SONNE DER WAHRHEIT | ||
Organ der Bahá’í in Deutschland und Öesterreich |
Heft 1 | 17. Jahrgang | März 1937 |
Die Bahá’í-Lehre,[Bearbeiten]
die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.
Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.
Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.
Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.
Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“
Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.
Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.
Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.
SONNE DER WAHRHEIT Organ der Bahá’í in Deutschland und Österreich Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198 Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo Verwaltung: Paul Gollmer • Begründet von Alice Schwarz-Solivo Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark |
Heft 1 | Stuttgart, im März 1937 Bahá — Herrlichkeit 94 |
17. Jahrgang |
Inhalt: Ährenlese aus den Schriften Bahá’u’lláh’s. — Nabíl’s Erzählung: Ṭáhirih’s Reise von Karbilá nach Khurásán. — Die Rolle der Frau im Bahá’ítum. — Allumfassende Liebe: Ihr beherrschender Leitgedanke: Gerechtigkeit. — Über Symbole und Gleichnisse. — Die Bahá’í und meine Erfahrungen.
Der Mensch sollte sich immer zu denen gesellen, von welchen er Licht
empfangen, oder zu denen, welchen er Licht geben kann. Er sollte Förderung
entweder empfangen oder geben. Mit Menschen zusammen zu
sein ohne eine dieser beiden Möglichkeiten, ist Zeitverschwendung um
nichts, und damit gewinnt man weder selbst noch veranlaßt andere,
etwas zu gewinnen.
‘Abdu’l-Bahá*)
*) Ebenda, XIII, S. 14.
Ährenlese aus den Schriften von Bahá’u’lláh1)[Bearbeiten]
I. Gelobt und verherrlicht bist Du, o Herr, mein Gott!
Wie kann ich Dich verkünden, da ich doch weiß, daß keine Zunge Deinen Namen angemessen preisen kann, wie tief auch ihre Weisheit sei, noch daß der Vogel des Menschenherzens, wie groß auch seine Sehnsucht sei, je hoffen kann, in den Himmel Deiner Erhabenheit und Erkenntnis aufzusteigen.
Wenn ich Dich, o mein Gott, als Den beschreibe, welcher der Allesbegreifende ist, so muß ich zugeben, daß jene, welche die höchsten Verkörperungen des Begreifens sind, kraft Deines Befehls erschaffen worden sind. Und wenn ich Dich lobpreise als Den, welcher der Allweise ist, so muß ich ebenso anerkennen, daß die Weisheitsquellen aus den Wolken Deines Willens hervorgegangen sind. Und wenn ich Dich verkünde als den einen Unvergleichlichen, so entdecke ich alsbald, daß jene, welche Kern und Wesen der Einheit sind, durch Dich herabgesandt worden sind und nur die Beweise Deines Schaffens sind. Und wenn ich Dich besinge als den Wisser aller Dinge, so muß ich gestehen, daß jene, welche das wahre Wesen der Erkenntnis sind, nur die Schöpfung und die Werkzeuge Deines Planes sind.
Erhaben, über alles Maß erhaben, bist Du über dem Bemühen des sterblichen Menschen,
Dein Mysterium zu enträtseln, Deine Herrlichkeit zu beschreiben oder auch nur die
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Natur Deines Wesens anzudeuten. Denn was immer auch solches Bemühen vollbringen mag,
nie kann es hoffen, die Grenzen zu überschreiten, die Deinen Geschöpfen gezogen sind, da
ja dieses Bemühen durch Deinen Ratschluß in Kraft tritt und durch Deine Erfindung
hervorgebracht wird. Die erhabensten Gefühle, welche die Heiligsten der Heiligen in Deinem
Lobpreis ausdrücken können, und die tiefste Weisheit, welche die Gelehrtesten der Menschen
in ihrem Bestreben Deine Wesensart zu erfassen aussprechen können, umkreisen nur
alle jenen Mittelpunkt, der ganz Deiner Oberhoheit untersteht, der Deine Schönheit
anbetet und durch das Bewegen Deiner Feder fortgetrieben wird.
Nein, o mein Gott, bewahre, daß ich solche Worte ausgesprochen hätte, wie sie notwendigerweise das Vorhandensein irgendwelcher unmittelbarer Verwandtschaft zwischen der Feder Deiner Offenbarung und dem Wesen alles Erschaffenen in sich schließen mußten. Weit, weit erhaben sind jene, die Dir verwandt sind, über dem Begriff einer solchen Verwandtschaft! Alle Gleichnisse und Bilder können dem Baum Deiner Offenbarung nicht gerecht werden, und jeder Weg ist versperrt zu dem Erfassen der Manifestation Deines Selbstes und des Tagesanbruchs Deiner Schönheit.
Weit, weit entfernt ist von Deiner Herrlichkeit, was ein sterblicher Mensch von Dir behaupten oder Dir beimessen kann, oder der Lobpreis, womit er Dich verherrlichen kann! Was immer Du Deinen Dienern als Pflicht verordnet hast, Deine Hoheit und Herrlichkeit zu lobpreisen, so ist dies nur ein Zeichen Deiner Gnade für sie, auf daß sie befähigt werden, zu der Stufe emporzusteigen, die ihrem eigenen innersten Wesen verliehen ist, zu der Stufe der Erkenntnis ihres eigenen Selbstes.
Keiner außer Dir ist irgendwann imstande gewesen, Dein Mysterium zu ergründen oder Deine Größe angemessen zu lobpreisen. Unerforschlich und hoch über dem Preisen der Menschen wirst Du ewig bleiben. Es gibt keinen Gott außer Dir, dem Unerreichbaren, dem Allmächtigen, dem Allwissenden, dem Heiligen der Heiligen.
II. Der Anbeginn aller Dinge ist die Erkenntnis Gottes, und das Ende aller Dinge ist strenge Befolgung all dessen, was herabgesandt ist aus dem höchsten Himmel des göttlichen Willens, der alles durchdringt, was in den Himmeln ist, und alles, was auf Erden ist.
(Fortsetzung folgt.)
1) Übersetzung aus dem Englischen: „Gleanings from the writings of
Bahá’u’lláh“, New York 1935, zusammengestellt und aus dem Arabischen und Persischen
in das Englische übertragen von Shoghi Effendi.
Nabíl’s Erzählung[Bearbeiten]
Übersetzung aus „The Dawn-Breakers“, Nabíl’s Narrative of the early days of the Bahá’í Revelation, New York 1932
Aus Kapitel XV: Ṭáhirih’s Reise von Karbilá nach Khurásán.
(Fortsetzung)
Die Lauterkeit und Aufrichtigkeit von Mullá ‘Abdu’lláh gefiel dem Ṣáḥib-Díván sehr. Er gab geheimen Befehl an seine Wachen, dem Gefangenen zur Flucht zu verhelfen. Um Mitternacht floh der Gefangene in das Haus von Riḍá Khán-i-Sardár, der sich kurz zuvor mit der Schwester des Sipah-Sálár verheiratet hatte, und blieb dort versteckt, bis der große Kampf von Shaykh Ṭabarsí einsetzte, und er sich entschloß, den heldenhaften Verteidigern der Festung sich anzuschließen. Er und Riḍá Khán, der ihm nach Mázindarán folgte, erlitten dabei schließlich den Märtyrertod.
Der Umstand der Ermordung brachte die gesetzestreuen Anhänger des Mullá Taqí in
Raserei, die nun beschlossen, sich an Ṭáhirih zu rächen. Es gelang ihnen, sie in
strengste Haft in ihres Vaters Hause einzusperren, und sie beauftragten die Frauen,
die sie zu ihrer Überwachung bestellt hatten, der Gefangenen nicht zu erlauben, ihr
Zimmer zu verlassen, um ihre täglichen Gebetswaschungen vorzunehmen. Sie beschuldigten
sie, den Mord veranlaßt zu haben. „Niemand anderes als du“, so sprachen sie zu Ṭáhirih,
„bist schuld an der Ermordung unseres Vaters. Du hast den Befehl gegeben, ihn zu ermorden.“
Alle, die sie gefangen genommen hatten und im Kerker hielten, wurden von ihnen nach Ṭihrán
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geführt und im Hause eines der Kad-Khudá1) der Hauptstadt eingesperrt.
Die Freunde und Verwandten des Mullá Taqí zerstreuten sich in alle Winde, verdächtigten ihre
Gefangenen als die Nichtanerkenner des Gesetzes des Islám und verlangten ihre sofortige
Hinrichtung.
Bahá’u’lláh, der damals in Ṭihrán lebte, wurde von der Bedrohung jener Gefangenen, welche die Kämpfer und Helfer von Ṭáhirih waren, in Kenntnis gesetzt. Da Er schon mit dem Kad-Khudá, in dessen Haus sie eingesperrt waren, bekannt war, beschloß Er, sie zu besuchen und Sich für sie einzusetzen. Jener habgierige und betrügerische Beamte, der die außerordentliche Großzügigkeit von Bahá’u’lláh kannte, übertrieb in der Hoffnung, einen großen geldlichen Vorteil für sich selbst zu erhaschen, das Unglück der armen Gefangenen. „Sie entbehren das Allernotwendigste“, so versicherte der Kad-Khudá. „Sie sind am Verhungern, ihre Kleider sind jämmerlich dürftig.“ Bahá’u’lláh brachte sofort finanzielle Hilfe zu ihrer Befreiung und ersuchte den Kad-Khudá, die Strenge des Befehls, unter dem sie standen, zu mildern. Dieser bewilligte, einige von ihnen frei zu geben, welche die schwere Last der Ketten, mit denen sie gefesselt waren, nicht tragen konnten, und für die übrigen tat er alles, was in seiner Macht stand, die Schwere ihrer Gefängnishaft zu erleichtern. Von Gier getrieben, benachrichtigte er seine Vorgesetzten von der neuerlichen Lage und betonte die Tatsache, daß regelmäßig Nahrung und Geld für die Gefangenen in seinem Hause von Bahá’u’lláh zur Verfügung gestellt werden.
