Sonne der Wahrheit/Jahrgang 15/Heft 10/Text

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S ONNE
DER
WAHRHEIT
 
ORGAN DER BAHÁ’Í
IN DEUTSCHLAND UND ÖESTERREICH
 

 
HEFT 10 15. JAHRGANG DEZ. 1935
 


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Die Bahá’í-Lehre,[Bearbeiten]

die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.

Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.

Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.

Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.

Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“

Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.

Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.

Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.


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SONNE DER WAHRHEIT
Organ der Bahá’í in Deutschland und Österreich
Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198
Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo
Verwaltung: Paul Gollmer Begründet von Alice Schwarz-Solivo
Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark, im Ausland 2.– Reichsmark
Heft 10 Stuttgart, im Dezember 1935
Masá’il — Fragen 92
15. Jahrgang

Inhalt: Das unauslöschliche Feuer. — Nabíl’s Erzählung: Der Aufenthalt des Báb in Shíráz nach der Pilgerreise. — Weihnachtsgedanken.


Alles, was im Himmel und auf Erden ist, weist die göttlichen Namen und Eigenschaften auf, bis die Spuren des Glanzes dieser Sonne der Wahrheit in jedem Atom offenbar werden; daher kann ohne das Erscheinen dieses Glanzes nichts mit diesem Kleid des Lebens geschmückt werden, noch zum Dasein in der Erscheinungswelt gelangen. Was für Sonnen des Wissens sind in einem Atom verborgen! Welche Ozeane der Weisheit sind in einem Tropfen Wasser versteckt! Unter allen Wesen ist es der Mensch, der besonders für dieses Kleid bestimmt und zu dieser Würde erwählt ist; denn alle göttlichen Namen und Eigenschaften sind im Menschen auf die vollkommenste und beste Weise offenbar und sichtbar. Alle diese Namen und Eigenschaften beziehen sich auf den Menschen.

Worte von Bahá’u’lláh1)


1) Aus „Die Bahá’í-Offenbarung". Stuttgart 1925, S. 34.



Das unauslöschliche Feuer[Bearbeiten]

Worte von Bahá’u’lláh2)

2) Entnommen und ins Deutsche übertragen aus World Order, Oktober 1935, S. 259 ff.


Das ist der Tag, an dem das Meer der Gnade Gottes den Menschen geoffenbart worden ist, der Tag, an dem die Sonne Seiner göttlichen Gnade ihre Strahlen über sie ausgebreitet hat, der Tag, an dem die Wolken Seiner Freigebigkeit und Gunst die ganze Menschheit überschatten. Jetzt ist die Zeit, die Niedergebeugten zu ermutigen und zu beleben durch die stärkende Brise der Liebe und Gemeinschaft und durch die lebendigen Wasser des Wohlwollens und der Barmherzigkeit.

Jene, welche die Geliebten Gottes sind, müssen, an welchem Ort sie sich auch treffen und wem sie auch begegnen mögen, in ihrer Stellung zu Gott und in der Art ihrer Lobpreisung Seiner Ehre und Seiner Herrlichkeit solche Demut und solchen Gehorsam bekunden, daß jedes Atom des Staubes unter ihren Füßen die Tiefe ihrer Ergebenheit bezeuge. Die Unterhaltung, welche diese heiligen Seelen miteinander pflegen, sollte mit einer solchen Macht [Seite 74] beseelt sein, daß selbst diese Atome des Staubes von ihrem Einfluß durchdrungen werden. Sie sollten sich in solcher Weise betragen, daß die Erde, über die sie schreiten, sich niemals erlauben dürfte, Worte wie diese an sie zu richten: „Ich bin euch vorzuziehen, denn sehet, wie geduldig ich beim Tragen der Last bin, die der Landmann mir auferlegt hat. Ich bin das Werkzeug, das unausgesetzt allen Lebewesen den Segen spendet, welchen Er, Der die Quelle aller Gnade ist, mir anvertraut hat. Ungeachtet der Ehre, die mir zuteil wurde, und der zahllosen Beweise meines Reichtums -— eines Reichtums, der den Bedürfnissen aller Geschöpfe Genüge schafft — sehet das Maß meiner Demut, seid Zeuge dessen, mit welcher völligen Ergebenheit ich mir selbst gestatte, von den Füßen der Menschen betreten zu werden... !“

Erzeiget einander Nachsicht und Wohlwollen und liebet einander. Sollte irgend einer von euch nicht fähig sein, eine gewisse Wahrheit zu erfassen oder sie zu begreifen suchen, so beweist ihm, wenn ihr mit ihm redet, einen Geist größter Freundlichkeit und höchsten Wohlwollens. Helft ihm, die Wahrheit zu schauen und zu erkennen, ohne euch ihm gegenüber im geringsten überlegen zu betrachten oder zu glauben, größere Begabung zu besitzen.

Die hohe Pflicht des Menschen an diesem Tage ist, zu erreichen, an dem Strom der Gnade teilzunehmen, den Gott für ihn ergießt. Laßt deshalb niemand die Weite oder die Enge des Fassungsvermögens in Betracht ziehen. Der Anteil einiger mag sich auf die Handfläche eines Menschen beschränken, der Anteil anderer mag einen Becher und wieder anderer sogar das Maß einer Gallone füllen.

