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Die Bahá’í-Lehre,[Bearbeiten]
die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.
Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.
Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.
Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.
Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“
Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.
Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.
Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.
SONNE DER WAHRHEIT Organ der Bahá’í in Deutschland und Österreich Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198 Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo Verwaltung: Paul Gollmer • Begründet von Alice Schwarz-Solivo Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark, im Ausland 2.– Reichsmark |
Heft 7 | Stuttgart, im September 1935 ’Izzat — Macht 92 |
15. Jahrgang |
Inhalt: Göttliche Lebenskunst (Schluß). — Nabíl’s Erzählung: Der Aufenthalt des Báb in Shíráz nach der Pilgerreise. — Vom Sinn des Lebens.
Der Mensch, das edelste und vollkommenste der Geschöpfe, ist ein mächtigeres Zeugnis und ein größerer Ausdruck als alle anderen sichtbaren Dinge. Die vollkommensten, die erhabensten und die ausgezeichnetsten Menschen sind die Manifestationen der Sonne der Wahrheit.
Worte von Bahá’u’lláh*)
*) Chase, Die Bahá’í-Offenbarung, Stuttgart, 1925, S. 79
{aus der Schrift Bahá’u’lláh’s „Das Buch der Gewißheit“).
Göttliche Lebenskunst[Bearbeiten]
Aus den Schriften ‘Abdu’l-Bahá's (Schluß)
Zusammengestellt von Mary M. Rabb (New York, Brentanos Publishers)
Übersetzung aus dem Englischen
9. Kapitel: Praktische Anwendung des geistigen Lebens
Frage: „Bezieht sich das Bahá’í-Verbot von Spielen und Lotterien auf jede Art von Spielen?“
Antwort 'Abdu’l-Bahá’s: „Nein, manche Spiele sind unschuldig, und wenn sie zum Zeitvertreib geschehen, so ist nichts Unrechtes dabei. Doch ist da die Gefahr, daß Zeitvertreib in Zeitvergeudung ausarten kann. Zeitvergeudung aber ist in der Sache Gottes nicht zulässig. Erholung dagegen, welche als Übung die Körperkräfte veredelt, ist wünschenswert.“
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Seid bestrebt und bemüht, daß gewisse Seelen erzogen werden, von denen Christus sagte: „An seinen Früchten sollt ihr den Baum erkennen.“ Das heißt: jede Seele wird an ihrem Betragen, ihren Sitten, Worten und Taten erkannt. Daher müssen wir mit Herz und Hand danach streben, daß Tag für Tag unser Tun besser, unser Betragen schöner und unsere Geduld größer werde. Das heißt, Liebe hegen für die ganze Welt und eine selige Natur erlangen.
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Bitte Gott, daß du zu dem Reifezustand gelangen mögest, daß du die Schönheit und Häßlichkeit des Tuns und Trachtens erkennen kannst.
Lasse das Licht der Wahrheit und Ehrbarkeit auf deinem Antlitz scheinen, so daß alle wissen mögen, daß dein Wort im Ernst und Scherz ein Wort ist, dem man vertrauen darf und dessen man sicher sein kann. Vergiß das Selbst und arbeite für das Ganze.
'Abdu'l-Bahá sagte, daß man immer dessen eingedenk sein müsse, daß man für die Welt
arbeite, nicht für eine Stadt, selbst nicht für ein
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Land; sondern weil alle Brüder sind, so ist jedes Land, als wäre es unser eigenes. Vor allem
gedenke der Lehre Bahá’u’lláh’s vom Reden und Klatschen über andere. Herumgetragene
Geschichten über andere sind nie gut, eine verschwiegene Zunge ist immer am sichersten.
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Keuschheit und Reinheit des Lebens sind die beiden göttlichen Normen des geistigen und sittlichen Gesetzes. Je größer das Ziel des Menschen, um so edler ist sein Vorsatz. Ein Mensch muß immer an andere denken und höflich und artig zu seinen Mitgeschöpfen sein. Dies wird ihm das Wohlgefallen des Herrn gewinnen und die Zufriedenheit der Leute allgemeinhin. Sitzen und Stehen, Reden und Plaudern, geselliger Verkehr und Umgang eines Menschen sollten auf einem festen Untergrund beruhen und dem Ruhm der Menschenwelt dienen.
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Mäßigung ist in allen Dingen nötig. Der Mensch muß aus göttlichen Taten und Handlungen eine Lehre ziehen; denn Gott läßt einen Baum lange Zeit wachsen, ehe er seine Vollendung erreicht. Er ist zwar fähig, einen Baum in einem Augenblick zur Frucht reifen zu lassen, aber Weisheit erfordert eine Entwicklung stufenweise.