Diese Beamten waren ihrerseits ebenso gierig und wollten von Bahá’u’lláh’s Großzügigkeit für sich Nutzen ziehen. Sie riefen Ihn zu sich, lehnten sich gegen Sein Vergehen auf und beschuldigten Ihn, an der Tat, für welche die Gefangenen verurteilt waren, mitverschworen zu sein. Bahá’u’lláh erwiderte: „Der Kad-Khudá legte Mir ihre Sache vor und stellte Mir ihre Leiden und Nöte übertrieben dar. Er selbst bezeugte ihre Unschuld Mir gegenüber und bat Mich um Hilfe. Zum Dank für die Hilfe, die Ich auf seine Bitten hin gewährte, beschuldigt ihr Mich jetzt eines Verbrechens, an dem Ich unschuldig bin.“ In der Annahme, Bahá’u’lláh durch Drohung eines sofortigen Strafvollzugs einzuschüchtern, lehnten sie es ab, Ihn nach Hause gehen zu lassen. Die Gefangenschaft, der Er unterworfen wurde, war das erste Leid, das über Bahá’u’lláh auf dem Pfade der Sache Gottes kam, die erste Einkerkerung, die Er für Seinen Geliebten erlitt. Er blieb einige Tage in Gefangenschaft, bis Ja'far-Quli Khán, der Bruder von Mirzá Áqá Khán-i-Nuri, der später zum Groß-Vazir des Sháh ernannt wurde, und eine Anzahl anderer Freunde für Ihn eintraten und Ihn, dem Kad-Khudá strenge drohend, befreien konnten. Jene, die an Seiner Gefangennahme schuldig waren, waren der festen Ansicht, für Seine Befreiung die Summe von 1000 Túman2) zu erhalten, aber sie mußten bald erfahren, daß sie sich dem Willen des Ja’far-Quli Khán zu fügen hatten, ohne Aussicht, von ihm oder von Bahá’u’lláh die geringste Belohnung zu bekommen. Mit verschwenderischen Entschuldigungen und mit größtem Bedauern übergaben sie ihre Gefangenen seinen Händen.
Die Erben des Mullá Taqí machten indessen jeglichen Versuch, das Blut ihres geachteten Verwandten zu rächen. Unzufrieden mit dem bisher Erreichten, richteten sie ihre Berufung an Muḥammad Sháh selbst und warben um seine Geneigtheit in ihrer Sache. Es wird berichtet, daß der Sháh ihnen geantwortet habe: „Euer Vater, Mullá Taqí hätte sicher nicht den Anspruch erheben dürfen, mehr als der Imám ‘Alí, das Oberhaupt der Gläubigen, zu sein. Hat letzterer seine Jünger nicht gelehrt, daß, wenn er dem Schwert von Ibn-i-Mulḥam zum Opfer fiele, der Mörder allein für seine Tat mit dem Tode büßen solle, daß aber kein anderer als dieser getötet werden soll? Warum sollte der Mord eures Vaters nicht ähnlich geahndet werden? Nennt mir den Mörder, und ich werde den Befehl geben, daß er euch ausgeliefert wird, damit ihr ihm seine verdiente Strafe zuteilet.“
Die unnachgiebige Haltung des Sháh veranlaßte sie, ihre gehegten Hoffnungen
aufzugeben. Sie erklärten, Shaykh Ṣáliḥ sei der Mörder ihres Vaters,
erreichten seine Gefangennahme und brachten ihn schimpflich zum Tode. Er war der Erste,
der sein Blut in Persien
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auf dem Pfade der Gottessache vergoß, der Erste der heldenhaften Schar, deren Bestimmung
es war, ihr Leben für den Sieg des heiligen Gottesglaubens zu lassen. Als er
auf den Richtplatz geführt wurde, leuchtete sein Gesicht vor Eifer und Freude. Er eilte
den Henkern entgegen und begrüßte seinen Scharfrichter als ob er einen lieben, alten
Freund begrüße. Dabei strömten Worte des Sieges und der Hoffnung unentwegt von seinen
Lippen: „Ich habe“, rief er mit Frohlocken, als sein Ende nahte, „alle Hoffnungen
und die Meinungen der Menschen von dem Augenblick an aufgegeben, als ich Dich
erkannte, Dich, der Du meine Hoffnung und mein Glaube bist.“ Sein Leichnam wurde im
Hofe des Grabes des Imám-Zádih Zayd in Ṭihrán beigesetzt.
Der unstillbare Haß, der jene erfüllte, die für den Märtyrertod von Shaykh Ṣáliḥ verantwortlich waren, trieb sie dazu, noch weitere Werkzeuge für die Förderung ihrer Ziele zu finden. Ḥájí Mirzá Aqásí, durch den Ṣáḥib-Díván endlich von der verräterischen Haltung der Hinterbliebenen des Mullá Taqí überzeugt, weigerte sich, ihre Berufung zu befürworten. Ungeachtet dessen, legten sie ihren Fall dem Ṣadr-i-Ardibílí vor, einem allbekannt dünkelhaften Menschen, einem der Anmaßendsten unter den kirchlichen Führern Persiens: „Siehe“, so drangen sie in ihn, „die Schmach, welche denen zugefügt worden ist, deren erste Pflicht es ist, die Unverletzlichkeit des Gesetzes zu hüten. Wie kannst du, der du sein Oberhaupt und sein erhabener Ausleger bist, einen solchen Schimpf auf seine Würde unbestraft lassen? Bist du wirklich unfähig, das Blut dieses ermordeten Priesters des Propheten Gottes zu rächen? Ist dir nicht bewußt, daß ein solch verruchtes Verbrechen zu dulden an sich schon eine Flut von Verleumdungen gegen die Hauptfeste der Lehren und Prinzipien unseres Glaubens entfesseln muß? Wird nicht deine Teilnahmlosigkeit die Feinde des Islám ermutigen, das Gebäude, das ihr mit eigener Hand aufgerichtet habt, zu erschüttern? Und wird infolgedessen dein eigenes Leben nicht selbst in Gefahr stehen?“
Der Ṣadr-i-Ardibílí bekam Angst und suchte in seiner Machtlosigkeit seinen Herrscher zu täuschen. Er richtete folgendes Bittgesuch an Muḥammad Sháh: „Ich möchte ergebenst eure Majestät bitten, den Gefangenen zu erlauben, die Hinterbliebenen dieses gemarterten Führers auf ihrer Rückkehr nach Qazvín zu begleiten, damit diese von sich aus ihnen öffentlich ihre Handlungsweise verzeihen und es ihnen ermöglichen, ihre Freiheit zurückzuerhalten. Eine solche Geste ihrerseits wird ihre Stellung wesentlich festigen und ihnen die Hochachtung ihrer Landsleute sichern.“ Der Sháh, der keine Ahnung von den bösartigen Absichten dieses geschickten Schwätzers hatte, bewilligte die Bitte umgehend mit der ausdrücklichen Bedingung, daß ihm eine schriftliche Bestätigung aus Qazvín zugesandt werden müsse, daß die Bedingungen für die Gefangenen nach ihrer Freilassung vollauf befriedigende seien und daß ihnen darnach kein Leid mehr zugefügt werden dürfe.
Kaum waren die Gefangenen den Händen der Schurken überantwortet, als sich diese daran machten, die Gefühle unversöhnlichen Hasses an ihnen zu kühlen. Am ersten Abend, da sie den Feindeshänden ausgeliefert waren, wurde Ḥájí Asadu’lláh, der Bruder von Ḥájí Alláh-Vardi, dem Onkel väterlicherseits von Muḥammad-Hádi und Muḥammad-Javád-i-Farhàḍi, einem bekannten Kaufmann von Qazvín, der im gleichen Ruf der Frömmigkeit und Geradheit wie sein Bruder stand, unbarmherzig getötet. Da sie wohl wußten, daß sie in seiner Vaterstadt, die ihm zugedachte Strafe nicht vollziehen konnten, beschlossen sie, ihn in Ṭihrán in einer Weise zu töten, daß sie nicht in den Verdacht des Mordes kämen. Um Mitternacht begingen sie die schamlose Tat und sagten am anderen Morgen, daß durch eine Krankheit sein Tod herbeigeführt worden sei. Seine Freunde und Verwandten, meistens Einwohner von Quazvín, von denen keiner das Verbrechen entdecken konnte, das diesem hochachtbaren Leben ein Ende gesetzt hatte, gewährten ihm ein Begräbnis, das seinem Stande entsprach.
Der Rest seiner Gefährten, unter ihnen Mullá Ṭáhir-i-Shírází und Mullá
Ibráhim-i-Maḥalláti, beide hochgeachtet durch ihr Wissen und ihren Charakter, wurde
gleich nach ihrer Ankunft in Qazvín grausam getötet. Die ganze Bevölkerung, die schon
im voraus emsig angetrieben war, verlangte schreiend deren rasche Hinrichtung. Eine
Rotte schamloser Schurken, mit Messern, Schwerter, Speeren
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und Äxten bewaffnet, fiel über sie her und zerstückelte sie. Sie verstümmelten ihre
Körper in so verrucht barbarischer Weise, daß kein Stück der zerstreuten Glieder für
ein Begräbnis mehr zu finden war.
(Fortsetzung folgt.)