Jedes Auge sollte an diesem Tage darnach suchen, womit am besten die Sache Gottes gefördert wird.

Groß ist wahrlich dieser Tag! Die Hinweise, die auf ihn in allen heiligen Schriften als der Tag Gottes erfolgt sind, bezeugen seine Größe. Die Seele jedes Propheten Gottes, jedes Göttlichen Gesandten, hat nach diesem wunderbaren Tage gedürstet. All die verschiedenen Menschengeschlechter auf Erden haben sich ebenso darnach gesehnt, diesen erleben zu dürfen. Nicht eher jedoch hat das Tagesgestirn Seiner Offenbarung sich am Himmel des Willens Gottes geoffenbart, als alle, außer jenen, die zu führen dem Allmächtigen gefiel, wie vom Donner gerührt und unbesonnen befunden wurden.

O du, der du Meiner gedacht! Der drückendste Schleier hat die Völker der Erde von Seiner Herrlichkeit abgeschlossen und hinderte sie, auf Seinen Ruf zu horchen. Möge Gott gewähren, daß das Licht der Einheit die ganze Erde umhülle, und daß das Siegel „das Königreich ist Gottes“ auf die Stirne aller ihrer Bewohner gedrückt werde.

Erhebt euch, o Pilger, auf dem Pfad zur Liebe Gottes, und helft Seiner Sache. Sprich: Tauscht diesen Jüngling, o Volk, weder um die Vergänglichkeit dieser Welt noch um die Wonnen des Himmels ein. Bei der Wahrhaftigkeit des einen wahren Gottes! Ein Haar von Ihm übertrifft alles, was im Himmel und auf Erden ist. Hütet euch, o Menschen, laßt euch nicht verlocken, euch von Ihm zu trennen des Goldes und Silbers wegen, das ihr besitzt. Laßt Seine Liebe einen Speicher der Schätze für eure Seelen sein, an dem Tage, an dem nichts anderes als Er euch fördern wird, an dem Tage, an dem jede Säule erzittern wird, an dem die Haut der Menschen erschauern wird, an dem aller Augen vor Entsetzen erstarren werden. Sprich: O Völker! Fürchtet Gott und wendet euch nicht verächtlich von Seiner Offenbarung ab. Werft euch vor Gott auf euer Angesicht nieder und preist Sein Lob bei Tag und bei Nacht.

Laß deine Seele mit der Flamme dieses unauslöschlichen Feuers erglühen, das im innersten Herzen der Welt in solcher Weise brennt, daß alle Wasser des Weltalls imstande sein werden, seine Glut zu kühlen. Dann erwähne deinen Herrn, daß vielleicht die Achtlosen unter Unseren Dienern durch deine Worte gewarnt und die Herzen der Rechtschaffenen beglückt sein mögen.

Sprich: O Menschen! Dies ist ein unvergleichlicher Tag. Unvergleichlich muß gleichfalls die Zunge sein, welche die Lobpreisung des Ersehnten aller Völker ausspricht, und unvergleichlich muß die Tat sein, die darnach strebt, in Seinen Augen annehmbar zu sein. Die ganze menschliche Rasse hat sich nach diesem Tag gesehnt, daß dieser vielleicht erfülle, was sich wohl für ihre Stufe ziemt und ihrer Bestimmung würdig ist. Gesegnet ist der Mensch, den die irdischen Angelegenheiten nicht abzuhalten vermochten, Ihn zu erkennen, Der der Herr ist über alle Dinge.

Das menschliche Herz ist so verstockt geworden, daß weder die Zerstörung der Stadt, noch das Einstürzen der Berge zu Staub oder gar die [Seite 75] Spaltung der Erde es aus seiner Erstarrung aufrütteln können. Die in den Schriften gemachten Andeutungen sind entfaltet und die darin berichteten Zeichen sind geoffenbart worden, und der prophetische Ruf wird ständig erhoben. Und doch sind alle, ausgenommen solche, die zu führen Gott gefiel, in der Trunkenheit ihrer Achtlosigkeit verwirrt.

O Salmán! Das Tor der Erkenntnis des Urewigen Wesens war von jeher verschlossen und wird für immer vor dem Angesicht der Menschen verschlossen sein. Keines Menschen Begreifen wird jemals zu Seinem heiligen Hofe Zutritt gewinnen. Als ein Zeichen Seiner Barmherzigkeit jedoch und als ein Beweis Seiner göttlichen Gnade hat Er den Menschen die Tagesgestirne Seiner göttlichen Führung, die Sinnbilder Seiner göttlichen Einheit geoffenbart und hat die Erkenntnis dieser geheiligten Wesen als gleichbedeutend mit der Erkenntnis Seines eigenen Selbst bestimmt. Wer auch immer sie erkannt hat, der hat Gott erkannt. Wer immer auf ihren Ruf horcht, hat auf die Stimme Gottes gehorcht, und wer immer für die Wahrheit ihrer Offenbarung Zeugnis ablegt, hat für die Wahrheit von Gott Selbst Zeugnis abgelegt. Wer immer sich von ihnen abwendet, hat sich von Gott abgewandt, und wer auch an sie nicht glaubt, hat an Gott nicht geglaubt. Jeder von ihnen ist der Weg Gottes, der diese Welt mit den himmlischen Reichen verbindet, und ist die Fahne Seiner Wahrheit für jeden in den Reichen auf Erden und in den Himmeln. Sie sind die Offenbarungen Gottes inmitten der Menschen, die Beweise Seiner Wahrheit und die Zeichen Seiner Herrlichkeit.

