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Die Bahá’í-Lehre,[Bearbeiten]
die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.
Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.
Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.
Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.
Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“
Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.
Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.
Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.
SONNE DER WAHRHEIT Organ der Bahá’í in Deutschland und Österreich Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198 Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo Verwaltung: Paul Gollmer • Begründet von Alice Schwarz-Solivo Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark, im Ausland 2.– Reichsmark |
Heft 9 | Stuttgart, im November 1935 Qudrat — Kraft 92 |
15. Jahrgang |
Inhalt: Das Ausmaß der Offenbarung. — Nabíl’s Erzählung: Der Aufenthalt des Báb in Shíráz nach der Pilgerreise. — Mystik und die Bahá’í-Offenbarung, ein Gegensatz.
Durch die erhabene Feder wurde dem Körper der Worte auf das Gebot des höchsten Befehlshabers ein neues Leben eingehaucht, das von großer Bedeutung ist, und wovon die Wirkungen in allen Dingen der Welt offenbar und sichtbar sind.
Worte von Bahá’u’lláh*)
*) Aus „Die Bahá’í-Offenbarung“, Stuttgart 1925, S. 75.
Das Ausmaß der Offenbarung[Bearbeiten]
Worte von Bahá’u’lláh1)
Wisse mit Bestimmtheit, daß das Wesen aller Propheten Gottes eins und dasselbe ist. Ihre
Einheit ist eine absolute. Gott, der Schöpfer spricht: Es gibt keinerlei Unterschied unter den
Trägern Meiner Botschaft. Sie alle haben nur eine Absicht, ihr Geheimnis ist das gleiche
Geheimnis. Den einen in der Würde dem anderen voranzustellen, gewisse unter ihnen über die
anderen zu erheben, kann in keiner Weise zugelassen werden. Jeder wahre Prophet hat Seine
Botschaft als im Grunde die gleiche angesehen wie die Offenbarung eines jeden anderen Ihm
vorausgegangenen Propheten. Sollte deshalb irgend ein Mensch diese Wahrheit nicht begreifen
und infolgedessen sich herausnehmen, in nichtiger und unziemlicher Weise zu reden, so
darf niemand, dessen Sicht klar und dessen Verstand erleuchtet ist, jemals durch solch
eitles Geschwätz seinen Glauben ins Wanken bringen lassen.
Das Ausmaß der Offenbarung der Propheten Gottes in dieser Welt muß sich jedoch unterscheiden. Alle und jeder von ihnen waren die Träger einer besonderen Botschaft und waren beauftragt, Sich selbst durch bestimmte Handlungen zu offenbaren. Aus diesem Grund erscheinen sie in ihrer Größe verschieden. Ihre Offenbarung kann mit dem Licht des Mondes verglichen werden, der seinen Glanz über die Erde wirft. Obgleich er immer, wenn er erscheint, ein anderes Ausmaß seiner Helligkeit zeigt, so kann doch sein ihm eigener Glanz niemals abnehmen, noch kann sein Licht verlöschen.
Es ist daher klar und augenscheinlich, daß jeder sichtbare Unterschied in der Stärke ihres
Lichts diesem als solchem nicht anhaftet, sondern vielmehr der sich ändernden
Aufnahmefähigkeit einer ewig wechselnden Welt zugeschrieben werden sollte. Jeder Prophet, den
der allmächtige und unvergleichliche Schöpfer dazu bestimmte, zu den Völkern auf Erden gesandt
zu werden, ist mit einer Botschaft betraut und in einer Weise zu wirken beauftragt worden,
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wie es am besten den Bedürfnissen des Zeitalters, in dem Er auftrat, entsprach. Die Absicht
Gottes bei der Entsendung Seiner Propheten zu den Menschen ist von zweierlei Art. Die
erste ist, die Menschenkinder aus der Finsternis der Unwissenheit zu befreien und sie dem
Lichte richtigen Begreifens entgegen zu führen. Die zweite ist, den Frieden und die Ruhe der
Menschheit zu sichern und alle Mittel zu schaffen, wodurch diese errichtet werden können....