1) Oberster der Aufseher der Gemeinde, Gemeindevorsteher.
2) Ein Túman hat den Nennwert eines Dollars.
Die Rolle der Frau im Bahá’ítum[Bearbeiten]
Von Mlle. Yrady, Paris*)
Eines der größten Ereignisse unserer Zeit, das auf die Reife der menschlichen Rasse hinzeigt, ist die Frauenbewegung. Dank dem göttlichen und wohltätigen Hauche von Bahá’u’lláh hat sich diese Hälfte des Menschheitskörpers, die seit dessen Erschaffung von einer wahrhaften Lähmung befallen war, heute neu belebt.
Die Geschichte zeigt uns tatsächlich, daß bis zu diesem letzten Jahrhundert die Rolle der Frau im Fortschritt der menschlichen Rasse, wenn nicht ganz bedeutungslos, so doch unerheblich war. Wenn bisweilen manche unter ihnen sich über die anderen erhoben und durch ihre Taten bewiesen haben, daß sie dem Manne gleichkommen konnten, so sind dies nur seltene Ausnahmen gewesen.
Immer und überall hat der Mann, herrschend durch seine physische Kraft, die Fähigkeiten des gegenüberstehenden Geschlechts untätig erhalten. Diese Untätigkeit wurde für die Frau zur Ursache einer Art Schwindsucht ihrer Intelligenz, die eine immer tiefere Kluft zwischen ihr und dem Manne aufwarf. So gestaltete sich das Schicksal der Frau von der Schöpfung an bis auf unsere Tage; aber heute, da die alte Welt nach dem Durchlaufen der ersten vorbereitenden Lebensabschnitte beim Alter der Reife anlangt, ändert sich ihr Aussehen, und ein neues Leben beginnt.
Die materiellen und geistigen Gefahren, die beim Eintreten des Reifealters für jedes Einzelwesen bestehen, sind gleicherweise für die Menschheit vorhanden. So sehen wir heute die Gefahr, welche die menschliche Rasse bedroht.
Aber die Güte Gottes, die nie ausgesetzt hat, schickt wieder einmal seinen Boten, um sie zu retten.
Das im Orient ausgesprochene schöpferische Wort dieses göttlichen Gesandten, Bahá’u’lláh, rief in der ganzen Welt verschiedene Bewegungen ins Leben, die das goldene Zeitalter der menschlichen Zivilisation einleiten. Eine von ihnen ist die Frauenbewegung.
Die Menschheit hat jenes Mannesalter erreicht, wo die intellektuelle Kraft über die körperliche die Oberhand gewinnt. Die Frau hat sich von jener Unterlegenheit, in der ihre Schwachheit sie hielt, befreit, und wir können sehen, daß sie in kurzer Zeit ihre Intelligenz und ihre Fähigkeiten bewiesen hat, die sie auf dieselbe Stufe wie den Mann erhoben und diesem gleich gemacht haben.
Gleichheit ist zwar nicht das richtige Wort; gleichwertig wäre besser; sind doch diese vergleichenden Bezeichnungen sehr ungenau, wenn man es mit Wirklichkeiten zu tun hat, die nicht von gleicher Natur sind.
Intelligenz, Gefühl, Liebe sind Fähigkeiten, die sich je nach dem Einzelwesen und noch mehr zwischen den beiden Geschlechtern in ihrem Werte unterscheiden.
Wie viele Erörterungen haben schon dem Versuch gegolten, die Überlegenheit des einen oder des anderen nachzuweisen. Sie würden nie ein Ende nehmen, wenn man nicht die Frage einer verschiedenen Art ins Auge faßte.
Mann und Frau sind in Wirklichkeit einander weder ähnlich noch gleich, aber sie bilden zwei Organe der Menschheit, die wechselseitig den materiellen und geistigen Fortschritt der Welt sicherstellen. Die Entwicklung beider ist notwendig und jedes von ihnen hat seine besonderen Pflichten zu erfüllen.
Gott hat den Mann und die Frau erschaffen, damit sie einander ergänzen, und zwar im
Gemeinschafts- wie im Einzelleben, und die wahre materielle und geistige Zivilisation
wird die Welt dann erleuchten, wenn alle
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beide mit der gleichen intellektuellen und moralischen Kraft zusammenarbeiten werden.
Bis in unsere Zeit war die Menschheit gewissermaßen krank, denn die Hälfte ihres Körpers war infolge jener Untätigkeit der Frau von einer Lähmung befallen, die je nach den Ländern eine mehr oder weniger schwere war. Dieser siechen Menschheit nun ist es gelungen, unsere gegenwärtige Zivilisation zu gestalten. Wie wird also die Zukunft der Welt beschaffen sein, wenn unter dem Einfluß der Lehre Bahá’u’lláh's dieser träge Teil sich völlig beleben wird und die Frau dann endlich auf allen Gebieten die enge Mitarbeiterin des Mannes zu sein vermag?!
Aus all dem Ihnen soeben Gesagten können wir ersehen, wie groß und schwer unsere Aufgabe in dieser neuen Ära ist.
Das Vorbild dieser Pflichterfüllung ist uns schon von Qurrat’ul-Ayn, der Vorläuferin der Frauenbewegung, vor Augen gestellt worden.
In einem Lande wie Persien, wo die Frauen damals bejammerswerte Geschöpfe waren, erhob sie sich allein wider die gegenüber ihren Geschlechtsgenossinnen herrschende Ungerechtigkeit und zeigte mit übernatürlicher Macht den größten Gelehrten ihrer Zeit ihre Überlegenheit.
Die Schranke, die sie niederreißen mußte, war so groß, daß nicht nur die fanatischen Mohammedaner sich gegen sie wandten, sondern ihre Vorschläge erschienen auch so außergewöhnlich, daß einer der größten Jünger des Báb, einer der „Lebenden Buchstaben“, von ihrer Haltung außerordentlich verletzt war.
Ich will hier nicht ins Geschichtliche übergehen, aber um Ihnen zu zeigen, wie groß die Schwierigkeit war, die sie überwinden mußte, will ich Ihnen aus dem Buche Nabíl’s vorlesen, welche Wirkungen das Erscheinen Ṭáhirih’s ohne Schleier vor den Bábis verursachte:
„Bestürzung ergriff sofort die ganze Versammlung. Alle waren ob dieser plötzlichen und ganz unerwarteten Erscheinung entsetzt. Ihr Gesicht entschleiert zu sehen, erschien ihnen unfaßlich. Sogar ihren Schatten anzusehen, war für sie ein Ding, das ihnen unschicklich schien, da sie ja von ihnen als die leibhaftige Inkarnation von Fáṭimih, des edelsten Sinnbilds der Reinheit in ihren Augen, betrachtet wurde.
„Ruhig, still und mit der größten Würde trat Ṭáhirih vorwärts, und auf Quddús zugehend, setzte sie sich an seine rechte Seite. Ihre Gelassenheit stach scharf von der erschreckten Haltung derer ab, die in ihr Antlitz starrten. Furcht, Ärger wühlte die Tiefe ihrer Seelen auf. Diese plötzliche Enthüllung schien ihre Fähigkeiten betäubt zu haben. 'Abdu'l-Kháliq-i-Iṣfáhání war so tief erschüttert, daß er sich mit eigenen Händen den Hals durchschnitt. Mit Blut bedeckt und vor Aufregung kreischend, entfloh er dem Gesicht Ṭáhirih’s. Einige, seinem Beispiel folgend, verließen ihre Gefährten und entsagten deren Glauben. Eine Anzahl stand sprachlos vor ihr, vor Verwunderung verwirrt. Quddús war inzwischen auf seinem Platz geblieben, das blanke Schwert in der Hand, wobei sein Gesicht ein Gefühl unaussprechlichen Ärgers verriet. Es schien, als ob er auf den Augenblick wartete, da er den verhängnisvollen Schlag gegen Ṭáhirih führen würde.
„Seine Haltung verfehlte jedoch, sie aufzuregen. Ihre Haltung zeigte jene gleiche Würde und Vertrauen, welche sie vom ersten Augenblick ihres Erscheinens vor den versammelten Gläubigen an den Tag gelegt hatte. Ein Gefühl der Freude und des Triumphes hat jetzt ihr Antlitz erleuchtet. Sie stand von ihrem Sitze auf, und, unbekümmert durch den Tumult, den sie in den Herzen ihrer Gefährten erregt hatte, begann sie sich an den Rest der Versammlung zu wenden. Ohne die geringste Vorbereitung, und in einer Sprache, welche eine treffende Ähnlichkeit mit der des Qur’án zeigte, trug sie ihre Anklage mit unvergleichlicher Beredsamkeit und tiefer Inbrunst vor.“
Andererseits berichtet Herr Nicolas folgendes in seinem Buche: „Die erzielte Wirkung
war niederschmetternd. Die einen verbargen ihr Gesicht in den Händen, andere
warfen sich nieder, wieder andere verhüllten ihr Haupt mit ihren Kleidern, um ja nicht das
Antlitz ihrer Hoheit, der Reinen, zu sehen. Wenn schon es eine schwere Sünde ist, das
Gesicht einer vorübergehenden fremden Frau zu betrachten, welch ein Verbrechen war es
dann erst, die Augen auf die Heilige, die sie war, zu richten! .... Die Sitzung wurde
inmitten eines unbeschreiblichen Lärms aufgehoben.
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Es regnete Beleidigungen gegen die Frau, die unanständig genug war, sich also mit
unverhülltem Gesicht zu zeigen; die einen behaupteten, sie sei plötzlich wahnsinnig
geworden, die anderen, sie habe alle Scham verloren; einige ganz Vereinzelte
verteidigten sie.