Ein Tropfen des wogenden Weltenmeeres Seiner unerschöpflichen Gnade hat die ganze Schöpfung mit dem Schmuck des Daseins geziert, und der Odem, der aus Seinem unvergleichlichen Paradies wehte, hat alle Wesen mit dem Gewand Seiner Heiligkeit und Herrlichkeit bekleidet. Ein Sprühen aus den unermeßlichen Tiefen Seines unumschränkten und alldurchdringenden Willens hat aus völligem Nichtsein eine Schöpfung ins Dasein gerufen, die in ihrer Stufe unendlich und in ihrer Dauer unsterblich ist. Die Wunder Seiner Gnade können niemals aufhören und der Strom Seiner barmherzigen Gunst kann nimmermehr aufgehalten werden. Der Werdegang Seiner Schöpfung hat keinen Beginn gehabt und kann kein Ende haben.

In jedem Zeitalter und Zyklus hat Er durch das glanzvolle Licht, das durch die Offenbarer Seiner wunderbaren Wesenheit herabflutete, alle Dinge neu erschaffen, so daß alles, was auch in den Himmeln und auf Erden die Zeichen Seiner Herrlichkeit widerspiegelt, des Stromes Seiner Gnade nicht beraubt sein noch der Schauer Seiner Gunst entraten möge. Wie allumfassend sind die Wunder Seiner grenzenlosen Gunst! Seht, wie sie die ganze Schöpfung durchdrungen haben. Die ihnen innewohnende Kraft ist derart, daß nicht ein einziges Atom im ganzen Weltall gefunden werden kann, das nicht die Beweise Seiner Macht bezeugte, das nicht Seinen heiligen Namen verherrlichte oder nicht das strahlende Licht Seiner Einheit ausdrückte. So vollkommen und umfassend ist Seine Schöpfung, daß kein Geist und kein Herz, so begierig oder rein sie auch sein mögen, jemals das Wesen der unbedeutendsten Seiner Geschöpfe erfassen, wieviel weniger das Geheimnis Dessen ergründen können, Der das Tagesgestirn der Wahrheit, Der die unsichtbare und unerkennbare Wesenheit ist. Die Vorstellungen der frömmsten Mystiker, die Kenntnisse der Vollkommensten unter den Menschen, das höchste Lob, das die menschliche Zunge oder Feder aussprechen können, sind alles das Ergebnis des begrenzten Menschenverstandes und durch seine Beschränkungen bedingt.

O ihr Achtlosen, schüttelt den Schlaf der Nachlässigkeit ab, damit ihr den Strahlenglanz gewahr werden möget, den Seine Herrlichkeit über die Welt ausgebreitet hat. Wie töricht sind jene, die über den frühzeitigen Anbruch Seines Lichts murren. O ihr, die ihr innerlich blind seid! Ob zu früh oder zu spät, die Beweise Seiner strahlenden Herrlichkeit sind jetzt in Wirklichkeit geoffenbart. Es geziemt sich für euch, daß ihr euch vergewissert, ob ein solches Licht erschienen ist oder nicht. Es liegt weder in eurer Macht noch in der meinigen, die Zeit zu bestimmen, in der es geoffenbart werden sollte. Gottes unerforschliche Weisheit hat seine Stunde vorherbestimmt. Seid zufrieden, o Menschen, mit dem, was Gott für euch bestimmt und für euch vorgesehen hat... O meine Übelwünschenden! Das Tagesgestirn der ewigen Führung legt Zeugnis für mich ab: hätte es in meiner Macht gelegen, so würde ich unter keinen Umständen meine Einwilligung gegeben haben, mich selbst vor den Menschen auszuzeichnen, denn der Name, den ich trage, verschmäht es völlig, sich mit diesem Geschlecht zu verbinden, dessen Zungen befleckt und dessen Herzen falsch sind. Und [Seite 76] so oft ich meinen Frieden zu bewahren und still zu sein wählte, siehe, da rüttelte mich die Stimme des Heiligen Geistes auf, der zu meiner Rechten war, und der Erhabene Geist erschien vor meinem Angesicht und Gabriel überschattete mich, und der Geist der Herrlichkeit zog in meine Brust ein und befahl mir, mich zu erheben und mein Schweigen zu brechen. Wenn euer Gehör gereinigt und euer Ohr aufmerksam ist, werdet ihr sicherlich vernehmen, daß jedes Glied meines Körpers, nein, alle Atome meines Wesens, Verkünder und Zeugen dieses Rufes sind: „Gott, außer Dem kein anderer Gott ist, und Er, dessen Schönheit nun geoffenbart wurde, ist die Widerspiegelung Seiner Herrlichkeit für alle, die im Himmel und auf Erden sind.“



