannat1)! „Dieses Haus“, so sagte Er, „ist durch die Vorsehung zu eurem Empfang bereit gemacht worden, damit du in ihm die Geliebten Gottes unterbringen mögest.“
Ṭáhirih blieb sieben Tage daselbst, darnach ging sie in Begleitung von Muḥammad-Ḥasan-i-Qazvíní mit dem Beinamen Fatá und einiger anderer in Richtung Khurásán weiter. Ich hatte den Auftrag von Bahá’u’lláh, ihre Abreise zu bewerkstelligen und sie mit jeglichem für die Reise notwendigen Bedarf zu versorgen.“
Aus Kapitel XVI: Die Zusammenkunft in Badasht
Bahá’u’lláh reiste, wenige Tage nach Ṭáhirih, ebenfalls nach Khurásán ab. Mit dem Schutze Seiner Familie betraute er Áqáy-i-Kalím.
Durch das erfolgreihe Auftreten von Quddús und Mullá Ḥusayn war die ganze Provinz Khurásán und besonders deren Hauptstadt Mashhad von einer gewissen Erregung ergriffen. Ein Diener Mullá Ḥusayns, mit Namen Ḥasan, wurde von der Polizei beschimpft und mißhandelt, worauf einige Bábi unter dem Rufe „Yá Ṣáḥibu‘z-Zamán2)“ durch die Straßen zogen. In dem daraufhin entstehenden Getümmel wurden die, welche diesen Diener mit einem Strick an der durchbohrten Nase durch die Stadt zogen, getötet. Prinz Ḥamzih Mírzá hielt mit einer kleinen Streitmacht einige Meilen außerhalb der erregten Stadt. Er forderte Mullá Ḥusayn in eigenhändigem Schreiben auf, sich in sein Lager herauszubegeben, wo allein er vor der wütenden Menge sicher sei. Auch Quddús riet Mullá Ḥusayn zu. „Wolle Gott“, schloß er seine Worte, „daß auch du späterhin an der Spitze einer großen Schar Gläubiger unter den „schwarzen Fahnen“ aus Mashhad ausziehen und zu mir stoßen wirst. Wir werden uns wiedersehen, wo immer der Allmächtige es bestimmen wird.“ Sie nahmen ergriffen voneinander Abschied. Mullá Ḥusayn begab sich mit würdevoller Ruhe zu Pferde nach dem Lager des Prinzen. Er wurde auf Geheiß des Prinzen von dem ihm sehr ergebenen 'Abdu'l-Alí-Khán und einigen anderen Offizieren feierlich begrüßt und zu dem ihm bereiteten Zelte geleitet.
Auch Quddús nahm noch am gleichen Abend Abschied von den Freunden in Mashhad. Er gebot ihnen unbedingten Gehorsam Mullá Ḥusayn gegenüber. „Wild sind die Stürme, die vor uns aufsteigen. Die Tage der Not und heftigen Aufruhrs nahen rasch heran. Haltet euch an ihn, denn im Gehorsam zu seinem Befehl liegt euer Heil.“
Einige Tage später auf seiner Reise westwärts trafen Quddús und sein Begleiter auf
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Mírzá Sulaymán-i-Núrí, der ihm die Nachricht der Befreiung Ṭáhirih’s, ihrer Abreise
nach Khurásán und auch Bahá’u’lláh’s späterer Abreise aus der Hauptstadt mitteilte.
Zu dritt zogen sie weiter und kamen an einem Abend in dem Dorfe Badasht an,
wo sie eine größere Schar von Bábi aus verschiedenen Teilen Persiens antrafen. Diese
gedachten, sich Bahá’u’lláh und Ṭáhirih anzuschließen, die sich einstweilen in dem
Dorfe Sháh-Rúd getroffen hatten und nun gemeinsam über Badasht nach
Khurásán weiterreisen wollten. Quddús beschloß, nicht zu warten, sondern seinen
Weg nach Sháh-Rúd fortzusetzen. Wie er aber dort ankam, mußte er erfahren,
daß Bahá’u’lláh und Ṭáhirih schon weitergereist seien. Sie waren einstweilen
ihrerseits in Badasht angekommen.
Kaum hatte Bahá’u’lláh durch Muḥammad-i-Haná-S´bb von Quddús’ Ankunft in Sháh-Rúd gehört, so entschloß Er sich, ihm zu folgen. In Begleitung von Mullá Muḥammad-i-Mu’allim-i-Núrí ritt Er noch am selben Abend nach jenem Dorf und kehrte mit Quddús am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang nach Badasht zurück.
Es war zu Anfang des Sommers. Nach Seiner Ankunft mietete Bahá’u’lláh drei Gärten, von denen Er den einen Quddús zur alleinigen Benützung stellte, einen anderen für Ṭáhirih und ihre Dienerin bereit hielt und den dritten für sich selbst in Anspruch nahm.
Es hatten sich in Badasht 81 Gläubige eingefunden, die alle vom Tag ihrer Ankunft bis zum Tag ihrer Abreise Gäste von Bahá’u’lláh waren. Jeden Tag offenbarte Er ein Tablet, das Mírzá Sulaymán-i-Núrí vor den versammelten Gläubigen sang. Einem jeden gab Er einen neuen Namen. Er selbst wurde von da an mit dem Namen Bahá benannt; dem letzten Buchstaben des Lebendigen wurde der Name Quddús erteilt und Qurratu’l-'Ayn wurde der Name Ṭáhirih gegeben. Einem jeden, der bei der Zusammenkunft in Badasht zugegen war, wurde daraufhin ein besonderes Tablet durch den Báb geoffenbart, worin Er jeden mit dem Namen anredete, der ihm jetzt gegeben worden war. Als in späterer Zeit einige strenge und konservative ihrer Mitgläubigen Ṭáhirih unbedachtsamer Abweisung der altehrwürdigen Überlieferungen der Vergangenheit anschuldigten, antwortete der Báb, an den diese Klagen gerichtet waren, mit folgenden Worten: „Was soll ich sagen über sie, welche die Zunge der Macht und Herrlichkeit Tähirih3) genannt hat?“
Jeder Tag jener denkwürdigen Versammlung sah die Aufhebung eines neuen Gesetzes und die Absage an eine langbestehende Überlieferung. Die Hüllen, welche die Heiligkeit der Verordnungen des Islám bewahrten, wurden unerbittlich zerrissen und die Götzen, die so lange die Anbetung ihrer blinden Verehrer gefordert hatten, wurden gewaltsam zerstört. Jedoch niemand kannte die Quelle, aus der diese kühnen und herausfordernden Neuerungen hervorgingen, niemand vermutete die Hand, die ständig und unabirrbar ihren Kurs steuerte. Sogar das Wesen Dessen, der ihnen bei der Versammlung in jener Ortschaft einen neuen Namen gegeben hatte, blieb dessen Empfängern unbekannt. Ein jeder mutmaßte nach dem Grade seines eigenen Begreifens. Wenn überhaupt, so waren es nur ganz wenige, die etwa vermuteten, daß Bahá’u’lláh der Urheber des so weit reichenden Wandels war, der so mutig angebahnt wurde.