Kein Wunder, wenn die von dem Arzt vorgeschriebene Behandlung an diesem Tag nicht als
die gleiche gefunden werden kann wie jene, die er früher vorschrieb. Wie könnte es anders sein,
wenn die Krankheiten, die den Leidenden befallen, in jedem Zustand seiner Krankheit eine
besondere Arznei erfordern? In gleicher Weise haben zu allen Zeiten die Propheten Gottes die
Welt mit dem widerstrahlenden Glanze des Tagesgestirns Göttlichen Wissens erleuchtet, sie
haben beständig die Völker aufgefordert, das Licht Gottes durch solche Mittel aufzunehmen,
wie sie am besten den Erfordernissen des Zeitalters entsprachen, in denen sie auftraten. Auf
diese Weise waren sie fähig, die Finsternis der Unwissenheit zu zerstreuen und über die Welt
hin die Herrlichkeit ihres eigenen Wissens zu strahlen. Auf die innerste Wesenheit dieser
Propheten muß deshalb das Auge eines jeden einsichtsvollen Menschen gelenkt werden, um so
mehr, als deren eigene und einzige Absicht stets gewesen ist, die Irrenden zu führen und den
Betrübten Frieden zu bringen. Dies sind nicht Tage des Wohlergehens und des Triumphes. Die
ganze Menschheit ist von vielerlei Krankheiten ergriffen. Ringet deshalb darum, ihr Leben zu
retten durch die heilsame Arzenei, welche die allmächtige Hand des unfehlbaren Arztes
zubereitet hat,
Die Gerechtigkeit beklagt an diesem Tag ihre Lage und die Billigkeit stöhnt unter dem Joch der Unterdrückung. Die schweren Wolken der Unterdrückung haben das Antlitz der Erde verfinstert und ihre Bewohner umhüllt. Durch die Bewegung Unserer Feder der Herrlichkeit haben Wir auf das Gebot des allmächtigen Gesetzgebers ein neues Leben in jedes menschliche Gemüt gehaucht und in jedes Wort eine neue Kraft gelegt. Alle erschaffenen Dinge verkünden das Zeugnis dieser weltumfassenden Wiedergeburt. Dies ist die größte, die freudigste Botschaft, welche die Feder dieses Unterdrückten der Menschheit übermittelt. Wovor fürchtet ihr euch, o Meine Vielgeliebten! Wer kann euch erschrecken? Eine Berührung mit Feuchtigkeit genügt, um den verhärteten Ton aufzulösen, aus dem dieses entartete Geschlecht geformt ist. Die bloße Tatsache euerer Versammlung genügt, die Kräfte dieser eiteln und wertlosen Menschen zu zerstreuen...
Jeder einsichtige Mensch wird an diesem Tag bereitwillig zugeben, daß die Ratschläge, welche die Feder dieses Unterdrückten geoffenbart hat, die erhabene und belebende Macht für den Fortschritt der Welt und die Erhöhung ihrer Völker enthalten. Machet euch auf, o Völker, und entschließt euch durch die Kraft der Gottesmacht, den Sieg über euer eigenes Selbst zu erringen, daß vielleicht die ganze Erde befreit und geheiligt werde von der Knechtschaft unter den Göttern ihrer müßigen Einbildungen, Göttern, die ihnen so großen Verlust zugefügt haben und die verantwortlich zu machen sind für das Elend ihrer verächtlichen Anbeter. Diese Abgötter bilden das Hindernis, das die Menschen in ihrem Bemühen hemmte, auf dem Pfade der Vervollkommnung vorwärtszukommen. Wir hegen die Hoffnung, daß die Hand der Göttlichen Macht der Menschheit ihre Hilfe leihe, um sie aus dem Zustand kummervoller Erniedrigung zu befreien.
In einem der Tablets sind folgende Worte geoffenbart: O Volk Gottes! Beschäftigt euch nicht mit euren eigenen Angelegenheiten; laßt eure Gedanken auf das gerichtet sein, was das Glück der Menschheit wiederherstellt und die Herzen und die Seelen der Menschen heiligt. Dies kann am besten durch reine und heilige Taten erreicht werden, durch ein tugendhaftes Leben und gutes Betragen. Tapfere Taten werden den Triumph dieser Sache sichern und ein heiliger Charakter wird ihre Macht verstärken. Haltet euch an Rechtschaffenheit, o Volk von Bahá! Dies, wahrlich, ist der Befehl, den dieser Unterdrückte euch gegeben hat und das Erstgewählte Seines unbeschränkten Willens für einen jeden von euch.
O Freunde, es geziemt euch, euere Seelen zu erfrischen und neu zu beleben durch die
barmherzige Gunst, die in dieser göttlichen, dieser seelenerschütternden Frühlingszeit auf euch
herabschauert. Das Tagesgestirn Seiner großen Herrlichkeit hat Seine Strahlen auf euch scheinen
lassen und die Wolken Seiner grenzenlosen Gnade haben euch überschattet. Wie hoch ist
der Lohn für den, der sich nicht selbst so einer
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großen Gnadenfülle beraubt hat, noch versäumte, die Schönheit seines über alles Geliebten in
diesem, Seinem neuen Kleide, zu erkennen. Wachet über euch selbst, denn der Böse liegt wache,
bereit, euch zu verstricken. Gürtet euch gegen seine schlimmen Pläne und laßt durch das Licht
des Namens des alles sehenden Gottes euere Flucht aus der Finsternis geschehen, die euch
umlagert. Laßt eure Schau weltumfassend sein, anstatt sie auf euer eigenes Selbst zu richten.
Der Böse ist es, der den Aufstieg hemmt und den geistigen Fortschritt der Menschenkinder
verhindert.