Nabíl’s Erzählung[Bearbeiten]

Übersetzung aus „The Dawn-Breakers“, Nabíl’s Narrative of the early days of the Bahá’í Revelation, New York 1932


8. Kapitel: Der Aufenthalt des Báb in Shíráz nach der Pilgerreise (Fortsetzung)

Der Empfang dieser unerwarteten Nachricht rief eine beträchtliche Bewegung unter jenen hervor, die sehnsüchtig die Ankunft des Báb in Karbilá erwartet hatten. Es beunruhigte ihr Gemüt und stellte ihre Treue auf die Probe. „Und was ist es mit Seinem Versprechen, das Er uns gab?“ tuschelten einige der Unzufriedenen unter ihnen. „Erachtet Er den Bruch Seines Wortes als die Vermittlung des Willens Gottes?“ Die anderen, im Gegensatz zu diesen Wankelmütigen, wurden gefestigter im Glauben und hingen mit noch größerer Entschlossenheit der heiligen Sache an. Ihrem Meister getreu, beantworteten sie freudig Seine Einladung und übersahen vollständig die Kritik und die Proteste derer, die in ihrem Glauben gestrauchelt waren. Sie machten sich auf den Weg nach Iṣfáhán, entschlossen, dabei zu bleiben, was auch immer der Wille und Wunsch ihres Geliebten sei. Einige Gefährten schlossen sich ihnen an, die, obgleich sie in ihrem Glauben tief erschüttert waren, ihre Gefühle dennoch verheimlichten. Mírzá Muḥammad-'Alíy-i-Nahri, dessen Tochter späterhin mit dem Größten Zweig ehelich verbunden war, und Mírzá Hádi, der Bruder von Mírzá Muḥammad ‘Alí, die beide in Iṣfáhán lebten, waren unter jenen Pionieren, deren Ausblick auf die Herrlichkeit und Erhabenheit des Glaubens die ausgesprochen bösen Ahnungen der Übelredner nicht zu verdunkeln vermochten. Unter ihnen war auch ein gewisser Muḥammad-i-Ḥaná-Sáb, auch ein Einwohner Iṣfáhán’s, der jetzt in dem Hause, von Bahá’u’lláh dient. Eine Anzahl dieser zuverlässigen Gefährten des Báb nahmen an dem großen Kampf von Shaykh Ṭabarsí teil und entgingen wunderbarerweise dem tragischen Schicksal ihrer gefallenen Glaubensbrüder.

Auf ihrem Weg nach Iṣfáhán begegneten sie in der Stadt Kangávár Mullá Ḥusayn mit seinem Bruder und Neffen, die seine Reisebegleiter bei seinem vorhergegangenen Besuch in Shíráz waren und die nach Karbilá weiterzogen. Sie waren hochentzückt von dieser unerwarteten Begegnung und baten Mullá Ḥusayn, seinen Aufenthalt in Kangávár zu verlängern, auf welche Bitte er bereitwillig einging. Mullá Ḥusayn, der, solange er in der Stadt weilte, die Gefährten des Báb zu dem Freitag-Gemeindegebet führte, stand so hoch in Achtung und Ehren seiner Mitjünger, daß eine Anzahl dieser Anwesenden, die späterhin in Shíráz ihre Untreue dem Glauben gegenüber offenbarten, von Neid erregt waren. Dazu gehörte Mullá Javád-i-Baraghání und Mullá ‘Abdu’l-‘Alíy-i-Harátí, die beide Unterwerfung unter die Offenbarung des Báb heuchelten, in der Hoffnung, ihren Ehrgeiz um Führerschaft befriedigen zu können. Beide waren insgeheim bestrebt, die beneidenswerte Stellung Mullá Ḥusayn’s zu untergraben. Durch ihre Anspielungen und Einflüsterungen bemühten sie sich fortgesetzt, seine Autorität herauszufordern und seinen Namen zu entehren.

Ich habe Mírzá Aḥmad-t-Kátib, besser bekannt in jener Zeit unter dem Namen Mullá ‘Abdu’l-Karím, der von Qazvín an der Reisegefährte von Mullá Javád gewesen war, folgendes erzählen hören: „Mullá Javád spielte oftmals in seinem Gespräch mit mir auf Mullá Ḥusayn an. Seine wiederholten herabsetzenden Bemerkungen, in kunstvolle Worte verkleidet, veranlaßten mich, meine Verbindung mit ihm abzubrechen. Jedesmal, wenn ich beschloß, meinen Umgang mit Mullá Javád abzubrechen, wurde ich von Mullá Ḥusayn daran verhindert, der meine Absicht [Seite 77] entdeckend mich bat, doch Nachsicht gegen ihn zu üben. Mullá Ḥusayn’s Verbindung mit den getreuen Gefährten des Báb trug viel zu ihrem Eifer und ihrer Begeisterung bei. Sie wurden durch sein Beispiel erzogen und waren in Bewunderung versunken über die glänzenden Eigenschaften des Geistes und Herzens, welche einen so hervorragenden Mitjünger so außerordentlich auszeichneten.“