Shaykh Abú-Turáb, einer der Bestunterrichteten über die Art der
Entwicklung in Badasht, soll folgenden Zwischenfall berichtet haben:
„Krankheit zwang eines Tages Bahá’u’lláh zu Bett. Sobald Quddús von Seiner
Unpäßlichkeit gehört hatte, eilte er, Ihn zu besuchen. Er setzte sich, als er in
Seine Gegenwart kam, zur Rechten Bahá’u’lláh’s. Die übrigen Begleiter wurden
nacheinander hereingeführt und setzten sich um Ihn. Kaum waren alle beisammen,
als Muḥammad-Ḥasan-i-Qazvíní, der Bote Ṭáhirih’s, der den Namen Fata’l-Qazvíní
neuerdings erhalten hatte, plötzlich eintrat und Quddús die eilige
Einladung von Ṭáhirih brachte, sie in ihrem eigenen Garten zu besuchen. „Ich habe mich
gänzlich von ihr zurückgezogen“, gab dieser steif und entschieden zurück. „Ich nehme die
Einladung nicht an.“ Der Bote zog sich alsbald zurück, kehrte aber wieder und richtete
dieselbe Botschaft nochmals aus und beschwor ihn, ihrem dringenden Rufe Achtung zu
schenken. „Sie besteht auf deinem Besuch“, sagte er. „Wenn du auf deiner Absage
beharrst, so kommt sie selbst zu dir.“ Als der Bote des Mannes ablehnende Haltung
sah, zog er sein Schwert, legte es Quddús zu
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Füßen und sagte: „Ich weigere mich, ohne dich zu gehen. Entweder entscheide dich, mich zu
Ṭáhirih zu begleiten, oder enthaupte mich mit diesem Schwert.“ „Ich habe bereits meine
Absicht ausgesprochen, Ṭáhirih nicht aufzusuchen“, antwortete Quddús ärgerlich. „Ich
bin bereit, wie du mir vorgeschlagen hast, zwischen beiden Dingen zu wählen.“
Muḥammad-Ḥasan, der sich zu Füßen von Quddús gesetzt hatte, hatte sein Haupt gesenkt, um den furchtbaren Schlag zu empfangen, als plötzlich die Gestalt Ṭáhirih’s, geschmückt und unverschleiert, vor den Augen der versammelten Gefährten erschien. Bestürzung ergriff alle Anwesenden. Sie waren entsetzt über dieses plötzliche und höchst unerwartete Erscheinen. Ihr unverschleiertes Gesicht zu sehen, war ihnen ganz unfaßlich. Schon ihren Schatten zu sehen, schien ihnen unrein, um so mehr als sie sie als die verkörperte Fáṭimih4) ansahen, in ihren Augen das edelste Sinnbild der Keuschheit.
Ruhig, still und mit größter Würde trat Ṭáhirih näher zu Quddús heran und setzte sich zu seiner Rechten. Ihre ruhige Heiterkeit stand in scharfem Gegensatz zu den entsetzten Gesichtern derer, die nach ihr hinschauten. Angst, Zorn und Bestürzung wühlten die Tiefen ihrer Seelen auf. Diese plötzliche Entschleierung schien ihre Fähigkeiten zu betäuben. 'Abdu'l-Khálig-i-Iṣfáhání war so tief erschüttert, daß er sich mit eigener Hand in die Kehle schnitt. Blutüberströmt und knirschend vor Entsetzen floh er vor dem Antlitz Ṭáhirih’s. Einige folgten seinem Beispiel, verließen ihre Freunde und gaben ihren Glauben auf. Andere wieder standen sprachlos vor ihr, vor Staunen verwirrt. Quddús war indessen auf seinem Platze sitzen geblieben und hielt das gezückte Schwert in der Hand; seine Miene verriet unbeschreiblichen Zorn. Es schien, als warte er nur auf den Augenblick, da er seinen verhängnisvollen Schlag nach Ṭáhirih führen könne. Seine drohende Haltung konnte sie jedoch nicht bewegen. Ihr Gesicht drückte die gleiche Würde und Zuversicht aus, die sie im Augenblick ihres Eintritts vor den gesamten Gläubigen zur Schau getragen hatte. Freude und Triumph leuchtete jetzt aus ihren Zügen. Sie erhob sich von ihrem Sitze und unberührt von dem Tumult, den sie in den Herzen ihrer Mitgläubigen hervorgerufen hatte, begann sie zu dem Rest der Versammlung zu sprechen. Ohne das geringste Überlegen und in einer Sprache, die eine treffende Ähnlichkeit mit der des Qur‘án hatte, erhob sie ihren Ruf mit unvergleichlicher Beredtsamkeit und tiefer Glut. Sie beschloß ihre Ansprache mit folgendem Vers aus dem Qur’án: „Wahrlich, inmitten von Gärten und Gewässern soll der Fromme wohnen, an dem Platze der Wahrheit in der Gegenwart des mächtigen Königs.“ Als sie diese Worte sagte, warf sie einen verstohlenen Blick auf Bahá’u’lláh und Quddús auf eine Art, daß die, welche sie beobachteten, nicht sagen konnten, auf welchen der beiden sie anspielte. Und gleich darauf erklärte sie: „Ich bin das Wort, das der Qur’án ausspricht, das Wort, das die Häupter und Edelsten auf Erden in die Flucht jagen wird.“
Dann wandte sie ihr Gesicht Quddús zu und warf ihm vor, daß er versäumt habe, in Khurásán Dinge zu tun, die ihr wesentlich zum Wohlergehen des Glaubens dünkten. „Es steht mir frei, den Eingebungen meines eigenen Gewissens zu folgen“, gab Quddús zur Antwort. „Ich bin nicht dem Willen und Wohlgefallen meiner Mitjünger unterworfen.“ Da wandte sie ihren Blick von ihm ab und lud die noch Anwesenden ein, diese große Gelegenheit würdig zu feiern. „Dieser Tag ist der Tag des Festefeierns und der allgemeinen Freude", sagte sie, „der Tag, da die Fesseln der Vergangenheit zerbrochen sind. Laßt die, welche an diesem großen Werk teilhaben, aufstehen und einander umarmen.“ “
Jener denkwürdige Tag und die gleich darauffolgenden Tage brachten eine umstürzende
Wandlung im Leben und in den Gewohnheiten aller versammelten Anhänger des Báb
mit sich. Die Art ihres Gottesdienstes erfuhr eine plötzliche und gründliche Umwandlung.
Die Gebete und Zeremonien, zu denen diese ergebenen Frommen erzogen worden waren,
wurden unwiderruflich abgeschafft. Eine große Verwirrung herrschte jedoch unter denen,
die sich so eifrig daran gemacht hatten, diese Reformen zu vertreten. Einige verurteilten
eine solch radikale Veränderung als den Höhepunkt der Ketzerei und wiesen ab
aufzuheben, was sie als unanfechtbare Vorschrift des Islám ansahen. Andere dagegen
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sahen Ṭáhirih als die einzig Maßgebende in solchen Dingen an und als die einzige
Persönlichkeit, welche dazu berechtigt sei, unbedingten Gehorsam von den Gläubigen fordern
zu können. Und wieder andere verwarfen ihr Auftreten Quddús gegenüber, den sie als den
einzigen Vertreter des Báb ansahen, als den Einzigen, dem das Recht zustand, über solch
wichtige Angelegenheit ein Wort zu reden. Dann wieder gab es welche, die sowohl die
Autorität von Ṭáhirih, als die von Quddús anerkannten; sie betrachteten dieses ganze
Vorkommnis als eine von Gott gesandte Prüfung, dazu bestimmt, die Echten von den
Falschen zu scheiden und die Getreuen von den Ungetreuen. Ṭáhirih selbst lehnte bei einigen
Gelegenheiten die Autorität von Quddús ab. „Ich sehe ihn“, so soll sie erklärt haben, „als
einen Schüler an, den mir der Báb gesandt hat, ihn zu bilden und zu belehren. Ich sehe
ihn in keinem andern Licht.“ Quddús seinerseits verfehlte auch nicht, Ṭáhirih anzuklagen
als „die Urheberin der Ketzerei“, und bezeichnete jene, die ihre Ansicht teilten, als „Opfer
des Irrtums“. Dieser Zustand der Spannung hielt einige Tage an, bis Bahá’u’lláh
dazwischentrat und in Seiner meisterhaften Art eine volle Aussöhnung der beiden herstellte.
Er heilte die Wunden, welche der scharfe Streit verursacht hatte, und lenkte die Bemühungen
beider auf den Weg aufbauenden Dienstes.
