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Die Bahá’í-Lehre,[Bearbeiten]
die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.
Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.
Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.
Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.
Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“
Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.
Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.
Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.
SONNE DER WAHRHEIT Organ der Bahá’í in Deutschland und Österreich Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198 Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo Verwaltung: Paul Gollmer • Begründet von Alice Schwarz-Solivo Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark, im Ausland 2.– Reichsmark |
Heft 1 | Stuttgart, im März 1935 Bahá — Herrlichkeit 92 |
15. Jahrgang |
Inhalt: Bahá’u’lláh über die geistliche und weltliche Obrigkeit. — Nabíl’s Erzählung: Bahá’u’lláh’s Reise nach Mázindarán. — Göttliche Lebenskunst. — Liebe und Gebet.
„Bei Meinem Leben! Ihr wurdet für die Liebe und das Wohlmollen erschaffen, nicht für den Haß und den Hochmut. In der Selbstliebe liegt für euch keinerlei Verdienst; nur aus der Liebe zu euresgleichen wird euch Ruhm erstehen“*)
Bahá’u’lláh
*) Aus der „Abhandlung über die Weisheit“,„Sonne der Wahrheit", XIII, S. 114.
Bahá’u’lláh über die geistliche und weltliche Obrigkeit[Bearbeiten]
Ins Deutsche übertragen aus L’Epître au Fils du Loup, Edition Honoré Champion, Paris 1913, S. 90-93
..Seine Majestät der Sháh (Alláh1), der Gepriesene, beschütze ihn!) sollte jetzt
dieser Bewegung2) gegenüber Gunst und Güte walten lassen; dieser Unterdrückte3)
aber verpflichtet sich im Angesicht der göttlichen Ka’bih4), daß diese Bewegung über
Aufrichtigkeit und Treue hinaus nichts an den Tag legt, was zu dem weltordnenden
Verlangen Seiner Majestät im Gegensatz stünde. Jede Nation soll dem Rang ihres Herrschers
Ehrerbietung entgegenbringen, ihm gegenüber ergeben sein, seiner Weisung gemäß handeln
und sich an seinen Befehl halten. Die Herrscher waren und sind die Offenbarungen göttlicher
Macht, Würde und Größe. Ich habe mich nie gegen jemand heuchlerisch gezeigt: jedermann
ist dafür Zeuge und kann es bestätigen; allein die Achtung vor dem Rang der Herrscher
kommt von Gott, wie es ja auch klar und deutlich aus den Worten der Propheten und
Erwählten hervorgeht. Man fragte Jesus (auf Ihm das Heil!): „O Geist Alláh’s, ist es
erlaubt, Cäsar den: Tribut zu zahlen, oder nicht?“ Er antwortete: „Ja, gebt Cäsar,
was Cäsar zukommt, Alláh, was Alláh zukommt.“ Er hat es nicht untersagt. Diese beiden
Worte aber kommen für die, so zu sehen vermögen, auf dasselbe heraus; denn wenn das,
was Cäsar zukommt, nicht von Alláh käme, würde Er es verboten haben. Und ebenso
(steht) in dem heiligen Verse: „Gehorchet Alláh, und gehorchet dem Propheten und den Trägern
der Befehlsgewalt unter euch.“ Die Träger der Befehlsgewalt waren und sind zunächst und in
erster Linie die Imáme5) (auf ihnen ruhen die Gebete Alláh’s6)). Sie
sind die Offenbarungen der Macht, die Quellen des Befehles, die Vorratskammern des
Wissens und die Morgenröten der
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göttlichen Sache. In zweiter Linie und von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet sind mit
dieser Bezeichnung die Könige und die Gebieter, oder mindestens die Könige gemeint, die durch
das Licht ihrer Gerechtigkeit die Horizonte der Welt erleuchten und aufflammen lassen. Ich
hoffe, daß von Seiner Majestät dem Sháh das Licht der Gerechtigkeit ausgehen wird, das alle
Sonderbewegungen der Völker umfängt. Jeder soll Gott bitten, in Seiner Gunst das zu gewähren,
was an diesem Tage zuträglich ist.