Mullá Ḥusayn entschied sich, der Gesellschaft seiner Freunde sich anzuschließen und sich mit ihnen nach Iṣfáhán zu begeben. Allein reisend, im ungefähren Abstand eines Farsakh1) seinen Genossen voraus, wurde er, sobald er bei Einbruch der Nacht anhielt, um sein Gebet zu verrichten, von diesen eingeholt und vollendete in ihrer Gesellschaft seine Anbetung. Er war der erste, der die Weiterreise aufnahm und wurde wiederum von jener ergebenen Schar zur Morgendämmerung eingeholt, als er wiederum seinen Marsch unterbrach, um sein Gebet zu verrichten. Nur, wenn er von seinen Freunden genötigt wurde, willigte er ein, die gemeinschaftliche Form der Andacht zu beobachten. Bei solchen Anlässen folgte er manchmal der Führung eines seiner Gefährten. So groß war die Ergebenheit, die er in jenen Herzen entzündet hatte, daß eine Anzahl seiner Mitreisenden von ihren Reittieren abstiegen und sie denen anboten, die zu Fuß reisten und ihm nachfolgen wollten, unbekümmert um die Anstrengungen und Strapazen des Marsches.

Als sie sich den Vorstädten Iṣfáhán’s näherten, befürchtete Mullá Ḥusayn, daß der plötzliche Einzug einer so großen Menschenmenge die Neugier und den Argwohn ihrer Bewohner wachrufen möchte und wies diejenigen, die mit ihm reisten, an, sich zu zerstreuen und durch die Tore in kleinen und unmerkbaren Gruppen zu gehen. Einige Tage nach ihrer Ankunft erreichte sie die Nachricht, daß Shíráz im Zustand heftiger Erregung sei, daß jede Art des Verkehrs mit dem Báb verboten worden sei und daß ihr beabsichtigter Besuch in dieser Stadt mit der schwersten Gefahr beladen sei. Mullá Ḥusayn, völlig unerschrocken durch diese plötzliche Nachricht, entschloß sich, nach Shíráz weiterzuziehen. Er gab nur ganz wenigen seiner vertrauten Gefährten seine Absicht bekannt. Er legte seine Gewänder und seinen Turban ab, bekleidete sich mit Jubbih2) und Kuláh der Einwohner Khurásán’s, gab sich als einen Reiter aus Hizárih und Qúchán aus und machte sich in Begleitung seines Bruders und seines Neffen zu einer unerwarteten Stunde auf den Weg nach der Stadt seines Geliebten. Als er sich deren Toren näherte, beauftragte er seinen Bruder, im Nachtdunkel in das Haus des Oheims mütterlicherseits des Báb voranzugehen und diesen zu bitten, den Báb von seiner Ankunft zu benachrichtigen. Mullá Ḥusayn empfing anderen Tages die willkommene Nachricht, daß ihn Ḥájí Mirzá Siyyid ‘Alí eine Stunde nach Sonnenuntergang außerhalb des Stadttores erwarte. Mullá Ḥusayn traf ihn zur verabredeten Stunde und wurde in sein Haus geleitet. Oftmals in der Nacht beehrte der Báb dieses Haus mit Seiner Anwesenheit und verblieb in vertrautem Beisammensein mit Mullá Ḥusayn bis zum Tagesanbruch. Bald darnach gab Er Seinen Gefährten, die sich in Iṣfáhán versammelt hatten, die Erlaubnis, nacheinander nach Shíráz aufzubrechen und dort zu warten, bis es Ihm möglich sein würde, mit ihnen zusammenzukommen. Er warnte sie, die größte Achtsamkeit zu üben, gebot ihnen, nur wenige zugleich die Tore der Stadt zu passieren, und befahl ihnen, sich sogleich nach ihrer Ankunft in Quartiere zu zerstreuen, wie sie für Reisende vorgesehen waren, und jedwede Beschäftigung anzunehmen, die sie zu finden vermöchten.