Der Zweck dieses denkwürdigen Beisammenseins war erreicht. Der Trompetenstoß zu einer neuen Ordnung war erschollen. Die veralteten Gebräuche, welche das Bewußtsein der Menschen in Fesseln hielten, wurden kühn abgetan und ohne Furcht hinweggefegt. Der Weg war geebnet zur Verkündigung der Gesetze und Vorschriften, die bestimmt waren, die neue Ordnung einzuführen. Der Rest der in Badasht versammelten Gefährten entschloß sich daraufhin, nach Mázindarán aufzubrechen. Quddús und Ṭáhirih nahmen in derselben Howdah5) Platz, die von Bahá’u’lláh für ihre Reise bestellt war. Auf ihrem Weg dichtete Ṭáhirih täglich eine Ode, welche sie ihre Begleiter, die der Sänfte folgten, zu singen lehrte. Berg und Tal erklangen von den Liedern; mit denen jenes begeisterte Häuflein auf seinem Wege nach Mázindarán das Erlöschen des alten und die Geburt des neuen Tages verkündete.
Bahá’u’lláh’s Aufenthalt in Badasht dauerte zweiundzwanzig Tage. Im Verlauf der Reise nach Mázindarán gedachten einige Jünger des Báb, die Freiheit auszunützen, welche die Absage an die Gesetze und die Weihen eines überlebten Glaubens ihnen gebracht hatte. Sie betrachteten die beispiellose Handlung von Ṭáhirih, das Ablegen des Schleiers, als ein Signal, die Schranken der Mäßigung zu überschreiten und ihren selbstsüchtigen Wünschen nachzugehen. Die Ausschreitungen, in welchen sich einige wenige ergingen, riefen den Zorn des Allmächtigen hervor und bewirkten ihre augenblickliche Ausstoßung. Im Dorfe Níyálá wurden sie schwer heimgesucht und erlitten schwere Beleidigungen von seiten ihrer Feinde. Diese Absprengung verlöschte das Unglück, das einige unverantwortliche Anhänger des Glaubens zu entzünden trachteten, und bewahrten dessen Ehre und Würde ungetrübt.
Ich habe von Bahá’u’lláh selbst diesen Vorfall vernommen: „Wir alle waren in dem
Dorfe Níyálá beisammen und hatten uns am Fuße eines Berges gelagert, als wir um die
Morgendämmerung plötzlich daran erwachten, daß Leute aus der Umgebung vom Berg
herab Steine nach uns warfen. Die Wucht ihres Angriffes ließ unsere Gefährten in
Angst und Verwirrung fliehen. Ich zog Quddús mein eigenes Gewand an und schickte
ihn an einen sicheren Platz, wohin ich ihm zu folgen beabsichtigte. Als ich dort eintraf,
war er schon weiter gegangen. Keiner unserer Gefährten war in Níyálá geblieben außer
Ṭáhirih und einem jungen Mann aus Shíráz, Miírzá ‘Abdu’lláh. Die Heftigkeit, mit der
wir angegriffen wurden, hatte Verzweiflung über unser Lager gebracht. Ich fand niemand, in
dessen Obhut ich hätte Ṭáhirih geben können außer jenem jungen Mann, der bei dieser
Gelegenheit einen Mut und eine Entschlossenheit zeigte, die wahrhaft überraschend waren.
Das Schwert in der Hand, unerschrocken trotz des wütenden Angriffs der Dorfbewohner,
die herangestürmt waren, um unsere Habe zu plündern, sprang er vor, die Hände der
Angreifer abzuhalten. Obgleich an verschiedenen Körperstellen verwundet, setzte er
sein Leben ein, um unsere Habe zu schützen. Ich
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befahl ihm, davon abzulassen. Als das Getümmel nachgelassen hatte, ging ich zu einer
Anzahl der Dorfbewohner hin und vermochte sie von der Grausamkeit und Schmach ihres
Vorgehens zu überzeugen. Es gelang mir daraufhin, einen Teil unseres geraubten
Eigentums wieder zurückzuerhalten.“
Bahá’u’lláh, gefolgt von Ṭáhirih und ihrem Begleiter, begab sich weiter nach Núr. Er bestimmte Shaykh Abú-Turáb, über ihr zu wachen und ihren Schutz und ihre Sicherheit zu gewährleisten. Indessen bemühten sich die Unheilstifter, den Zorn Muḥammad Sháh’s gegen Bahá’u’lláh zu entfachen, und dadurch, daß sie ihn als den ersten Anstifter der Unruhen in Sháh-Rúd und Mázindarán bezeichneten, brachten sie den Herrscher soweit, ihn gefangen nehmen zu lassen. „Bis jetzt", soll der Sháh ärgerlich gesagt haben, „habe ich es abgelehnt, was gegen ihn vorgebracht wurde, zu beachten. Meine Nachsicht entsprang der Anerkennung der Dienste, die Sein Vater meinem Lande geleistet hat. Dieses Mal jedoch bin ich entschlossen, ihn töten zu lassen.“ So befahl er also einem seiner Offiziere in Ṭihrán, seinen Sohn, der in Mázindarán wohnte, damit zu beauftragen, Bahá’u’lláh gefangen zu nehmen und in die Hauptstadt zu überführen. Der Sohn dieses Offiziers hörte von dieser Mitteilung gerade an dem Abend, der dem Empfang voranging, den er zu Ehren von Bahá’u’lláh vorbereitet hatte, an dem er voll Ergebenheit hing. Er war tief erschüttert und teilte die Nachricht niemand mit. Bahá’u’lláh jedoch sah seine Niedergeschlagenheit und sagte ihm, er möge sein Vertrauen in Gott setzen. Am nächsten Tag, als Er von Seinem Freund nach dessen Hause geleitet wurde, begegnete ihnen ein Reiter, der aus Ṭihrán kam. „Muḥammad Sháh ist tot!“ rief der Freund im Dialekt von Mázindarán, als er ihm nach einer kurzen Unterredung mit dem Boten eilig nachfolgte. Dann zog er den königlichen Befehl hervor und zeigte ihn Ihm. Das Schriftstück hatte seine Gültigkeit verloren. So wurde dieser Abend in Gesellschaft des Gastes in einer Atmosphäre ungetrübter Ruhe und Fröhlichkeit verbracht.
Quddús war inzwischen in die Hände seiner Gegner gefallen und wurde in Sárí im Hause von Mírzá Muḥammad-Taqí, dem führenden Mujtahid jener Stadt gefangen gehalten. Der Rest seiner Reisegefährten war nach dem Angriff in Níyálá nach allen Seiten zerstreut; ein Jeder brachte seinen Mitgläubigen die Nachricht von den wichtigen Geschehnissen in Badasht.
1) Paradiesgarten.
2) „O Herr des Zeitalters!“, einer der Titel des verheißenen Qá’im.
3) „Die Reine“.
4) Tochter von Muḥammad, die Frau des Imám ‘Alí.
5) Eine Reisesänfte, die von einem Pferd, Kamel, Esel oder Elefanten getragen wird.
Die sieben Täler[Bearbeiten]
Von ‘Alí Kuli Khán1)
Bahá’u’lláh stellt in einer Antwort an die Mystiker fest, daß die Reise der Seele zu
ihrem Ziel sieben Stufen umfaßt. Diese sieben Stufen werden auch die „Sieben Täler“
genannt. Nach den Lehren der Mystiker muß der Mensch durch diese sieben Täler wandern,
um zu seinem Ziel zu gelangen.
Gerade wie in alter Zeit eine Reise zu Pferd, auf dem Maulesel oder Kamel gemacht wurde und heute die Eisenbahn, das Dampfschiff oder das Flugzeug benützt werden, so verwendet auch der Mystiker auf jeder Strecke seiner Reise ein geeignetes Fahrzeug.
Bahá’u’lláh stellt fest, daß das erste dieser sieben Täler
- das Tal des Begehrens
ist.
Das Fahrzeug, auf dem man im Tale des Begehrens reist, ist Geduld. Ohne Geduld kann man in diesem Tale nicht reisen. Wie für jede große Reise der Mensch gewisse Vorkehrungen treffen muß, die ihm das Vorwärtskommen ermöglichen, so sind auch zu dieser mystischen Reise gewisse geistige Vorkehrungen erforderlich, die dem Menschen im Tale des Begehrens Unterstützung gewähren. Einmal ist es die Notwendigkeit, gänzlich unparteiisch zu werden und nicht beeinflußbar durch das Wort dieses oder jenes Menschen; der Wanderer muß sich in eigenem Urteilsvermögen und in der Kraft eigener Entscheidung und des Verstehens üben, um seinen Bestimmungsort zu erreichen. Im Tal des Begehrens von andern abhängig zu sein, könnte zu Irrtum führen.