Es ist jedes Menschen Obliegenheit an diesem Tag, an dem festzuhalten, was immer die Interessen fördert und die Stufe aller Nationen und gerechten Regierungen erhöht. Durch jeden und alle der Verse, welche die Feder des Höchsten geoffenbart hat, sind die Tore der Liebe und Einheit geöffnet und vor dem Angesicht der Menschen weit aufgetan worden. Wir haben ehedem erklärt — und Unser Wort ist die Wahrheit —: „Verkehrt mit den Anhängern aller Religionen in einem Geist der Freundschaftlichkeit und Kameradschaft!“ Was immer die Menschenkinder dazu geführt hat, einander zu meiden, und Meinungsverschiedenheiten und Trennungen unter ihnen hervorgerufen hat, ist durch die Verkündigung dieser Worte null und nichtig gemacht und aufgehoben worden. Aus dem Himmel des Willens Gottes und mit der Absicht, die Welt des Seins zu veredeln und den Geist und die Seele der Menschen emporzuheben, ist das herabgesandt worden, was das wirkungsvollste Instrument zur Erziehung der ganzen menschlichen Rasse ist. Der höchste Wesensgehalt und der vollendetste Ausdruck alles dessen, was immer die Völker von alters her entweder gesagt oder geschrieben haben, sind durch diese mächtigste Offenbarung aus dem Himmel des Willens des Allbesitzenden, des Ewigseienden Gottes herabgekommen. Vor alters ist geoffenbart worden: „Liebe zum Heimatland ist ein Bestandteil des Glaubens Gottes.“ Die Zunge der Größe hat jedoch am Tage Seiner Offenbarung verkündet: „Nicht der darf sich rühmen, welcher nur sein Land liebt, sondern der, welcher die ganze Welt liebt!“ Durch die Macht, die entfesselt wurde durch diese erhabenen Worte, hat Er den Vögeln der menschlichen Herzen einen neuen Antrieb verliehen und eine neue Richtung gewiesen und hat jedwede Spuren der Beschränkung und Begrenzung aus Gottes heiligem Buch ausgelöscht.
O Volk der Gerechtigkeit! Seid strahlend wie das Licht und glänzend wie das Feuer, das aus dem brennenden Busch flammte. Die Helle des Feuers euerer Liebe wird ohne Zweifel die sich streitenden Völker und Geschlechter auf Erden zusammenschmelzen und vereinigen, während die Grausamkeit der Flamme der Feindschaft und des Hasses nur Streit und Zerstörung zeitigen kann. Wir flehen zu Gott, daß Er Seine Geschöpfe behüte vor den bösen Absichten Seiner Feinde. Wahrlich, Er besitzt die Macht über alle Dinge...
Dies ist der Tag, da Gottes höchste Gunst über die Menschen ausgeschüttet ist, der Tag, da Seine mächtigste Gnade in alle erschaffenen Dinge sich ergossen hat. Es geziemt allen Völkern der Welt, ihre Streitigkeiten auszusöhnen und in vollkommener Einigkeit und Friedfertigkeit im Schatten des Baumes Seiner Obhut und göttlichen Gnade zu verharren. Es geziemt ihnen, sich an alles zu hängen, was an diesem Tag zur Erhöhung ihrer Stufe und zur Förderung ihres besten Nutzens führt. Glücklich sind jene, zu deren Gedenken die allerherrlichste Feder bewegt wurde, und gesegnet sind jene Menschen, deren Namen Wir kraft Unseres unerforschlichen Ratschlusses zu verheimlichen vorzogen.
Fleht zu dem Einen wahrhaftigen Gott, zu gewähren, daß allen Menschen gnädiglich geholfen werde, das zu erfüllen, was vor Unseren Augen annehmbar ist. Bald wird der Befehl für den heutigen Tag eingeholt und ein neuer an seiner Statt verbreitet werden. Wahrlich, dein Herr spricht die Wahrheit und ist der Wissende aller unsichtbaren Dinge.
O ihr Geliebten des einen wahren Gottes! Übersteigt die enge Beschränktheit euerer schlechten und verderbten Wünsche und schreitet voran in die weite Unermeßlichkeit des Reiches Gottes und bleibt auf den Matten der Heiligkeit und der Loslösung, auf daß der Duft euerer Taten die ganze Menschheit zum Weltmeer der unauslöschlichen Herrlichkeit Gottes führe. Hütet euch davor, euch an den Angelegenheiten dieser Welt und allem, was zu ihr gehört, zu beteiligen, und vor der Einmischung in das Treiben derer, welche ihre äußerlichen Führer sind.
Der eine wahre Gott, erhaben sei Seine Herrlichkeit, hat die Regierung der Erde den
Königen anvertraut. Keinem ist das Recht gegeben, in irgend einer Weise zu handeln, die den
erwogenen Absichten derer entgegenstehen könnte,
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welche die Vollmacht besitzen. Das, was Er Sich selbst vorbehalten hat, sind die Stätten der
Menschenherzen, und von diesen sind die Geliebten von Ihm, Der die erhabene Wahrheit ist, an
diesem Tage wie die Schlüssel. Möge es Gott gefallen, daß sie, einer wie alle, befähigt
werden, durch die Macht des Größten Namens die Tore dieser Städte aufzuschließen. Dies ist es,
was damit gemeint ist, dem einen wahren Gott zu helfen — ein Thema, worauf sich die Feder
Dessen, Der die Dämmerung bricht, in allen Seinen Büchern und Tablets, bezogen hat.
Was jene anbelangt, die von den Früchten des irdischen Daseins der Menschen das gekostet haben, was die Erkenntnis des einen wahren Gottes ist — erhaben sei Seine Herrlichkeit — so ist ihr nächstes Leben derart, daß Wir nicht fähig sind, es zu beschreiben. Das Wissen darüber steht bei Gott allein, dem Herrn über allen Welten.
1) Entnommen und ins Deutsche übertragen aus World
Order, Nr.5, August 1935, S. 177 ff.