Die erste Gruppe, welche die Stadt erreichte und mit dem Báb wenige Tage nach der Ankunft von Mullá Ḥusayn zusammentraf, bestand aus Mírzá Muḥammad - ‘Alíy-i-Nahri, Mírzá Hádí, seinem Bruder, Mullá 'Abdu'l-Karím-i-Qazvíní, Mullá Javád-i-Baraghání, Mullá ‘Abdu’l-‘Alíy-i-Harátí und Mírzá Ibráhim-i-Shirází. Im Verlauf des Beisammenseins mit Ihm verrieten die letzteren drei der Gruppe allmählich ihre Blindheit des Herzens und zeigten die Schlechtigkeit ihres Charakters. Die vielfältigen Beweise der zunehmenden Gunst des Báb zu Mullá Ḥusayn rief ihren Ärger wach und entfachte das schwelende Feuer ihrer Eifersucht. In ihrer machtlosen Wut griffen sie zu den verwerflichen Waffen des Betrugs und der Verleumdung. Zunächst unfähig, offen ihre Abneigung gegen Mullá Ḥusayn zu bekennen, suchten sie durch jeden geschickten Kniff die Gemüter zu verführen und die Zuneigung seiner ergebenen Bewunderer zu schwächen. Ihr unziemliches [Seite 78] Betragen entfremdete ihnen die Zuneigung der Gläubigen und beschleunigte ihre Trennung von der Gemeinschaft der Treuen. Durch ihr eigenes Treiben aus dem Ring des Glaubens ausgestoßen, verbanden sie sich mit dessen anerkannten Feinden und verkündeten offen ihre gänzliche Zurückweisung von dessen Ansprüchen und Grundsätzen. Das Unheil, das sie unter den Leuten jener Stadt aufrührten, war so groß, daß sie schließlich durch die Zivilbehörden ausgewiesen wurden, welche ihre Ränke ebenso verachteten wie fürchteten. Der Báb hat sie in einem Tablet, in dem Er Sich weitläufig über ihre Ränke und Untaten ausläßt, mit dem Kalb der Sámirí verglichen, dem Kalb, das weder Stimme noch Seele besitzt, das sowohl das niedrige Handwerk als auch den Gegenstand der Verehrung der launenhaften Menschen verkörpert. „Möge Deine Verdammung, o Gott“, so schrieb Er in bezug auf Mullá Javád und Mullá ‘Abdu’l-‘Alí, „auf dem Jibt und Tághút3), den beiden Götzen dieser verstockten Menschen, ruhen!“ Alle drei zogen daraufhin nach Kirmán und vereinten ihre Kräfte mit Ḥájí Mirzá Muḥammad Karím Khán, dessen Pläne sie förderten und dessen hitzige Verleumdungen sie noch zu verstärken suchten.

Eines Abends nach ihrer Ausweisung aus Shíráz, als der Báb das Heim von Ḥájí Mirzá Siyyid ‘Alí besuchte, wohin Er Mírzá Muḥammad-'Alíy-i-Nahrí, Mírzá Hádi und Mullá 'Abdu'l-Karím-i-Qazvíní zu seiner Begegnung geladen hatte, wandte Er Sich plötzlich dem letztgenannten zu und sagte: „‘Abdu’l-Karím, suchst du die Manifestation?“ Diese Worte, mit Ruhe und größter Güte gesprochen, hatten bei jenem eine ergreifende Wirkung. Er erbleichte bei dieser unerwarteten Frage und brach in Tränen aus. Er warf sich dem Báb im Zustand tiefer Erschütterung zu Füßen. Der Báb hob ihn liebevoll in Seine Arme, küßte ihn auf die Stirne und lud ihn ein, an Seiner Seite Platz zu nehmen. Im Tone zarter Zuneigung gelang es Ihm, den Aufruhr seines Herzens zu beruhigen.

Sobald sie nach Hause gekommen waren, befrugen Mírzá Muḥammad-Alí und sein Bruder den Mullá ‘Abdu’l-Karím über den Grund der heftigen Gemütsbewegung, die so plötzlich über ihn gekommen war. „Hört mich“, antwortete er ihnen, „ich will euch die Geschichte eines eigenartigen Erlebnisses erzählen, eine Geschichte, von der ich bis heute mit niemanden gesprochen habe.

(Fortsetzung folgt.)


1) Altpersisch = Parsange, ungefähr eine Wegstunde.

2) Ein Überrock.

3) Qur’án 4, 50.



Weihnachtsgedanken[Bearbeiten]

Alles irdische Geschehen ist der sinnbildliche Ausdruck geistiger Vorgänge. Wir können dem „Buche der Schöpfung“ reiches Wissen um Gottes Walten entnehmen, wenn wir geistige Urteilskraft erlangt haben. Und doch liegt ein großes Geheimnis über allen Lebensäußerungen im Reiche des Sichtbaren. Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis, ein Wirkungsfeld des göttlichen Willens. Die Schöpfung ruhte vor undenklichen Zeiten unerschaffen in Gott und trat durch Seinen Lebenshauch, Sein urschöpferisches Wort in Erscheinung. Das ewig zeugende Wort Gottes, der Logos, ist in den Daseinsstufen des Mineralischen, Pflanzlichen, Tierischen und Menschlichen wirksam. Des Menschen Bestimmung weist jedoch über rein verstandliches Erkennen und technisches Beherrschen dieser Wirkungsstufen des Geistes unendlich weit hinaus.

Von Gottes Absicht für den Menschen kündet Bahá’u’lláh: „O Menschensohn! Verhüllt in Meinem unvordenklichen Wesen und in Meinem ewigen Sein fühlte Ich Meine Liebe zu dir; deshalb erschuf Ich dich, verlieh dir Mein Ebenbild und offenbarte dir die Schönheit Meines Angesichts1).“ „O Sohn des Wortes! Wende Mir dein Gesicht zu und entsage allem anderen, außer Mir; denn Meine Hoheit ist beständig und Meine Herrschaft geht nicht unter. Würdest du etwas anderes als Mich suchen, dann würdest du fehlgehen, selbst wenn du das Weltall immer und ewig durchsuchen würdest2).“ —

Wenn die Ernte heimgeholt ist, der herbstliche Wind das goldgelbe Gewand der Wälder zu Boden wirft und die Wintersonnenwende naht, bricht seit vielen Jahrhunderten immer wieder die Adventszeit an, in der sich die Christenheit auf eines ihrer höchsten und freudigsten Feste vorbereitet: Weihnachten, die Geburtsnacht des Erlösers. Die Botschaft Christi, die in alle Welt [Seite 79] hinausdrang, war Liebe und Frieden für den Bau des Reiches Gottes auf unserer Erde.