Unsere Aufgabe von heute ist nicht so schwierig wie die von Ṭáhirih, aber man darf auch nicht glauben, sie gehöre zu den leichtesten.
Gewiß ist die Stellung der Frau im Morgen- und im Abendland nicht die gleiche, aber wenn die Frauen in Europa geachteter sind und in gewissem Maße gemeinsam mit dem Manne arbeiten, so trifft dies nur sehr oberflächlich zu. Wir sehen heute sogar einige Staatsmänner allem Anschein nach rückwärts schreiten, indem sie die Frau jedes Gemeinschaftsrechts berauben wollen; wie viele Übel indessen würden im Gegenteil erspart, wenn es ihnen erlaubt wäre, ihre Meinung abzugeben.
Die Frau könnte zum Beispiel vermöge ihrer empfindsameren und weicheren Natur den Krieg, diese Geisel der Menschheit, zügeln.
Wir sehen also, daß unsere Aufgabe sehr schwer bleibt. Wir müssen uns Wissen aneignen, unsere Gedanken, unsere Ideen entwickeln, die Moral verbessern, die leider heutzutage sehr vernachlässigt ist.
Gibt es für die Frau, die diese Ungerechtigkeiten bekämpfen will, ein wirksameres Mittel, als die Entfaltung der Gaben, welche die göttliche Hand in sie gelegt hat?
Eine ihrer Fähigkeiten ist das Erziehungsvermögen, denn auf diesem Gebiet ist die Überlegenheit der Frau infolge ihrer Sanftmut und Geduld offensichtlich.
Wenn wir uns in der Natur umsehen, finden wir, daß diese Aufgabe völlig den Weibchen überlassen ist.
Beim Menschen hat die Frage der Erziehung eine ganz besondere Bedeutung, denn das menschliche Geschlecht hat auf Grund seiner Natur die Wahl, in zwei entgegengesetzten Richtungen zu gehen: zum Guten oder zum Bösen hin.
Ohne den angeborenen Charakter und die individuellen Fähigkeiten leugnen zu wollen, ist der Einfluß der Erziehung beim Menschengeschlecht sehr wichtig. Die Seele eines Kindes gleicht einem mehr oder weniger fruchtbaren Boden. Läßt man ihn ohne Bestellung, dann werden nur Dornen und Heidekraut wachsen; wenn dagegen ein geschickter Gärtner sich seiner annimmt und ihn mit Blumen und Obstbäumen bepflanzt, so wird das Ergebnis ein ganz anderes sein.
Die Kindheit ist nur eine vorbereitende Stufe für die Zukunft des Menschen. Je nach dem, was er aufnimmt, kann er gut oder böse, tugendhaft oder lasterhaft, für die Menschheit nützlich oder schädlich werden.
Der beste Erzieher ist die Mutter. Es sind daher die Frauen von heute, welche die Männer von morgen vorbereiten, und das Ergebnis ihrer Erziehung kann nichts anderes sein als sie selbst sind, denn aus dem Getreidekorn kann nur Getreide sprießen, und die Distel wird nur Disteln hervorbringen.
Hier liegt die vornehmste und größte Pflicht der Frau. Diese Aufgabe ist wahrhaft schwer und die Verantwortung sehr groß.
Zu gutem Erziehen bedarf es natürlich ausreichenden Rüstzeugs, denn wer nichts hat, kann nichts geben. Zum Lehren von Redlichkeit, Ehrenhaftigkeit, Tugend ist es unbedingt nötig, daß die Erzieherin alle diese Eigenschaften besitzt. Dies genügt indessen nicht, denn um sich auf das Gebiet der Erziehung begeben zu können, alle Gefahrenwege zur Verderbnis zu kennen und es zu verstehen, dem Kind den Charakter einzuprägen, den der Mensch später haben soll, dazu gehört ein hinreichendes Wissen.
Gewiß ist die Ausbildung bei der Frau erstes Erfordernis, aber nur im Sinne des Stehens zu ihren Pflichten, und nicht, um sie aus ihrer natürlichen Rolle heraustreten zu lassen. Wie ich schon gesagt habe, müssen Mann und Frau, von denen jedes eine besondere Pflicht zu erfüllen hat, in ihren entsprechenden Rahmen bleiben, wobei sie gleichzeitig zusammenarbeiten.
Ich will meine Plauderei nicht abschließen, ohne, wenn auch nur kurz, von der geistigen Seite der Frau zu Ihnen zu sprechen.
Wenn heute ihre Bedeutung den Augen der Welt entgeht, so kennen im Gegensatz dazu wir Bahá’í ihren großartigen Wert, und ich brauche Ihnen nicht zu beweisen, daß das Elend und Unglück unserer Zeit von der Schwäche dieser geistigen Seite herrühren.
Auf diesem Gebiet ist die Frau keineswegs
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zurückgeblieben und hat oft sogar den Mann überragt.
Sehet, was eine Frau ohne großes Wissen wie Maria Magdalena für die Menschheit getan hat; sie war es, die kraft ihrer Liebe zu Gott die Apostel wieder sammelte, um sie nach den vier Enden der Welt zu entsenden. Jeanne d’Arc war eine andere, die vermöge ihres Glaubens und ihrer Geisteskraft wahre Wunder vollbrachte.
Da wir heute das Bedürfnis der Welt nach dieser Geistigkeit sehen und den Glauben an Bahá’u’lláh haben, begreifen wir, daß wir noch eine neue Pflicht, und zwar die größte, zu erfüllen haben. Wir müssen von Tag zu Tag dieses Licht, das durch die göttliche Güte in unseren Herzen entzündet wurde, vergrößern; vielleicht vermögen wir dann eines Tages mit Hilfe Seiner Gnade diese Finsternis der materiellen Welt zu zerreißen.
*) Aus dem Französischen ins Deutsche übertragen nach einer auf der
VII. Tagung der Bahá’í-Studenten in Paris gehaltenen Ansprache (siehe 16. Jahrgang,
Heft 12, S. 190/191).
Allumfassende Liebe: Ihr beherrschender Leitgedanke: Gerechtigkeit[Bearbeiten]
Von Mamie L. Seto1)
Wenn ein Haus errichtet wird, so ist der erste Schritt der baulichen Ausführung die Legung des Untergrundes. Wenn dieser fest und stark ist, dann kann auch das Gebäude fest und dauerhaft werden, es kann heftigen Winden, die es umtoben, strömenden Regengüssen, die darauf niederprasseln und schwer lastendem Schneedruck widerstehen. Geradeso muß auch der Mensch, der seine geistige Wohnung des „Glaubens an Gott“ baut, einen dauerhaften Grund legen und mit den wichtigen Dingen zuerst beginnen.
Der feste und dauerhafte Grund, auf den der Mensch sein Haus des „Glaubens“ bauen muß, ist Liebe.
„... Die größte Schenkung Gottes ist Liebe. Sie ist der Ursprung aller Schenkungen Gottes: solange die Liebe nicht vom Herzen Besitz ergriffen hat, kann auch keine andere große oder göttliche Gabe in ihm offenbar werden2).“
Viel Schönes ist zu allen Zeiten über Liebe gesprochen, gesungen und geschrieben worden. Es ist das Zauberwort unter den Worten. Kein anderes Wort ist von all den Propheten Gottes in der Religion und im Schrifttum von allen Völkern der Erde so häufig benützt worden. Die Propheten haben es gegeben als die Grundlage ihres Gesetzes, denn Liebe zu Gott und Liebe zum Menschen sind das ganze Gesetz.
Dichter und Schriftsteller verwandten es als beherrschenden Leitgedanken; doch trotz seines hohen Alters, seiner Allgemeinheit und Beliebtheit finden wir heutzutage, daß gerade der Mangel an Liebe die Ursache aller unserer Sorgen und Leiden ist.
„Die Krankheit, die den politischen Körper quält“, sagte ‘Abdu’l-Bahá, „ist Mangel an
Liebe und das Fehlen von Uneigennützigkeit. In den Herzen der Menschen ist keine wirkliche
Liebe zu finden, und der Zustand ist derart, daß, wenn nicht ihre Empfänglichkeit
durch irgend eine Kraft belebt wird, so daß Einigkeit, Liebe und Übereinstimmung unter
ihnen sich entwickeln können, es für die Menschheit keine Heilung, keine Hilfe geben
kann. Liebe und Einigkeit sind das, was der politische Körper heute notwendig braucht.
Ohne diese kann kein Fortschritt noch Wohlfahrt erreicht werden. Daher müssen die
Freunde Gottes festhalten an jener Kraft, die diese Liebe und Einigkeit in den Herzen der
Söhne der Menschen erzeugen wird. Die Wissenschaft kann die Krankheit des politischen
Körpers nicht heilen. Die Wissenschaft kann nicht Liebe und Kameradschaft in den Herzen
der Menschen erzeugen... Die Heilung kann allein zustande kommen durch die göttlichen
Freigebigkeiten und die geistigen Schenkungen, die an diesem Tag und gerade zu diesem
Zweck von Gott herniederströmen3).“
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Es muß erwähnt werden, daß ‘Abdu’l-Bahá damit wirkliche Liebe meinte. Er dachte daher an eine Liebe der höchsten Ordnung, eine Liebe, die dem Richtmaß Gottes und nicht dem Richtmaß der Menschen entspricht.