Nabíl’s Erzählung[Bearbeiten]
Übersetzung aus „The Dawn-Breakers“, Nabíl’s Narrative of the early days of the Bahá’í Revelation, New York 1932
8. Kapitel: Der Aufenthalt des Báb in Shíráz nach der Pilgerreise (Fortsetzung)
Der Báb kam in Begleitung von Ḥájí Mirzá Siyyid ‘Alí zu einer Stunde in der Moschee an,
als eben der Imám-Jum‘ih den Rednerpult bestiegen hatte und daran ging, seine Predigt zu
halten. Sobald sein Auge auf den Báb fiel, begrüßte er Ihn in der Öffentlichkeit, bat Ihn, den
Rednerpult zu besteigen, und rief Ihn auf, zu der Gemeinde zu sprechen. Der Báb folgte der
Aufforderung, ging ihm entgegen und schickte sich an, auf der ersten Stufe der Treppe stehend,
die Versammlung anzureden. „Komme höher herauf“, unterbrach ihn der Imám-Jum‘ih. Diesem
Wunsch entsprach der Báb und nahm zwei weitere Stufen. Als Er so stand, war Sein Haupt
in Brusthöhe des Shaykh Abú-Turáb, der oben auf dem Pult stand. Er begann
Seine öffentliche Erklärung mit einer einleitenden Vorrede. Kaum hatte Er die ersten Worte
gesprochen „Gelobt sei Gott, Der wahrhaftig Himmel und Erde erschaffen hat“, als ein
gewisser Siyyid, unter dem Namen Siyyid-i-Shish-Parí bekannt, dessen Amt es
war, den Amtsstab vor dem Imám-Jum’ih herzutragen, in beleidigendem Tone ausrief: „Genug
von diesem unnützen Geschwätz! Erkläre jetzt unverzüglich, was du zu sagen hast!“ Der
Imám-Jum‘ih nahm diese Grobheit des Siyyid sehr übel. „Halte Ruhe“, gab er ihm zurück,
„und schäme dich über deine Ungezogenheit.“ Dann wandte er sich an den Báb und bat Ihn,
Sich kurz zu fassen, da dies, wie er sagte, die Erregung der Leute beschwichtigen würde.
Der Báb faßte die Versammlung ins Auge und erklärte: „Die Verdammnis Gottes sei auf dem,
der mich als einen Vertreter des Imám oder als sein Tor ansieht. Die Verdammnis sei auf
dem, der mir zur Last legt, die Einheit Gottes geleugnet zu haben, die Prophetenschaft
Muḥammad’s, des Siegels der Propheten, verworfen zu haben, die Wahrheit irgend eines der
ehemaligen Gottesboten zurückgewiesen zu haben oder die Anerkennung der Hüterschaft ‘Alís,
des Befehlshabers der Getreuen, oder eines der Imáme, die nach ihm gefolgt sind, verweigert
zu haben!“ Dann stieg er vollends alle Stufen hinan, umarmte den Imám-Jum‘ih und, wieder auf
den Boden der Moschee herabgestiegen, schloß Er Sich der Gemeinde bei der Verrichtung des
Freitaggebets an. Der Imám-Jum’ih trat dazwischen und bat Ihn, Sich zurückzuziehen. Er sagte:
Deine Familie wartet ängstlich auf deine Rückkehr. Alle sind besorgt, daß dir nichts geschieht.
Kehre in dein Haus zurück und verrichte dein Gebet dort; in Gottes Augen wird dies ein
größeres Verdienst sein.“ Auch Ḥájí Mirzá Siyyid ‘Alí wurde auf die Bitte des Imám-Jum‘h
ersucht, seinen Neffen nach Hause zu begleiten. Diese Vorsichtsmaßnahme, welche Shaykh
Abú-Turáb für weise erachtete, entsprang der Sorge, daß nach der Auflösung der Gemeindeversammlung
einige Übelwollende unter der Menge es darauf anlegen könnten, den Báb zu beleidigen,
oder gar Sein Leben in Gefahr zu bringen. Aber ohne den Scharfsinn, die Sympathie und die
sorgfältige Aufmerksamkeit, die der Imám-Jum‘ih des öfteren noch bei solchen Gelegenheiten
so auffallend zur Schau trug, würde das wütende Volk zweifellos dazu verleitet worden
sein, seine wilde Begehrlichkeit zu befriedigen,
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und würde es die verabscheuungswürdigsten Ausschreitungen begangen haben. Es schien das
Werkzeug der unsichtbaren Hand gewesen zu sein, dazu bestimmt, das Leben und die Sendung
dieses jungen Mannes zu beschützen.
