Sonne der Wahrheit/Jahrgang 16/Heft 9/Text

Aus Bahaiworks
Wechseln zu:Navigation, Suche

[Seite 127]

SONNE

DER WAHRHEIT
 
 
Organ der Bahá’í
in Deutschland und
Öesterreich
Heft 9 16. Jahrgang November 1936


[Seite 128]

Die Bahá’í-Lehre,[Bearbeiten]

die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.

Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.

Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.

Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.

Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“

Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.

Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.

Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.


[Seite 129]

SONNE DER WAHRHEIT
Organ der Bahá’í in Deutschland und Österreich
Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198
Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo
Verwaltung: Paul Gollmer Begründet von Alice Schwarz-Solivo
Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark
Heft 9 Stuttgart, im November 1936
Qudrat — Kraft 93
16. Jahrgang

Inhalt: Nabíl’s Erzählung: Die Einkerkerung des Báb in der Burg von Máh-Kú. — Unsere Reise nach Haifa. — Die 5. Bahá’í-Sommerwoche bei Eßlingen. — Besuch in der Bahá’í-Sommerschule Louhelen-Ranch.



Erlösung aus Schwierigkeiten

Gibt es irgend einen Erlöser aus Schwierigkeiten außer Gott? Sprich: „Gelobt sei Gott! Er ist Gott! Alle sind Seine Geschöpfe und alle stehen unter Seinem Gebot.“

Báb



Nabíl’s Erzählung[Bearbeiten]

Übersetzung aus „The Dawn-Breakers“, Nabíl’s Narrative of the early days of the Bahá’í Revelation, New York 1932


Aus Kapitel XIII: Die Einkerkerung des Báb in der Burg Máh-Kú

(Fortsetzung)


Dieses merkwürdige Erlebnis von ‘Alí Khán vertiefte die Ehrerbietung in seiner Haltung dem Báb gegenüber, Sein Glaube an die Macht Seiner Offenbarung wurde immer größer und seine Ergebenheit wuchs stark. In der Haltung eines niederen Ergebenen folgte er Mullá Ḥusayn, bis sie das Burgtor erreichten. Sobald Mullá Ḥusayn das Antlitz seines Herrn erblickte, der auf der Schwelle des Tores stand, hielt er sofort an, neigte sich tief vor Ihm und trat still zur Seite. Der Báb streckte Seine Arme aus und drückte ihn herzlich an Sich, nahm ihn bei der Hand und führte ihn in Sein Zimmer. Dann rief Er Seine Freunde herbei und feierte mit ihnen das Fest Naw-Rúz. Schüsseln mit Süßigkeiten und auserlesenen Früchten wurden vor Ihn gestellt. Er verteilte diese unter die versammelten Freunde und sprach, indem Er Mullá Ḥusayn einige Quitten und Äpfel anbot: „Diese köstlichen Früchte kamen zu uns aus Milán, dem Arḍ-i-Jannat1), und sind besonders zu diesem Fest gepflückt und ausersehen worden durch den Ismu’lláhu’l-Fatíq Muḥammad-Taqí.“

Bis dahin hatte keiner der Jünger des Báb, außer Siyyid Ḥusayn-i-Yazdí und seinem Bruder, die Erlaubnis erhalten, die Nacht über in der Burg zu bleiben. An diesem Tage kam ‘Alí Khán zum Báb und sagte: „Wenn es Euer Wunsch ist, Mullá Ḥusayn diese Nacht hier zu behalten, entspreche ich gerne Eurem Wunsch, denn ich habe keinen eigenen Willen mehr. Solange Ihr ihn hierbehalten wollt, gelobe ich, Eurem Wunsche zu gehorchen.“ Die Jünger des Báb kamen nun weiterhin in immer größerer Menge nach Máh-Kú und wurden gleich und ohne jede Schwierigkeit zu Ihm vorgelassen. [Seite 130]

Eines Tages, als der Báb in Gesellschaft von Mullá Ḥusayn vom Dache der Burg aus die Landschaft der Umgebung betrachtete, schaute Er auch nach Westen, und wie er dort drunten den Araxes seine Wasser in Windungen in die Ferne hinziehen sah, wandte Er Sich an Mullá Ḥusayn und sprach: „Dies ist der Strom und dies sind seine Ufer, von denen der Dichter Háfiz geschrieben hat: „O Zephir, solltest du die Ufer des Araxes berühren, so hauche einen Kuß auf die Erde jenes Tales und trage deine Düfte dahin. Heil, tausendmal Heil sei dir, o du Wohnsitz von Salmá! Wie traut ist die Stimme deiner Kameltreiber, wie lieblich das Läuten ihrer Glocken!“ — Die Tage deines Verweilens in diesem Land gehen zu Ende. Doch um der Kürze deines Hierseins willen, wollen wir dir den ‚Wohnsitz von Salmá‘ zeigen, wie wir deinen Augen die Ufer des Araxes gezeigt haben.“ Mit dem „Wohnsitz von Salmá“ meinte der Báb die Stadt Salmás, die in der Nähe von Chihríq liegt und welche die Türken als Salmás bezeichnen. Der Báb fuhr fort und sprach: „Es ist der unmittelbare Einfluß des Heiligen Geistes, welcher Worte wie diese von den Lippen der Dichter strömen läßt, deren Sinn sie oft selbst nicht zu begreifen fähig sind. Der nächste Vers ist auch göttliche Eingebung: ‚Shíráz wird in Aufruhr gestürzt, ein Jüngling mit honigsüßer Zunge wird erscheinen. Ich fürchte, daß der Atem seines Mundes Baghdád erschüttern und umstürzen wird.‘ Das Geheimnis, das in diesen Versen liegt, ist nun enthüllt, es wird offenbar werden in dem Jahr, das nach Hín2) kommen wird.“ Dann sagte der Báb den wohlbekannten überlieferten Spruch: „Schätze liegen unter dem Throne Gottes verborgen. Der Schlüssel zu diesen Schätzen ist die Zunge der Dichter.“ Er erzählte sodann Mullá Ḥusayn jene Begebenheiten, die in Zukunft bekannt werden müssen und gebot ihm, mit niemandem darüber zu sprechen, „Einige Tage nach deiner Abreise von hier“, belehrte ihn der Báb, „werden sie Uns auf einen anderen Berg verbringen. Ehe du an deinen Bestimmungsort gelangst, wird dich die Kunde von Unserer Abreise von Máh-Kú erreicht haben.“

Die Voraussage, die der Báb ausgesprochen, erfüllte sich genau so. Jene, die den Auftrag hatten, insgeheim das Tun und Lassen von ‘Alí Khánzu beobachten, sandten an Ḥájí Mirzá Áqásí einen eingehenden Bericht, in dem sie sich über seine außerordentliche Ergebenheit gegen den Gefangenen ausließen und Vorfälle beschrieben, die ihre Behauptungen erhärteten. „Tag und Nacht“, so berichteten sie, „ist der Schloßvogt von Máh-Kú mit seinem Gefangenen unter Bedingungen uneingeschränkter Freiheit und Freundschaftlichkeit beisammen. ‘Alí Khán, der sich hartnäckig geweigert hat, seine Tochter mit dem Erben des Thrones Persiens zu verheiraten, mit der Begründung, daß ein solcher Akt die sunnitischen Verwandten seiner Mutter so rasend machen würde, daß sie unverzüglich ihn und seine Tochter töten würden, ist nun mit schärfstem Eifer bestrebt, dieselbe Tochter dem Báb zu vermählen. Letzterer hat es zurückgewiesen, aber ‘Alí Khán besteht weiterhin auf seiner Bitte. Doch trotz der Weigerung des Gefangenen, mag die Hochzeit der Tochter bereits erfolgt sein.“ ‘Alí Khán hatte diese Bitte tatsächlich vorgebracht, und hatte sogar Mullá Ḥusayn gebeten, sich für ihn beim Báb zu verwenden; aber es mißlang ihm, Seine Einwilligung zu erhalten.

Diese übelwollenden Berichte hatten einen unvermittelten Einfluß auf Ḥájí Mirzá Áqásí. Angst und Empfindlichkeit trieben wieder den launenhaften Minister dazu, einen entschiedenen Befehl zur Verbringung des Báb nach der Burg Chihríq zu erlassen.

Zwanzig Tage nach Naw-Rúz nahm der Báb Abschied von den Bewohnern von Máh-Kú, die im Verlauf Seiner neun Monate langen Gefangenschaft in hohem Grade die Macht Seiner Persönlichkeit und die Größe Seines Charakters erkannt hatten. Mullá Ḥusayn, der bereits auf Geheiß des Báb von Máh-Kú abgereist war, war noch in Tabríz, als die Nachricht der vorausgesagten Verbringung seines Meisters ihn erreichte. Als der Báb Mullá Ḥusayn Sein letztes Lebewohl sagte, richtete Er folgende Worte an ihn: „Du bist zu Fuß den ganzen Weg von deiner Heimat bis hierher gegangen. Zu Fuß mußt du ebenso zurückkehren, bis du deinen Bestimmungsort erreichst, denn deine Tage als [Seite 131] Reitersmann werden erst kommen. Du bist dazu ausersehen, solchen Mut zu zeigen, solche Geschicklichkeit und solches Heldentum, daß sie die größten Taten der Helden alter Zeiten verdunkeln werden. Deine kühnen Heldentaten werden das Lob und die Bewunderung der Bewohner des ewigen Königreichs gewinnen. Du solltest auf deinem Weg die Gläubigen von Khuy, Urúmíyyih, Marághih, Mílán, Tabríz, Zanján, Qazvín und Ṭihrán aufsuchen. Einem jeden wirst du den Ausdruck Meiner Liebe und zärtlichen Zuneigung überbringen. Du wirst dich bemühen, ihre Herzen aufs neue mit dem Feuer der Liebe der Schönheit Gottes zu entflammen, und wirst versuchen, ihren Glauben an Seine Offenbarung zu festigen. Von Ṭihrán aus solltest du dich nach Mázindarán wenden, wo Gottes verborgener Schatz dir gezeigt werden wird. Du wirst zu Taten von solcher Größe berufen werden, daß sie die höchsten Leistungen der Vergangenheit klein erscheinen lassen. Die Art deiner Aufgabe wird an jenem Ort dir gezeigt werden, und Kraft und Führung werden dir verliehen werden, daß du befähigt seiest, deinen Dienst für Seine Sache zu erfüllen.“

Am Morgen des neunten Tages nach Naw-Rúz machte sich Mullá Ḥusayn auf Geheiß seines Meisters auf den Weg nach Mázindarán. An Qambar-'Alí richtete der Báb folgende Abschiedsworte: „Der Qambar-'Alí eines vergangenen Zeitalters mag sich darüber freuen, daß sein Namensvetter einen Tag erleben durfte, nach dem sogar Er3), der Herr seines Herrn, vergebens seufzte, von dem Er mit großer Sehnsucht gesagt hat: Ich wollte, Meine Augen könnten das Angesicht Meiner Brüder schauen, die den Vorzug besaßen, Seinen Tag erleben zu dürfen.“


1) Wörtlich: Land des Paradieses.