Eine Erläuterung dazu: Als Jesus kam und
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den Anspruch erhob, der Messias zu sein, gingen viele zu den Pharisäern und Sadduzäern,
um sich bei diesen über ihn zu befragen. Es wurde ihnen dort gesagt, daß Er ein falscher
Prophet sei. Daher kam es, daß sie, statt zur Erlösung geführt zu werden, in die
Verdammnis irregeleitet wurden. Es ist deshalb Pflicht jedes Einzelnen, an seiner eigenen
Erlösung zu arbeiten.
Was unsere Väter und Vorfahren glaubten, steht auf der einen Seite, was wir glauben sollen, auf der andern. Ihr sollt ihnen nicht blindlings folgen, weil jene vor uns, die wiederum ihren Führern, Ahnen oder Geistlichen nachfolgten, ohne das Beispiel des wahrhaften Suchers zu befolgen, zu Irrtum geführt wurden. Die Juden verdammten Jesus, weil die Pharisäer ihnen sagten, daß die Lehren Moses für sie gut genug seien, da sie auch für ihre Ahnen genügten.
Bahá’u’lláh sagt, daß ein Mensch im Tale des Begehrens mit Geduld ausgerüstet sein und alles erforschen müsse. Das heißt natürlich nicht notwendigerweise, daß man von einem Land ins andere reisen muß. Eine Geschichte von Laylí und Majnún wird diesen Punkt etwas genauer erklären: Einmal wurde Majnún, der die Geliebte verloren hatte, in der Einsamkeit der Wüste angetroffen, wie er den Sand durch seine Finger rinnen ließ. Weise Ratgeber frugen ihn: „Was tust du?“ Er antwortet: „Ich suche Laylí.“ Sie sagten: „Wehe, Laylí ist reiner Geist und du suchst sie im Staub der Erde!“ Er erwiderte: „Ich suche Laylí überall, daß ich sie vielleicht irgendwo finde.“
Das muß die Haltung aller aufrichtigen Sucher sein. Wanderer im Tal des Begehrens müssen sich in Geduld üben, müssen unparteiisch im Forschen sein. Sie dürfen sich nicht schwankend machen lassen durch das, was die einen Leute entgegen oder andere zugunsten einer Sache sagen; sondern der wahrhaft Suchende muß es in der Waage seiner eigenen Vernunft abwägen. Dann wird Gott ihm beistehen, den Gegenstand seines Suchens zu finden, und wenn der Wanderer im Tale des Begehrens auch nur einen Schimmer der Schönheit des Geliebten erblickt hat, wird er als eine Belohnung seines Suchens sofort in das zweite Tal gelangen,
- das Tal der Liebe.
Das Gefährt, auf dem er im Tal der Liebe reist, ist Schmerz, Erdulden, Opfer. Diese Eigenschaften werden ihn von Ebene zu Ebene, von Stufe zu Stufe führen. Wenn einmal ein Wanderer das Tal der Liebe betreten hat, sucht er nach keinen Vernunftgründen. Wahnsinn ist ihm gleich wie Vernunft. Vernunft ist ihm gleich Wahnsinn. Er sieht weder Finsternis noch Licht, Ordnung oder Verwirrung. Er ist sich allen Rechtes und Unrechtes nicht bewußt. Er sieht nichts außer Liebe; mit dem Geliebten in Liebe vereint zu sein, - ist ihm die höchste, die größte Wohltat. Bahá’u’lláh sagt, daß der Liebende, der im Tale der Liebe wandelt, nicht immer darin verweilen soll; er muß sich vergegenwärtigen, daß das Tal der Liebe der Stein einer Treppe ist, von dem er in ein höheres Tal aufwärts schreitet. Liebe ist wundervoll, wenn sie uns auf eine höhere Stufe führt; wenn sie uns aber persönlich befriedigt und uns unter ihrer Kontrolle hält, wird sie auf einer Stufe geistiger Selbstsucht endigen. Es genügt nicht, glücklich zu sein im Tal der Liebe. Wenn wir Liebe als Ende ansehen, werden wir selbstsüchtig, und jene Liebe, die bestimmt ist, uns auf eine erhabenere Stufe zu bringen, wird das Mittel werden, uns darnieder zu halten und unserer Fähigkeit, Größeres zu vollbringen, Einhalt gebieten. Deshalb heißt es: „Liebe ist ein Schleier, der den Geliebten dem Liebenden verhüllt.“
Wenn der Wanderer den Anforderungen des Tales der Liebe gerecht wurde und Liebe als Stufe benutzte, eine höhere Ebene zu erreichen, wird er durch die Führung Gottes ins dritte Tal gelangen,
- das Tal des Wissens.
Das Tal der Liebe ist das Tal des Unbewußten. Darin haben wir kein Wissen um Gut
und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Aber im Tal des Wissens steigen wir auf eine
Ebene, in der alles in hellerem Lichte erscheint. Alle Dinge werden offenbar und sichtbar
in diesem Tal. Bahá’u’lláh sagt, daß in diesem Tal der Wanderer das Ende im Anfang sieht,
Frieden im Krieg, Gerechtigkeit in Ungerechtigkeit. Dies sind einige der Erfahrungen
des Wanderers im Tal des Wissens, die der Erklärung bedürfen. Sie haben
wohl oft gehört, daß Liebe das Größte ist, und dies ist wahr, sofern sie unsere Seelen
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zum Tal des Wissens führt. Was heißt Wissen?
Es gibt einen heiligen prophetischen Ausspruch, der besagt, daß Gott vor der Erschaffung aller Dinge verborgen war in den Mysterien Seines eigenen Wesens und sonst nichts bis jetzt erschaffen war. Er sagte: „Ich war ein verborgener Schatz und wünschte erkannt zu werden; daher erschuf ich den Menschen, um erkannt zu werden.“
Es sind in dieser göttlichen Äußerung vier Stufen zu erkennen. Erstens, die Stufe der Unerkennbarkeit und Unsichtbarkeit der göttlichen Wesenheit. Zweitens, die Stufe der Liebe, „ich liebte es, erkannt zu werden". Drittens, die Stufe der Erkenntnis „ich wünschte erkannt zu werden“. Viertens, die Erschaffung des Menschen, die das Mittel ist, durch das Gott sich selbst bekannt macht. Wenn wir so Jesus sagen hören: „Ich bin die Tür“2), so bedeutet das nichts anderes als daß durch Ihn allein Gott sich bekannt machte. Gott — Geist, erwählte einen Körper, den Tempel des Menschen, um offenbar zu werden. So schuf Gott den Menschen nach Seinem eigenen Bild. Das heißt, aus dem menschlichen Tempel, zu Gottes Offenbarung erschaffen, leuchten die Eigenschaften des unsichtbaren Gottes hervor.
Indem wir uns auf die heilige Äußerung bezogen, daß Gott, der Unsichtbare, der Unerkannte, den Menschen erschuf, um erkannt zu werden, haben wir die Bedeutung der Erkenntnis als über der Ebene der Liebe stehend, dargelegt.
Wenn wir ins Tal des Wissens eintreten, erkennen wir, warum der Geliebte geliebt wird. Wir lernen den Grund kennen, warum wir Gott, den Geliebten, lieben müssen. Dieses Wissen befähigt uns, unter die Menschen zu gehen und ihnen in ihren Nöten zu helfen. Denn unsere Forderung, Gott zu lieben, wäre von keinerlei Nutzen, wenn sie uns nicht zur Erkenntnis Gottes führte.
Auf dieser Stufe können wir unseren Mitmenschen göttliches Wissen bringen und sie befähigen, an den Segnungen der Liebe Gottes teil zu haben.