Der Báb erreichte wohlbehalten Sein Haus und eine Zeitlang war es Ihm möglich, in der Zurückgezogenheit Seines Heims, in enger Gemeinschaft mit Seiner Familie und den Verwandten ein verhältnismäßig ruhiges Leben zu führen. In jenen Tagen feierte Er den Anbruch des ersten Naw-Rúz, seitdem Er Seine Sendung erklärt hatte. Dieses Fest fiel in jenem Jahr auf den 10. Rabí’u’l-Avval 1261 d. H.1)
Einige derer, die bei dieser denkwürdigen Gelegenheit in dem Masjid-i-Vakíl zugegen gewesen waren und die Ausführungen des Báb mit angehört hatten, waren tief beeindruckt durch die meisterhafte Art, wodurch es diesem jungen Manne ohne alle Unterstützung gelungen war, Seine furchtbaren Widersacher zum Schweigen zu bringen. Bald nach dieser Begebenheit wurde ein jeder von ihnen dazu geführt, der Wirklichkeit Seiner Sendung inne zu werden und ihre Herrlichkeit zu erkennen. Unter diesen war Shaykh ‘Alí Mírzá, der Neffe jenes Imám-Jum'ih, ein junger Mann, der eben volljährig geworden war. Der Samen, der in sein Herz gefallen war, wuchs und ging auf, bis er im Jahre 1267 d.H.2) den Vorzug hatte, Bahá’u’lláh im ‘Iráq zu begegnen. Dieser Besuch erfüllte ihn mit Begeisterung und Freude. Sehr angeregt kam er in seine Heimat zurück und nahm mit verdoppelter Tatkraft die Arbeit für die Sache wieder auf. Von da an bis auf die heutige Zeit hat er bei seiner Arbeit verharrt und hat durch seinen aufrechten Charakter und seine völlige Hingabe an seine Regierung und Heimat sich ausgezeichnet. Kürzlich ist ein Brief von ihm, an Bahá’u’lláh gerichtet, im heiligen Land eingetroffen, in dem er seiner außerordentlichen Befriedigung über den Fortschritt der Sache in Persien Ausdruck verleiht. „Ich bin stumm vor Staunen“, so schreibt er, „wenn ich den Beweis von Gottes unüberwindbarer Macht bei meinen Volksgenossen wahrnehme. In einem Lande, das jahrelang den Glauben so grausam verfolgte, ist ein Mann, der 40 Jahre lang in ganz Persien als Bábí bekannt war, nun zum einzigen Schiedsrichter in einem Fall von Meinungsverschiedenheit ernannt, in den einerseits der Zillu’s-Sultán, der tyrannische Sohn des Sháh’s und geschworener Feind der Sache, und andererseits Mírzá Fatḥ-‘Alí Khán, der Ṣáḥib-i-Díván, verwickelt ist. Es wurde öffentlich angekündigt, daß, wie auch der Schiedsspruch dieses Bábí sei, dieser vorbehaltlos von beiden Parteien angenommen und unverzüglich in Kraft gesetzt werden müsse.“
Ein gewisser Muḥammad-Karím, der ebenfalls bei der Gemeinde an jenem Freitag zugegen gewesen war, wurde ebenfalls bei dieser Gelegenheit von des Báb’s bemerkenswertem Verhalten angezogen. Was er an diesem Tag sah und hörte, hatte seine sofortige Bekehrung zur Folge. Verfolgungen trieben ihn aus Persien fort nach dem ‘Iráq, woselbst er in der Gegenwart von Bahá’u’lláh sein Verständnis und seinen Glauben immer mehr vertiefte. Später wurde ihm von Ihm befohlen, nach Shíráz zurückzukehren und sich mit besten Kräften der Verbreitung der Lehre zu widmen. Dort verblieb und arbeitete er bis zu seinem Tod.
Ein weiterer war Mírzá Áqáy-i-Rikáb-Sáz. Er war von jenem Tag ab derart begeistert für den Báb, daß keine noch so schwere und anhaltende Verfolgung seine Überzeugung erschüttern noc seine strahlende Liebe verdunkeln konnte. Auch er gelangte in die Gegenwart von Bahá’u’lláh im ‘Iráq. Auf die Anfrage über die Auslegung der Unzusammenhängenden Zeilen des Qur’án und über den Sinn des Verses von Núr, wurde er mit einem besonders hiefür geschriebenen Tablet, aus der Feder Bahá’u’lláh’s geoffenbart, begünstigt. Auf Seinem Pfad erlitt er schließlich den Märtyrertod.
Ebenso war unter ihnen Mírzá Raḥím-i-Khabbáz, der sich durch seine Furchtlosigkeit und glühende Begeisterung auszeichnete. Er ließ in seinen Bemühungen nicht nach bis zu seiner Todesstunde.
Ḥájí Abu’l-Ḥasan-i-Bazzáz, der als Reisebegleiter des Báb bei Seiner Pilgerfahrt nach Ḥijáz
nur dunkel die überwältigende Majestät Seiner Sendung wahrgenommen hatte, war an jenem
denkwürdigen Freitag tief ergriffen und vollständig verwandelt. Er brachte dem Báb eine
solche Liebe entgegen, daß Tränen übermächtiger Ergriffenheit dauernd seinen Augen
entströmten. Alle, die ihn kannten, bewunderten die Lauterkeit seines Wandels und lobten sein
Wohlwollen und seine Aufrichtigkeit. Er und seine beiden Söhne haben durch ihre Taten die
Treue zu ihrem Glauben bewiesen und haben sich die Hochachtung ihrer Mitgläubigen erworben.