2) Nach dem Abjad-System in den Zahlenwert des Wortes „Hín“ 68. Im Jahre 1268 d. H. war Bahá’u’lláh im Síyáh-Chál in Ṭihrán gefangen und empfing dort die ersten Ankündigungen Seiner Sendung. Darauf spielte Er in den Oden an, die Er in jenem Jahre offenbarte.

3) Bezieht sich auf den Propheten Muḥammad.



Unsere Reise nach Haifa[Bearbeiten]

Tagebuchblätter von Alice Schwarz-Solivo.

Am 16. April gegen 19 Uhr fuhren meine Freundin Edith Horn und ich, geleitet von den Meinen und manchen treuen Bahá’í-Freunden, die uns nicht genug an guten Wünschen und Grüßen an Shoghi Effendi auftragen konnten, vom Stuttgarter Bahnhof ab. Um Mitternacht erreichten wir in München den Sonderzug, der die Reisenden der „Monte Rosa“ nach Genua bringen sollte. Der Zug war stark besetzt mit Reisenden aus allen Gauen. Als der Reiseführer seiner Aufgabe entsprechend die Abteile besichtigte, bat er uns, ihm zu folgen und er verschaffte uns ungleich bessere Plätze als die bis dahin mühsam errungenen. Bald kamen wir in ein Gespräch mit einem jungen Ehepaar aus Württemberg, das uns die ganze Reise über zugetan blieb. An der österreichischen Grenze wurden die Pässe genau kontrolliert; vier der Mitreisenden hatten versäumt, ihr Visum bei der heimischen Polizei vorzulegen und wurden trotz flehentlicher Bitten an die Grenzbeamten zurückgewiesen. Es blieb ihnen nichts übrig als sich in ihr Geschick zu finden. Den Dampfer erreichten sie nicht mehr, sollen aber von der Reisegesellschaft ihre Ausgaben für die Mittelmeerreise zurückerstattet erhalten haben.

Der Morgen des 17. April dämmert herauf; unser Reiseführer erscheint wieder im Abteil: „Meine Herrschaften, ich muß Sie leider bitten, Ihr Gepäck bereit zu halten, in einer halben Stunde müssen Sie den Zug verlassen, ein Bergsturz ist auf die Bahnstrecke niedergegangen; die Strecke muß erst geräumt werden. Sie werden in Autobussen nach Bozen gebracht.“ Wir waren einem großen Unglück entgangen. Es war das kleinere Übel, über vier Stunden, am regenfeuchten Frühmorgen im Eingang einer kalten Garage auf den Handkoffern sitzend, die Gelegenheit abzuwarten, bis die ellenbogenstarken 400 Passagiere mit ihrem Gepäck in die langsam verkehrenden drei bis vier Autobusse verladen waren, die auf dem Rückweg wieder jene Reisenden einbrachten, die in entgegengesetzter Richtung fuhren. Zwei große Gepäckstücke fehlten uns, die uns aber ein freundliches Geschick im letzten Augenblick wieder zuführte. Wir brauchten einen Träger und [Seite 132] hatten kein italienisches Geld. Als aber meine Freundin ihre Tasche unter vielem fremden Gepäck aufnimmt, liegt vor ihr eine Lira am Boden — gütige Vorsehung — der Faccino war befriedigt!

Obgleich wir unter den letzten waren, erhielten wir sehr gute Plätze und kamen am Abend nach 26stündiger Reise in Genua an. Dort trafen wir an der Paßkontrolle mit unseren beiden Mitreisenden Berta Bopp und Paul Gollmer, die einen Tag früher als wir Stuttgart verlassen hatten, zusammen. Und nun waren wir endlich an Bord der „Monte Rosa“. Man muß erst ein wenig warm werden und etwas genießen, bevor man sich wohl fühlen kann, denn wir waren doch ziemlich verwettert. Ich machte meine seidenen Vorhänge an beiden Seiten meines Bettes in dem luftigen großen Saal — Wohndeck 3 — auf und fand es geraten, nach einem guten Abendessen sofort zu Bett zu gehen.

Die Nacht war rauh, stürmisch, kalt, ebenso am nächsten Tag, dem 18. April. Viele Mitreisende suchten ihr Heil in ihrer Lagerstätte und wollten wenig mehr von der Welt wissen. Trotz der verschiedentlich sehr rauhen See blieben meine Freundin und ich seetüchtig.

Am 19. April sind die weißen Schaumkronen auf den Wogen noch breiter; kalter Wind; an Deck ist kaum ein geschützter Platz für den Liegestuhl zu finden. Im Speisesaal sitzen wir vier uns gegenüber, es schließt sich uns ein Dr. Sch. aus Dresden an, Bibliothekar an der Sächs. Staatsbibliothek und bleibt bis zum Ende der Reise ein angenehmer, wohl orientierter Reisemarschall, besonders auch auf der Rückreise über Rhodos, Corfu, Ragusa und Venedig.

Wir landen in Palermo, besichtigen den Monreale mit der großartigen Kathedrale und das Kloster mit dem weltberühmten Kreuzgang. Dann im Stadtinnern den Dom mit den Königsgräbern aus der Normannen- und Hohenstaufenzeit, Kaiser Heinrich’s VI. und dessen Sohn Friedrich II. Wir gehen nach dem königlichen Schloß mit der berühmten Capella Palatina. Die Zitronenbäume und Orangenhaine, die herrlichen Palmen und Kakteenhecken erfreuen den Blick. Palermo wird die „goldene Muschel“ genannt, dank ihrer herrlichen Orangenhaine, die von der Meeresbucht zu den Höhenzügen hinanführen.

Am 20. April: wieder stürmische See, kalt, leichter Regen, prachtvolle Wolkenbildung am Abend. Viele Passagiere seekrank.

21. April: auf hoher See, stürmisch, hoher Wellengang, besonders nachts.

22. April: stürmische See, um 10 Uhr verhüllt sich die Sonne in gelbem Dunst; bis zur Landung am nächsten Morgen befinden wir uns in einem Sandsturm, in dicker, goldener Luft. Der ganz feine Sand senkt sich allmählich herab; es ist unbeschreiblich schön und ° eigenartig. Weder Sonne noch Meer sind mehr zu sehen. Plötzlich heult die Sirene mit dreimaligem Signal auf — knapp an uns vorüber fährt ein italienischer Frachtdampfer; sehr wenig fehlte zu einem Zusammenstoß. An der Takelage leuchten Scheinwerfer auf, Wachen sind aufgestellt und die Sirene gibt bis zum anderen Frühmorgen in kurzen Pausen ihre Signale. Eine solche Naturerscheinung auf hoher See ist außerordentlich selten. Der Kapitän verliert den Kurs; wir fahren nahezu zwei Stunden im Kreise und finden den Hafen von Port Said nicht. Endlich landen wir am 25. April auf afrikanischer Erde. Im Hafen von Port Said liegen verschiedene Kriegsschiffe und Militär-Transportdampfer. Eine Unzahl schwarzer Kohlenträger rennen mit ihren Tragkörben die schmalen Laufdielen an letzteren auf und ab, eingehüllt in eine Wolke schwarzen Kohlenstaubs. Dennoch winken sie und grüßen das stolze deutsche Schiff. — Es sind dies die ärmsten der Armen, für die in keiner Weise soziale Einrichtungen bestehen. ‘Abdu’l-Bahá sagte einstmals bei deren Anblick, daß für diese Leute, deren Lungen und Poren mit Kohlenstaub durchsetzt sind, luftige Wohngebäude mit Badeeinrichtungen und Ruhehallen geschaffen werden müssen — es scheint noch weit bis dahin zu sein —.

Im Hafen selbst ist viel Lärm und Geschrei. Kleine, mit Waren beladene Boote mit eifrig anpreisenden Händlern kommen heran, Taucher, die nach Geldmünzen jagen, in ihrer Begleitung, und auch schon beginnt ein Geschäftsverkehr zwischen den Eingeborenen und den Reisenden. Wir gehen an Land und in die Hauptstraßen mit teilweise herrlichen Geschäftshäusern und ihren wirklich [Seite 133] geschmackvollen und üppigen Auslagen; dazwischen wieder sehr armselige Häuser. Besonders auffällig sind die schwachen und kleinen Pferde, die dem Fremdenverkehr dienen. Durch das zu lange Verbleiben an Deck im gestrigen Sandsturm habe ich mir eine Kehlkopfentzündung zugezogen und muß infolge Fiebers den Nachmittag über liegen, abends fällt das Fieber.

24. April: Meldung von großen Unruhen in Haifa; wir können die vorgeschriebene Fahrt nach Haifa nicht einhalten. Verbot, im Hafen anzulegen. Dagegen Landung in Beirut. Der Tag ist sonnendurchglüht. Am Frühvormittag landen wir im Hafen von Beirut. Vor uns die unvergleichlich schönen Höhenzüge des Libanon mit Spuren von Schnee in 1600 m Höhe. Im Hafen liegen Kriegsschiffe und kurz nach uns fährt ein Militärtransportdampfer mit Fremdenlegionären ein, deren Anlandgehen wir beobachten. In Haifa ist gestern Generalstreik ausgebrochen. Plötzlich übergroße Hitze. Meine Freundin und ich bleiben an Bord, während unsere beiden Glaubensfreunde eine schon viele Jahre in Beirut lebende Deutsche, Frau Grünzweig, aufsuchen, die eine sehr verantwortliche und verdienstvolle Stellung an dem amerikanischen Hospital in Beirut bekleidet.

Abends kommt Mr. Zeine an Bord, um uns ein Begrüßungstelegramm von Shoghi Effendi zu überbringen. Da er uns nicht gleich finden kann, meldet er bei der obersten Schiffsleitung den Wortlaut der Drahtnachricht und eine herzliche Einladung an die deutschen Bahá’í zu einem Besuch am nächsten Vormittag bei dem Präsidenten der Universität in Beirut an. Wir freuten uns sehr, diese Bekanntmachung „als sehr wichtig“ im ganzen viermal von der Kommandobrücke aus zu vernehmen. Mr. Zeine, ein junger Bahá’í und Lehrer an der Universität, blieb eine Stunde mit uns zusammen, auch Frau Grünzweig kam hinzu und wir trafen Verabredungen für den nächsten Tag.