Das erste Taráz1) und das erste Tajallí2) ist, daß der Mensch sein eigenes Selbst erkennen sollte und die Dinge, welche zur Erhabenheit oder Erniedrigung führen, zu Schande oder zu Ehre, zu Überfluß oder zu Armut. Wenn der Mensch sein eigenes Dasein erfaßt hat und reif geworden ist, dann benötigt er ein Auskommen. Wenn dieser Wohlstand durch Handwerk und Beruf erworben wird, so ist dies gutzuheißen und des Lobes der Weisen wert, besonders solcher Diener, die sich erheben, die Welt zu erziehen und die Seelen der Völker zu verschönen. (Worte von Bahá’u’lláh.)
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Sei nicht traurig und bekümmert, weil großer Wohlstand und Besitz dir nicht beschert ist. Sieh die Vögel an! Zuerst am frühen Morgen sind sie durstig und hungrig. Sie gehen zum Quell, und wenige Tropfen löschen ihren Durst. Dann picken sie einige Körner auf und sind völlig gesättigt und sitzen auf den Zweigen und lobsingen Gott. Ich hoffe, auch du wirst gesättigt werden.
Christus sagt, wir seien wie die Vögel. Die Vögel haben ihre eigenartigen Züge. Einer davon ist, daß sie mit wenigen Körnern gesättigt sind. Sie haben weder Gut noch Geld und die meiste Zeit singen sie auf den Zweigen der Bäume ihre schönen Melodien. So solltet ihr nun mit wenigen weltlichen Dingen zufrieden sein und die meiste Zeit damit verbringen, die Wahrheiten des Wortes Gottes zu verbreiten.
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Länge und Kürze des Lebens kann nicht als wichtig betrachtet werden. Ob ein Mensch wenige Jahre oder hundert Jahre lebt — der Sinn seines Lebens ist, einige bestimmte Ziele zu erreichen. Wenn der Baum seines Lebens nicht diese so süßen Früchte hervorbringt, dann ist der Sinn seines Daseins nicht erfüllt worden, auch wenn er viele, viele Jahre gelebt hat. Wenn er aber auch nur wenige Jahre gelebt hat, der Baum seines Lebens jedoch zum Früchtetragen gereift ist, dann hat er einen geistigen Erfolg erlangt. Folglich ist die Lebensdauer etwas Bedingtes, das dem Willen Gottes unterworfen ist. Zum Beispiel: Dieser Stein hat schon 10 000 oder 20000 oder 30000 Jahre bestanden, aber er ist nicht über das Mineralreich hinausgelangt. Er hat nicht sein letztes Ziel erreicht. Ein Kaufmann hinwiederum mag das Jahr hindurch Tag für Tag in seine Geschäftsräume gehen; er plant Handelsunternehmungen, befaßt sich mit gewaltigen Entwürfen, errichtet große Gesellschaften, aber am Jahresende hat er keinen Gewinn erzielt. Andrerseits erntet ein zweiter Kaufmann durch einen glücklichen Zug an einem Tage reichen Gewinn. So hat nun der erste Kaufmann, obwohl er das ganze Jahr hindurch härter gearbeitet hat, keinen Erfolg erreicht, während der Letztere, obwohl er nur einen Tag gearbeitet hat, doch ein glückliches Ergebnis seiner Tätigkeit errungen hat.
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Christus hat zur Welt gesprochen, als er sagte: „Seid wie die Kinder.“ Das heißt, der Mensch
muß reinen Herzens werden. Die Herzen der Kinder sind völlig rein. Kein Staub ist in ihnen.
Aber dies ist aus Schwäche so, nicht aus Stärke. In der frühen Zeit der Kindheit sind die Herzen
rein; sie hegen weder Heuchelei noch Tücke, können aber auch nicht starken Verstand entwickeln.
Der Mensch wird jedoch rein kraft seiner Stärke, seiner Einsicht und seines Verstandes.
Er wird einfach durch die große Kraft der Vernunft. Er wird aufrichtig kraft seiner
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Einsicht, nicht kraft seiner Schwäche. Wenn der Mensch den hohen Stand von Vollkommenheit
erreicht hat, so wird sein Herz rein, sein Geist erleuchtet, seine Seele zart, und er empfängt
diese Eigenschaften durch große Stärke. Dies ist der Unterschied zwischen dem vollkommenen
Menschen und dem Kinde. Beide besitzen die großen einfachen, grundlegenden Eigenschaften,
aber das Kind kraft seiner Schwäche und der Erwachsene kraft seiner Stärke.
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Strebt Tag und Nacht und tut das Möglichste, um die Achtlosen zu erwecken, die Blinden zu erleuchten, die Toten zu beleben, die Müden zu erfrischen und die in Verzweiflung und Finsternis sind, zu Licht und Glanz zu führen. Wenn die Hoffnung des Menschen auf die stoffliche Welt beschränkt wäre, für welches letzte Ziel würde er dann arbeiten? Ein Mensch mit auch nur ein wenig Einsicht muß sich darüber klar werden, daß er ganz anders als die Würmer leben sollte, die sich an die Erde halten, worin sie schließlich begraben werden. Wie kann er von dieser niederen Stufe befriedigt sein? Wie kann er darin Glück finden? Meine Hoffnung ist, daß ihr von der stofflichen Welt befreit werden möget und darnach strebet, die Bedeutung der himmlischen Welt zu erfassen, der Welt der beständigen Eigenschaften, der Welt der Wahrheit, der Welt des ewig Königlichen, so daß euer Leben nicht unfruchtbar, ohne Ergebnis ist; denn das Leben des materiellen Menschen trägt keine Frucht der Wirklichkeit. Dauernde Ergebnisse aber werden durch das himmlische Dasein hervorgerufen.