Hat die Sendung Christi es vermocht, die vorbestimmte Gottebenbildlichkeit des Menschen zu verwirklichen und das Reich Gottes auf Erden seiner Vollendung näherzubringen? Diese Frage wird durch keine Festesfreude überwunden, wenn man es unternimmt, die Menschheitsgeschichte dem unauslöschlichen Ereignis der Weihnacht gegenüberzustellen. Sind Menschen und Völker der christlichen Zeitrechnung gottgerichteter geworden als vorausgegangene Geschlechter? Der siegreiche Einbruch der revolutionierenden Christusbotschaft in die tiefe Glaubensnot der antiken Welt, die Überwindung des alten, naturgebundenen Götterglaubens und -kults, die menschen- und volksverbindende Kraft der neuen Offenbarungsreligion ließen solche Hoffnung berechtigt erscheinen. Allein, schon in den ersten Jahrhunderten der Ausbreitung des Christentums in der Mittelmeerzone schlich sich Menschliches und Allzumenschliches in die erhabenen Lehren Christi ein. Es ist hier nicht der Ort, um die geschichtlichen Folgen der daraus entstandenen Glaubens- und Machtkämpfe näher zu beleuchten. Wer wollte es bestreiten, daß der göttliche Friede, der in der Weihnachtsbotschaft liegt, immer noch wie ein fernes Ziel der Menschheit versagt ist. Der christliche Glaube, dazu bestimmt, das bindende Fundament für die organische Einheit der Völkergemeinschaft zu werden, wurde seiner geistesweiten Lebenskraft durch menschliche Einzwängung in Dogmatik und trennendes Bekenntnis immer mehr beraubt. Neues Glaubensringen durchbricht das erstarrte und lebensfremde Gefüge des konfessionellen Christentums.

Das forschende Auge des heutigen Menschen ist tief in die Geheimnisse der Natur eingedrungen. Wissenschaft und Technik haben ihn zu einem souveränen Meister irdischer Gesetze werden lassen. Hat die Erschließung der Seelentiefe des Menschen mit seinem Erkenntnisertrag in der Außenwelt Schritt gehalten? Wir wissen, die äußere Ordnung der Welt ist mehr denn je in der Geschichte gefährdet. Es hält nicht schwer, den letzten Grund dafür zu finden. Die Lebensbindung an den Willen des Schöpfers, wie er durch Christus und vor Ihm durch andere Gottgesandten geoffenbart wurde, ging im verstandlichen und technisch-wissenschaftlichen Eroberungszug der klein gewordenen Welt fast ganz verloren. Es will nicht gelingen, den neuen, so reichen und vielfältigen Baustoff zu einer sinnvollen und schöpferischen Ordnung zu binden. Bahá’u’lláh, der in allen heiligen Schriften der großen Religionen verheißene göttliche Begründer eines unvergleichlichen Zeitalters der Einheit der Menschen, sagt dem Menschen unserer Zeitenwende voraus: „... Würdest du etwas anderes als Mich3) suchen, dann würdest du fehlgehen, selbst wenn du das Weltall immer und ewig durchsuchen würdest.“

Dem Gottsuchen in der Sinnenwelt sind unverrückbare Grenzen gesetzt, wie sie die Priesterin der Wissenschaft, die Philosophie, immer wieder aufgezeigt hat. Selbst die Mystik, die ins Seeleninnerste gerichtete Versenkung, vermag dem Täuschungsbereich menschlicher Erkenntnismittel nicht zu entrinnen. Zwischen der göttlichen Wirklichkeit — „einzig und allein“, heilig über „Raum und Zeit, Erwähnung und Äußerung, Zeichen, Beschreibung und Erklärung, Höhe und Tiefe“ — und dem Menschen besteht keine unmittelbare Verbindung, gleichsam wie auch zwischen der Sonne und der Erde keine räumliche Berührung denkbar ist. „... Und da es keine Ähnlichkeit irgend welcher Art geben kann zwischen dem Vergänglichen und dem Ewigen, dem Zufälligen und dem Unbedingten, so hat Er (Gott) angeordnet, daß in jedem Zeitalter und mit jeder Sendung eine reine und unbefleckte Seele in den Königreichen des Himmels und der Erde geoffenbart werde. Diesem feinen, diesem geheimnisvollen und ätherischen Wesen hat Er eine zweifache Natur verliehen, die physische, zur Welt des Stoffes gehörend, und die geistige, welche aus der Substanz Gottes Selbst geboren ist. Noch mehr, Er hat Ihm eine zweifache Stufe verliehen. Die erste Stufe, welche auf Seine innerste Wirklichkeit Bezug hat, stellt Ihn als Einen dar, Dessen Stimme die Stimme Gottes Selbst ist4).“

Die Worte Christi: „Niemand kommt zum Vater denn durch Mich“, bestätigt Bahá’u’lláh von neuem, wenn Er dem glaubensirren Menschen verkündigt, daß die Erkenntnis Gottes auf keine andere Weise erlangt werden kann, als durch die Erkenntnis Seiner göttlichen Manifestation. So sind schon immer die Gesandten und Propheten Gottes der einzige Weg des Menschen zu Ihm gewesen und heute ist ein neuer und [Seite 80] herrlicher Tag göttlicher Offenbarung angebrochen.