Die Liebe, die vor Gott annehmbar ist, ist allumfassende Liebe und bringt der ganzen Menschheit Glückseligkeit. „...Dies ist die eine vollkommene Liebe, die allen Menschenkindern möglich ist, die aber nur durch die Macht des göttlichen Geistes erlangt werden kann. Keine weltliche Macht kann die allumfassende Liebe bewirken4).“
„Die Liebenden der Menschheit“, sagte ‘Abdu’l-Bahá, „das sind die erhabenen Menschen, gleich welcher Nation, welchem Bekenntnis sie angehören oder welche Farbe sie haben mögen5).“
Der Pfad der Liebe, den die Menschheit in ihrer Entwicklung durchwandert, führt von verschiedenen Ausdrucksformen begrenzter Liebe zur allumfassenden Liebe. In ihrem unreifen Zustand war diese Liebe nur eine solche zum Gatten, zur Familie, zum Volksstamm und konnte möglicherweise auch die Liebe zum Vaterland einschließen. Wenn sie die Reife erlangt, ist sie allumfassend und umschließt das ganze Menschengeschlecht. Diese Entwicklung der Liebe ist ein stufenweiser Vorgang und umfaßt Jahrhunderte und Zeitalter. Heute hat die menschliche Rasse ihre Reife erlangt und ist vorbereitet für den Ausdruck der vollkommenen Liebe. In diesem neuen Zeitalter, dem allumfassenden Zyklus, muß und wird umfassende Liebe die Oberhand gewinnen.
‘Abdu’l-Bahá sagte: „Der Mensch muß diese umfassende Liebe offenbaren, indem er sich und andere zum Ebenbild Gottes entwickelt6)...
Der Mensch ist nach dem Ebenbild und Gleichnis Gottes erschaffen; er ist jedoch Ihm erst ähnlich, wenn er die gleichen Eigenschaften aufweist. Eine dieser Eigenschaften ist allumfassende Liebe. Da Gott alle liebt, muß der Mensch gleicherweise alle lieben. Über die Bedeutung umfassender Liebe schrieb 'Abdu'l-Bahá:
„Die größte Gabe des Menschen ist allumfassende Liebe, denn diese Liebe ist der Magnet, der das Dasein ewig macht, die Wirklichkeit anzieht und das Leben mit unendlicher Freude durchdringt. Wenn diese Liebe das Herz des Menschen durchflutet, werden all die Kräfte des Weltalls in ihm zur Entfaltung kommen, denn sie ist eine göttliche Kraft, die ihn auf eine göttliche Stufe emporhebt. Der Mensch wird keinen wirklichen Fortschritt machen, es sei denn, daß er erleuchtet ist durch diese Macht der Liebe. Ringet darnach, in dieser Liebeskraft der Wirklichkeit zu wachsen, um eure Herzen zu stärkeren Mittelpunkten der Anziehung zu machen, um neue Ideale und Beziehungen zu schaffen.
Oh, leider hat die Welt die Wirklichkeit der hinter den symbolischen Formen verborgenen Religion nicht entdeckt7).“...
Wenn von Liebe die Rede ist, wird meist, mit wenigen Ausnahmen, an eine persönliche Liebe gedacht. Es gibt jedoch zwei Arten von Liebe:
»... eine umfassende und eine persönliche. Ihr müßt das Menschengeschlecht lieben, um es emporzuheben und zu verschönern. Selbst wenn die Menschen euch erschlagen, müßt ihr sie dennoch lieben. Persönliche Liebe kann nicht erzwungen werden und ihr braucht nicht jedermann persönlich zu lieben; aber wenn sie in euren Lebenskreis treten, dann, wisse, daß sie zu eurer Entwicklung dienen und daß ihr Mittel zu ihrer Entwicklung seid vermöge eurer umfassenden Liebe zu ihnen. Wir sind Geschöpfe des gleichen Gottes, deshalb müssen wir alle lieben als Kinder Gottes, selbst wenn sie uns Leid zufügen. Christus liebte Seine Verfolger. Es ist uns möglich, diese Liebe zu erlangen. Gott offenbarte Seine Liebe durch Erschaffung des Menschen nach Seinem Ebenbild. Der Mensch muß diese Liebe offenbaren, indem er sich und andere nach diesem Ebenbild Gottes entwickelt8).“
Wie ist es denn möglich, umfassend zu lieben, nachdem es nicht erforderlich: ist, jedermann persönlich zu lieben?
Allumfassende Liebe ist nicht nur ein Ausdruck der Güte, eine großmütige Handlung,
eine edle oder menschenfreundliche Tat, sie mag aber solche Tugenden wohl verkörpern.
Allumfassende Liebe, gleich wahrer Religion,
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deren Grundlage sie ist, ist eine Lebensweise: die Art und Weise, wie
wir jedes menschliche Wesen behandeln, mit dem wir zu jeder Stunde des Tages in
Berührung kommen, in unserem ganzen Denken, Reden und Tun.
Shoghi Effendi, der Hüter des Bahá’í-Glaubens, dachte an allumfassende Liebe, als er folgende Worte schrieb:
„Solange nicht die kräftespendende Liebe, die wir für Ihn im Herzen tragen, in ihrer Macht und Reinheit in unserem ganzen Verhalten zu unseren Mitmenschen genügend widergespiegelt wird, wenn auch noch so fern verbunden und bescheiden im Anfang, können wir nicht hoffen, in den Augen einer eigennützigen Welt die Wahrheit der allbezwingenden Liebe Gottes hoch zu halten. Nicht eher, als bis wir selbst das Leben eines wahren Bahá’í leben, können wir hoffen, die schöpferische und umbildende Machtfülle des Glaubens darzutun, den wir bekennen9).“
Damit die Menschen nicht verwildern in bezug darauf, wie sie ihre Mitmenschen behandeln sollen, wurde von allen Propheten Gottes ein beherrschender und führender Leitgedanke gegeben, denn ihre Gesetze wurden der Menschheit zuerst eben zu diesem Zweck geoffenbart. Wir finden diesen beherrschenden Leitgedanken sich hindurchziehen durch das Alte und Neue Testament, den Qur’án und andere Heilige Schriften, und dieser Leitgedanke ist Gerechtigkeit.
In Micha 6, 8 finden wir10): „Er hat dir gezeigt, o Mensch, was gut ist. Und was fordert der Herr von dir anderes als gerecht zu handeln, Gnade zu lieben und demütig zu wandeln vor deinem Gott?“ Und im Neuen Testament, Matth. 7, 12, steht folgendes: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch: denn dies ist das Gesetz und die Propheten.“ Im Qur’án finden wir in der Sure von der Biene: „Wahrlich, Gott befiehlt Gerechtigkeit und das Gute zu tun, und Freigebigkeit gegen Verwandte, wenn sie derer bedürfen, und Er verbietet Schändlichkeit, Schlechtigkeit und Unterdrückung. Er ermahnt euch, auf daß ihr dessen eingedenk seid.“
Bahá’u’lláh hat diesen alten und ewigen Grundsatz der Gerechtigkeit erneuert. Er sagt von ihr: „Würdest du Gerechtigkeit beachten, dann würdest du für andere nur wählen, was du für dich selbst wähltest11).“
Dies ist die höchste Liebe und ist eine unpersönliche Liebe. Wenn die Menschen für alle ihre Mitmenschen, gleich welcher Rasse sie angehören oder wie bescheiden ihr Lebensweg auch sein mag, alle die Rechte, Vorrechte und Segnungen wählen, die sie für sich selbst erwählen, dann lieben sie allumfassend. Das ist die Liebe ohne Vorurteil oder Schranken,
Bahá’u’lláh schreibt weiter über Gerechtigkeit: „Bei einigem Nachdenken werden Menschen mit Billigkeit und Scharfsinn, mit äußeren und inneren Augen, die Glanzfülle der Sonne der Gerechtigkeit bezeugen in allem, was Wir geoffenbart haben12).“
„Das Wesen von allem, was Wir für dich geoffenbart haben, ist Gerechtigkeit. Sie ist für den Menschen zur Befreiung von eitler Einbildung und Nachahmung, um Seine herrliche Schöpfung mit dem Auge der Einheit anzusehen und auf alle Dinge mit einem forschenden Auge zu schauen13).“
„O Volk Gottes! Der Erzieher der Welt ist Gerechtigkeit, denn sie beruht auf zwei Pfeilern: Belohnung und Vergeltung. Diese zwei Pfeiler sind zwei Quellen für das Leben der Menschen der Welt14).“
„Die Besitzer von Gerechtigkeit und Billigkeit nehmen die höchste Stufe und den erhabensten Rang ein: Die Lichter der Rechtschaffenheit und Frömmigkeit scheinen und strahlen aus solchen Seelen15).
Daß sowohl der Einzelne als auch die Völker von diesem vollkommenen Weg des Lebens
weit entfernt sind, wird augenscheinlich durch die Worte ‘Abdu’l-Bahá’s gelegentlich
Seines Besuches der westlichen Welt vor mehr als zwanzig Jahren. Er sagte, als Er vom
Zustand der Welt sprach: „Wenn der Mensch nur einen Bruchteil Gerechtigkeit hätte,
würde solch ein Zustand der Dinge unmöglich sein16).“
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Wenn die Menschheit von dieser umfassenden Liebe mit Gerechtigkeit als ihrem beherrschenden Grundsatz durchdrungen ist, wird es dann möglich sein, wird man fragen, unsere persönliche Liebe zu behalten? Jawohl, es wird möglich sein, alle persönliche Liebe zu bewahren. Geradeso wie das Universum die Planeten einschließt, so schließt auch die große allumfassende Liebe die persönliche Liebe in sich, denn das größere umschließt immer das kleinere. Wenn jedoch die Gerechtigkeit der führende Leitgedanke ist, wird die persönliche Liebe edel und erhaben. Diese umfassende Liebe ist eine beschützende Liebe — denn sie wird persönlicher Liebe niemals gestatten, die Gerechtigkeit zu blenden, eine vorgefaßte Meinung zu haben oder die Auffassung durch Vorurteil zu beeinflussen, noch wird sie jemand erlauben, vom Pfad der Rechtschaffenheit durch persönlichen Einfluß abzuschweifen. Wenn das Gegenteil wahr ist, daß nämlich die persönliche Liebe die höchste Form der Liebe ist, wird sie oftmals verhindern, da Vertrauen zu schenken, wo Vertrauen nötig wäre, da Gaben und Talente des Einzelnen wahrzunehmen und anzuerkennen und Verdienst und wohlverdiente Ehren zu gewähren, wo sie zukommen. Durch ihren Einfluß wird das Gefühl getäuscht und das Urteil getrübt.