Wenn ein Mensch vom göttlichen Funken getroffen wird, wird er glücklich sein, auch wenn er ein Verstoßener und Unterdrückter ist, und sein Glück kann nicht vergehen.
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Was muß das Ergebnis eines Menschenlebens sein? Es ist klar, daß das Ziel nicht ist, zu essen, zu schlafen, sich zu kleiden und sich in den Pfühlen der Nachlässigkeit auszuruhen. Nein, es liegt vielmehr darin, seinen Weg zur Wirklichkeit zu finden und die göttlichen Zeichen zu verstehen, Weisheit vom Herrn der Herren zu empfangen und wie ein großes Meer standhaft sich vorwärts zu treiben.
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Die Religion Gottes formt die sittliche Seite des Lebens der Menschheit neu. Sie ist die Verbreiterin der Tugenden der Menschenwelt. Sie ist die Begründerin göttlicher Vollkommenheiten in den Herzen der Menschen. Sie ist Gottesnähe. Sie ist die Ursache der Anziehung und des Entflammtwerdens durch das Feuer der Liebe Gottes. Sie dient der Erleuchtung des menschlichen Bewußtseins.
Alle Propheten sind von Gott gesandt zur Führung des Volkes, zur Erleuchtung der Gemüter der Erdenbewohner und zur Förderung des Wortes der Wahrheit.
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Zu einem Künstler sprach ‘Abdu’l-Bahá:
„Kannst du auf ein Blatt der Welt die Idealbilder der höchsten Heerscharen malen? Die Bilder, die in der Welt der Ideen sind, sind ewig. Ich wünsche, daß du solch ein Künstler werdest. Der Mensch kann jene Idealbilder auf die Tafel des Daseins mit dem Pinsel der Taten malen.
Die heiligen, göttlichen Manifestationen sind alle himmlische Künstler. Auf der Leinwand der Schöpfung malen sie mit dem Pinsel ihrer Taten, ihres Lebens und ihres Handelns Gemälde, wie sie in keinem Kunstmuseum Europas oder Amerikas gefunden werden können. Aber die Meisterwerke dieser geistigen Künstler findest du in den Herzen.“
1) „Taráz“, wörtlich „Schmuck“ oder „Ziermantel“.
2) „Tajalli“, wörtlich „Herrlichkeit“ oder „Glanz“.
Nabíl’s Erzählung[Bearbeiten]
Übersetzung aus „The Dawn-Breakers“, Nabíl’s Narrative of the early days of the Bahá’í Revelation, New York 1932
8. Kapitel: Der Aufenthalt des Báb in Shíráz nach der Pilgerreise (Fortsetzung)
Mullá Ṣádiq, der in diesen Tagen vom Rednerpult aus vor einer großen Versammlung die
Tugenden der Imame des Glaubens pries, war so begeistert von dem Thema und der Sprache
dieser Abhandlung, daß er unverzüglich beschloß, alle Regeln, die darin vorgeschrieben
waren, auszuführen. Von der treibenden Kraft, die dieses Tablet enthielt, angespornt, sprach
er eines Tages, als er seine Gemeinde im Gebet in die Masjid-i-Naw führte, und den adhán
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erschallen ließ, plötzlich die vom Báb vorgeschriebenen Zusatzworte aus. Die Menge, die ihn
hörte, war entsetzt durch seinen Ruf. Schrecken und Bestürzung ergriff die ganze Gemeinde. Die
hervorragenden Geistlichen, welche die Vorderplätze einnahmen und wegen ihrer frommen
Orthodoxie sehr geachtet waren, erhoben sich lärmend und protestierten laut mit folgenden
Worten: „Wehe über uns, den Hütern und Beschützern des Glaubens Gottes! Seht, dieser
Mann hat die Fahne der Ketzerei gehißt. Nieder mit dem schändlichen Verräter! Er hat eine
Gotteslästerung ausgesprochen. Nehmt ihn gefangen, denn er ist eine Schande für unseren
Glauben!“ „Wer“, schrien sie zornig, „durfte es wagen, solch eine schwere Abweichung von den
festgelegten Vorschriften des Islám gutzuheißen? Wer hat sich erdreistet, dieses hohe Vorrecht
sich anzumaßen?“