Mein Gott, mein Gott! Mein Herr, meine Stütze, mein Verlangen, mein Vielgeliebter! Ich bitte Dich bei den Geheimnissen, die in Deinem Wissen verborgen sind, bei den Versen, denen der Wohlgeruch Deiner Gunst entströmt, bei den Wogen der See Deiner Gaben, beim Himmel Deiner Gnade und Deiner Güte, bei dem Blute, das auf Deinem Wege vergossen worden ist, bei den vor Deiner Liebe dahingeschwundenen Lebern, Seiner Majestät dem Sháh vermöge Deiner Kraft und Machtvollkommenheit zu helfen, auf daß bei ihm zum Vorschein komme, was ewig in Deinen Büchern, Deinen Blättern und Deinen Tablets verzeichnet bleiben wird! O Herr, nimm seine Hand fest in diejenige Deiner Allmacht und erleuchte ihn mit dem Lichte Deiner Erkenntnis; ziere ihn mit dem Schmucke Deiner guten Sitten. Wahrlich, Du bist Der, Der vermag, was Er will, und in Deiner Hand ruhen die Zügel der Dinge. Es gibt keinen anderen Gott als Dich, den Verzeihenden, den Großmütigen! Sankt Paulus hat im Briefe an die Römer geschrieben7): „Jedermann sei den vorgesetzten Herrschern untertan, denn es gibt keinen Herrscher, der nicht von Alláh käme, und die Herrscher, die da sind, sind von Alláh eingesetzt worden.“ Und weiterhin: „Denn er ist Alláh’s Diener und Rächer zur Bestrafung jenes, der Böses tut.“ Er sagt, daß die Offenbarung der Herrscher, ihre Majestät, ihre Macht von Alláh stammen.
Gleicherweise hat man einstmals in den Ḥadíth8) erwähnt, was die Wissenden gesehen und gehört haben. Ich bitte Alláh, den Gelobten, den Gepriesenen, Er möge dir helfen, o Shaykh9), dich an das zu klammern, was vom Himmel Seiner Gaben, von Ihm, dem Herrn der Welten, herabgekommen ist. Die ‘Ulamá10) müssen sich mit Seiner Majestät vereinigen und dem nachgehen, was zur Betreuung, zur Fürsorge, zum Wohltun und zur Beglückung der Menschen führt. Im Hinblick auf Alláh ist ein gerechter Herrscher Ihm näher als irgend ein anderer: und was Alláh im allerhöchsten Gefängnis11) verkündet hat, zeugt dafür. Es gibt keinen anderen Gott als Ihn, den Einzigen, den Alleinigen, den Starken, den Wissenden, den Weisen!...
1) = Gott.
2) Die Bahá’í.
3) Bahá’u’lláh.
4) = Ka’aba, Heiligtum des Islams in Mekka, hier sinnbildlich verstanden.
5) Die „Hüter“ in der zukünftigen Weltreligion.
6) Damit sind vermutlich die Gebete des Gottoffenbarers gemeint; vgl. auch den Schluß des zweitletzten Satzes dieser Abhandlung.
7) Röm. 13, 1 ff.
8) Sätze der mohammedanischer Überlieferung.
9) Der Empfänger des Briefes.
10) Die Rechts- und Religionsgelehrten.
11) Das Gefängnis in ‘Akká, jahrzehntelanger Aufenthalt Bahá’u’lláh’s.
Nabíl’s Erzählung[Bearbeiten]
Übersetzung aus „The Dawn-Breakers“, Nabíl’s Narrative of the early days of the Bahá’í Revelation, New York 1932
5. Kapitel: Bahá’u’lláh’s Reise nach Mázindarán (Fortsetzung)
"Später, als Bahá’u’lláh abgereist war, erzählte der Mujtahid seinen Schülern zwei seiner
neulichen Träume, deren Umstände ihm von höchster Bedeutung erschienen. „In meinem ersten
Traum“, sagte er, „stand ich inmitten einer großen Ansammlung von Menschen, die alle auf ein
bestimmtes Haus hinzuweisen schienen, in welchem, wie sie sagten, der Ṣáḥibu’z-Zamán
wohnte. Außer mir vor Freude, eilte ich in meinem Traum, in Seine Gegenwart zu kommen.
Als ich das Haus erreichte, wurde mir zu meiner großen Überraschung der Zutritt verweigert.