25. April: Heißer Sommertag. Wir wandern durch die Stadt — groß im Umbau und Niederreißen alter Stadtviertel; neue Straßen mit modernen Gebäuden zwischen rein orientalischen Vierteln. Eine neue Moschee, mit einem Laden in Verbindung. Wir gelangen in den ausgedehnten Bereich der Universität, in die, von Gärten umgeben, auch das Spital einbezogen ist. In einem besonders gelegenen Haus lehrten und betreuten Mr. Zeine und seine Frau 60-70 jugendliche Schüler, die im Internat sind. Die Lage des Hauses bietet einen herrlichen freien Blick auf die azurblaue See. Das Heim des jungen Paares ist reizend eingerichtet. Eisgekühlte Zitronenlimonade erquickt uns köstlich. Wir schicken ein Telegramm an Shoghi Effendi mit unserem Dank für die Begrüßungsworte auf Asiens Erde.

In geradezu liebevoller Weise von einem jungen arabischen Trambahnschaffner geleitet, kehren wir zum Schiff zurück.

Nachmittags erwartet uns Frau Grünzweig zum Tee in ihrem geschmackvollen Heim. Sie holt uns am Quai ab. Trotzdem sie den Hauptdienst in der Nacht im Spital versieht, hatte sie ihre Ruhestunden geopfert, um alle erreichbaren Bahá’í der Stadt zusammenzurufen. Die Kühle der Räume ist wohltuend bei der großen Hitze. Es nahmen teil Ríyád Rabbani, der jüngste Bruder von Shoghi Effendi und sein Vetter Fu’ád Afnán, die ich beide vor 14 Jahren, bei meinem ersten Besuch in Haifa mit meinem Mann, als Bübchen spielen sah. Letzterer ist ein Sohn von Túbá Khánum und Bruder von Rúhí Afnán, das damalige „Laternenträgerlein“ von 'Abdu'l-Bahá. Zugegen war auch Zahrá Khánum, die Schwester von Dr. Shahíd (die Kinder von Rúḥá Khánum) und mehrere ansässige Bahá’í und Studenten der Universität. Es entspinnt sich eine lebhafte, freudige Unterhaltung, Aḥmad-Decan und seine Schwestern kommen ebenfalls. Ich schrieb einige Zeilen an Shoghi Effendi über die Unwahrscheinlichkeit, in Haifa landen zu dürfen. Ríyád Rabbani sagt uns aber, als wir erörtern, ob wir nicht zu Land Haifa erreichen können, daß, wenn es uns nicht gelänge, zu Shoghi Effendi zu kommen, er uns gewiß in Beirut besuchen werde. Der Landweg für uns ist ausgeschlossen, da Automobile von Arabern beschossen werden.

26. April: Sonntag. Am Vormittag kommen an Bord zu Besuch Ríyád Rabbani, Dr. Shahíd, Mrs. Zeine, Frau Grünzweig, Aḥmad-Decan und Schwester, letztere mit einem Arm voll herrlicher Rosen und Nelken. Die Freunde besichtigen das Schiff und sind unsere Tischgäste. Ríyád ist ein wundervoll stiller Mensch — Künstlernatur, „mir war, als ob [Seite 134] ich die Hände aufs Haupt ihm legen sollt“. Man möchte ihn vor dem Leid der Welt behüten. Ich lud ihn ein, nach Stuttgart zu kommen und sprach mit ihm über italienische und deutsche Kunst; er möchte so gerne studieren, aber er stellt seine eigenen Wünsche zurück, um später seinem Bruder1) helfen zu können. Lange sprach ich mit Dr. Shahíd über die kranke Maryam und die Heilmethoden, die in Deutschland zur Bekämpfung ihrer Krankheit angewandt werden. Aḥmad Decan bringt mir im Auftrag seiner Mutter einen kleinen Perserteppich und Frau Grünzweig sendet mir insgeheim einen kleinen orientalischen Teetisch, der mir in ihrer Wohnung gut gefiel. — Die Freunde bleiben, bis das letzte Verbindungsboot abgeht und die „Monte Rosa“ die Anker lichtet.

Wir nehmen Kurs zurück nach Port Said und sehen beim Sinken der Sonne die zarten Konturen des Karmel, noch ohne jede Aussicht, in Haifa anlegen zu dürfen. Meine Seele sucht die Stätte meiner Sehnsucht und es ist mir, als ob von dort Ströme zu mir herüberflössen. Mich bindet dorthin ein unzerreißbares Band wie zur Heimat. Ein zweites Telegramm von Shoghi Effendi stärkt unsere Hoffnung, doch noch nach Haifa zu gelangen. Vier kostbare Tage sind verstrichen, die wir in Haifa hätten zubringen dürfen.

27. April: In Port Said angelangt, drängt es mich nicht, an Land zu gehen; ich bin müde und traurig. Sollte doch alles umsonst sein und wir vor den Toren gestanden haben und doch gezwungen sein, den Rückweg anzutreten? Da geschieht das Wunder — am Nachmittag wird plötzlich von der Kommandobrücke durchgegeben, daß die „Monte Rosa“ morgen früh im Hafen von Haifa anlegt. Im Innersten aufgewühlt, erwarte ich den Morgen.

28. April: Strahlende Sonne, weiße ziehende Wolkengebilde. Das Schiff nähert sich der Küste. Mein Blick sucht das heilige Grab. Welche Veränderung am Karmel! Paläste, Wohnhäuser, ganz neue hochmoderne Stadtviertel in weiter Ausdehnung. Die Stadt ist um ein Vielfaches vergrößert. Ich finde den heiligen Hain und erkenne das flache Dach des Mausoleums.

Fugeta wartet unser, er kann sich vor Freudenbezeugung und Ungeduld nicht lassen. Endlich auf Palästina’s Boden. Wir passieren die Zollrevision. Die Männer werden auf Waffen untersucht. Wir fahren zum Pilgerhaus.

Ḥusayn Rabbani heißt uns aufs herzlichste willkommen im Namen des Hüters, führt uns in unsere Zimmer und zeigt uns das Gästehaus, entworfen von Charles Mason Remey. Wir besteigen das flache Dach und schauen auf der einen Seite über die Stadt hinweg aufs Meer, auf der anderen Seite auf den Karmel. Im Garten steht ein ausladender Baum, über und über bedeckt mit lavendelblauen Blütenkelchen, ganz ohne Grün, vor der weißleuchtenden Front mit der Freitreppe. Üppiges Gerank von lichten Rosen strebt über die Terrasse nach unseren Fenstern. Ich habe von den Blumen aus Beirut mitgebracht und stelle sie im Besuchsraum auf den Schreibtisch. Nächsten Morgen überrascht uns ein herrlicher Blumenstrauß — ein Gruß aus den Bahá’í-Gärten.

Der Gong ertönt — Shoghi Effendi erwartet uns im Speisezimmer. Mit strahlendem Blick, mit ausgestreckter Hand tritt er uns entgegen, bewillkommnet uns und sagt, daß wir uns hier daheim fühlen sollen. Er weist mir den oberen Platz am Tisch an und setzt sich mir zur Rechten. Die anderen Freunde nehmen anschließend Platz.

Vor 14 Jahren sah ich ihn zum ersten Male, es war kurz nachdem er in sein verantwortungsvolles und unabsehbar großes Arbeitsfeld als Hüter der Sache Gottes eingetreten war. Wenn er mir damals schon als einmalig erschien, ist dies heute noch in weit größerem Maße fühlbar. Die Stimme Shoghi Effendi’s ist laut und klar. Es geht von ihm eine Macht aus, die seine Größe kennzeichnet und die für seine Jahre etwas ganz Ungewöhnliches ist. Obgleich zart von Gestalt — die Hände sind sehr schmal — erscheint er überragend. Er ist eine ganz große Persönlichkeit, sehr positiv und es geht von ihm eine strahlende Liebe aus, die mich tief erschütterte. Mein Wunsch war, ich möchte vor ihm bestehen können — denn durch 'Abdu’l-Bahá’s Vertrauen, das Er mir entgegenbrachte, legte Er mir zugleich eine große Verantwortung auf — und daß er zugleich mein tiefes Vertrauen und meine Treue zu ihm in meinem Herzen lesen möge. [Seite 135] Mir wurde bewußt, daß er von einer großen Kraft getragen, sich mit völliger Hingabe und Selbstaufopferung seiner hohen Berufung weiht. Fr erkundigte sich eingehend nach dem Fortschritt des Bahá’í-Glaubens in Deutschland. Sehr erstaunt war ich, als ich ihm die Liste der eingetragenen Gläubigen vorlegte und er bereits anderen Tages diese aufs genaueste mit einer von früher vorliegenden verglichen hatte und verschiedene Änderungen feststellte. Erstaunlich ist auch sein Gedächtnis und seine ganz genaue Kenntnis des einmal Gehörten während der Anwesenheit meiner Freundin im vergangenen Jahr. Er trug einen Überzieher und eine persische Kopfbedeckung in schwarz. Ḥusayn Rabbani, sein Bruder, trägt einen roten Fez. Auffällig ist die Ehrerbietung, die ihm von seiten seines Bruders und der ganzen Familie entgegengebracht wird und wie sich ersterer dienstbereit hält für jede Handbewegung Shoghi Effendi’s.

Wir sprachen über die Bahá’í-Gebote der täglichen Gebete und des Fastens. Über Bahá’í-Gesetze und -Prinzipien sagte Shoghi Effendi: „Die Prinzipien sollen nicht mit den Gesetzen verwechselt werden. Sie sind auseinander zu halten. Die Gesetze sind von Bahá’u’lláh geoffenbart worden und weder 'Abdu'l-Bahá noch ein Hüter können dieselben abändern. Es ist allein dem „Haus der Gerechtigkeit“ das Recht verliehen, im Wandel der Zeiten hinzugefügte Gesetze abzuändern oder außer Kraft zu setzen oder neue Gesetze zu erlassen, jeweils nach den Bedürfnissen der sich entwickelnden Menschheit.“

„Abdu’l-Bahá verkündete die heilige Lehre und sprach nur von den Prinzipien, aber niemals von den Gesetzen Bahá’u’lláh’s, da zu jener Zeit die Prinzipien den Menschen gebracht werden mußten. Die Gesetze kommen in der Zukunft zur Einführung. Auch ich habe bisher nur zwei der Gesetze Bahá’u’lláh’s den Gläubigen zur Pflicht gemacht2).“

Shoghi Effendi blieb bis nach drei Uhr bei uns am Tisch. Er erkundigte sich nach unserem persönlichen Wohlergehen. Er frug, ob uns die persischen Gerichte mundeten und sagte, daß die Hauptmahlzeit der Perser in Reis bestünde, etwa wie die Kartoffelgerichte in Deutschland. Es wurde bei den täglichen Hauptmahlzeiten in jeder Weise Rücksicht auf uns genommen. Die Tafel war sehr hübsch gedeckt und jeden Tag schmückte eine edle Blume die große flache Glasschale, die den Tisch zierte. Beim Gehen wünschte uns der Hüter, daß wir uns hier wohl und ganz daheim fühlen möchten.