Persönliche Liebe ruht auf zwei schwachen Trägern: Vorrecht und Begünstigung, mit früherem oder späterem Bruch. Bahá’u’lláh schrieb: „Das Licht der Menschen ist Gerechtigkeit, löschet es nicht mit den Gegenwinden der Bedrückung und Tyrannei aus. Der Zweck der Gerechtigkeit ist das Erscheinen der Einheit unter den Menschen17).“
Josef Addison, der englische Schriftsteller, schrieb über Gerechtigkeit: „Gerechtigkeit kennt keine Partei, Freundschaft, Verwandtschaft und wird deshalb immer als blind dargestellt.“
Emerson schrieb in seiner Abhandlung über Charakter: „Wahrheit ist der Gipfel des Daseins: Gerechtigkeit ist ihre Anwendung auf die Dinge. Alle Einzelmenschen stehen gleichsam auf einer Stufenleiter gemäß der Reinheit dieses Elementes in ihnen.“
Die Offenbarer Gottes und die ihnen nahe standen, haben eindringlich gegen persönliche Liebe als vorherrschender Liebe geschrieben. In den „Geheimnisvollen Kräften der Zivilisation“18) finden wir folgendes: „Das zweite Kennzeichen des Fortschritts und der Selbstvervollkommnung besteht in der Übung von Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit.
Es darf kein Trachten nach persönlichem Vorteil und kein Streben nach persönlichem Gewinn geben, vielmehr sollte jedermann, ohne Rücksicht auf die Person, die gerechten Gesetze halten und sich als ein Glied am Körper des Volkes Gottes betrachten. Er sollte sich von seinen Mitmenschen nicht absondern, soweit es sich nicht um sein geistiges Wachstum handelt, sondern das Gemeinwohl als sein eigenes ansehen. Kurz, er sollte das ganze Volk als einen Menschen und sich selbst nur als eines der Glieder dieses Körpers betrachten.“
„Was immer umfassend ist, ist himmlisch und was persönlich ist, ist satanisch“, sagte 'Abdu'l-Bahá19).,
Jakobus schreibt im zweiten Kapitel Vers 8 und 9 seines Briefes: „Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘, so tut ihr recht. So ihr aber die Person ansehet, tut ihr Sünde und das Gesetz verurteilt euch als Übertreter.“
In Römer 13, 10 ist geschrieben: „Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. Darum ist die Liebe des Gesetzes Erfüllung.“
Der Mensch kann keinen geistigen Fortschritt machen, wenn er seine erste Zuneigung nur einzelnen Personen bekundet, denn Gottes Weltall wird von Gesetzen beherrscht und nicht von Personen, und wenn wir mit diesen Gesetzen übereinstimmen, werden wir näher zu Gott gezogen und wahre Glückseligkeit finden, wie Bahá’u’lláh schrieb:
„Die Gerechtigkeit ist in Meinen Augen vor allem andern das Köstlichste. Wenn du
nach Mir verlangst, dann wende dich nicht von ihr ab und vernachlässige sie nicht,
damit Ich dir Mein Vertrauen schenke. Mit Hilfe der Gerechtigkeit wirst du mit deinen eigenen
Augen und nicht mit den Augen anderer sehen, du wirst alles mit deinem eigenen
Verständnis erkennen und nicht mit dem deines Nebenmenschen. Erwäge in deinem Herzen,
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wie du sein solltest. Wahrlich, die Gerechtigkeit ist Meine Gabe für dich; sie ist das
Zeichen Meiner liebevollen Güte zu dir; deshalb halte sie dir stets vor Augen20).“
Allumfassende Liebe ist von dem Beweggrund der seelischen Entwicklung aller getragen. Wir werden von ‘Abdu’l-Bahá gelehrt, daß, wenn Menschen in unseren Lebenskreis treten, wir eine Ursache ihrer Entwicklung werden müssen und sie andererseits ein Mittel zu unserer Entwicklung, und zwar durch unsere umfassende Liebe. In diesem höchsten Sinne sind wir unseres Bruders Hüter und müssen lebendig teilhaben an seiner geistigen Entwicklung. So gut es möglich ist, daß wir an dem sittlihen Vergehen eines Menschen mitschuldig sind, genau so können wir auch zu seiner geistigen Verkommenheit beigetragen haben. Dies geschieht dadurch, daß wir blind oder gleichgültig sind gegenüber dem, was geistiges Wachstum hemmt.
Der Báb, der Vorläufer Bahá’u’lláh’s in der Bahá’í-Offenbarung, dachte an solch einen erhabenen Zweck, als Er Seine Anhänger mit folgendem Befehl unterwies: „Du darfst deinen Nächsten weder betrügen, noch ihm ermöglichen, daß er dich betrügt21).“
Den Menschen die Möglichkeit zu geben, daß sie uns betrügen oder Vorteile durch uns erlangen, ist ein Weg, der uns unwissentlich an ihrem geistigen Verbrechen mitschuldig macht; wenn wir das tun, werden die Übeltäter durch ihre Erfolge ermutigt statt zurückgeschreckt und dadurch noch mehr verwegen und bestärkt in ihren bösen Taten.
Der Leitgedanke der Gerechtigkeit ist die Grundlage aller edlen Taten. „In diesem erhabenen Wort“, schrieb Bahá’u’lláh, „bewegt sich die See der Weisheit Gottes: alle Bücher der Welt reichen nicht aus, seine Auslegung zu fassen22).“
Wenn wir für andere das wählen, was wir für uns selbst wählen, werden wir die Menschen in keiner Weise beleidigen; wir werden zu Unehrlichkeit weder verleiten noch sie selbst begehen oder sonst in einer unhöflichen Weise handeln. Wir werden uns enthalten, die Pläne anderer dadurch umzuwerfen, daß wir ihnen unser gegebenes Wort brechen oder unser Versprechen nicht halten. Gerade über letzteres, das mitunter als unwichtig angesehen wurde, haben Bahá’u’lláh und ‘Abdu’l-Bahá sehr genaue Ausführungen gemacht:
„Schreibe keinem Menschen zu, was du nicht für dich selbst wünschtest und sage nichts, was du nicht tust. Dies ist Mein Befehl an dich, befolge ihn“, schrieb Bahá’u’lláh in den Verborgenen Worten.
Von ‘Abdu’l-Bahá kennen wir folgendes Wort: „Lasset das Licht der Wahrheit und Ehrlichkeit aus eurem Antlitz leuchten, so daß alle erkennen mögen, daß euer Wort, sowohl im Beruf wie im sonstigen Leben, ein Wort ist, auf das man bauen und dessen man sicher sein kann23).“
Die noch zu schaffenden Einrichtungen des Bahá’í-Glaubens sind die „Häuser der Gerechtigkeit“. Sie werden ihren Namen nur dann zu Recht führen, wenn Menschen mit Gerechtigkeitssinn darin dienen. So muß der Einzelmensch darin erzogen werden, in des Wortes höchstem Sinne sich mit seinen Nebenmenschen zu befassen. Eine gerechte Gemeinschaft kann nur durch gerechte Einzelmenschen erreicht werden.
Plato sagte: „Gerechtigkeit ist die vortreffliche Eigenschaft der Seele“, und da der neue Zyklus ein Zeitalter des seelischen Ausdrucks des Menschengeschlechts ist, wird er gleicherweise ein Zeitalter der Gerechtigkeit sein. Und das Ergebnis der Übung von Gerechtigkeit wird die Verwirklichung jener Verheißung aller vergangenen Zeiten sein — des Goldenen Zeitalters, oder der Errichtung des Königreiches Gottes auf Erden.
„Wenn vollkommene Gerechtigkeit in jedem Lande der östlichen und westlichen Welt herrscht“, sagte ‘Abdu’l-Bahá, „dann wird die Erde eine Stätte der Schönheit werden. Die Würde und Gleichheit jedes Dieners Gottes wird anerkannt sein; das Hochziel des Zusammenhaltens der menschlichen Rasse, die wahre Bruderschaft der Menschen, wird verwirklicht sein, und das herrliche Licht der Sonne der Wahrheit wird die Seelen aller Menschen erleuchten24).“
1) Entnommen und ins Deutsche übertragen aus „World Order“,
Bd. 2, Nr. 1, April 1936, S. 19 ff.
2) 'Abdu'l-Bahá in „Promulgation of Universal Peace“, Band I, S. 13.
3) Bahá’í Scriptures, Abschnitt 812.
4) „Wisdom of ‘Abdu’l Bahá“, S. 32.
5) Ebenda, S. 138.
6) Bahá’í Scriptures, Abschnitt 821.
7) Bahá’í Scriptures, Abschnitt 965.
8) Bahá’í Scriptures, Abschnitt 821.
9) Bahá’í Administration, $. 59.
10) Nach einer englischen Fassung.
11) Worte der Weisheit.
12) Bahá’í Scriptures, Abschnitt 68.
13) Worte der Weisheit.
14) Bahá’í Scriptures, Abschnitt 68.