Bahá’u’lláh erklärt, daß der Mensch, der das Tal des Wissens betreten hat, das Ende im Anfang, Krieg im Frieden, Gerechtigkeit in Ungerechtigkeit sehen wird und die Geheimnisse aller Dinge werden ihm offenbar werden. Was bedeutet nun das Sehen des Endes im Anfang, des Krieges im Frieden, der Gerechtigkeit in der Ungerechtigkeit? Die Antwort ist folgende: Wenn ein Kind auf dem Ackerfeld neben dem Bauersmann steht, der seine Saatkörner sät, so sieht es den Anfang. Es sieht auch, daß die Körner verschwendet werden, denn entweder picken die Vögel sie auf oder sie sind so verloren, und es klagt, weil es bedenkt, daß mit ihnen viele hungrige Seelen hätten ernährt werden können. Aber wenn aus dem Kind ein Mann geworden ist, sieht er das Ende im Anfang; d.h. er sieht den Ernteertrag, mit dem zahlreiche hungrige Seelen ernährt werden können und es wird ihm klar, daß die Saatkörner nicht verschwendet worden waren.
In dieser Welt sieht der Mensch Ungerechtigkeit. Ein guter, wohlhabender Mensch verliert seinen Reichtum; ein anderer, der nie Gutes tat, wird wohlhabend, gründet eine Familie und ist glücklich in seiner Arbeit. Dann mögen wir wohl fragen: „Ist dies Gerechtigkeit?“ Wenn das recht ist, wo ist der Gott der Gerechtigkeit? Die Stufe jener, die die Ungerechtigkeit in der Welt sehen, ist jene des Kindes, von dem ich sagte, daß es neben dem säenden Bauern steht und denkt, daß der Bauer die Körner verschwendet. Als das Kind heranwuchs, seine Reife erlangte, wieder auf den Acker ging und einem anderen säenden Bauern zusah, sah es nicht das Verstreuen der Saat, sondern die herrliche und überreihe Ernte, die hernach folgen wird. Jene Person, die den Begrenzungen der frühen Kindheit entwachsen ist und die schon die kommende Ernte in der jetzt verschwendeten Aussaat sieht, ist ein Gleichnis des Menschen, der in das Tal des Wissens eingetreten ist, in dem er in allem von Gott Verordneten eine große Weisheit erblickt. Er ist dann fähig zu sagen: „Hier ist Gerechtigkeit“; er ist dann imstande, sich in den Willen Gottes zu ergeben.
Diese gleiche Stufe ist in den zwei Schlußakten des göttlichen Dramas des Lebens
Christi dargestellt. Als Er am Kreuze hing, rief Er aus: „Warum hast Du mich verlassen?“
und Er flehte, daß der Kelch des Martyriums von Ihm abgewendet bleibe. Der bevorstehende
Tod am Kreuz verursachte die
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Todesangst, die ein Zustand der menschlichen Natur ist, ehe der Mensch das Tal des Wissens
betreten hat. Auf seiner menschlichen Stufe findet der Mensch das Martyrium den Grundsätzen
göttlicher Gerechtigkeit zuwiderlaufend und wünscht, daß es abgewendet werde.
Aber das geistige Schauen in Christus befähigte Ihn, das Ende zu sehen, wie es der
Wanderer sieht, der in das Tal des Wissens eintrat. So sah Jesus augenblicklich, daß im
Todeskampf der Kreuzigung die Saat ruht, die zum Baum der menschlichen Erlösung
heranwachsen würde, dessen Frucht den Menschen zahllose Segnungen bringt. Er sah das
Ende im Anfang, das Ende der Herrlichkeit im Anfang der Trübsal, das Ende der
Erlösung im Tode am Kreuz, worauf Er ausrief: „Dein Wille geschehe, nicht meiner.“
Das ist die Bedeutung von dem, was Bahá’u’lláh sagte, daß im Tal des Wissens der Wanderer das Ende im Anfang, Frieden im Krieg, Gerechtigkeit in Ungerechtigkeit sieht. Bahá’u’lláh gibt noch eine andere Erläuterung zum besseren Verständnis dieses Punktes. Es ist folgende:
Ein von seiner Geliebten getrennt lebender Liebender hatte sich so sehr gegrämt, daß das Leben ihm ein andauerndes Sterben schien und in einem Zustand des Wahnsinns rannte er in später Nachtstunde hinaus aus dem Haus. Es ist Brauchtum im Osten, daß wenn die Nachtwächter zu später Stunde einen Menschen draußen sehen, sie ihn anhalten und zur Rede stellen. Wenn er keine einleuchtende Erklärung abgeben kann, warum er noch außer dem Hause ist, nehmen sie ihn auf die Wache. Als die Nachtwache diesen Mann über den Marktplatz rennen sah, rief sie ihn an. Er erschrak und lief davon, sie ihm nach und während er so vor ihnen herlief, dachte er bei sich: „O Gott, sind diese Menschen denn vom Satan gesandt, daß sie mir das Leben nehmen wollen? Ich habe ihnen doch nichts Böses getan! O Gott, bringe Verderben über sie!“ Und er lief immer weiter, die Wächter folgten ihm auf den Fersen, bis er sich einer hohen Mauer gegenüber sah. Mit großer Anstrengung erkletterte er die Wand und oben angelangt, ließ er sich in seiner Angst auf der anderen Seite hinunterfallen. Er befand sich in einem Garten und sah seine Geliebte mit einem Licht in der Hand auf sich zukommen. Sie kam zu ihm her und tröstete ihn. Als ihm endlich klar geworden war, daß die Trübsal, in der er durch die verfolgenden Wächter geraten war, ihn zu einem Glück führten, das er nicht einmal zu träumen gewagt hatte, fiel er auf seine Knie, dankte Gott und bat um Verzeihung für die Wächter, die er jetzt Engel des Lebens vom Himmel gesandt nannte, die ihn aus der Wüste der Entfernung zum Ziel des Naheseins brachten.
Der Wanderer, der das Tal der Liebe durchquerte und in das Tal des Wissens eintrat, wo er den Gott der Gnade findet, tritt in
- das Tal der göttlichen Einheit
ein.
In diesem Tal findet er alle Schranken gefallen und wie ein Tropfen vereinigt er sich mit der See göttlicher Einheit. Er war bislang ein durch Beschränkungen gebundener Tropfen; Beschränkungen, die sein eigentliches Dasein, das vom Selbstbewußtsein begrenzt gewesen war, bedrohten. Im Tal des Wissens hat er die höchste Weisheit — sich dem Willen und der Absicht Gottes zu unterwerfen — gefunden. Er vereinigt sich dann mit der See göttlicher Einheit. In jenem Zustand der Verzückung tritt er in
- das Tal der Göttlichen Zufriedenheit
ein.
In jenem Zustand sieht er in der Welt nichts mehr Begehrenswertes. Er fühlt sich in der Gegenwart Gottes, welcher alles in allem ist. Von da ab ist jene Zufriedenheit der größte Zustand.
Die allerhöchste, die erhabenste Stufe ist die Erreichung des Tales göttlicher Einheit, eine der Früchte davon ist der Eintritt in das Tal der Zufriedenheit. In jenem Zustand mag der Wanderer die Notwendigkeit fühlen, seine Wertschätzung jener erhabenen Stufe auszudrücken. Es gibt nur eine Sprache, womit man jenen Zustand ausdrücken kann und das ist die Sprache der Verwunderung und des Erstaunens. Aus dem Tal der Zufriedenheit tritt der Wanderer in
- das Tal der Verwunderung
ein.
‘Alí, der Nachfolger von Muḥammad, erklärt diesen Zustand so: „O Herr! Vermehre
mein Staunen über Dich!“ Aus dem Tal der Verwunderung tritt der Wanderer in
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- das Tal völligen Nichtseins und vollständiger Armut
ein.