Am Nachmittag ließ uns die Mutter Shoghi Effendi’s, Díyá Khánum, zu sich bitten. In dem Empfangsraum des Hauses, das einst der Meister bewohnt hatte und in dem ich das „Größte heilige Blatt“3) kennenlernen durfte, empfing sie uns. Zugegen war die Gattin ‘Abdu’l-Bahá’s, Muníríh Khánum, heute eine Greisin von etwa 80 Jahren. Sie spricht nicht Englisch und so mußte ihre Tochter Díyá Khánum uns ihr liebevolles Willkomm übermitteln. Sie sagte unter anderem, daß wir mit der Sprache des Herzens uns verständigen müßten, da wir uns des Wortes nicht bedienen könnten. Sie ist heute noch die Einzige, welche die schwere Verfolgungszeit im Gefängnis in 'Akká durchlitt und die treu an der Seite des Meisters zu allen Zeiten stand. Dann kam noch Mihr-Angíz, die jüngste Schwester Shoghi Effendi’s, eine sehr intelligente, lebhafte junge Dame, die vorzüglich Englisch spricht und ihren künftigen Besuch in Deutschland versprochen hat. Wir blieben lange bei den hochverehrten Frauen dieses gesegneten Hauses. Dann nahmen wir unsere Abendmahlzeit mit Ḥusayn Rabbani zusammen ein und gingen dann bald auf unsere Zimmer, um über das Erlebte unsere Gedanken auszutauschen und uns zu sammeln. Es ist ein eigen Gefühl, die tiefe Ruhe und den Frieden in der Nähe Shoghi Effendi’s zu verspüren.

Über alles Erwarten in dieser Jahreszeit war ein heftiger Regenschauer in der Nacht niedergegangen. Trotzdem die Feuchtigkeit bald allenthalben aufgesogen war, prankten die blühenden Louginville und die Glizinienbäume in herrlicher Frische.

29. April: Nach dem Frühstück, das uns Fugeta auf englische Art bereitete, kam Ḥusayn Rabbani, um uns „die Gärten der Bahá’í“ zu zeigen. Das Auto von Shoghi Effendi brachte uns dahin, vorüber an dem Tempel aus weißem Marmor, der sich als letzte Ruhestätte des „Größten heiligen Blattes“ gegen die Himmelsbläue abhob, inmitten [Seite 136] eines Blumenhains, links der Fahrstraße. Was hat die sorgende Hand Shoghi Effendi’s aus dieser Felsenwüste gemacht! Um jede Einzelheit hat er sich sorgsam bemüht, er hat die Entwürfe zur Anlage der Terrassen selbst angefertigt und die Schwierigkeiten des teilweise sehr steilen Geländes sehr glücklich gelöst. „Die Gärten der Bahá’í“, bald weltbekannt, harren noch der Vollendung der untersten Terrasse. Diese Terrassen, 18 an der Zahl, sollen die Namen „der Buchstaben des Lebendigen“ erhalten und damit setzt der Hüter diesen ersten Jüngern des Báb ein unvergängliches Denkmal. Von der deutschen Kolonie bis zum Grabmal führen neun Terrassen, daran anschließend erheben sich neun weitere Terrassen bis zum Gipfel des Karmel. Ob die Ruhestätte von ‘Abdu’l-Bahá im Mausoleum verbleiben wird, ist noch fraglich und harrt späterer Entscheidung.

Wir waren begeistert von der Schönheit der Anlagen und der Blumenpracht. Ein breiter Streifen Land gehört, noch nicht angelegt, zu den Gärten, die in künftiger Zeit ein blühendes Eiland zwischen dem alsdann überbauten Karmel bilden werden. Wie rasch erfüllt sich die Prophezeiung ‘Abdu’l-Bahá’s aus dem Jahr 1914, daß Haifa eine moderne, in der Nacht lichtüberflutete Stadt sein werde, die, mit ‘Akká verbunden, einen unbeschreiblich schönen Anblick darbieten werde.

Und nun kam für uns der langersehnte, erhabene Augenblick — die Tore zu den heiligen Gräbern taten sich auf. Wir legten die Schuhe ab und betraten das Gemach, an dessen Schwelle der Gläubige, in tiefster Seele erschüttert, des Lebens und Leidens des Báb gedenkt, der Manifestation Gottes, der zugleich den Morgenanbruch einer neuen Epoche verkündete, die Bahá’u’lláh heraufführen sollte. — An meinem Geiste zog sein heiliges Leben vorüber, ich mußte aller Leiden gedenken und seines gottverliehenen Mutes, zu leben und zu sterben für seine heilige Aufgabe.

Das innere Gemach, unter dem der Báb ruht, ist herrlich geschmückt mit prachtvollen Teppichen und Beleuchtungskörpern. „Laß o Welt, o laß mich sein“, alles Irdische versinkt im Gefühl göttlichen Waltens, das Bewußtsein, in Gottes Liebe ruhen zu dürfen, senkt sich auf das Herz, und ergriffen von Dankbarkeit löst sich seelische Empfindung aus, die jenseits jeden Erdenwunsches steht. Es ziehen Bilder am geistigen Auge vorüber, geliebte Menschen, die von uns gegangen, Freunde und Vertraute, für die wir den Segen Gottes erflehen. Nur Liebe, nur Mitgefühl für alle bewegt die Seele, hingegeben im Bewußtsein der eigenen Nichtigkeit gegenüber dem ganz Großen. Ich hatte am Grab des Báb ein wunderbares Erleben, ein geistiges Schauen.

Das zweite eiserne Tor öffnete sich für uns. Ich kniete an der Schwelle des Grabes von 'Abdu'l-Bahá. Nachdem ich mich etwas gesammelt hatte, hörte ich, wie auch schon zuvor an der Schwelle des Báb, Husayn Rabbani das Besuchstablet singen. Wie rücksichtsvoll von ihm, erst unseren Gebeten Zeit zu gönnen. Das Grab des Meisters ist erfüllt von einer hochheiligen Atmosphäre — und für mich versank die ganze Umgebung in einer seelischen Erschütterung, die mir das Auge für die Welt schloß und die Seele in Schwingung versetzte.

Auch hier stehen große Vasen mit Blütenzweigen, so daß das Gemach erfüllt ist mit süßen Düften. Nur schwer löst man sich von dieser heiligen Stätte.

Die Zeit war zu kurz bemessen, um noch an diesem Vormittag das Archiv zu besuchen, das anschließend an das Mausoleum neu erbaut wurde. Das Auto brachte uns noch eben rechtzeitig zum Gästehaus zum Mittagstisch.

Mit Sehnsucht erwarteten wir Shoghi Effendi, der in lebhaftem Gespräch einige Stunden bei uns blieb. Er sagte zu uns unter anderem: „Als Bahá’u’lláh Sein Zelt auf dem Karmel bei dem Zypressenhain aufschlug, gebot Er, daß der Báb hier ruhen sollte und wies mit eigener Hand die Stelle an, wo ‘Abdu’l-Bahá das Mausoleum errichten solle. Dies geschah im Jahr 1886, als noch die Überreste des Báb sich in Ṭihrán befanden. Erst 1908 wurde der Báb auf dem Karmel beigesetzt.

Ob die Ruhestätte von Bahá’u’lláh in Bahjí verbleiben wird, ist nicht bestimmt; die Entscheidung liegt in der Zukunft.“

Auf die Frage, wie sich wohl die Zukunft der Menschheit gestalten werde, erzählte Shoghi Effendi folgendes: „Lord Lamington, ein Freund ‘Abdu’l-Bahá’s, jedoch nicht Bahá’í, frug ihn, wie sich die Zukunft der Welt nach dem Krieg von 1914 gestalten werde. Des Meisters Antwort lautete: ‚Die [Seite 137] Gegenwart ist trübe, die dunkelste Zeit wird daraufhin folgen, dann aber wird die Zukunft licht! Dies wird aber dann erst der Anfang zu der Entwicklung der Menschheit auf eine höhere geistige Stufe sein. “ Shoghi Effendi fährt fort: „Man kann diese Entwicklung vergleichen mit einem Jüngling, der zum Manne heranreift, aber erst im Beginn dieser Entwicklung steht. Einen Zwanzigjährigen kann man nicht mit einem Mann in seinen besten Jahren der Reife vergleichen. Ein junger Mensch im 18. Lebensjahr entwickelt sich auf eine geheimnisvolle Weise, die man nicht kennt und während der er allerlei Unheil anstiften kann, was er selbst nicht kontrollieren kann. Die ganze Welt steht heute in einem solchen Stadium, das einem Beginn der Reife vorangeht.“

Im weiteren Verlauf dieses Tischgesprächs sagte er: „Die Geschichte wiederholt sich immer wieder. Wie einst die Juden das verachtete Volk wurden, da sie Christus verwarfen, so werden die Araber das gleiche Los erfahren, da sie Bahá’u’lláh’s Lehre verworfen haben. Ein Zeichen davon sehen wir heute schon darin, daß sie durch die Juden aus ihrem Land verdrängt werden.“ Und wieder kam Shoghi Effendi auf die Entwicklung der Menschen zu sprechen: „Es ist wie einst zu Christi Zeiten in Rom. Es wird ein grundlegender Wechsel im Wesen und in der Erkenntnis der Menschen stattfinden. Heute ist das erste Wetterleuchten zu sehen. Nach schwerer Zeit werden die Menschen in Scharen zu der heiligen Lehre kommen und in eure Reihen treten, wenn schweres Leid über sie hereingebrochen ist, denn Leiden führen dahin. Nur durch Leid und Trübsal können wir zur Reife gelangen.“

Frage: „Wie lange währt es wohl noch bis dahin?“

Antwort Shoghi Effendi’s: „Einhundert Jahre nach der Erklärung4) von Bahá’u’lláh kommt das Zeitalter der Klärung. 1863—1963. Von da an beginnt die Erkenntnis, die allmählich zur Reife und zu der Einheit der Welt führt. Dieses Zeitalter beginnt mit der Erklärung Bahá’u’lláh’s in Riḍván bei Baghdád. Die Einheit der Menschheit bedeutet soviel, daß die Welt einheitliche Gesetze und eine einheitliche Religion annehmen wird.“

Wir hatten es uns so gedacht, daß wir wohl anderen Tags nach Bahjí fahren könnten. Shoghi Effendi sagte uns jedoch, daß wir heute baldmöglichst nach Bahjí aufbrechen sollen, um morgen um 1 Uhr wieder zurück zu sein, denn er wolle unsere Gesellschaft bei Tisch nicht missen. Er sagte dies mit so viel inniger Wärme, daß ich sehr glücklich darüber war.