Der Offenbarungsglaube, welcher dem Christfest seinen unverlierbaren Freudenglanz verleiht — denn durch das Erscheinen Christi ist gnadenreiche göttliche Lichtfülle in die dunkle und winterlich kalte Glaubensnacht der Menschheit eingeströmt — muß neugeboren und in alle Lebensbezirke tatfreudig und heldisch hineingetragen werden, wenn die Liebes- und Friedensbotschaft der Weihnacht tiefe Wurzel in den verstockten Herzen der Menschen schlagen soll.

Die Stimmen sind nicht gar zu selten, die vom Anbrechen einer religiösen Wende sprechen, welche die Ganzheit des menschlichen Lebens erfassen muß. Giese knüpft diese Erwartung an Gedanken von Nietzsche, der sehnsuchtsstark nach dem fernen Osten griff und Zarathustra fand. In seinem gegenwartsnahen Buch5) spricht Giese aus, daß die Erfüllung der Möglichkeit einer kommenden Religion uns heute klar ist, „soll die neue Zeit festgefügt sein in der entscheidendsten menschlichen Seinsfrage, dem Religiösen, und soll sie zugleich auf Dauer dem Willen zur Macht dienen! Ein Thema, an dessen Notwendigkeit wie Berechtigung im Sinne der Geschichte niemand zweifeln dürfte!“ In dieser Hinsicht mit Recht den Norden vom Süden abhebend, fährt der Verfasser fort: „... Und hier öffnet sich eine Kampfbahn vorerst unübersehbaren Ringens! Nicht um Geld oder Gut oder brachiale Gewalt geht es, sondern um immanente Größen. Um Entscheidungen, jenseits von Wirtschaft und Technik, Arbeit und Brot. Man muß hoffen, daß auch hier einmal das Geschick einen Meister sendet, der alte Fragen zu neuen Lösungen bringt. Mit Nietzsche gesprochen: einen neuen Propheten oder Religionsgründer, denn nicht Sekten oder Spaltungen oder Reformen machen die Sicht klar... Die Geschichte lehrt, daß er, arisch wie Buddha oder Manu, wieder einmal aus dem Osten kommend der Menschheit neue religiöse Werte erschließt. Westeuropa hat seit zwei Jahrtausenden gleiches nie gesehen.“

Diese Erwartung hat sich in der unvergleichlichen an alle Völker der Welt gerichteten Sendung Bahá’u’lláh’s schon erfüllt. Von Persien aus ist Sein Ruf bereits nach allen Erdteilen gedrungen. Lassen wir Seine frohe Botschaft in das Christfest hineintragen, daß dieses neue Lebenskraft gewinne: „Ihr Anhänger des Evangeliums, schauet hin, die Tore des Himmels sind weit geöffnet. Der, welcher zum Himmel aufgefahren ist, ist nun gekommen. Höret auf Seine Stimme, die laut über Länder und Meere ruft und aller Menschheit den Anbruch dieser Offenbarung meldet — einer Offenbarung, durch deren Wirken die Zunge der Größe heute verkündet: ‚Seht, die heilige Verheißung hat sich erfüllt, denn Er, der Verheißene ist gekommen‘.“ „Die Stimme des Menschensohnes ruft laut aus dem geheiligten Tal: ‚Hier bin ich, hier bin ich, o Gott, mein Gott!‘... Der Vater ist gekommen. Was euch verheißen ward im Königreich Gottes, das hat sich erfüllt. Dieses ist das Wort, das der Sohn verschwieg, als Er zu denen sprach, die um Ihn waren, daß sie es damals noch nicht tragen könnten ... Wahrlich, der Geist der Wahrheit ist gekommen, euch in alle Wahrheit zu leiten... Er ist es, der den Sohn verherrlichte und Seine Sache erhöhte...“ „Der Tröster, Dessen Kommen alle Schriften verhießen, ist nun da, damit Er euch alle Erkenntnis und alle Weisheit offenbare. Suchet ihn auf dem ganzen Erdenrund, vielleicht möget ihr Ihn finden6).“

Dr. Eugen Schmidt.


1) Verborgene Worte 3, S. 6.

2) Ebenda, 15, S. 9/10.

3) Gott.

4) Bahá’u’lláh, in dieser Zeitschrift, 15. Jg., Heft 8, S. 59.

5) „Nietzsche“, Die Erfüllung. Tübingen 1934, S. 180/181.

6) Entnommen und ins Deutsche übertragen aus Shoghi Effendi, „The Dispensation of Bahá’u’lláh" (Die Sendung Bahá’u’lláh’s), New York 1934, S. 12/13.



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