Die Menge wiederholte die Proteste jener Geistlichen und verstärkte ihr Geschrei. Die ganze Stadt hatte sich erhoben und die öffentliche Ordnung wurde infolgedessen ernstlich bedroht. Der Statthalter der Provinz Fárs, Ḥusayn Khán-i-Iravání, mit dem Beinamen Ájúdán-Báshí, und in jenen Tagen allgemein als Ṣáḥib-Ikhtíyár1) bezeichnet, fand es notwendig, einzugreifen und über die Ursachen dieses plötzlichen Aufruhrs nachzuforschen. Es wurde ihm berichtet, daß ein Jünger eines jungen Mannes namens Siyyid-i-Báb, der eben von Seiner Pilgerfahrt von Mekka und Medina zurückgekehrt sei und nun in Búshihr lebe, in Shíráz angekommen sei und die Lehren seines Meisters verkündige. „Dieser Jünger“, so wurde Ḥusayn Khán ferner berichtet, „macht den Anspruch, daß sein Lehrer der Urheber einer neuen Offenbarung und der Offenbarer eines Buches sei, von dem er behauptet, daß es göttlich inspiriert sei. Mullá Ṣádiq-i-Khurásání hat diesen Glauben angenommen und fordert furchtlos die Menge zur Annahme dieser Botschaft auf. Er erklärt, daß deren Erkenntnis die oberste Pflicht jedes treuen und gläubigen Nachfolgers des schiitischen Islám sei.“
Ḥusayn Khán befahl sowohl Quddús als Mullá Ṣádiq festzunehmen. Die Polizeibehörden, denen sie ausgeliefert wurden, waren angewiesen, sie in Handschellen vor den Gouverneur zu bringen. Die Polizei händigte Ḥusayn Khán auch die Abschrift des Qayyúmu'l-Asmá’ aus, die sie Mullá Ṣádiq entrissen hatten, während er laut deren Zeilen einer aufgeregten Versammlung vorlas. Quddús wurde seiner jugendlichen Erscheinung und seiner nicht herkömmlichen Kleidung wegen zuerst von Ḥusayn Khán übersehen, der es vorzog, seine Bemerkungen an dessen würdigeren und älteren Gefährten zu richten. „Sage mir“, frug der Statthalter, zornig sich an Mullá Ṣádiq wendend, „ob du die Einführungsworte des Qayyúmu'l-Asmá’ kennst, womit der Siyyid-i-Báb die Herrscher und Könige auf Erden mit den Worten anredet: ‚Entäußert euch des Gewandes der Herrschaft, denn Er, welcher der König in Wahrheit ist, ist offenbar worden! Das Reich ist Gottes, des Erhabensten. So hat es die Feder des Höchsten verordnet!‘ Wenn dem so ist, so muß es sich notwendigerweise auf meinen Herrscher Muḥammad Sháh aus der Qájár-Dynastie2) beziehen, den ich als Oberste Behörde dieser Provinz vertrete. Muß Muḥammad Sháh, nach diesem Geheiß, seine Krone niederlegen und seine Herrschaft aufgeben? Muß auch ich meiner Macht entsagen und meine Stellung verlassen?“
(Fortsetzung folgt.)
1) Nach dem „Tárikh-i-Jadíd“ wurde er auch „Nizámu’d-Dawlih“ genannt.
2) Eine der Nomaden von Túrán, eine türkische Familie, genannt Qájár, die erstmals in Persien unter dem einfallenden Heer des Changiz Khán auftritt (C. R. Markham’s „Eine allgemeine Skizze der Geschichte Persiens“ S. 339).
Vom Sinn des Lebens[Bearbeiten]
Von Hede Schubert, Stuttgart-Vaihingen
Wenige Menschen wird es geben, die sich nicht schon mit der Frage über den Sinn des Lebens
befaßt haben. Die Anschauungen und Behauptungen sind verschiedener Art; von der naivsten,
primitivsten Auffassung, die in dem Leben nicht viel mehr als ein triebhaftes Vegetieren ohne
höheren Sinn und Zweck sieht, von der absurdesten Anschauung, daß das Leben nicht wirklich,
sondern nur Schein sei, bis zu jener höchsten, reinsten Auffassung des menschlichen Lebens,
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die uns die größten Menschheitslehrer, die göttlichen Manifestationen, lehrten.'
Wenn wir aufmerksam das Leben in dieser Welt betrachten, so können wir drei Dinge wahrnehmen.
Erstens: Die materielle Welt, in der wir leben, wird regiert von Gesetzen. Es entsteht auf ihr Leben durch Anziehung von Elementen, Zusammensetzung, Aufbau und Funktion von Zellen, dem komplizierten Getriebe von chemischen Prozessen, nämlich dem Stoffwechsel, mit welchem untrennbar der Energiewechsel und die Formgestaltung verknüpft ist. Nie wird der Mensch das Wesen des Lebens, die eigentliche Lebenskraft erforschen können, die er nur in ihrer Auswirkung als Bewegung, Wachstum, Umgestaltung erkennt. Dem Aufbau folgt jedoch der Zerfall, der Anziehung die Abstoßung, dem Werden das Vergehen oder Umgestalten in eine andere Form, der Zusammensetzung die Auflösung, d. h. das materielle Leben ist vergänglich. Dieses Gesetz beherrscht die ganze Natur, das ganze Universum, nur daß sich hier die Wandlung oftmals erst in sehr großen Zeitspannen vollzieht. Auch der Mensch, in seiner physischen Beschaffenheit ein Stück Natur, ist physisch diesem Gesetz von Werden und Vergehen unterworfen, es vollzieht sich in der Zeitspanne von der Geburt bis zum Tod.