Das Auto von Shoghi Effendi brachte uns auf einer neuen guten Fahrstraße nach 'Akká. Unterwegs besuchten wir die Grabstätten der Mutter ‘Abdu’l-Bahá’s, Seines im Gefängnis von 'Akká verunglückten Bruders und die der beiden Söhne ‘Abdu’l-Bahá’s, die im Kindesalter starben. Dann fuhren wir zum Garten Riḍván. Noch stehen dort die uralten Maulbeerbäume, unter deren Schatten Bahá’u’lláh dem kleinen Wasserspiel zuschaute und auf der Bank ruhte, die über einen Wasserarm jenes Flusses hinausgebaut ist, der den Riḍván umspült. Es sind jene Bäume, von denen einst Bahá’u’lláh, auf die Bitte Seines Gärtners hin, den Heuschreckenschwarm mit wenigen Handbewegungen und einigen Worten zum Aufsteigen brachte. Das alte Wasserschöpfrad steht noch wie einst, um wie damals die kleinen Becken zu füllen, die sich in spielerischen Wasserläufen ergossen. Mächtige Araukarien breiten ihre symmetrisch gestalteten Zweige aus, breite Blumenbeete sind von hohen Geranienhecken umfaßt.

Das Gartenhaus im Riḍván ist ganz wie einst erhalten. In dem Raume, den Bahá’u’lláh bewohnte, sind alle Möbel wie damals verwahrt. Wie vor 14 Jahren bei meinem ersten Besuch im Riḍván, als ich meine Vergleiche zog zwischen der St. Peterskirche in Rom, in welcher der Stuhl Petri steht — in Stein und Gold geronnene, meisterlich geformte Pracht — hier der im einfachen schwarzen Schrein verwahrte Stuhl, worauf eine dunkelrote Rose lag, die berauschend duftete — so war es auch heute. Der belebende, beglückende Geist, der hier fühlbar ist, bedeutet Leben und Licht.

Wir nahmen einen kurzen Aufenthalt in 'Akká selbst; die Stadt hat sich kaum verändert. Wir sahen das Haus, in dem Bahá’u’lláh 8 Jahre in Verbannung zubrachte. Dann fuhren wir weiter nach dem Palast, Mansion genannt. Einst bewohnte Bahá’u’lláh [Seite 138] nur einen Teil des weitläufigen Baues, wo uns das Zimmer gezeigt wurde, das Professor Browns aus Cambridge in seinem Buch beschreibt. Er war der einzige Europäer, der Bahá’u’lláh begegnete und der Ihn sehr lebenswahr schildert. In diesem herrlichen Palast ist nun eine sehr umfangreiche Bibliothek angelegt. Auch sind viele Erinnerungsstücke aus den Zeiten Bahá’u’lláh’s dort gesammelt. Mit Stolz erfüllte es mich, in einem Raum auch die Aquarelle, die mein Mann auf Wunsch Shoghi Effendi’s von Bahjí und dem Karmel im Jahr 1922 gemacht hatte, an der Wand gerahmt vorzufinden. Auch eine Fotografie des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í von Deutschland und Österreich aus dem Jahr 1935 ist dort verwahrt.

In der einstig bewohnten Halle war Tee von dem freundlichen jungen Gärtner gebraut worden und stand für uns bereit. Wie deutlich war mir dieser Raum im Gedächtnis geblieben mit seinem schweren Holzgebälk an der Decke und der Türe, die nach dem Hausgarten offenstand, in dem ein lichtüberfluteter mit vielen reifen Früchten beladener Zitronenbaum einen prachtvollen Kontrast zu dem Dunkel der Halle bot. Damals stand auf dem Holztisch ein Kristallkrug mit den Blütenbällen süßduftender Mimosen angefüllt, die wir mit vielen Veilchenkelchen auf die Schwelle des Grabes Bahá’u’lláh’s häuften.

Es war ein wunderschöner, sonniger und stiller Spätnachmittag, als wir, geführt von Husayn Rabbani, durch den wohlgepflegten Garten nach Bahá’u’lláh’s Grabgebäude schritten. Der Zugang ist anders geworden. Kandelaber mit elektrischen Lichtwerfern flankieren den mit Kies aus dem Jordan eingelegten Weg. Wir legten die Schuhe ab und betraten mit heiliger Ehrerbietung den hohen, mit Glasdach gedeckten Raum, dessen weiche Läufer jeden Laut aufsaugen. Inmitten dieser Halle ist ein großes herrlich gehaltenes grünes Beet. Auch hier stehen Kandelaber, die völlig von blühendem Asparagus umrankt sind. Die Atmosphäre, die dort herrscht, zwingt den Betenden auf die Knie an der Schwelle des Grabes Bahá’u’lláh’s. Ja, man möchte sich völlig auflösen, um einzufließen in die Heiligkeit und Reinheit dieser Stätte. Dort erlebte ich eine Weihestunde der Seele, an der Schwelle geistiger Erkenntnis des wahren Wesens Bahá’u’lláh’s. Nie werde ich diesen Eindruck vergessen, dem ich keine Worte zu verleihen vermag.

Auch hier große chinesische Vasen mit blühenden Zweigen und Rosen in Fülle. Husayn Rabbani sang das Besuchstablet, das nur hier gebetet wird. Auch er war tief ergriffen, als er am heiligen Grab seines Vorfahren betete. Die Welt versank uns und die Sonne sank. Zurückgekehrt zur Wirklichkeit, schritten wir wieder dem Wohngebäude zu, um die weite Mittelhalle zu betrachten, in deren Mitte ein Tisch mit wertvollen Dokumenten und dem Modell des Bahá’í-Tempels, der in Chicago erbaut ist, aufgestellt sind. In diese Mittelhalle münden die Zimmer, von denen wir einige in dieser Nacht bewohnten. Eine köstliche Abendmahlzeit erwartete uns in der Halle, zubereitet von dem jungen Gärtner des heiligen Hains.

30. April: Am nächsten Morgen nach dem Tee betraten wir noch einmal das Grabgebäude. Der junge Gärtner reichte uns auf der Schwelle Rosenöl, womit ich Stirne und Lippen salbte, wie es mir einst ‘Abdu’l-Bahá in Stuttgart getan. Und noch einmal stieg ein inbrünstiges Gebet zu Gottes Thron, mich als Werkzeug für Seinen heiligen Dienst zu bereiten. Ganz erfüllt von dieser Stunde, nahm ich Abschied von diesem geweihten Ort, den meine Augen wohl zum letztenmal erschaut haben.

Husayn Rabbani wollte uns das „Große Gefängnis“ in 'Akká zeigen. Da jedoch kein Besuchstag war, verweigerte uns der diensthabende Offizier die Besichtigung. Ein Teil des Gefängnisses ist heute als Lazarett eingerichtet, der andere Teil dient zu Gefängnissen für Schwerverbrecher. Wir gingen dann durch die engen Gassen von ‘Akká’s Altstadt. Durch den Generalstreik waren die Läden geschlossen und die Leute standen und saßen müßig auf den Gassen. Indessen war es sehr heiß geworden und so gingen wir zurück zum Bahnhof, um den Rückweg mit dem Zug, der dem Strand entlang führt, anzutreten. Wie einst in Galiläa warfen Fischer ihre Netze ins Meer, indem sie bis an die Hüften hinauswateten, die Netze auswarfen und wieder einholten mit mehr oder weniger glücklichem Fang. — Ziegen- und Schafherden weiden auf dem mageren Sandboden.

Ein Industrieviertel scheint in der Nähe der großen Öltanks geplant zu sein; eine große [Seite 139] Metallgießerei ist dort bereits im Betrieb. Dann fährt die Bahn an dem Viertel der Allerärmsten vorbei. Die einfachsten Gartenhäuser der Schrebergärten sind üppig dagegen. Daß dort der Nährboden für Epidemien ist, steht außer Zweifel. Andererseits Straßen mit den neuzeitlichsten Bauten und erstklassigen Geschäften im jüdischen Stadtviertel. An allen Enden wird emsig gebaut; am Karmel selbst ist das Bauen insofern vereinfacht, als die Bausteine am Bauplatz selbst aus dem Fels gebrochen werden. Viel Leben und Lärm ist in den Straßen. Die deutsche und die persische Kolonie sind dagegen still. Unsere kleinen Wanderungen dahin waren erfreulich. Wenn wir jedoch die Altstadt zu passieren hatten, war Husayn Rabbani darauf bedacht, daß wir als Fremde stets ein Auto benützten: dadurch schien ihm bei den Unruhen in der Stadt unsere Sicherheit gewährleistet.

Shoghi Effendi nahm die Mittagsmahlzeit mit uns ein und sprach über mancherlei sehr Interessantes, darunter auch über Spaltungen innerhalb des Bahá’í-Glaubens wie folgt: „In der Bahá’í-Religion kann keine Spaltung eintreten, da eindeutig und für alle Zeiten die Hüterschaft im Willen und Testament 'Abdu'l-Bahá’s vorgesehen ist. Christus hat wohl auf Petrus hingedeutet, als auf den, auf welchen Er Seine Kirche aufbauen werde, aber Er hat ihn nicht schriftlich dazu eingesetzt. Daraus entstand die Spaltung zwischen Petrus und Paulus, da ersterer den Beweis nicht erbringen konnte, daß Christus ihn zum Oberhaupt ernannt habe. Späterhin, als Luther den Papst angriff, konnte auch dieser keinen Beweis erbringen, daß er der Stellvertreter von Petrus sei.