‚Der erwartete Qá’im‘, erfuhr ich, ist durch eine private Unterhaltung mit einer anderen Person
in Anspruch genommen. Der Zutritt zu ihnen ist streng verboten.‘ Von den Wächtern, welche
neben dem Tor standen, erfuhr ich, daß diese Person niemand anders war als Bahá’u’lláh.“
„In meinem zweiten Traum“, fuhr der Mujtahid fort, „befand ich mich auf einem Platz, wo
ich um mich herum eine Anzahl Koffer gewahrte, an denen ersichtlich war, daß sie allesamt
Bahá’u’lláh gehörten. Als ich sie öffnete, fand ich sie mit Büchern gefüllt. Jedes Wort und
jeder Buchstabe, die in diesen Büchern niedergeschrieben waren, waren mit den kostbarsten
Juwelen besetzt. Ihr strahlender Glanz blendete
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mich. Ich war von ihrem Feuer so überwältigt, daß ich plötzlich aus meinem Traum erwachte.“
Als Bahá’u’lláh im Jahre 60 in Núr ankam, stellte Er fest, daß der berühmte Mujtahid, der bei Seinem letzten Besuch in so hohem Ansehen gestanden hatte, gestorben war. Die große Zahl seiner Verehrer war bis auf eine Handvoll mutloser Anhänger zusammengeschrumpft, welche unter der Führung seines Nachfolgers Mullá Muḥammad darum kämpften, die Überlieferungen ihres heimgegangenen Führers aufrecht zu erhalten. Die Begeisterung, mit welcher Bahá’u’lláh bei Seiner Ankunft begrüßt wurde, stand in schroffem Gegensatz zu der Traurigkeit, die das kleine Häuflein jener einstmals blühenden Gemeinschaft befallen hatte. Eine große Zahl der Beamten und anderer angesehener Persönlichkeiten sprachen bei Ihm vor und hießen Ihn mit allen Beweisen der Zuneigung und Achtung in angemessener Weise willkommen. Sie waren angesichts der sozialen Stellung, die Er begleitete, begierig, von Ihm all die Neuigkeiten zu erfahren, die das Leben des Sháh, die Tätigkeit seiner Minister und die Angelegenheiten seiner Regierung betrafen. Auf ihre Fragen antwortete Bahá’u’lláh mit sehr großer Gleichgültigkeit und Er schien hierauf sehr wenig Interesse oder Gewicht zu legen. Er erörterte die Sache der neuen Offenbarung mit überzeugender Beredsamkeit und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den unermeßlichen Segen, welchen sie ihrem Lande zu bringen bestimmt ist*). Diejenigen, welche Ihn hörten, wunderten sich über die eifrige Anteilnahme, die ein Mann Seiner Stellung und Seines Alters für Wahrheiten an den Tag legte, welche vornehmlich die Geistlichen und Theologen des Islám angingen. Sie fühlten sich außerstande, die Richtigkeit Seiner Argumente in Frage zu stellen oder die Sache, welche Er so vortrefflich erklärte, zu verkleinern. Sie bewunderten die Erhabenheit Seiner Begeisterung und die Tiefe Seiner Gedanken und waren durch Seine Loslösung und Selbstverleugnung auf das stärkste beeindruckt.
Niemand wagte es, Seine Ansichten zu bestreiten, mit Ausnahme Seines Onkels ‘Azíz, welcher sich unterstand, Ihm entgegenzutreten, Seine Aussagen anzuzweifeln und ihre Wahrheit zu schmähen. Jene, die diesen Gegner hörten, suchten ihn zum Schweigen zu bringen und zu schädigen, aber Bahá’u’lláh trat für ihn ein und ermahnte sie, ihn den Händen Gottes zu überlassen. Beunruhigt suchte er die Hilfe des Mujtahid von Núr, Mullá Muḥammad, und wandte sich an ihn, um seinen sofortigen Beistand zu erhalten. „O Stellvertreter des Propheten Gottes!“ sprach er, „siehe, was hat die Lehre befallen! Ein junger Mann, ein Laie, angetan mit dem Gewande der Würde, ist nach Núr gekommen, ist in das Bollwerk der Rechtgläubigkeit eingedrungen und hat in den heiligen Glauben des Islám eine Spaltung gebracht. Erhebe dich, und widerstehe seinem Angriff! Wer auch in seine Gegenwart kommen mag, unterliegt sofort seinem Zauber und ist durch die Macht seiner Sprache eingenommen. Ich weiß nicht, ob er ein Zauberer ist oder ob er in seinen Tee geheimnisvolle Mittel mischt, welche jedermann, der den Tee trinkt, zum Opfer seiner Zauberei macht.“ Der Mujtahid war trotz seiner mangelhaften Einsicht doch imstande, die Torheit solcher Worte zu erkennen. Im Spaß bemerkte er: „Hast du von diesem Tee nicht auch getrunken, oder hast du ihn zu seinen Begleitern sprechen hören?“ „Ich habe das“, erwiderte er, „jedoch dank deinem gütigen Schutze bin ich gegen die Wirkung seiner geheimnisvollen Macht unempfindlich geblieben.“ Der Mujtahid, der sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlte, die Öffentlichkeit gegen Bahá’u’lláh aufzurütteln und die Gedanken geradewegs zu bekämpfen, welche ein Gegner so mächtig und furchtlos verbreitete, begnügte sich mit einer schriftlichen Auseinandersetzung, in welcher er erklärte: „O ‘Azíz, fürchte dich nicht; niemand wird es wagen, dich zu belästigen.“ Indem er dies schrieb, hatte der Mujtahid durch einen grammatikalischen Fehler den Sinn seiner Niederschrift so entstellt, daß jene unter den angesehenen Persönlichkeiten des Dorfes Tákur, die sie lasen, sich an seiner Auffassung stießen und sowohl den Empfänger als auch den Verfasser dieser Erklärung herabwürdigten.