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Ein weiterer, der den Zauber des Báb an jenem Tag erlebte, war der verstorbene Ḥájí Muḥammad-Bisát, ein wohlbewanderter Mann in den metaphysischen Lehren des Islám und ein großer Bewunderer sowohl von Shaykh Aḥmad als auch von Siyyid Káẓim. Er war von gütiger Veranlagung und mit äußerst humorvollem Sinn begabt. Er hatte die Freundschaft des Imám-Jum‘ih erworben, stand auf vertrautem Fuß mit ihm und war auch ein getreuer Besucher der Freitag-Gemeindeandachten.
Das Naw-Rúz jenes Jahres, das den Beginn eines neuen Frühlings verkündete, war zugleich symbolisch für die geistige Wiedergeburt, deren erste Wehen schon landauf landab erkannt werden konnten. Eine Anzahl der bedeutendsten und gelehrtesten unter dem Volk dieses Landes erhoben sich aus der winterlichen Vereinsamung der Achtlosigkeit und wurden neubelebt durch den verjüngenden Hauch der neuerstandenen Offenbarung. Die Samenkörner, welche die Hand der Allmacht in ihre Herzen gesenkt hatte, keimten zu Blüten von reinstem und lieblichstem Dufte auf. Als der Windhauch Seiner göttlichen Gnade und milden Barmherzigkeit über diese Blumen wehte, verbreitete sich die durchdringende Kraft ihrer Düfte weit und breit über das ganze Land. Sie ergossen sich sogar über die Grenzen Persiens hinaus. Sie erreichten Karbilá und regten die Seelen derer an, die der Wiederkunft des Báb in ihren Städten in Erwartung harrten. Kurz nach Naw-Rúz traf eine Epistel auf dem Weg über Basrih3) bei ihnen ein, durch die der Báb, welcher beabsichtigt hatte, von Ḥijáz nach Persien über Karbilá zurückzukehren, ihnen die Änderung Seines Planes mitteilte, wie auch die Unmöglichkeit, fürderhin Sein Versprechen einzuhalten. Es wies sie an, nach Iṣfáhán zu gehen und dort zu bleiben, bis sie weitere Aufträge erhalten würden. „Sollte es ratsam erscheinen“, so fügte Er hinzu, „so werden Wir euch ersuchen, euch nach Shíráz zu begeben; wenn nicht, dann verweilt in Iṣfáhán bis die Zeit kommt, da Gott euch bekanntgeben wird, was Sein Wille und Seine Führung ist.“
(Fortsetzung folgt.)
1) März 1845 n. Chr.
2) 1850-51 n. Chr.
3) = Basra.
Mystik und die Bahá’í-Offenbarung, ein Gegensatz[Bearbeiten]
Ruhi Afnán, ein Vetter unseres Hüters, schrieb ein Buch unter obigem Titel*) und setzt Sinn und Zweck dieser nicht umfangreichen, aber wichtigen Schrift in den ersten Sätzen der Einleitung wie folgt auseinander:
„Bahá’u’lláh hat Seine Botschaft in einer Welt widerstreitender Ideen und Philosophien geoffenbart. Einige davon gehören in das Gebiet der Religionen und versuchen, dem Menschen den Weg zu zeigen, den seine Seele auf ihrem Fluge zu ihrem geistigen Ziele verfolgen soll. Unter diesen Auffassungen der Religion nun bemühen sich manche zu engherzig nur darum, diesen Flug zu verbessern, andere wieder sind zu weitherzig, um noch den Namen Religion oder Glaube zu verdienen. Inmitten dieser geistigen Bewegungen hat sich die Mystik seit undenklichen Zeiten der orthodoxen Religion gegenüber in Kampffront gehalten und versucht, ihre Anhänger zu ihren eigenen Scharen zu locken. Es ist darum für jeden Erforscher des Bahá’í-Gedankens von höchster Wichtigkeit, zu wissen, was Bahá’u’lláh über diesen lebenswichtigen Gegenstand gesagt hat, der viele der größten Geister der Vergangenheit gefesselt hat. Er wird von den Bahá’í als der Prophet Gottes für dieses herrliche Zeitalter betrachtet und so enthält für sie jede Darlegung, die Er gibt, das volle Wesen der Wahrheit. Seine Auslegung des geistigen Lebens ist daher die, welcher vertrauensvoll gefolgt werden kann, und im Sinne dieses Glaubens ist jedes Wort, das Er ausspricht, Gottes Entscheidung über diesen Gegenstand.“
Den Begriff „Mystik“ faßt Ruhi Afnán im engeren Sinne auf als eine Art „Philosophie der
Religion“, wobei also dem Mystiker sein religiöses System, seine eigenen Meditationen und
Inspirationen mehr gelten, wie die Autorität des geoffenbarten Wortes eines bestimmten
Propheten. Besonders die Unio mystica, die vermeintliche Einswerdung des Mystikers mit Gott ist
der Punkt, welcher dem Bahá’í-Glauben geradezu gegensätzlich erscheint. Denn wie manchesmal
liegt hinter der Kontemplation, Meditation und Inspiration des Mystikers eine verfeinerte
Selbstsucht verborgen, sei es eine harmlose, innige Beschaulichkeit, sei es ein asoziales
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Einsiedlertum oder gar ein gefährliches Abirren in selbstherrliche Illusionen, wodurch dann gerne
eine solche Seele den Pflichten des Lebens und den Nöten der Mitmenschen ausweicht und die
oft sehr unbequemen Worte der großen Propheten auf eigene Weise „erlebt“ und auslegt. Es
ist tatsächlich die Demut und das Befolgen der Gebote der Manifestationen im Leben und in
der Tat auch auf diesem Gebiete der Maßstab und der Leitstern, welcher die Seelen am
unmerklichen Abgleiten hindert und vor den Gefahren im Meere des Mystischen schützt. Aber
selbst die Großen unter den Mystikern — es werden in diesem Buche Franz von Assisi und
Jalál ‘ed-Din Rúmi genannt — „mögen unbewußt gewisse falsche Auffassungen sich angeeignet
haben, nur waren sie so durchtränkt durch den Geist der Propheten, daß sie diese
Hemmungen überwanden und eine machtvolle Kraft sich errangen, ihre Zeitgenossen Gott und
einem wahren geistigen Leben näher zu bringen“.