Zweitens: Dieses Gesetz, dem alles Irdische unterworfen ist, muß ausgehen von einer Macht, die höher steht als alles Irdische, die regiert über Leben und Tod; von einer Macht, die wir weder fassen noch begreifen können, die wir aber erkennen in ihrer Auswirkung, die in Erscheinung tritt eben in der Welt der Materie. Niemand weiß, woher das Leben kommt, und doch ist es da. Der Materialist bezeichnet diese Kraft als Naturkraft, die zu immer höherer, vollendeter Entwicklung der Natur dient. Der religiöse Mensch aber sieht in ihr jene göttliche Kraft, den Hauch, den Odem Gottes, der über die Welt ging und ihr Leben gab.
Drittens: Wir sehen in unsrer Betrachtung den Menschen als das auf Erden vollkommenste Lebewesen. Er trägt in sich nicht nur Eigenschaften des Mineral-, Pflanzen- und Tierreichs, sondern ist darüber hinaus ausgezeichnet vor allen andern Lebewesen mit Geistesgaben, wie Intelligenz, Vernunft, Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögen, Erkenntnisfähigkeit, Liebe, Gerechtigkeitssinn usw. Mit der Verleihung dieser Geistesgaben schenkte Gott uns Geist von Seinem Geist. So ist der Mensch Geist und Materie zugleich, ein geistiges Wesen, lebend im Reich der Materie. Und nur weil er ein geistiges Wesen ist, vermag er das Reich der Materie als solches bewußt zu schauen, zu erleben, zu erforschen und zu beherrschen. Der Mensch wird sich seiner Sinne bewußt, von denen er sich nicht triebhaft, instinktmäßig beherrschen läßt, sondern die er mit Hilfe seiner geistigen Kräfte zu regieren versucht.
Da aber der Mensch, dank seiner geistigen Fähigkeiten, die Welt der Materie als solche erkennt und bewußt in ihr lebt, ist er gezwungen, irgendwie zum Leben Stellung zu nehmen, aus der sich dann der Sinn und Zweck seines Lebens ergibt.
Oft hört man den Ausspruch: Das Leben ist so, wie man es ansieht, es erhält den Sinn, den man ihm beimißt. — Gewiß, man kann sagen, es gibt so viele Lebensanschauungen als es Menschen gibt, denn die Empfindungen sind rein individuell; das Glück des einen bedeutet noch nicht auch das Glück des andern. Aber der Sinn des Lebens darf nicht nur rein gefühlsmäßig ergründet, sondern muß im innersten Bewußtsein erkannt, erfaßt und verstanden werden. Aber auch dann wird die Einstellung zum Leben jeweils von dem Grad der Entwicklung des einzelnen Menschen abhängen. Entweder der Mensch läßt sich von der materiellen Welt gefangen nehmen, sieht in der Erlangung seines persönlichen materiellen Wohls den Lebenssinn und in seinen Gaben und Fähigkeiten die Mittel dazu.
Oder aber der Mensch sieht nach Ansicht der Naturphilosophen in der höchsten Vervollkommnung
der Materie den Zweck des Lebens. Danach wird die Welt nicht vom Geistigen, vom Göttlichen
her regiert, sondern aus der Erforschung der Naturgesetze heraus sollen sich die Regeln
ergeben, um das ganze menschliche, gesellschaftliche Leben vernünftig zu ordnen. Durch
Erkenntnis der Gesetze soll der Mensch sich selbst erkennen und beherrschen lernen und somit
fördernd auf die ganze Lebensgestaltung der Menschheit einwirken und zur Vervollkommnung
und Veredelung der Menschen beitragen. Diese materialistische Lebensanschauung, die
wir bei vielen Menschen antreffen, beschränkt sich nur auf das Reich des Stofflichen.
Wir leben auf dieser Erde, sind selbst ein Stück Natur und entwickeln uns ganz naturgemäß
nach dem in der Natur waltenden Gesetz.
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Gewiß, der Mensch wird in der Erforschung der Naturgesetze Entdeckungen machen, die zu
neuen Erfindungen und so zur Schaffung neuer materieller Werte führen. Die Menschheit kann
auf eine gewisse Höhe der Zivilisation und Kultur, auch der Moral geführt werden. Durch
soziale Gesetze kann ein ersprießliches Zusammenarbeiten und Zusammenleben der Menschen
erzielt, und so in jeder Weise das materielle Wohlergehen der Menschen gefördert werden. Blicken
wir aber in die Menschheitsgeschichte. Hat jemals materielles Wohlergehen zum Segen der
Menschheit geführt, sie gefördert? Wie viele materielle Werte wurden schon geschaffen? Müßte
die Erde nicht längst ein Paradies sein? Materielle Werte sind vergänglich. Es folgten in der
Menschheitsgeschichte nach Epochen kultureller Blüte noch immer solche des Zerfalls. Keine
Kultur und Zivilisation werden die Menschen höher führen können, solange sie nur der Ausfluß
materialistischer Lebensanschauung sind. Keine äußeren Gesetze werden die Menschheit
wirklich fördern, solange sie nicht der Ausdruck religiöser Erkenntnis sind. Und damit kommen
wir zu der Lebensanschauung des religiösen Menschen.