15) Bahá’í Scriptures, Abschnitt 96.
16) Weisheit ‘Abdu’l-Bahá’s, S. 106.
17) Bahá’í Scriptures, Abschnitt 109.
18) Englisch „Mysterions Forces of Civilization“.
19) „Light of the World“.
20) Verborgene Worte, arab., 2.
21) The Dawn Breakers, S. 303.
22) Bahá’í Scriptures, Abschnitt 109.
23) Bahá’u’lláh und das Neue Zeitalter, Kap. 5.
24) Wisdom of 'Abdu’l Bahá, S. 144.
[Seite 7]Über Symbole und Gleichnisse
Über Symbole und Gleichnisse[Bearbeiten]
Von Karl Klitzing, Graal
Die Heiligen Schriften sind voller Symbole und Gleichnisse. Gleich auf der ersten Seite
der Bibel finden wir den Bericht über die Schöpfung der Welt in einer Ausdrucksweise,
die, wenn wir sie wörtlich nehmen wollten, recht sonderbar erscheinen könnte. In Seinem
Thema über die „Weltschöpfung“ erklärt 'Abdu'l-Bahá, daß die Lehre von Mose, die
Welt sei in sechs Schöpfungstagen entstanden, ein Gleichnis, eine symbolische Wahrheit ist,
daß sich die Welt allmählich entwickelt hat. „... Darwin kann sich mit seiner
Entwicklungslehre auf Mose berufen. Gott ließ die Welt nicht plötzlich entstehen, sondern
der Lebenshauch Gottes wird zum schöpferischen Befehlswort Gottes, zum Logos, der
fortzeugend die Welt erschafft. Wir haben eine fortlaufende und nicht eine einmalige
Schöpfung. Die Schöpfungstage von Mose sind Zeitspannen von Millionen von Jahren... 1)“
Im 1. Buch Mose, Kapitel 2, wird berichtet, daß Gott den Menschen aus einem Erdenkloß schuf, daß er diesen Menschen in einen tiefen Schlaf verfallen ließ und eine Rippe aus ihm entnahm, um daraus ein Weib zu bauen. Im 3. Kapitel wird uns von einer Schlange erzählt, die mit dem erschaffenen Weibe ein Zwiegespräch führt. Würde uns gesagt, daß diese Darstellung wörtlich aufzufassen wäre, würde uns diese Erklärung unbefriedigt lassen, da sie aller Vernunft widerspricht. 'Abdu'l-Bahá erklärt: „... Wenn wir diese Geschichte buchstäblich nehmen, wie sie von den meisten Menschen ausgelegt wird, dann ist sie in der Tat etwas Außergewöhnliches. Die Vernunft kann sie weder annehmen, bestätigen, noch sich vorstellen, denn solche Anordnungen, solche Einzelheiten, solche Reden und Vorwürfe sind nicht das Produkt eines intelligenten Menschen, wieviel weniger der Gottheit, — einer Gottheit, die dies unendliche Weltall in vollkommenster Form und mit seinen zahllosen Bewohnern in unbegrenzter Ordnung, Kraft und Vollkommenheit erschaffen hat.
Denken wir doch ein wenig darüber nach! Wenn diese Geschichte2) in ihrer buchstäblichen Bedeutung einem weisen Manne zugeschrieben würde, so würden logischerweise sicherlich alle sagen, daß eine solche Anordnung, eine solche Erfindung unmöglich von einem vernünftigen Wesen ausgehen könnte. Deshalb muß diese Geschichte von Adam und Eva, die von dem verbotenen Baume aßen und aus dem Paradiese vertrieben wurden, einfach als Symbol gedacht werden. Sie enthält göttliche Geheimnisse, universale Bedeutungen und läßt wunderbare Erklärungen zu. Nur wer in diese Geheimnisse eingeweiht ist und dem Hofe des Allmächtigen nahesteht, wird diese Geheimnisse erkennen. Deshalb haben diese Bibelstellen zahlreiche Bedeutungen. Laßt uns hier eine derselben erklären: Adam bedeutet den Geist Adams und Eva seine Seele. Auch in einigen anderen Stellen der heiligen Bücher, in denen Frauen erwähnt sind, stellen sie die Seele des Mannes dar. Der Baum des Guten und Bösen bedeutet die Menschenwelt, denn die geistige und göttliche Welt ist nur absolut gut und voll Licht, aber in der Menschenwelt existieren als gegensätzliche Zustände Licht und Finsternis, Gutes und Böses.
Die Bedeutung der Schlange ist der Hang zur Menschenwelt. Dieser Hang des Geistes zur Menschenwelt bestimmte die Seele und den Geist Adams, sich von der Welt der Freiheit zur Welt der Knechtschaft zu wenden; sie verursachte, daß er sich von dem Königreich der Einheit zur Menschenwelt wandte. Als sich die Seele und der Geist Adams zur Menschenwelt wandten, verließen sie das Paradies der Freiheit und gerieten in die Welt der Knechtschaft. Von der Höhe der Reinheit und der absoluten Güte traten sie in die Welt des Guten und Bösen ein .. 3).
In der Bibel wird wiederholt von einem Feuer gesprochen, so lesen wir in 2. Mose 3, 2:
„Und der Engel des Herrn erschien Ihm in einer feurigen Flamme aus dem Busch. Und
Er sah, daß der Busch mit Feuer brannte und
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ward doch nicht verzehret." Im Ev. Matth. 3, 11 sagt Johannes der Täufer: „Ich taufe euch
mit Wasser zur Buße, der aber nach mir kommt, ist stärker denn ich, dem ich nicht
genugsam bin, seine Schuhe zu tragen; der wird euch mit dem heiligen Geist und mit
Feuer taufen.” Im „Lawḥ-i-Ḥikmat“ — der Abhandlung über die Weisheit — sagt
Bahá’u’lláh: „... Verbreite die Sache Gottes mit solcher Beredsamkeit, daß deine Worte
die Bäume in Flammen versetzen zur Verkündung: Wahrlich, es gibt keinen anderen Gott
als Mich, den Mächtigen, den Unverletzbaren4)...“
Christus gab uns viele Gleichnisse: das Gleichnis vom Sämann, vom Unkraut, vom Senfkorn, vom Sauerteig, vom Schatz, von der Perle und vom Netz (Ev. Matth. 13) und andere. In Ev. Matth. 13, 34 und 35 lesen wir: „Solches alles redete Jesus durch Gleichnisse zu dem Volk, und ohne Gleichnisse redete Er nicht zu ihnen, auf daß erfüllet würde, das gesagt ist durch den Propheten, der da spricht: Ich will meinen Mund auftun in Gleichnissen und will aussprechen die Heimlichkeiten von Anfang der Welt.“
Im Ev. Matth. 7, 16-20 gibt Christus das Gleichnis von dem guten Baum, der gute Früchte bringt, und von dem faulen Baum, der keine guten Früchte bringt und abgehauen und ins Feuer geworfen wird. Auch in dem Gebet der Demut vergleicht 'Abdu’l-Bahá uns mit jungen Bäumen, die, blätter- und blütenlos, des Regens aus den Wolken der göttlichen Gnade bedürfen und zu beleben sind. Was ist dies nun für ein Feuer, welches Mose aus dem Busch hervorkommen sah, das wohl brannte, den Busch aber nicht verzehrte, ein Feuer, mit dem, wie Johannes der Täufer erklärte, der taufen würde, der nach ihm kommen werde, ein Feuer, das die Bäume in Flammen versetzen, daß sie wie in der Frühlingszeit mit Blättern und Blüten geschmückt werden und daß sie Früchte hervorbringen? Dies Feuer ist die Liebe Gottes, die alles verbrennt, was nicht von Gott ist, die die Seele loslöst und von allen weltlichen Dingen befreit, die die Bäume belebt und mit Blättern und Blüten schmückt. Christus sagte, daß Er gekommen wäre, in der Welt ein Feuer anzuzünden, und ‘Abdu’l-Bahá sagt: „Ein göttliches Feuer ist in dem Herzen der Menschheit entfacht und brennt hell in dem Heiligen Baum. Bald wird seine glühende Flamme die Seelen der Menschen aufleuchten lassen und sein Licht die Regionen der Welt erleuchten5).
Im 1. Buch Mose 3, 24 ist gesagt, daß Gott den Weg zu dem Baum des Lebens durch einen Cherubim mit dem bloßen Schwert bewahren ließ. Der Baum des Lebens versinnbildlicht die höchste Stufe der universalen Manifestation, wie sie durch Bahá’u’lláh offenbar geworden ist. Das göttliche Feuer in dem Heiligen Baum brennt hell, so daß „alle Horizonte der Welt erleuchtet sind“, und es uns den Weg zur Wahrheit zeigt. ‘Abdu’l-Bahá sagt: „Die Wahrheit ist das Wort Gottes, das der Menschheit Leben gibt. Es macht die Blinden sehend, die Tauben hörend, die Stummen beredt und bringt denen Leben, die leblos sind. Es erleuchtet die Welt der Herzen und Seelen und macht alle Ungerechtigkeit der Nachlässigen und Irrenden zunichte. Schönheit, Vollkommenheit, Pracht und Vergeistigung dieses Daseins kommen vom oder durch das Wort Gottes. Es ist für Alle höchstes Ziel, größtes Verlangen, die Ursache des Lebens, der Unterweisung und der Erleuchtung. Der Weg, zu dieser Wahrheit zu gelangen, ist die Liebe Gottes. Wenn das Licht der Liebe Gottes in dem Spiegel des Herzens brennt, dann zeigt die Flamme den Weg und führt uns zum Königreich des Wortes Gottes. Doch merke dir, daß das Wachstum der Liebe Gottes nur dadurch verursacht wird, daß der Mensch umkehrt und sich Gott zuwendet6).“
1) „Sonne der Wahrheit“, I. Jahrgang, Seite 9.