Was ist vollständige Armut? Es ist jener Zustand, der alles andere außer Gott leugnet. In jenem Zustand sagte Muḥammad, „Armut ist meine Herrlichkeit“. In jenem Zustand sagte Jesus, daß sogar die Vögel der Luft Nester und die Tiere des Feldes Höhlen hätten, aber der Menschensohn habe keinen Platz, wohin Er Sein Haupt legen könne. Es ist jene Armut, die jenseits all des Wohlstandes ist, den man sich vorstellen kann: jener Geisteszustand, worin der Mensch aufhört, etwas zu sehen außer Gott: wo alle Dinge Schatten sind und Gott allein Wirklichkeit ist.
Es wird erzählt, ein gläubiger Anhänger des Propheten wäre in die Gegenwart einer der Heiligen Imáme gekommen und hätte gesagt: „O Sohn des Propheten Gottes! Ich bin in Not, ich habe keine Mittel zum Lebensunterhalt, ich bin in Verzweiflung, ich weiß nicht, wie ich diese Armut ohne Hilfe ertragen soll. Willst Du Gott bitten, mir Hilfe zu gewähren?“ Der Heilige Imám antwortete: „Ich glaube nicht, daß du so arm bist, wie du sagst.“ Und der Mann sagte: „O Sohn des Propheten Gottes! scherzest Du mit mir? Verspottest Du mich? Siehst Du nicht wie hager, wie hilflos und wie bedauernswert ich bin? Anstatt mir zu helfen, weshalb glaubst Du nicht, wenn ich sage, ich sei arm?“ Da sagte der Imám: „Gut, Ich will es beweisen. Liebst du Gott?“ „Nun, gewiß, ich liebe Gott.“ „Liebst du den Propheten Gottes?“ „Gewiß, ich liebe den Propheten Gottes.“ „Achtest du die Wahrheit des Wortes Gottes? Bist du willens, deine Liebe zu Gott und zum Propheten und zu Seiner Wahrheit gegen allen Reichtum in der Welt einzutauschen?“ „Ich werde sie nicht eintauschen gegen allen Reichtum in der Welt.“ Da sagte der Imám: „Wie kann jemand arm sein, der einen Schatz besitzt, den er nicht willens ist, gegen den ganzen Reichtum in der Welt einzutauschen?“
Dies ist jener Zustand völligen Nichtseins und vollständiger Armut in allen Dingen außer Gott; es ist Armut in materiellen Dingen, welche der größte Reichtum auf Erden ist. Und dies ist die letzte der Sieben Stufen oder der Sieben Täler der Wanderung des Menschen zum göttlichen Ziel.
Bahá’u’lláh legt zum Schlusse dar, daß eine Wanderung von solcher Länge die Aufgabe der mystischen Forscher der Vergangenheit war, die der Nachtanbruch der Welt war. In jener Zeit führte das Licht der Sterne die mystischen Sucher zur Wahrheit. Die Wege der Vergangenheit brauchen wir an diesem neuen Tage fürderhin nicht mehr, denn heute ist die Sonne der Wahrheit wieder aufgestiegen und ihre Strahlen haben die Welt erleuchtet und die Göttliche Wirklichkeit ist offenbar. Heute kann die lange Wanderung der Mystiker der Vergangenheit im Nu vollendet sein — durch den Glauben an die Manifestation der Herrlichkeit Gottes. Denn, wenn einmal ein klarer Spiegel der Sonne zugewendet ist, widerspiegelt sich das Licht augenblicklich; und wenn einmal ein Kristall den Sonnenstrahlen ausgesetzt ist, tritt die Feuererzeugung unverzüglich ein.
1) Entnommen und ins Deutsche übertragen aus „World Order“,
Bd. 2, Nr. 12, März 1937, S. 452 ff.
2) Joh. 10, 9.
Der menschliche Verstand als Stufe zum Gottesbewußtsein[Bearbeiten]
Von Emmi Kanno, Stuttgart
- „O Sohn des Staubes! Wende dein Angesicht nicht ab von dem unvergleichlichen Wein des unsterblichen Geliebten und blicke nicht auf die verdorbene und vergängliche Hefe. Nimm aus den Händen des göttlichen Mundschenken den Kelch des unauslöschlichen Entzückens, daß dir alle Weisheit zuströme und du lauschest der geheimnisvollen Stimme, die aus dem unsichtbaren Reich ruft. Saget ihr, die ihr niederen Zielen nachstrebet, warum habt ihr euch von Meiner Stimme abgewandt und warum zogt ihr dem unvergänglichen Wein das vergängliche Wasser vor?“*)
Mit Hilfe des Intellekts des sogenannten menschlichen Verstandes, des konkreten und
abstrakten Denkvermögens, gelangt der
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Mensch in die Gebiete der höheren, der göttlichen Vernunft, in denen er im Nachdenken
über höhere geistige Dinge und Begriffe und in ihrem Erleben das Gottesbewußtsein erlangt.
Das heißt, er erahnt mit mehr oder weniger starkem Erfülltsein das Dasein einer
höheren schöpferischen Macht, einer geistigen Wirklichkeit, welche für uns, die Geschöpfe
dieser Macht, in ihrer ganzen Fülle selbstverständlich unfaßbar ist und immer bleiben
wird; denn nie kann das Geschöpf den Begriff der Wesenheit seines Schöpfers mit seinem
Verstande ganz erfassen und alles Streben und Erreichenwollen dessen führt uns auf
geistige Irr- und Abwege und ist ein vergebliches Unternehmen. „Gott, einzig und allein, wohnt an Seinem eigenen Ort, welcher über Raum und Zeit, Erwähnung und Äußerung, Zeichen, Beschreibung und Erklärung, Höhe und Tiefe, heilig ist1).“
Das, was wir von dem Schöpfer alles Seienden erfassen können, ist nur ein ganz geringer Bruchteil einiger Seiner Attribute, die uns auf unserer menschlichen Daseinsstufe überhaupt erfaßbar sind. Denn so wie die Steine und Pflanzen und die Geschöpfe der Tierwelt die Wesenheit eines Menschen mit all seinen mannigfaltigen Organen und Zellen und ihren verschiedenen Funktionen und Aufgaben und die ganze Kompliziertheit seines Seelenlebens nie und nimmer begreifen können, weil ihnen die Organe und das psychische Vermögen für dieses Erkennen fehlen, so kann der Mensch auch nie und nimmer seinen Schöpfer ganz erkennen und begreifen.
Alles was die Menschheit bis jetzt von der Wesenheit Gottes und Seines Willens für sie erkennen und erfahren konnte, war das, was ihr durch Gottes Manifestationen, d. h. Seine inspirierten und führenden Propheten aller Zeiten und aller Völker dargebracht wurde. — In den Wesenheiten dieser erhabenen Seelen, die zugleich immer Gründer neuer Religionen waren, spiegelte, offenbarte sich uns ein Teil der Eigenschaften und der Wesenheit des Schöpfers. Sie offenbaren sich uns in einer für unsere Daseinsstufe erfaßbaren Form. In den Lehren ihrer Religionen spricht zu den Menschen der Wille des Schöpfers entsprechend der Entwicklungsstufe der Völker ihrer Zeit. Daher werden diese großen Propheten Offenbarer Gottes, das Wort Gottes genannt oder Seine Manifestationen zum Unterschied von den Geschöpfen der Menschenwelt, der ganzen übrigen Menschheit, die Emanationen, d. h. Ausstrahlungen Gottes sind.
Die heiligen Manifestationen oder die Offenbarer Gottes sind somit die Mittler zwischen uns und der Gottheit. — Sie sind das heilige Band, das die Geschöpfe mit ihrem Schöpfer verbindet und durch die der Schöpfer zu Seinen Geschöpfen spricht und ihnen Weisungen gibt, wie sie sich für ihre diesseitige und jenseitige Vervollkommnung und für ihr diesseitiges und jenseitiges Wohlergehen verhalten sollen.