Schon zu allen Zeiten haben die größten Menschheitslehrer, die göttlichen Manifestationen, je nach dem Fassungsvermögen der Menschen diese gelehrt. Alle haben sie, aus dem Reich der göttlichen Wirklichkeit schöpfend, die Menschen jenen Weg gewiesen, der zum Reich Gottes führt, und sie gelehrt, daß in der Vervollkommnung ihres geistigen Seins der Sinn des Lebens liegt. ‘Abdu’l-Bahá sagt einmal: „Würdet ihr ein weniges von dem klaren Wasser der Göttlichen Erkenntnis kosten, so würdet ihr erkennen, daß das wahre Leben das Leben des Herzens und nicht das Leben des Körpers ist, denn beide, Tiere und Menschen, teilen sich in das Leben des Körpers. Aber das Leben des Herzens ist für die Besitzer von strahlenden Seelen, die aus dem Ozean des Glaubens trinken und an der Frucht der Gewißheit teilhaben, bestimmt.“
So soll die Materie den Menschen nicht beherrschen, sondern ihm dienen, wie es in der Bibel heißt: Machet euch die Erde untertan. Wir leben nicht um des Körpers willen, der nur Werkzeug des Geistes ist, nicht um des materiellen Wohlergehens willen, sondern um der Höherentwicklung unsrer Seele willen. Der Weg aber zu dieser Vervollkommnung liegt einzig und allein in der Erfüllung des Willens Gottes.
'Abdu'l-Bahá, einmal über Zweck und Sinn des Lebens befragt, antwortete folgendes: „O meine Tochter, du bittest um ein Losungswort, nach dem ein Bahá’í sein Leben einrichten soll; da wollen wir zuerst nach dem Zweck des menschlichen Lebens fragen! Du meinst nach Christenart, daß die Erreichung der ewigen Seligkeit der Endzweck dieses Lebens sei. Nein, meine Tochter, wir haben unser irdisches Leben nicht ausschließlich vom Nützlichkeitsstandpunkt aus anzusehen und zu fragen: wie lebe ich hier am zweckmäßigsten, um dort im Jenseits es am besten zu haben? Vielmehr ist Zweck und Ziel dieses irdischen Lebens der Dienst Gottes. Das Geschöpf hat dem Schöpfer, der Diener dem Herrn zu dienen, ohne zu fragen, was nachher aus ihm wird. Als Diener Gottes tragen wir aber dessen Waffen des Lichts, denn der Diener ist zugleich der Kämpfer im Solde und Dienst seines Herrn im Kampf und Streit. Das Losungswort des Bahá’í heißt also: Siegen, Überwinden! Sich selbst und alles Ungute, Unwahre und Unschöne überwinden mit den Waffen der Liebe; sich selbst aufopfern für Gott und für den Nächsten — darin liegt Inhalt, Ziel und Zweck dieses Lebens. Sorgen wir dafür, so wird Gott für unser ewiges Leben, unsre ewige Seligkeit Seinerseits sorgen.“ —
Das Losungswort heißt: Siegen, Überwinden. Wo ein Sieg ist, geht Kampf voraus; dem geistigen Sieg also der Kampf mit der Materie, der Kampf des Lebens. Hätte aber Gott uns jemals in diesen Kampf gestellt und uns die Mittel, diesen Kampf zu führen, vorenthalten? Nein, reich sind wir ausgestattet mit geistigen Waffen. Siegreich aber werden wir den Kampf nur zu Ende führen können, wenn wir uns an den Befehl unsres Herrn halten, wenn wir nicht eigenwillig, sondern nach dem Willen Gottes handeln.
Wie ein Soldat der irdischen Armee sich streng an die Befehle seines Vorgesetzten halten muß, so dürfen wir nicht abweichen oder zuwiderhandeln dem Göttlichen Gebot. Der Kämpfende muß aber nicht nur den Befehl seines Herrn kennen, sondern auch das zu erkämpfende Ziel.