Dieses so häufige Abweichen der Mystik vom wahren Kern einer jeden Religion, insbesondere auch des Bahá’í-Glaubens, steigert sich in extremen Fällen geradezu zu einem Gegensatz, wie er dem Titel entsprechend in diesem Buche untersucht wird. Dieser Gegensatz beruht neben den oben geschilderten seelischen Ursachen vor allem auf einer Verschiedenheit des Weltbildes. ‘Abdu’l-Bahá sagt von den Gnostikern, jenen frühchristlichen Mystikern: „Bei ihnen ist das Dasein auf Gott und die Geschöpfe begrenzt; sie anerkennen nichts Drittes. Die Wirklichkeit sei das Meer und die Form sei die Welle. Solches ist aber nicht der Glaube bei den Propheten. Nein, diese haben das Dasein noch einer dritten Welt erlebt: Die Welt Gottes, die Welt göttlichen Willens und die Welt der Geschöpfe.“ Bahá’u’lláh und ‘Abdu’l-Bahá betonen wiederholt die Unzugänglichkeit Gottes. Der einzige Zugang zu Seiner Natur, dessen wir sicher sein dürfen, ist, wie ‘Abdu’l-Bahá sagt, der, daß von Ihm Dasein und Walten des Weltalls abhängt. Alle die verschiedenen Begriffe, die wir Ihm sonst anzuhängen versuchen, sind Schöpfungen unserer Einbildung. Der Báb sagt, daß, wie eine Ameise, wenn sie Gott beschreiben wollte, Ihn mit einem Paar ungeheurer Fühler darstellen würde, so eben auch der Mensch dem Göttlichen Wesen Macht und Vernunft zuschreibt aus dem einfachen Grunde, weil diese ihm Zeichen von Größe sind. — Gott aber hat in Seiner Güte die Geschöpfe nicht von Seiner Nähe verbannt, sondern Er hat ihnen die Manifestationen als Mittler geschenkt. „Und diese Erkenntnis (Gottes) kann auf keine andere Weise erlangt werden als durch die Erkenntnis Seiner göttlichen Manifestation.“ (Bahá’u’lláh.) Darum ist deren Autorität immer höher als die der „inneren Stimme“. Nur liegt natürlich in dem Bahá’í-Grundsatz, die Wahrheit selbständig zu erforschen, die Verpflichtung, diese beiden miteinander in Einklang zu bringen. Dies ist ein wichtiger Antrieb für unsere Entwicklung.
Ein anderer Unterschied im Weltbild des Bahá’í-Glaubens und vieler Mystiker ist der, daß die letzteren an eine Rückkehr der Seele zu Gott, an ihr Aufgehen in Gott glauben, nachdem sie, in einer oder vielen Verkörperungen, den Bogen der Schöpfung durchlaufen hat, wogegen der Bahá’í-Glaube eine endlose Weiterentwicklung der Seele nach dem Tode lehrt; das Wesen Gottes aber erreicht sie nie. Auch dieser Gegensatz entspringt der Anschauung von nur zwei Welten (Welt Gottes und Welt der Geschöpfe) bei den Mystikern, von drei Welten (Welt Gottes, Welt des göttlichen Willens und Welt der Geschöpfe) beim Bahá’í-Glauben und bei allen Offenbarungsreligionen.
Ein weiterer Unterschied, der damit zusammenhängt, ist der, daß manche Mystiker buchstäblich
glauben, daß ein Stück Gottes im Herzen des Menschen thront, wofern sie sich nicht gar
pantheistisch ein Stück Gottes allem in der Schöpfung innewohnend denken. Die Sufi z. B.
sagen: „Die Wirklichkeit der Dinge ist die Offenbarung (Manifestation) der wirklichen
Einheit“ — wobei sie unter „Offenbarung“ den Übergang der Wirklichkeit eines Dings aus einer
Form in eine andere verstehen (wie z. B. der Same, der zum Baume wird). Die Propheten aber
sagen: „Die Wirklichkeit der Dinge ist die Schöpfung der wirklichen Einheit“ — wie etwa
ein Schreiner einen Tisch schafft, ohne daß also ein Stück seiner selbst eine andere Form,
nämlich die eines Tisches annimmt; oder wie etwa die Sonne, die ihre Strahlen aussendet, ohne
selbst aus ihrer himmlischen Unnahbarkeit herabzusteigen. Die schon erwähnte Folgerung jener
irrigen Vorstellung vieler Mystiker ist also die, daß jeder Mensch, der den Pfad
der Mystik betritt und ihn zu Ende zu gehen fähig ist, die Vereinigung mit Gott erlebt, wie
sie mit Worten kaum beschrieben werden kann, aber oft jenem Zustande nicht unähnlich geschildert
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wird, wie ihn der Bahá’í-Glaube nur den Manifestationen, einer grundsätzlich anderen Stufe
von Menschen, zuerkennt. Diese Stufe der Manifestation aber, so betont der Bahá’í-Glaube,
kann einer Seele durch noch so eifriges Bemühen nicht geschenkt werden. Ihr Erscheinen
auf Erden ist nach ehernen geistigen Gesetzen vorherbestimmt, ihre Stufe nur ganz wenigen
vorbehalten.