Ebenso geschah es mit dem Nachfolger Muḥammad’s. Wohl hatte Er mündlich Seinen Neffen und Schwiegersohn 'Alí zu seinem Nachfolger ernannt, aber da Er kein schriftliches Vermächtnis hinterlassen hatte, entstand die Spaltung in Schiiten (die Anhänger von ‘Alí und seiner Imám-Würde) und in Sunniten (die durch Volksabstimmung erwählten Nachfolger Muḥammad’s).“

Frage an Paul Gollmer: „Was würden Sie antworten, wenn Ihnen jemand sagte, daß Sie Spaltungen in der heiligen Lehre hätten?“

Antwort: „Es kann keine Spaltung geben.“

Shoghi Effendi: „Sehr richtig! Man muß ganz klar und präzis antworten. Die Bahá’í-Lehre muß auf das eingehendste und gründlichste studiert werden, damit man auf alle Fragen antworten kann. Die Deutschen sollten persisch lernen, um die Originaltexte aus dem Persischen übersetzen zu können. Bei der Bahá’í-Religion ist eine Zersplitterung durch weise Vorsehung unmöglich gemacht. — Bahá’u’lláh ist eine Manifestation Gottes in einer Zeit fortschreitender Reife der Menschheit, die nun ihren Anfang nimmt und allmählich zu einer ungeahnt seelisch-geistigen Entwicklung führen wird.“

‘Abdu’l-Bahá’s Stufe der Berufung ist eine einmalige und einzig dastehende. Seine Stufe gab es bisher noch nicht und wird auch künftig nicht wieder sein.

Nachdem sich Shoghi Effendi vom Tisch erhoben hatte, wurden wir von der Mutter Shoghi Effendi’s, Síyáh Khánum, eingeladen, die Damen des Hauses zu besuchen.

Da es unsere Zeit erlaubte, machten wir zuvor einen Gang durch den sehr gepflegten Garten um ‘Abdu’l-Bahá’s Haus. Wie viel Sorgfalt hat ‘Abdu’l-Bahá einst darauf verwandt, hier ein kleines Blumen- und Obstparadies zu schaffen. Der Vater Shoghi Effendi’s saß mit einigen vornehmen Persern an einem Tisch im Garten, wir wechselten höfliche Grüße, ohne stören zu wollen.

Im Empfangszimmer der Damen trafen wir Síyáh Khánum, Mihr-Angíz und ihre jüngste lebhafte Tochter, die sehr gut englisch spricht. Síyáh Khánum hat ein sehr edles Angesicht und ist voll unendlicher Güte. Ich höre ihre Stimme so gerne und liebe die Art ihrer Sprechweise. Wir unterhielten uns über den Hüter, den sie mit stiller mütterlicher Treue umsorgt, da sie sieht, wie er in seiner verantwortungsvollen unablässigen Arbeit aufgeht. Auch über Ríyád und Husayn Rabbani sprach ich mit ihr, dieser gesegneten Mutter. Allmählich füllte sich der Saal, da heute Empfang der Bahá’í-Frauen war. Auch herzige Kinder der nächsten Verwandtschaft waren zugegen. Der Samowar stand bereit und Tee wurde in kleinen geschliffenen Gläsern gereicht. Auch Munavvar Khánum, die Gattin von Konsul Jazdi, begrüßte mich; auch ihren Gatten traf ich später, welcher der allen zuvorkommende, wohlaussehende Herr geblieben ist wie damals, als er Gast in unserem Hause in Stuttgart war. Sie wohnen nun für ganz in Haifa. [Seite 140]

Den Abend verbrachten wir mit Husayn Rabbani, der trotz seiner vielen Arbeit und der großen Korrespondenz, die er zu erledigen hat, seine ganze Zuvorkommenheit und Aufmerksamkeit uns Deutschen Bahá’í widmete.

1. Mai: Heute müssen wir Abschied nehmen von Shoghi Effendi, unserem Hüter, und von allem, was uns hier so unendlich teuer war. Dieser letzte Tag war aber wohl der bedeutsamste in Shoghi Effendi’s Gegenwart. Am Vormittag fuhren wir in Begleitung von Husayn Rabbani zu dem Mausoleum, um das Archiv zu besichtigen. Es besteht, wie die Grabstätten auch, aus drei hintereinanderliegenden Räumen. Viele Erinnerungsstücke an Bahá’u’lláh und an ‘Abdu’l-Bahá sind hier liebevoll aufbewahrt. Von diesen Gegen- ständen nahm Husayn Rabbani manche aus den Schränken und Glaskästen und ließ uns diese genau ansehen. Auch die Reisegepäckstücke waren dabei, die unser geliebter Meister in Stuttgart bei sich gehabt hatte, und so manches mehr, an was ich mich wohl erinnerte. Das so wertvolle, ja erschütternde Tablet, (das Bahá’u’lláh an ‘Abdu’l-Bahá nach Beirut sandte, als Er dort krank war, und das die hohe Stufe des Meisters anzeigt, ist dort auch verwahrt.

Die Originalbriefe des Báb, darunter ein solcher an Bahá’u’lláh, sind mit die wertvollsten Stücke des Archivs. Diese fanden sich im Nachlaß von ‘Abdu’l-Bahá zur Überraschung und Freude von Shoghi Effendi.

(Forts. fgt.)


1) Shoghi Effendi.

2) Die täglichen Gebete und das Fasten.

3) Die Schwester ‘Abdu’l-Bahá’s.

4) Der Sendung.



Die 5. Bahá’í-Sommerwoche bei Eßlingen

vom 15.—23. August 1936

Die deutschen Bahá’í-Sommerwochen erfreuen sich einer wachsenden Teilnehmerzahl, da sie eine einzigartige Gelegenheit zu tieferem Eindringen in das Wesen des Bahá’í-Glaubens in freiem Gedankenaustausch bieten. Im folgenden wird die diesjährige Sommerwoche geschildert, um später einzelne auf ihr gehaltene Referate zu

veröffentlichen.

Wenn früher in dieser Zeitschrift der Wunsch ausgesprochen wurde, daß die Eßlinger Bahá’í-Sommerwochen im Sinne einer Arbeitsgemeinschaft und geistigen Schulung in wachsendem Maße dazu beitragen mögen, den Weg zu religiöser Lebensgestaltung auf dem Boden des Bahá’í-Glaubens aufzuzeigen, so konnten wir auf der 5. Bahá’í-Sommerwoche feststellen, daß wir der Verwirklichung dieses Wunsches immer näher kommen. Wie ein schöner Teppich, der sich durch seine harmonische Vielfarbigkeit auszeichnet, lag das Programm der diesjährigen Bahá’í-Sommerwoche vor uns, der bei der herzlichen Begrüßung am Samstag Abend das Motto: „Einheit aller Religionen“ gegeben wurde. Gleich dem Programm war auch das Bild der Teilnehmer ein buntes. Aus vielen Gauen unseres Landes waren sie herbeigekommen und manche Wege zeigten über die Grenzen Deutschlands hinaus. So kamen Freunde aus Amerika, Dänemark, Österreich, Persien und Schweden.

Der Sonntag, der mit einer erhebenden Morgenfeier seinen Anfang nahm, in der besonders die hohe Aufgabe dieser, wie auch der in andern Ländern stattfindenden Bahá’í-Sommerwochen betont wurde, brachte am Nachmittag die Vorlesungen aus heiligen Schriften aller Zeiten. Wir vernahmen daraus immer den gleichen Mahnruf der Propheten an die Menschen zur Liebe, Verinnerlichung und zur Vervollkommnung, ob nun der Ruf aus China oder Indien, Arabien, Palästina oder Persien erschallte. Deutlich erkennen wir die absolute Wahrheit des vorangestellten Mottos: „Einheit aller Religionen“ d. h. ihre gemeinsame geistige Grundlage.

Als erstes wurde uns am Montag die allumfassende, hohe Sendung Bahá’u’lláh’s vor Augen gestellt, die uns groß und herrlich an Hand der Schrift Shoghi Effendi’s „The Dispensation of Bahá’u’lláh"1) dargestellt wurde. In dieser heißt es: „Den ganzen Raum dieses berückenden Schauspiels überragt die unvergleichliche Gestalt von Bahá’u’lláh, der erhaben ist in Seiner Majestät, voll Ruhe, ehrfurchtsgebietend und unerreichbar herrlich. Ihm eng verbunden und, wenn auch [Seite 141] untergeordnet im Rang, doch beliehen mit der Vollmacht, mit Ihm zusammen über den Geschicken dieser höchsten Sendung zu thronen, leuchtet in diesem geistigen Bilde die jugendliche Herrlichkeit des Báb in Seiner unendlichen Zartheit, unwiderstehlich in Seiner Anmut, unübertroffen in Seinem Heldentum, einzigartig durch die dramatischen Begebnisse Seines kurzen, doch ereignisreichen Lebens. Und endlich erhebt Sich auf Seiner eigenen Stufe und in einer Art, die von jener der Ihm vorangegangenen Zwillingsgestalten ganz verschieden ist, die ergreifende, anziehende Persönlichkeit ‘Abdu’l-Bahá’s, die in einem Grade, den kein Mensch je zu erreichen hoffen kann — wie hoch auch immer seine Stufe sei —, die Herrlichkeit und Macht widerstrahlt, womit sie, die Manifestationen Gottes, allein geschmückt sind.“

Diese Schrift gab uns auch ein klar umrissenes Bild der Bahá’í-Verwaltungsordnung, deren Grundlagen Bahá’u’lláh offenbarte und die von ‘Abdu’l-Bahá niedergelegt und erklärt wurden. Die Bedeutung der Bahá’í-Verwaltungsordnung kann heute vielleicht noch nicht voll ermessen werden. Sie ist ein unlöslicher Bestandteil des Bahá’í-Glaubens und bildet den hauptsächlichsten Inhalt des Willen und Testamentes von ‘Abdu’l-Bahá, wie uns in einem andern Referat ausgeführt wurde. Gleichzeitig lernten wir auch das Kitáb-i-'Ahd (Buch des Bundes) von Bahá’u’lláh näher kennen. Darin ist uns Menschen so klar und eindringlich gesagt, welche Aufgabe wir in dieser Welt zu erfüllen haben. „O Volk der Welt! Ich gebiete euch das, was zur Erhöhung euerer Stufe beiträgt. Bleibet in der Furcht Gottes und haltet euch am Saume der Gerechtigkeit... Die Stufe des Menschen ist erhaben, wenn er sich an die Wirklichkeit und an die Wahrheit hält und fest und unverwandt die Gebote befolgt... Das Glaubensbekenntnis für Gott ist Liebe und Eintracht, laßt es nicht die Ursache von Zwietracht und Spaltung werden.“

Ein sehr wechselvolles Bild zeigte uns die Geschichte des Islám. Diese an großen Erfolgen, Kämpfen und menschlichen Intrigen so reiche Geschichte kann erst durch die Berücksichtigung der Mentalität und seinerzeitigen Entwicklungsstufe der Völker, zu denen Muḥammad Seine Offenbarung zu bringen bestimmt war, verstanden werden. Durch den Islám hat die Kunst, Wissenschaft und Kultur auf verschiedensten Gebieten einen ganz neuen Impuls erfahren.