Welches nun ist das Ziel unsres Lebenskampfes, welcher Art die Aufgabe, die Gott dem
Menschen gestellt hat? — Die Aufgabe, das Reich Gottes auf Erden zu gründen, damit Sein Wille
geschehe auf Erden wie im Himmel. Sein Befehl aber, der uns immer und immer wieder durch
alle Manifestationen kundgetan wurde, ist, Seinen Willen zu tun, d. h. nach Seinen Geboten zu
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leben, alle Gaben, die wir von Ihm empfangen haben, in Seinen Dienst zu stellen und so, mit
äußerster Willensenergie und Selbstdisziplin, unter Aufopferung aller persönlichen, materiellen
Vorteile, in einem Leben der Tat, des unbedingten Gehorsams gegen Gott, bewußt, in engstem
Verbundensein mit Ihm, unser Teil zur Vollendung, zur Erreichung dieses Zieles beizutragen.
Nur in dem vollständigen Sich-Vertiefen und endlichen restlosen Einswerden mit dem
Göttlichen Willen, nur in der Aufopferung unsres ganzen Seins liegt die Erfüllung.
Ein Wort 'Abdu'l-Bahá’s: „Konzentriere deine Seele auf Gott so, daß sie wie eine Quelle wird, die das Wasser des Lebens den Durstigen ausströmt. Lebe nach den Lehren des Opfers. Die Welt wird dir dann nichts bedeuten und wird keine Macht haben, dich von Gott abzuziehen. Opfere deinen Willen dem Willen Gottes: das Königreich erreicht, wer sich selbst vergißt; du wirst alles erreichen durch den Verzicht auf alles.“
Und Bahá’u’lláh sagt in den Verborgenen Worten: O Sohn des Lichts! Vergiß alles andere außer Mir und werde eins mit Meinem Geiste. Dies ist das Wesen Meines Gebotes. Wende dich ihm zu.
Nur dann, wenn der Mensch, einmal dem inneren, geistigen Gesetz folgend, den Willen Gottes erkennt, und nur ihm gehorchend, nach dem Willen Gottes lebt und handelt, wird das Reich Gottes auf Erden gegründet werden, denn „das Reich Gottes ist inwendig in euch“, sagt Christus. Es wird stets insoweit auf Erden verwirklicht werden, als der Mensch sein Inneres, sein wahres Sein Gott zuwendet, er sich loslöst von allem außer von Gott. Diese Loslösung bedeutet aber keineswegs ein Gering- oder Mißachten alles Irdischen. Auch die Materie ist uns von Gott gegeben. Die Welt, in der wir Wunder auf Wunder erblicken, ist Gottes Werk, ein Ausdruck Seiner Liebe, Seiner Allmacht, Seines Willens. Vielmehr sollen wir Menschen als Werkzeuge, als Diener Gottes, Seinen Geist, Sein Licht in diese Welt hineintragen und sie, die Trägerin Seiner Geschöpfe, ihrer Bestimmung als Verkörperung des Göttlichen Reiches zuführen.
Wie eine Antenne die Schwingungen aus dem Äther aufnimmt und weiterleitet, so sollen wir aus dem Reich des Geistes die himmlischen Schwingungen aufnehmen und die Welt damit erfüllen. Gleichwie die Erde die Wärme und das Licht der Sonne aufnimmt, um neues Leben hervorzubringen, so sollen wir die Strahlen der geistigen Sonne in uns aufnehmen, damit neues geistiges Leben in uns werde, der Geist Gottes die Welt durchflute, neugestalte, und so das Reich Gottes auf Erden komme durch uns Menschen. Es ziemt uns nicht, in der Sorge um das materielle Wohlergehen unser Leben zu verbringen; aber ebensowenig, nur gut zu handeln, um unser Seelenheil zu retten, es also im jenseitigen Leben gut zu haben. Handeln wir aber frei von selbstischen Wünschen, aus Liebe zu Gott nach Seinem Willen, so wird beides uns zuteil werden.
Christus sagte: Ihr sollt nicht sorgen und sagen, was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden? Nach solchem allem trachten die Heiden, denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr deß alles bedürft.
Ferner aber: Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach Seiner Gerechtigkeit, so wird euch das Übrige alles zufallen.
Lassen wir uns vom Materiellen gefangen nehmen, so ist eine Verkettung mit ihm und daher die Unmöglichkeit einer geistigen Höherentwicklung die Folge. Lösen wir aber alle materiellen Fesseln und wenden uns Gott zu, so werden wir teilhaftig an Seinem Reich, so werden wir ungeahnte Fortschritte machen in unsrer geistigen Entwicklung, die sich dann auch im Materiellen auswirken. Auch hier sehen wir wieder keine absolute Ablehnung des Materiellen, sondern diese beiden Reiche, Geist und Materie — Himmel und Erde — jenseitiges und diesseitiges Leben in wundervollem harmonischem Einklang zueinander.
Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach Seiner Gerechtigkeit — das ist das Gebot —
so wird euch das Übrige alles zufallen. Je nach dem Grad unsres geistigen Wachstums wird sich
auf Erden das wahre Wohl der Menschen gestalten. Nie wird es allein durch äußere Gesetze
zu erreichen sein, sondern nur durch Selbstvervollkommnung, durch ein Näherkommen dem
Göttlichen. Nie aber auch werden wir das wahre Leben uns erringen, wenn wir nicht auf dieser
Erde bemüht sind, nach den Geboten Gottes zu leben, d. h. aber nicht durch einen
lebenverneinenden, oft bis zum Asketentum gesteigerten Lebenswandel, in welchem wir uns alle
Freuden des Lebens versagen, sondern wir sollen das Leben leben, uns aber zu der Stufe des
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Gleichmutes in Freud und Leid durchringen. „Ich erschuf dich reich. Warum machst du dich selbst
arm? Edel erschuf Ich dich. Warum erniedrigst du dich selbst? Aus dem Wesen des Wissens ließ
Ich dich hervorgehen. Warum suchst du einen andern als Mich? Aus dem Ton der Liebe habe
Ich dich geformt. Warum trachtest du nach anderem außer Mir? Blicke in dich, damit du Mich
in dir wohnend findest, kraftvoll, mächtig und selbstexistierend1).“
Der Kampf ist schwer, und nur mühsam und langsam nähern wir uns dem Ziel. Es ist ein Weg unabsehbarer Entwicklung. Eines aber ist wichtig, daß wir uns unsrer Aufgabe bewußt sind, daß wir nie das Ziel aus den Augen verlieren, auch wenn wir, was so häufig geschieht, vom rechten Pfad abweichen. Ohne Unterlaß müssen wir bestrebt sein, dieses Ziel zu erreichen, daß wir uns vor allem würdig zeigen der Aufgabe, die Gott uns zuteilte, und reif werden, diese Aufgabe zu erfüllen.
Um diese Reife zu erlangen, sind wir in der Schule des Lebens. Gleichwie ein Schüler erst älter und reifer werden muß, um schwierige Aufgaben lösen zu können, muß sowohl der einzelne als auch die gesamte Menschheit erst reif werden für die großen Aufgaben des Lebens. Und wie ein Lehrer je nach dem Verständnis und der Fassungskraft seiner Schüler diese unterrichtet, so werden immer die Göttlichen Lehrer die Menschen lehren. Stets wird Gott uns die Aufgabe zuteilen, die wir zu lösen imstande sind, nie wird Er über unsere Kräfte von uns fordern, und stets wird Er uns hilfreich zur Seite stehen, wenn wir Ihn um Hilfe bitten, aber auch all unsre Kräfte und Fähigkeiten eingesetzt haben. Wem aber viel gegeben ist, von dem wird viel gefordert werden.
Und wie ein Lernender durch Fleiß, durch Ausdauer und Übung seine Kenntnisse vertieft und vermehrt, so müssen auch wir, im steten Bemühen, nach den Geboten Gottes zu handeln, immer wieder zu neuen Erkenntnissen gelangen. Dann nur haben wir die Schule des Lebens mit Erfolg durchlaufen. In den Prüfungen des Lebens aber werden unsre Kenntnisse zutage treten. Dann wird es sich zeigen, ob wir den Sinn dessen verstanden haben, die Göttlichen Erzieher uns gelehrt, ob wir für eine höhere Stufe reif geworden sind.
Was ist aber der Zweck jeder Schule? Die Fähigkeiten des Schülers werden geweckt, entwickelt und gefördert, er sammelt sich Kenntnisse, er erlangt Wissen, er wird sich immer mehr vervollkommnen und sich so auf das spätere Leben vorbereiten, in dem es seine Kenntnisse und Fähigkeiten zu verwerten gilt. Ist es etwa anders in der Schule des Lebens? Auch sie bedeutet für uns geistiges Wachstum, Vervollkommnung und somit die Vorbereitung für das spätere Leben im Königreich Gottes, für jene Stufe der Wiedergeburt, von der Christus spricht: So ihr aber nicht wiedergeboren werdet aus Wasser und Geist, könnt ihr nicht in das Reich Gottes kommen.
Wenn wir so das Leben betrachten, erkennen wir dann nicht eine wundervolle Einheit des Göttlichen Planes, Seine Liebe und Weisheit? Unsre Aufgabe ist, das Reich Gottes auf Erden zu gründen. In der Lösung dieser Aufgabe durch uns Menschen liegt die Verwirklichung des Göttlichen Planes und Willens. Diese Aufgabe jedoch zu erfüllen, erfordert unbedingten Gehorsam gegen Gott, Kenntnis und Erfüllung Seiner Gebote, ein völliges Sich-loslösen von allem außer von Gott. Nur so nähern wir uns Gott, erreichen eine immer höhere geistige Vervollkommnung und dadurch die Reife für das jenseitige Leben. So hält uns Gott, der uns in diese Welt gestellt hat, in Seiner Hand, so zieht Er uns in grenzenloser Liebe, gleichsam mit magnetischer Kraft, wieder zu Sich zurück.
So betrachtet, wird unser Leben unendlich wertvoll, jeder Augenblick eine unschätzbare Kostbarkeit, und wir empfinden es als Gnade, leben zu dürfen, um dieser Aufgabe willen.
1) Bahá’u’lláh, Verborgene Worte, S. 8.
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