Zu allen Zeiten und in allen Nationen, wo diese großen Manifestationen Gottes erschienen, war dieses ihre Wesenheit und war dieses der Inhalt ihrer Lehren. „Die Macht des heiligen Geistes kommt in den göttlichen Manifestationen am stärksten zum Ausdruck2)“
Da diese Manifestationen die Mittler zwischen uns und unserem Schöpfer sind, so sind sie Wesenheiten anderer Art als wir, denn mit dem einen Teil ihres Wesens ragen sie hoch über uns in die göttlichen Welten hinein und dieser Teil ihrer Natur ist für uns Menschen unfaßbar und unbegreiflich, mit dem anderen Teil ihres Wesens aber sind sie Menschen wie wir und sind uns begreiflich und uns nahe. „Wenn Ich, o Mein Gott, die Beziehungen überdenke, die Mich an Dich binden, muß Ich allen erschaffenen Dingen zurufen: „Wahrlich Ich bin Gott!“ und wenn Ich Mein eigenes Selbst betrachte, siehe, so finde Ich es niedriger als Staub3). Durch diese zwiefältige Art ihrer Natur, die über der Daseinsstufe des Menschlichen steht, sind sie imstande, Mittler zwischen uns und Gott zu sein und können uns die Erkenntnis Gottes, das Gottesbewußtsein übermitteln.
Um diese Verbindung mit den Mittlern Gottes und somit mit Gott selber zu erlangen,
hat der Schöpfer dem Menschen jenes Element der Seele verliehen, das wir das
Denkvermögen, den Verstand oder den Intellekt nennen und den in der ganzen Welt der
Schöpfung nur der Mensch allein als erste geistige Gabe Gottes erhalten hat. „Die Macht des Verstandes ist eine der größten Gaben,
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welche Gott dem Menschen. verliehen hat, sie ist es, welche den Menschen zu einem höheren Geschöpfe emporhebt als es das Tier ist4).“
Alle anderen Geschöpfe Gottes besitzen diese Fähigkeit nicht. Sie gehören somit dem Mineral-, dem Pflanzen- und dem Tierreich an und können daher nie zum Bewußtsein der Gottheit gelangen. Es ist ihnen die Erkenntnis des göttlichen Lichtes für immer verschlossen, aber dafür haben diejenigen dieser Geschöpfe, wie z. B. die Geschöpfe der Tierwelt, die „Handlungen“ begehen können gleich den Menschen, keine Verantwortung für diese Handlungen, auch wenn sie negativ sein mögen. Das heißt, ihre Handlungen sind unschuldig und von der höheren Vernunft aus betrachtet an sich nicht „böse“, da unbewußt, d.h. ohne Kontrolle des Verstandes und nur der Triebwelt unterstellt.
Auf dieser Stufe befindet sich auch vorübergehend der Mensch in seiner Kindheit, bevor das Denkvermögen, der Intellekt, der im Keime im Menschenkinde vorhanden ist, sich zu entfalten beginnt. In den Geschöpfen der anderen Welten ist aber das Element des Intellekts nicht mal im Keime vorhanden. Der Mensch in seiner Kindheit lebt somit in den Sphären des Mineral-, des Pflanzen- und des Tierreiches mit dem Keime des Geistesreiches, dem Keime des Intellektes in sich. Die Welt der Kindheit ist daher die Zwischenstufe zwischen der Welt der Triebsphäre und derjenigen der Geistessphäre. Die Welt des erwachsenen. Menschen aber umfaßt zugleich das Mineral-, das Pflanzen-, das Tierreich und das Reich des Menschengeistes mit dem Keime des Gottesberwußtseins. So wie in normaler Entwicklung der Keim des Intellektes im Kinde sich allmählich zum vollentfalteten Intellekt, Verstand entwickelt, so müßte sich bei normalem Entwicklungsgange der Menschheit der Keim des Gottesbewußtseins, der latent im Intellekte ruht, zum vollentfalteten Gottesbewußtsein sich entwickeln.
Sowohl die Tierwelt als auch die Welt des Kindes gehören daher in das Reich der Unschuld, da sie beide ohne die Erkenntnis des Guten und Bösen sind. Wenn aber der Keim des Intellektes im Menschenkinde sich zu entfalten beginnt, verläßt es das Reich der Unschuld und betritt die erste Stufe der geistigen Sphäre, von der aus es allmählich das Gottesbewußtsein erlangen kann. Zum Ausgleich aber für diesen Vorzug, den der Mensch vor den übrigen Geschöpfen der Erde hat, wird ihm mit der Vernunft zugleich auch die Verantwortung für alle seine Handlungen und Taten auferlegt.
Dieses Bewußtsein der inneren Verantwortung leitet den Menschen auf seinem weiteren Entwicklungswege in die Gebiete der höheren Vernunft hinein, in denen er mit der Fähigkeit des Nachdenkens über höhere geistige Dinge oder ihres Erfühlens mit dem Herzen, was bei geistig hochentwickelten Individuen schon in früher Kindheit geschehen kann, die Möglichkeit erhält, über die Manifestationen Gottes und ihre Lehren, d. h. die Weisungen, die Gebote Gottes nachzudenken und sie zu erfassen und dann auch sie zu leben.
Durch den Prozeß des Nachdenkens über diese Dinge und Begriffe entwickelt sich das im Anfang nur dumpfe Gefühl der Verantwortung allmählich in ein Ahnen und späterhin in ein förmliches Hören und Fühlen der Stimme Gottes durch Seine Geistergießung aus dem Leben und den Lehren der Manifestationen und zugleich im eigenen Herzen. „Die Quelle alles Wissens ist die Erkenntnis Gottes. Erhaben ist Sein Ruhm! Und diese Erkenntnis kann auf keine andere Weise erlangt werden, als durch die Erkenntnis Seiner göttlichen Manifestation5).“
Sobald dieser Zustand erreicht ist, ist auch die gottgewollte innere Verbindung mit dem
Geiste der Manifestationen und somit mit dem Schöpfer hergestellt. Die jetzige Menschheit,
versunken und verstrickt in den Tiefen des krassesten Materialismus, der Selbstsucht,
des erbarmungslosesten Egoismus, bar jeden Gefühls der Verantwortung für das Leid, die
Not und alles Elend ihrer Mitmenschen, voll vermessener Gottesleugnung, ahnt in ihrer
Blindheit nicht, daß ganz besonders in den Zeiten der gewaltigen Weltkrisen, wie wir
sie heute erleben, wo neben unsichtbaren finstren Mächten zugleich die höchsten Kräfte
der unsichtbaren lichten Welten am Werke sind, diese rechtzeitige innere Verbindung mit
dem Schöpfer ungeahnte Vorteile des göttlichen Schutzes aus allen Gefahren, der
Errettung aus den schwersten materiellen und
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geistigen Nöten: und die endliche Erlösung in sich birgt! — Die Symbolik der Arche Noahs,
die uns von den Ereignissen des Erscheinens dieser Manifestation Gottes auch zur Zeit
einer Weltkrise Kunde gibt, nach der nur die wenigen gottverbundenen Seelen geborgen
unter dem Schutze Gottes die gewaltige Weltkrise überstanden, während die ganze übrige
Menschheit in den todbringenden Gewässern der Sintflut versank, möge unserer jetzigen
Menschheit als ernste Warnung dienen!
Von dem Augenblick an, wo die innere Verbindung mit dem Schöpfer hergestellt ist, beginnt sich das Gewissen immer mehr und mehr zu verfeinern. Es beginnt ein innerer Kampf gegen die eigene Selbstsucht auch in ihrer allerfeinsten, kaum merklichen Form. „Die Selbstsucht muß ausgerottet werden und zwar nicht nur in ihrer groben, sondern auch in ihrer allerfeinsten Form. Ein Mensch kann selbstsüchtig sein bis zum Äußersten, ohne es zu wissen6).“ Er erkennt aber diese seine Selbstsucht, die ihm vorher nicht bewußt war, erst, wenn das wahre Gottesbewußtsein, der Heilige Geist in ihn einzuströmen beginnt. Dieser innere geistige Vorgang führt ihn zu immer lebendigerem Gotterkennen und Gotterleben und daraus zur allmählichen Entfaltung ungeahnter geistiger Kräfte und Gaben.