Welch herrliche Tiefen die Lehren des Islám in sich bergen, wird uns richtig bewußt, wenn wir einige Suren2) aus der heiligen Schrift der Mohammedaner, dem Qur’án und auch eine Erklärung darüber hören.

Wie überaus reich an Wahrheitsbeweisen die Bahá’í-Offenbarung ist, zeigte das Referat über das Buch Mirzá Abu’l-Fadl’s, betitelt „Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahá’í-Religion3)“. An Hand einer klaren Disposition wurde das Buch besprochen, das vor allem viele auf die Bahá’í-Offenbarung hinweisende Bibelstellen erklärt.

Das Leben der Bahá’í-Gemeinde, soll, so wurde in einer Stunde ausgeführt, ein tatfreudiges, von jedem einzelnen Gläubigen getragenes sein. Das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinde muß ein enges und vertrauensvolles sein, wie auch die nationale Bahá’í-Arbeit, so hörten wir in einem andern Referat, auf unbedingtem Vertrauen und harmonischer Zusammenarbeit mit den verschiedenen Gemeinden stehen muß. Allen Entschließungen soll eine gemeinsame Beratung der Verantwortlichen vorausgehen. Aus den Ausführungen ging hervor, was für ein umfassender Arbeitsbereich in die Tätigkeit des Nationalen Geistigen Rates fällt, dem auch insbesondere die Verbindung mit dem Hüter des Bahá’í-Glaubens und den Bahá’í-Zentren anderer Länder zukommt. Wohl wird viele Vorarbeit durch die verschiedenen Ausschüsse geleistet, doch in grundsätzlichen Fragen hat immer der Nationale Geistige Rat zu entscheiden. Die Bedeutung der Finanzierung der Bahá’í-Arbeit durch freiwillige Beiträge (nationaler Bahá’í-Fonds) sowie die der Jahrestagung und Abgeordneten-Versammlung wurde unterstrichen.

Daß Mystik und die Bahá’í-Offenbarung bei näherer Betrachtung ein Gegensatz ist, vernehmen wir aus der Besprechung des Buches von Ruhi Afnán4). Wird Mystik im [Seite 142] allerweitesten Sinne aufgefaßt, so sehen wir wohl noch keinen Gegensatz, können aber auch nicht von einer Übereinstimmung sprechen. Sobald wir Mystik in ihrem besonderen Sinne verstehen, stellen wir fest, daß der Mensch in ihr das geistige Einswerden mit dem unendlichen Sein zu erreichen glaubt. In der Bahá’í-Offenbarung wird aber gelehrt, daß „Gott, einzig und allein, an Seinem eigenen Ort wohnt, welcher über Raum und Zeit, Erwähnung und Äußerung, Zeichen, Beschreibung und Erklärung, Höhe und Tiefe, heilig ist5).“ Nach diesem Wort Bahá’u’lláh’s kann ein Einswerden, ein Verschmelzen mit dem unendlichen Sein, also mit Gott, niemals möglich sein, und darin liegt der größte Gegensatz.

Ein weiteres Referat hatte das Thema „Glauben und Wissen“ zum Gegenstand. Wir hörten, wie Religion und Wissenschaft sich wechselseitig befruchten sollen und daß zwischen ihren Aufgaben nicht nur kein Gegensatz vorhanden ist, sondern vielmehr wissenschaftliches Forschen und Erkennen seine tiefsten Triebkräfte aus wahrem, bewußtem Glauben schöpft.

In einer Abendstunde hörten wir von dem so wechselvollen und bedeutenden Leben des Báb, das uns in seiner herrlichen Größe an Hand des großen Geschichtswerkes von Nabíl zum tiefen Erlebnis wurde.

„Bewußter Glaube“ stand im Mittelpunkt einer geradezu anfeuernden Ansprache. Nur durch bewußten Glauben können wir mit unserer ganzen Kraft für die überaus große und heilige Sache Bahá’u’lláh’s arbeiten und uns dafür einsetzen.

In ganz ergreifender Weise trat unser geliebter Meister ‘Abdu’l-Bahá durch die Schilderung der Erlebnisse einer Bahá’í-Freundin in Haifa, unter uns. Sie war während der letzten Lebenstage 'Abdu’l-Bahá’s in Seiner Gegenwart und noch einmal lernten wir die liebevolle, fröhliche, stets dienst- und hilfsbereite, aber auch ermahnende Art des Meisters kennen.

Ein Musik- und Liederabend erfreute die Herzen der Teilnehmer und gab einen willkommenen Einblick in den großen musikalischen Schatz der deutschen Musik durch klassische Stücke und Volkslieder.

Das 19-Tagefest, das in die Zeit der Sommerwoche fiel, führte die Freunde der Eßlinger als auch der Stuttgarter Gemeinde zusammen. Dieses Fest, an dem so viele Freunde teilnehmen konnten, war ein äußerst harmonisches, das durch die Ansprachen einiger ausländischer Freunde eine starke Verbindung mit den Bahá’í der ganzen Welt zum Erlebnis werden ließ.

Die Umschau und Aussprache erweckten in uns tiefe Dankbarkeit für das gute Gelingen dieser Sommerwoche und es wurde festgestellt, daß das Ergebnis derselben noch weit hinausreichte über das Motto: „Einheit aller Religionen“. Die große Verantwortung wurde uns noch deutlicher bewußt, als wir in der gleichen Stunde von einem Telegramm des Hüters an die amerikanischen Bahá’í erfuhren, in dem er aufruft, in unserer Arbeit für den Bahá’í-Glauben nichts zu versäumen, denn die Zeit unseres ganzen Einsatzes für die Heilige Sache sei nahe.

Die Abendfeier „Weltenwende“ führte wiederum viele Freunde zusammen. Aus Poesie, sowie aus Texten Bahá’u’lláh’s, 'Abdu'l-Bahá’s und Shoghi Effendi’s entnehmen wir den wahren Sinn der „Weltenwende“, die durch die Offenbarung Bahá’u’lláh’s angebrochen ist.

Der letzte Tag dieser an Erlebnis, Aussprache, Gedankenaustausch und geistigem Erkennen so überreichen Woche war gekommen und in einer Schlußfeier ließen wir den Mahnruf der göttlichen Manifestation zur Veredlung unseres Selbstes im Dienste der Gemeinschaft tief in unsere Herzen eindringen.

Mit neuem Impuls, frischer Kraft, starkem Mut und großer Liebe für die Sache Gottes im Herzen, drückten wir uns zum Abschied die Hand und kehrten ein jedes an seinen Platz im täglichen Leben zurück, wohl alle mit dem festen Entschluß, all das Gehörte und Erlebte lebendig in und um uns wirken zu lassen.

Wie oft werden unsere Gedanken zu dem so schön auf der Höhe von Eßlingen gelegenen Bahá’í-Heim hineilen, das dank dem bereiten Mitwirken mancher Freunde in seiner nun so schmucken Einrichtung ebenso zum Gelingen dieser Sommerwoche beitrug wie auch die gute Verpflegung und die strahlende Sonne am blauen Himmel.

Erna Schmidt


1) Verdeutscht: „Die Sendung Bahá’u’lláh’s.

2) Kapitel.

3) Stuttgart, 1919, Verlagsabteilung des Nationalen Geistigen Rates der Bahá’í in Deutschland und Österreich e. V., Stuttgart, Alexanderstr. 3.

4) „Mysticism and the Bahá’í Revelation a contrast“, New York 1934.

5) Worte der Weisheit.


[Seite 143]



Besuch in der Bahá’í-Sommerschule Louhelen Ranch, bei Flint, Mich.[Bearbeiten]

Von Gertrud Schurgast, Cincinnati, Ohio.

In den Vereinigten Staaten von Nordamerika bestehen gegenwärtig drei Bahá’í-Sommerschulen, in Green Acre, Geyserville und Louhelen Ranch. Nachstehender Bericht wurde uns von der obengenannten deutschamerikanischen Glaubensfreundin eingesandt, was wir dankbar begrüßen.


Wer einmal Ferien haben will, nicht mit Nichtstun oder im Strom rauschender Vergnügungen verbracht, dem rate ich, eine Bahá’í-Sommerschule zu besuchen. Bahá’í-Sommerwochen, wonnige Tage des Ausruhens, des Frohsinns, Tage innerer Erbauung, die keine Leere hinterlassen, sondern gleichsam eine Forschungsreise darstellen ins Reich des Geistigen, von der man, mit reichen Schätzen beladen, heimkehrt,

In Amerika haben wir drei Sommerschulen: eine in Geyserville, Cal., für den Westen Amerikas, eine in Green Acre, Maine, für den Osten, und Louhelen Ranch bei Flint, Michigan, für den Mittelwesten. Wir in Cincinnati sind am nächsten zu Louhelen, das ungefähr 350 Meilen oder 560 km entfernt ist.

Als wir Ohio verließen und nach Michigan hineinrollten, erschreckten uns zuerst die vielen Schilder am Wege: Würmer zu verkaufen. Aber dann wurde es uns klar, daß diese unglücklichen Würmer nur Angler zum Fischen in den umliegenden Seen einladen sollten. Denn Michigan ist das Mecklenburg Amerikas, das Land der Seen, von denen immer, selbst an heißen Tagen, eine kühle Brise weht, die die Abende angenehm kühl macht. Aber da Michigan auch das Land der Autoindustrien ist, ist es in allen Richtungen mit wahren Prachtstraßen durchkreuzt, auf denen man mit großer Geschwindigkeit vorwärts kommt.