Diejenigen, welche in die Gegenwart Bahá’u’lláh’s kamen und Ihn die von dem Báb verkündigte
Botschaft erklären hörten, waren von der Gewalt Seines Mahnrufes so sehr beeindruckt,
daß sie sich sogleich entschlossen, diese selbe Botschaft unter den Einwohnern von Núr
zu verbreiten und die Tugenden ihres hervorragenden Förderers zu rühmen. Die Schüler
Mullá Muḥammad’s bemühten sich inzwischen,
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ihren Lehrer dazu zu überreden, sich nach Tákur zu begeben, Bahá’u’lláh persönlich zu besuchen,
von Ihm das Wesen dieser neuen Offenbarung in Erfahrung zu bringen und seine Nachfolger
über deren Charakter und Ziel aufzuklären. Auf ihre dringende Bitte gab der Mujtahid eine
ausweichende Antwort. Seine Schüler weigerten sich jedoch, die Triftigkeit seiner Einwendungen
gelten zu lassen. Sie bestanden darauf, daß einem Manne seiner Position, dessen Aufgabe sei, die
Unversehrtheit des schiitischen Islám sicherzustellen, es als erste Pflicht auferlegt sei, in das
Wesen jeder Bewegung einzudringen, die dazu neigt, die Interessen ihres Glaubens zu berühren.
Mullá Muḥammad entschloß sich endlich, zwei seiner besten Vertreter, Mullá ‘Abbás und
Mírzá Abu’l-Qásim, beides Schwiegersöhne und vertraute Schüler des verstorbenen Mujtahid
Mírzá Muḥammad-Taqí, damit zu beauftragen, Bahá’u’lláh zu besuchen und den wahren Charakter
der von Ihm gebrachten Botschaft festzustellen. Er gelobte, vorbehaltslos zu bestätigen,
zu welchen Beschlüssen sie auch kommen mögen, und ihre Entscheidung in solchen Angelegenheiten
als endgültig anzuerkennen.
Als die Vertreter Mullá Muḥammad’s nach ihrer Ankunft in Tákur erfuhren, daß Bahá’u’lláh an Seinen regelmäßigen Winteraufenthaltsort abgereist war, entschieden sie sich, dorthin sich zu begeben. Bei ihrer Ankunft fanden sie Bahá’u’lláh damit beschäftigt, eine Erklärung über die erste Sure des Qur’án, betitelt „Die sieben Verse der Wiederholung“ zu offenbaren. Während sie dasaßen und Seiner Rede zuhörten, wurden sie tief beeindruckt von der Erhabenheit des Gegenstandes, von der überzeugenden Beredsamkeit, die der Darstellung eigen war, sowie auch von der außergewöhnlichen Art und Weise dieses Vortrages. Mullá ‘Abbás, außerstande an sich zu halten, erhob sich von seinem Platze und ging, getrieben von einem Impuls, dem er nicht widerstehen konnte, nach hinten und stellte sich in ehrfurchtsvoller Ergebenheit schweigend neben die Türe. Der Zauber der Rede, welcher er zuhörte, hatte ihn gefesselt. „Du siehst meine Lage“, sagte er zu seinem Gefährten, wie er bebend vor Erregung mit tränenerfüllten Augen dastand. „Ih bin ohnmächtig, Bahá’u’lláh zu fragen. Die Fragen, die ich Ihm stellen wollte, sind plötzlich meinem Gedächtnis entschwunden. Es steht dir frei, entweder mit deiner Nachforschung fortzufahren oder allein zu unserem Lehrer zurückzukehren und ihn von dem Zustand zu unterrichten, in dem ich mich befinde. Sage ihm von mir, daß ‘Abbás niemals wieder zu ihm zurückkehren kann. Ich kann nicht länger auf diese Schwelle verzichten.“ Mírzá Abu’l-Qásim fühlte sich ebenfalls dazu gedrungen, dem Beispiel seines Gefährten zu folgen. „Ich habe aufgehört, meinen Lehrer anzuerkennen“, war seine Antwort. „Eben in diesem Augenblick habe ich Gott gelobt, die restlichen Tage meines Lebens dem Dienste Bahá’u’lláh’s, meines wahren und einzigen Meisters, zu weihen.“