Der Strahl Gottes im Herzen des Menschen entfaltet sich somit mit Hilfe des Intellektes zu einer lohenden Flamme geistiger Liebe, die zwei lichte Hauptelemente in sich birgt: die hohe Gabe der Gerechtigkeit und das allerbarmende Mitempfinden mit der Not und dem Leid des Nächsten, was und wer er auch sein mag, auch mit der Not und dem Leid der Tierwelt. — Mit dem allmählichen Entfalten der geistigen Liebe entsteht eine immer innigere Verbindung und Beziehung zu den Manifestationen aller Zeiten, somit zum einzig wahren Erkennen und Erleben Gottes, zur Verbindung mit den göttlichen Welten.
Dieses wäre der normale und natürliche Entwicklungsvorgang der Menschheit, indem aus dem menschlichen Verstande, dem Intellekt, die höhere Vernunft und das Gotterleben sich entwickelt. Doch die große Gefahr der Menschheit liegt darin, daß sie in den Zeiten der Höchstentfaltung des Intellekts statt weiter aufwärts in die höhere Vernunft überzugehen hier, verstrickt in ihrem Ichbewußtsein und in ihrem Materialismus stehen bleibt.
Das Ichbewußtsein des Intellekts soll nach des Schöpfers Ratschluß in normaler und natürlicher Entwicklung das Werkzeug sein, durch das der Mensch die Verbindung mit seinem Schöpfer erlangt, wodurch er nur allein die geistigen Kräfte erreicht, die Mächte des Trieblebens zu läutern. Diese Läuterung seiner Triebsphäre kann der Mensch nie mit Hilfe des Verstandes allein erreichen. Mit diesem kann er im besten Falle seine Triebe und Leidenschaften höchstens vorübergehend bannen, d. h. verdrängen, wodurch sich in der Tiefe der Seele Komplexe bilden. Diese Komplexe aber sind unsichtbare Mächte der Triebwelt, die, wenn sie zu stark werden und sich anhäufen, gewaltsam nach außen drängen und explosionsartig zur Auslösung kommen, alle Überlegung des Verstandes über den Haufen werfend und alle Dämme der Logik niederreißend. Somit ist letzten Endes alle Arbeit und Anstrengung hinsichtlich dieser Richtung des menschlichen Verstandes allein ohne das Eingreifen der höheren Vernunft zunichte gemacht.
Auf dieser Tatsache oder vielmehr auf diesem Übertreten geistiger Gesetze beruht die
Unzulänglichkeit der Kultur des Abendlandes. Der bis zur Höchstblüte entfaltete
Intellekt des Abendlandes droht auf dieser seiner zur Zeit höchsten Entwicklungsstufe
stehen zu bleiben ohne zu der nächstfolgenden, der Geistesstufe, die in dem Erleben einer
lebendigen Gottesreligion besteht, übergehen zu wollen. Doch es besteht ein unwandelbares
Gesetz sowohl in der sichtbaren als auch in der unsichtbaren Welt, daß es keinen Stillstand
gibt. — „Alles fließt“, sagte schon der große Philosoph des Altertums Heraklit. Alles
fließt, strömt, schwingt, wenn auch für unser physisches Auge unsichtbar, und zwar
entweder „vorwärts“ und „empor“ oder „zurück“ und „herab“. An einem Beispiele möge
diese Tatsache erläutert sein! Es blühte eine Blume; aus dem Samen stieg der Stengel
empor, aus ihm bildeten sich die Blätter und die Knospe, aus der die Frucht sich entfalten
sollte. Es ist der natürliche Vorgang des „Vorwärts“ und des „Empor“ in dieser Bewegung
oder Schwingung des Wachsens. Doch der
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Stengel der Blume wurde verletzt, wurde gebrochen. Somit ist dem „Vorwärts“ des
Naturgesetzes des Wachsens eine Grenze gesetzt. Scheinbar sehen wir hier einen Stillstand.
Doch es ist ein Irrtum: nicht einen Augenblick ist hier ein Stillstand eingetreten,
sondern mit dem Aufhören des „Vorwärts“ setzten hier sofort die Schwingungsmächte des
„Abwärts“ ein; die Blume begann — zu welken! Ihre Elemente sind dem Gesetze des
Zerfalls und der Auflösung preisgegeben.
Dieser gleiche Vorgang vollzieht sich auch in den Welten des Unsichtbaren, in den Welten des Geistig-Seelischen. Der Verstand der jetzigen Menschheit ist in seiner Höchstentwicklung „scheinbar“ stehen geblieben. Er ist in übertriebenem Ichbewußtsein, in krasser Selbstsucht und im Nützlichkeitsprinzip gleichsam. erstarrt. So wie die gebrochene Blume das belebende Licht und die Wärme der Sonne nicht mehr in sich aufnehmen kann, um das Naturgesetz des „Vorwärts“, des „Empor“ zu erfüllen, weiter zu blühen und neue Blätter und Blüten und Früchte zu tragen, obgleich das Licht der Sonne genau wie vorher sie umflutet, so kann auch der im Materialismus und Egoismus erstarrte Intellekt das Licht der geistigen Sonne, d. h. einer Religion der Liebe und des Verstehens, nicht mehr erfassen und muß daher ohne die Strahlen und die Wärme der Geisteswelt so wie die welkende Blume der Zersetzung und der Auflösung anheimfallen. Und diese Zeichen der beginnenden Zersetzung und Auflösung offenbaren sich in diesem Falle nicht bloß auf den geistig-seelischen Gebieten allein, sondern zugleich immer auch auf der physischen Ebene als allgemeine körperliche Degeneration, körperliches Siechtum und unzulängliche soziale Zustände. Alle äußeren Erscheinungen des Lebens sind bloß Symbole innerer Vorgänge: innerer Aufstieg löst äußeren Aufstieg aus, der innere Fall und Abstieg löst über kurz oder lang auch einen äußeren Fall oder Abstieg aus.
Das Hauptgebot des Schöpfers „Liebe Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten als dich selbst“ — dieses Gebot, das die Grundlage und der Kern der Religionen aller Völker und Zeiten immer gewesen ist und in dem alle Religionen trotz ihrer äußeren und zeitlichen Gesetze eine Einheit sind, ist für die Mehrheit der jetzigen Menschheit einfach unfaßbar, ja für viele sogar töricht, verächtlich und durchaus verwerflich, da von ihrem geistig engen Horizont und ihrer Selbstsucht aus höchst — „unpraktisch“. — Sobald aber dieser Zustand erreicht ist, beginnt die innere Zersetzung, der Verfall, der mit der Zeit, da es ja keinen Stillstand gibt, zur gegenseitigen Selbstvernichtung führen könnte. Das Einströmen der geistigen Wahrheiten und somit der geistigen Kräfte, also das Einströmen des Lichtes der geistigen Sonne hört mit diesem Zustande des „Zurück“ und „Herab“ für den Menschen auf, wie für die gebrochene Blume das Einströmen des Lichtes der physischen Sonne.
Die gegenwärtige Menschheit ist wie eine gewaltige gebrochene Blume, die infolge einer furchtbaren Verletzung in einer schweren Agonie darniederliegt. Viele ihrer Organe, manche Völker und Staaten, ihre Millionen Zellen, die einzelnen menschlichen Seelen — wenn auch manche von ihnen das Licht der Wahrheit auch noch dumpf erstreben —, sie können, da verletzt von den unheilvollen Mächten der Materie, der sie sich zu sehr genähert haben und die sie jetzt wie ein eisernes Netz umstrickt, nicht mehr das Licht der Sonne der Wahrheit weder erkennen noch erleben, denn sie sind in Wahrheit, da in die Strömungen des „Abwärts“ geraten, bereits schon Tote.
(Schluß folgt.)
*) Aus „Verborgene Worte“ von Bahá’u’lláh.
1) „Worte der Weisheit“ von Bahá’u’lláh, S. 60.
2) 'Abdu'l-Bahá.
3) Bahá’u’lláh über Seine Stufe.
4) ‘Abdu’l-Bahá in „Pariser Ansprachen“.
5) „Worte der Weisheit“ von Bahá’u’lláh, S. 64.
6) ‘Abdu’l-Bahá.
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