Von allen Richtungen kamen sie da zusammen, Freunde von Michigan, Ohio, Indiana, Illinois, Missouri und Tennessee. Und gleich waren wir alle wie eine große glückliche Familie. Dreimal im Sommer öffnen die beiden prächtigen Menschen, Mr. und Mrs. Eggleston, die Tore ihres Besitztums (die Louhelen Farm), weit all denen, die nach Wahrheit suchen. Keiner kehrt von dort mit leeren Händen heim. Die, die noch im Zweifel waren, und nur wenige Tage in dieser glücklichen Atmosphäre zugebracht haben, sind der Bahá’í-Lehre gewonnen. Alles ist bis ins Kleinste durchdacht und darauf zugeschnitten, den Besucher sich heimisch fühlen zu lassen. Ein Tennisplatz ist angelegt, Pferde stehen zum Reiten zur Verfügung, der aufgestaute Bach ladet zum Baden ein, im Walde sind Bänke amphitheatralisch aufgebaut für Picknicks und Zusammenkünfte im Freien. Das geräumige Farmhaus ist luftgekühlt. Dies und die andern Gebäude, in denen die Gäste untergebracht werden, sind mit allem ausgestattet, was man braucht, und von peinlicher Sauberkeit. Fin ehemaliges Hühnerhaus ist in das reizendste Einfamilienhäuschen umgewandelt und eine große Scheune in einen luftigen Raum, mit einem großen offenen Kamin versehen und mit Blumen und Tannenzweigen und dem Bilde ‘Abdu’l-Bahá’s geschmückt, in denen die Kurse abgehalten werden. Sogar die Helfer hatten etwas von dem Geist froher Hilfsbereitschaft angenommen. Sie erinnerten mich an die Stewards auf deutschen Schiffen, die auch mit mütterlicher Hingabe für ihre Gäste sorgen. Bei Tisch lesen sie einem die Wünsche von den Augen ab und füllen unermüdlich die Gläser mit der frischen, herrlichen Milch. Eine große Glocke im Hofe läutet zum Aufstehen, zu den Mahlzeiten und zum Beginn der Kurse.

Die Kurse behandelten den Islám und geistiges Bahá’í-Leben. Wer wäre wohl besser berufen, über den Islám zu sprechen, als Marzieh Carpenter, die Tochter von Dr. ‘Alí Khuli Khán, des ehrwürdigen persischen Bahá’í, der persische Kunst und Kultur zu seinem Lebensstudium gemacht hat. Mit einem Feuer, einer Anschaulichkeit schilderte uns Mrs. Carpenter das Leben des vielverkannten Propheten und das Seiner Nachfolger, der Imáme, die geistigen Hüter Seiner Lehre. Ja, in dieser Lehre ist die gleiche große Wahrheit [Seite 144] zu finden, die allen Offenbarungsreligionen zugrundeliegt. Die Vortragende wies darauf hin, daß der einzige Weg, sich eine vorurteilsfreie Meinung über den Islám zu bilden, der ist, sich in Bahá’u’lláh’s „Buch der Gewißheit“ oder „Kitá-i-Iqán“ zu versenken oder 'Abdu'l-Bahá’s Kommentare in „Beantwortete Fragen“ zu lesen. Dann werden wir erst den Qur’án würdigen können. Worte göttlicher Weisheit, die uns zugleich Muḥammad menschlich näher bringen, sind in seinen Maximen zu finden, aus denen uns Marzieh Carpenter vorlas. Einige davon schrieb ich nieder. „Handle mit Hinsicht auf diese Welt, als ob du ewig lebest, aber mit Hinsicht auf das Jenseits, als ob du morgen stürbest.” „Gott ist dir näher als die Halsader.“ „Wer Mir entgegenschreitet, dem eile Ich entgegen.“ „Vertraue auf Gott, aber binde Dein Kamel fest.“ Denen, die gern einen guten Tropfen trinken, ratet Muḥammad: „Der beste Tropfen, den man trinken kann, ist ein Tropfen Ärger, für die Sache Gottes geschluckt.“ ‘Alí, der ergebene Anhänger Muḥammad’s und von Ihm zum Nachfolger bestimmt, hat ebenfalls Sinnsprüche hinterlassen, die noch heute Geltung haben. Aus einer ganz seltenen Ausgabe las sie uns einige von den ins Französische übersetzten Lebensregeln vor: „Der wirklich Weise ist der, der weiß, daß das, was er weiß, wenig ist im Vergleich zu dem, was er nicht weiß.“ „Eifersucht ist das Gefängnis der Seele.“ „Neid ist eine unheilbare Krankheit, die entweder mit dem Tode des Neiders oder dem des Beneideten endet.“ Mrs. Carpenter zitierte Goethe, der gesagt haben soll: „Wenn Islám Gottergebenheit ist, möchten wir nicht alle Mohammedaner sein?“ Nach ihren Schilderungen fühlt man sich beinahe veranlaßt, die gleiche Frage zu stellen. Jedenfalls lernen wir erkennen, wie durch den Bahá’í-Glauben und Islám die geistige Einheit der Religion erwiesen ist. Aber als etwas Neues, Einzigartiges, Weltumfassendes bringt die Sendung Bahá’u’lláh’s eine durchgreifende Erneuerung und Fortentwicklung der Religion.

Über das Einzigartige der Wesensstruktur des Bahá’í-Glaubens sprach Mr. McKay aus Jamestown, New York, in hervorragender Weise. Einmal schlug er auf dem Klavier die einleitenden Noten der fünften Symphonie von Beethoven an, um darzustellen, wie der neue Glaube an die Herzen der Menschen pocht, Schicksalstöne, die wir beachten sollen.

Mrs. Seto aus San Francisco vervollständigte das Programm mit Vorlesungen über Bahá’í-Lebensgestaltung. Um drei Uhr nachmittags und um acht Uhr abends läutete die Glocke zu weiteren Zusammenkünften. Die 77 Jahre junge Fanny Knobloch, deren Schwester, Alma, wohl einigen Bahá’í in Deutschland nicht unbekannt sein dürfte, erfreute uns an einem dieser Abende mit Schilderungen von ihrer Begegnung mit 'Abdu'l-Bahá in Paris im Jahre 1912.

In der Zwischenzeit ging auf den Bänken vor dem Hause der Gedankenaustausch weiter. Über Langeweile hatte niemand zu klagen. Am letzten Abend waren wir alle in so erhobener Stimmung, daß wir gar nicht auseinandergehen wollten, sondern singend auf der Wiese standen. Auch deutsche Volkslieder wurden gesungen.

So verließen. wir alle Louhelen, innerlich bereichert. Feiertagsstimmung hat wieder dem Alltag mit seinen Aufgaben, Sorgen und Problemen Platz gemacht, aber auch er ist überstrahlt von dem einen großen Wunsche, der uns nun mehr als je beseelt, hinauszugehen und die frohe Botschaft Bahá’u’lláh’s einer müden, verzweifelnden Menschheit zu bringen.

„Wer an diesem Tag wiedergeboren wurde, soll nimmermehr sterben, wer im Tode verharrt, soll niemals leben*).“


*) Ins Deutsche übertragen aus „Gleanings from the writings of Bahá’u’lláh“, New York 1935, S. 213.


In der „Sonne der Wahrheit“ finden nur solche Manuskripte Veröffentlichung, bezüglich deren Weiterverbreitung keine Vorbehalte gemacht werden. — Alle auf den Inhalt der Zeitschrift bezüglichen Anfragen, ferner schriftliche Beiträge wie auch alle die Schriftleitung betreffenden Zuschriften sind an Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart W, Reinsburgstraße 198, zu senden. — Bestellungen von Abonnements, Büchern und Broschüren sind an die Verlagsabteilung des Nationalen Geistigen Rats der Bahá’í in Deutschland und Österreich e. V., Stuttgart, Alexanderstr. 3 (Nebengebäude) zu richten. — Alle Zahlungen sind zu leisten an den Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in Deutschland und Österreich e. V., Stuttgart, Alexanderstraße 3 (dessen Postscheckkonto Nr. 19340 Amt Stuttgart). — Alle Rechte vorbehalten. Copyright by Verlagsabteilung des Nationalen Geistigen Rats der Bahá’í in Deutschland und Österreich e. V., Stuttgart. — Druck von J. Fink, Hofbuchdruckerei, Stuttgart.


[Seite 145]


Der Nationale Geistige Rat der Bahá’í in Deutschland und Oesterreich e. V., Stuttgart

Fernsprecher Nr. 26168 / Postscheckkonto Stuttgart Nr. 193 40 / Alexanderstr. 3, Nebengebäude


Von unserer Verlagsabteilung können bezogen werden:


(Der Versand erfolgt gegen Nachnahme oder gegen Voreinsendung des Betrages zuzüglich Porto)


Bahá’u’lláh

Verborgene Worte.. Worte der Weisheit und Gebete. Geschrieben während seiner Verbannung in Bagdad 1857/58 . . . kart. —.80

gebunden 1.--

Frohe Botschaften. Worte des Paradieses, Tablet Tarasat (Schmuck), Tablet Taschalliat (Lichtstrahlen), Tablet Ischrakat (Glanz). Mahnrufe und Anweisungen an die Völker der Erde . . gebunden 2.00

Ganzleinen 2.50

Buch der Gewißheit oder Kitábu’l-Iqán. Eine Auseinandersetzung mit theologischen Fragen verschiedener Religionen, geschrieben in Bagdad um 1862. Ist fortsetzungsweise in den beiden Jahrgängen X und XI unserer Zeitschrift „Sonne der Wahrheit“ enthalten.

Jahrgang gebunden je 3.--


'Abdu'l-Bahá Abbas

Ansprachen in Paris. ‘Abdu’l-Bahá spricht hier über zahlreiche Fragen, nach deren Klärung die Völker der Erde suchen.

gebunden 2.--

Beantwortete Fragen. Erklärungen zu christlichen und islamischen Fragen, Behandlung allgemeiner weltanschaulicher Probleme . . . . . . Ganzleinen 2.50

Sendschreiben an die Haager Friedenskonferenz 1919 . . . . . -.20

-----

Die Weltreligion Kurze Charakterisierung des Bahá’í-Glaubens. Shoghi Effendi . . . -.10


Sonstiges

Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahá’i-Religion, Einführung in die Gedankenwelt der Bahá’i-Lehre von einem orientalischen Gelehrten. Von Mirza Abul Fazl . . . . . gebunden 2.--

Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter. ein Lehrbuch von Dr. J. E. Esslemont. Ganzleinen 2.50

'Abdu'l-Bahá Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps. . . . . .gebunden 2.--

Die Bahá’i-Offenbarung, ein Lehrbuch von Thornton Chase. . . . . . . kart. 2.--

Am Morgen einer neuen Zeit. Untersuchung der geistigen Ursachen der Weltkrise und Beleuchtung der letzthin einzigen Möglichkeit ihrer Überwindung durch die Bahá’i-Lehre. Von Dr. Hermann Großmann . . . . . kart. 1.80

Ganzleinen 2.50

Lebensgestaltung. Das Leben und ich. Das Leben und mein Nächster. Das Leben und Gott. Kursberichte der Eßlinger Bahá’í-Sommerwoche 1933 . . . -.30

Die Bahá’i-Weltanschauung. Eine kurze Einführung. Von Pauline Hartmann . . . . —.20

Das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahás ("The Passing of 'Abdu'l-Bahá") . . . -.30

Sonne der Wahrheit. Bahá'i-Monatszeitschrift.

Jahrgang III - XI gebunden je 3.--
Jahrgang XII - XV gebunden je 6.--