Ähnlich wie über die Zukunft der Seele weichen auch die Weltanschauungen über den Ursprung der Seele voneinander ab. Im Gegensatz zu vielen Mystikern, die sagen, daß die Seele einstens aus Gott kam, lehrt der Bahá’í-Glaube, daß die Seele, die zu ewigem Leben, also zu keinem Ende bestimmt ist, einstmals erschaffen wurde, also einen Anfang hatte. Bahá’u’lláh sagt in einem Tablet: Das menschliche Dasein ist „ein abhängiges Dasein und nicht ein wesentliches Dasein, weil ein abhängiges Dasein aus einer Ursache hervorging, ein wesentliches Dasein aber nicht. Dieses letztere ist nur Gott eigen“.
Ruhi Afnán setzt sich in seinem Buche nun noch ausführlich mit den Lehren orientalischer Mystiker, besonders der Sufi, auseinander. Er geht dabei auf die einzelnen Grade ein, in welche die Mystiker den Pfad bis zur erhofften Vereinigung mit Gott einteilen, und stellt dann dem gegenüber „Die sieben Täler“, jene Schrift Bahá’u’lláh’s, welche gerade für die Sufis einstens geoffenbart wurde, allerdings vor Seiner Erklärung in Baghdád. Aber eben dies erscheint uns bedeutsam, denn der „Geliebte“, zu dem wir durch das Tal des Suchens und das Tal der Liebe wandern, ist nicht die unerreichbare Gottheit, sondern die Manifestation. Auf ihr Kommen sollten in dieser Schrift besonders die Mystiker vorbereitet werden. Nur wenn dann im dritten Tale die Erkenntnis der Manifestation erreicht worden ist, kann im vierten Tale ihre Einheit erlebt werden: die Einheit der Manifestation mit Gott im Sinne der Sonne und ihres Spiegelbildes, die Einheit der Manifestationen untereinander und die Einheit des Zyklus, über welchen die Manifestation herrscht in der Welt des göttlichen Willens und in der Welt der Schöpfung. Bahá’u’lláh führt uns zu dieser Auffassung Seines Buches im Tale der Einheit ausdrücklich durch die folgenden Worte, welche zugleich einige der wichtigsten Grundsätze der Mystik klären: „Sei achtsam, daß du nicht meinest, diese Worte bedeuten eine Verkörperung oder ein Herabsteigen der Welten Gottes in die Stufe der Geschöpfe; denn die göttliche Wesenheit ist erhaben über Aufsteigen und Herabsteigen, über Eintritt und Austritt. Sie ist es immer gewesen und wird immer geheiligt sein von den Attributen des Geschöpfes. Nie hat Ihn je einer gekannt und zu Seinem Wesen hat keine Seele Zutritt gefunden. Alle Gnostiker sind im Tale Seiner Erkenntnis in die Irre gegangen und alle Mystiker sind verwirrt worden in ihrer Sehnsucht, Sein Wesen zu begreifen. Er ist erhaben über die Fassungskraft eines jeden Menschen, auch des Einsichtsvollen, und geheiligt über die Schau eines jeden Gnostikers. „Jede Straße ist versperrt, jede Nachfrage ist verboten. Seine Beweise sind Seine Worte und Sein Dasein ist Seine Bestätigung.“ .... Was über die Grade der Erkenntnis verkündet worden ist, betrifft die Erkenntnis der Offenbarungen jener Sonne der Wahrheit, die in den Spiegeln widergestrahlt wird. ... So ist es klar geworden, daß sogar für die Offenbarer es keinen Austritt noch Eintritt gibt. Wie noch viel mehr für jenes Wesen des Seins und des ersehnten Geheimnisses!...“
Natürlich soll mit diesen unseren Ausführungen nicht die wahre Mystik angegriffen oder gar abgelehnt werden. Auch sie wird, wie so vieles andere, das seither krankhaft verkümmert oder übersteigert sein Wesen trieb, durch die Bahá’í-Offenbarung eine Reinigung und Auferstehung feiern und wird vielleicht noch ungeahnte Früchte hervorbringen, aber in ihren vom Schöpfer gezogenen Grenzen, als dienende Tochter der Religion, unter dem segnenden Schatten und belebt durch den schöpferischen Geist der neuen Manifestation Bahá’u’lláh.
Dr. Adelbert Mühlschlegel.
*) „Mysticism and the Bahá’í Revelation a contrast“, herausgegeben durch
das Bahá’í Publishing Committee, New York, 1934.
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