2) Von dem Sündenfall.
3) „Beantwortete Fragen“, Seite 156 und 157.
4) „Sonne der Wahrheit“, XIII. Jahrgang, S. 116.
5) „Sonne der Wahrheit“, V. Jahrgang, Seite 161.
6) „Die Bahá’í-Offenbarung“ von Thornton Chase, Seite XVI.
Die Bahá’í und meine Erfahrungen[Bearbeiten]
Von Prof. Dr. J. Rypka, Prag
Noch heute, nach mehr als vier Jahren, kann ich mich meiner ersten Berührung mit dem militanten Bahá’í-Tum ganz genau erinnern. Es hatte mir einer meiner Kollegen auf mein Universitätskabinett telephoniert, daß eine amerikanische Bahá’í-Sendbotin mich zu sprechen wünscht. Auf meine Entgegnung hin, daß ich fürwahr keine Lust in mir verspüre, mich mit phantastischen Luftgebäuden, die mir überdies durch meine Studien kein Geheimnis sind, abzugeben, meinte er sehr ernst, die Ansichten, die er soeben gehört habe, seien gar nicht so grundlos, im Gegenteil, ein durchaus vernünftiges und anhörbares Glaubensbekenntnis, dem ich doch bei dieser Gelegenheit etwas Aufmerksamkeit widmen sollte, zumal es in mein Forschungsgebiet einschlägt.
Als es ein zwei Tage darauf wirklich zu einem Zusammentreffen kam, leitete ich so gut wie mit dem Händedruck gleichzeitig das Gespräch mit einer vielleicht etwas hochnasigen Bemerkung ein, mir wäre die Bahá’í-Doktrin aus der gelehrten Literatur genügend bekannt. Und ich würde mich bis zur Stunde schämen, hätte ich damals es unterlassen, zur Bekräftigung jener Bewillkommnung sogleich verschiedene orientalistische Werke anzuführen.
Miß Martha Root schrieb mir meine Kenntnisse sanftmütig und unverdrossen zugute. Ihre unverwüstliche Liebenswürdigkeit ließ sich dadurch weder kränken noch stören. Deswegen gab es keine Förmlichkeit der sich zum ersten Male Begegnenden. Vielmehr nahm unser Gespräch nach einer derartigen gegenseitigen Kennenlernung unverweilt das Gesicht einer langjährigen besten Freundschaft an.
Miß Martha Root entwickelte vor mir ihre Ziele und Pläne, sie zeigte mir verschiedensprachige Literatur des Bahá’í-Tums und ich begriff alsbald, daß ich denn doch nicht so alles wußte, wie ich anfänglich vermeint hatte. Ich würde meine damaligen Mängel heute folgendermaßen bestimmen: Hier trat mir das Leben entgegen, wohingegen all meine Kenntnisse nur nach Papier rochen. Der Professor wurde unbewußt und unwillkürlich zum Schüler. Er sah nicht mehr das Phantastische, das sich in Buchstaben und Ziffern ergeht, sondern eine erhabene religiöse Lehre mit weitgreifenden soziologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen.
Miß Martha Root entging mein Interesse für Irán und das Iranische nicht. Ebenso machte hinwieder ich im Laufe unseres Gesprächs die mir unsäglich sympathische Entdeckung, daß Miß Martha Root Persien, das Land des Löwen mit der aufgehenden Sonne, aus eigenem Augenschein kennt. Ist es verwunderlich, daß unserer ersten Begegnung alsbald eine zweite und weitere folgten, zu denen nun auch meine Frau herangezogen wurde? Immer mehr erfuhren wir über den gegenwärtigen Stand des Bahá’í-Tums, seine Bewegung und Organisation. Nach allen Schilderungen schien es nun, daß es kinderleicht sein muß, 10000 Meilen in Persien zu machen, sobald man einige Bahá’í zu seinen Freunden zählt, oder in Ermangelung dessen bloß über ein Empfehlungsschreiben verfügt. Miß Martha Root brachte es zuwege, daß ich in kurzem Mr. und Mrs. Howard Carpenter, die auf ihrer Reise nach Persien für einige Zeit in Wien haltgemacht hatten, begegnen konnte. (Dafür wie für so manches bin ich ihr noch heute innigst dankbar.) Dies war meine zweite Bahá’í-Bekanntschaft. Ich kehrte nicht enttäuscht nach Prag zurück. Ich lernte in Wien auch andere Bahá’í kennen, um immer aufs neue gute, ja beste Erfahrungen zu machen, freilich aber auch mir immer wieder die Frage nach dem Wesen des in all diesen Fällen beobachteten Guten aufzuwerfen: gute Menschen von Haus aus oder durch ihre religiöse Überzeugung verklärt?
Monate vergingen. Miß Martha Root wurde durch ihre Missionstätigkeit im bekannten
und — noch mehr — im unbekannten Europa verweht. Ich erfuhr von ihr durch Hörensagen,
und selbst dies nur ganz nebelhaft und äußerst selten. Als nun meine Iránträume
bald zur Wirklichkeit werden sollten (meine Frau und ich waren inzwischen von der
iranischen Regierung zu den Firdusi-Feierlickeiten eingeladen worden), überraschte
uns eines Tages die Post mit der Nachricht, daß Miß
[Seite 10]
Martha Root an dem und dem Tage zu der und der Stunde Prag durchreist. Mehrere
ihrer Prager Freunde fanden wir auf dem Bahnhofe versammelt. Das Wiedersehen
dauerte nur einige wenige Minuten, doch genügend, um von der Opferwilligkeit,
Arbeitsfreude, Unermüdlichkeit und Unverdrossenheit der edlen Missionarin tief ergriffen
zu werden. Jahrein, jahraus in der Fremde pilgernd, sich für die ihr anvertrauten Aufgaben
herumschlagend, mit allerhand Widerwärtigkeiten ohne Rast und Ruhe ringend, schaute
sie dennoch unverwüstlich guter Dinge aus. Wir flüsterten uns zu, daß unmöglich etwas
anderes als das tiefernste Bewußtsein einer hohen sittlichen Sendung soviel Kraft einem
körperlich zarten Wesen verleihen kann. Bis zum heutigen Tage habe ich nicht nötig, diese
Erfahrung je Lüge zu strafen.
Jetzt lasse ich in meinem Geiste unsere Bahá’í-Freunde vorüberziehen. Es ist gar nicht daran zu denken, sie namentlich aufzuzählen. Unverrückbar fest aber findet sich der Gesamteindruck dieser Wahrheitssucher in meiner Seele herauskristallisiert. Wir kamen durch Mrs. Carpenter bald in Berührung mit ihnen. Sie luden uns zum Gottesdienst, zu geselligen Unterhaltungen und zu ernsten Auseinandersetzungen ein. Alle vierzehn Tage gab es irgendeine Zusammenkunft — bald hier, bald dort, bei oder mit Beamten aller möglichen Ministerien, Ämter und Funktionen, bei oder mit Offizieren, Privatpersonen, hoch und niedrig. Unvergeßlich ist mir die erste große Begegnung geblieben. Einer der Anwesenden gebärdete sich wie mein Untersuchungsrichter, so daß ich über sein Ausfragen beinahe wütend geworden wäre. Darf ich verraten, daß er mir zum Schluß einer der Liebsten geworden ist? Ich irrte, als ich mich lediglich ausgefratschelt fühlte. Nein, man wollte unmittelbar von einem fernen Pilger etwas über die Bahá’í-Sache in Europa erfahren. Unbewußt sollte er ihnen stillen Trost und unausgesprochene Aneiferung zur weiteren Arbeit bringen. Sie wußten, daß wir nicht die ihrigen sind. Sie hatten dennoch volles Vertrauen zu uns; zumal wir zwei goldene Schlüssel zu ihren Herzen hatten: ein noch nach Prag an mich gerichtetes Schreiben Shoghi Effendi’s (in Irán hatte ich es im übrigen gar nicht mit) und unsere Bekanntschaft mit Martha Root. Und wohl auch das trug dazu bei, daß meine Hochschätzung eines religiösen Gedankens unverkennbar aufrichtig gemeint ist.
Die mit ihnen verbrachten Abende waren — wie alles für mich in Irán — ungemein schön. Wir haben dabei viel gelernt, vor allem zur Läuterung unserer eigenen Seele.
Die iranischen Bahá’í sind unerschütterlich glaubensfest. Ihre Festigkeit wurzelt nicht in Unwissenheit. Die iranische Ethik verleiht ihnen den Hang zur Überschwenglichkeit, der Kampf gegen den herrschenden Islám und die Schroffheit gegen denselben. Alles übrige ist wohl ihrer Lehre anzurechnen: sie sind ungemein hilfsbereit und opferfreudig. Getreu erfüllen sie ihre Amts- und Berufspflichten. Längst haben sie das Problem der morgenländischen Frau gelöst. Ihre Kinder werden sorgfältig erzogen.
Die im Abendlande gewonnene Erfahrung wurde mir auch im persischen Morgenlande vollends bestätigt. Der Bahá’í-Glaube ist unzweifelhaft ein unschätzbarer Kulturwert. Oder würden auch ohne ihn alle jene Menschen, deren hohe Sittlichkeit ich bewunderte und bewundere, die gleiche Stufe, nur in anderer Form, erreicht haben? Oder beruht es nur in der Neuheit der Lehre und in der Frische ihrer ersten und nächsten Anhänger?
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