Die Nachricht der plötzlichen Bekehrung der erwählten Gesandten des Mujtahid verbreitete sich mit aufregender Geschwindigkeit in der ganzen Umgegend. Sie erweckte die Menschen aus ihrem Schlafe. Geistliche Würdenträger, Staatsbeamte, Kaufleute und Bauern, sie alle strömten an dem Aufenthaltsort Bahá’u’lláh’s zusammen. Eine beträchtliche Anzahl unter ihnen nahm bereitwillig und eifrig Seine Sache an. In ihrer Bewunderung für Ihn erklärte eine Reihe der Angesehensten unter ihnen: „Wir sehen, wie die Bevölkerung von Núr sich erhoben und um dich gesammelt hat. Wir sind allerseits Zeuge ihres offenkundigen Frohlockens. Wenn sich Mullá Muḥammad ebenfalls ihnen anschließen würde, wäre der Triumph dieses Glaubens völlig gesichert.“ „Ich bin nach Núr gekommen“, erwiderte Bahá’u’lláh, „einzig und allein, um die Sache Gottes zu verkünden. Ich verfolge kein anderes Ziel. Wenn Mir gesagt würde, daß 100 Meilen von hier ein Sucher sich nach der Wahrheit sehnte und außerstande wäre, zu Mir zu kommen, so würde Ich freudig und ohne Zögern an seine Wohnstätte eilen und selbst seinen Hunger stillen. Es wird Mir gesagt, daß Mullá Muḥammad in Sa’ádat-Ábád, einem Dorfe nicht weit von diesem Orte hier, wohnt. Ich habe die Absicht, ihn zu besuchen und ihm die Sendung Gottes zu überbringen.“
Mit dem Wunsche, Seine Worte wirksam zu machen, begab sich Bahá’u’lláh sofort in Begleitung
einiger Seiner Freunde nach jenem Dorf. Mullá Muḥammad empfing Ihn sehr förmlich. „Ich bin
nicht hierher gekommen“, bemerkte Bahá’u’lláh, „um Dir einen offiziellen und formellen
Besuch abzustatten. Meine Absicht ist, Dich über eine neue und wunderbare Botschaft
aufzuklären, welche göttlich inspiriert ist und die dem Islám gewordene Verheißung erfüllt.
Wer auch immer sein Ohr dieser Botschaft öffnete, hat ihre unwiderstehliche Kraft erfahren
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und ist durch die Macht ihrer Gnade verwandelt worden. Sage Mir, was auch immer Deinen
Geist verwirrt oder Dich davon abhält, die Wahrheit zu erkennen.“ Mullá Muḥammad äußerte
geringschätzend: „Ich unternehme nichts, es sei denn, daß ich zuerst den Qur’án befrage. Ich
habe bei solchen Gelegenheiten stets die Hilfe Gottes und Seinen Segen angerufen, indem ich
aufs Geratewohl Sein heiliges Buch aufschlage und den ersten Vers der besonderen Seite zu
Rate ziehe, auf welche meine Augen zufällig fallen. Aus dem Sinn dieses Verses heraus kann
ich die Weisheit und Ratsamkeit meiner beabsichtigten Handlungsweise beurteilen.“ Als der
Mujtahid feststellte, daß Bahá’u’lláh nicht geneigt war, ihm seine Bitte abzulehnen, verlangte
er ein Exemplar des Qur’án, öffnete es und schloß es wieder, weigerte sich aber, den Sinn
des Verses den Anwesenden bekanntzugeben. Er beschränkte sich auf folgende Worte: „Ich
habe das Buch Gottes um Rat gefragt und es scheint mir nicht ratsam, mich mit dieser
Angelegenheit weiterhin zu beschäftigen.“ Einige stimmten ihm zu; dem größten Teil der anderen
aber entging es nicht, welche Furcht in diesen Worten lag. Bahá’u’lláh, abgeneigt, ihm weitere
Verwirrung zu verursachen, erhob sich, bat um Entschuldigung und sagte ihm ein herzliches
Lebewohl.
(Fortsetzung folgt.)
*) „Seine (Bahá’u’lláh’s) Rede war wie ein „rauschender Strom“, und seine Klarheit in der Darlegung brachte die meisten gelehrten Theologen zu seinen Füßen.“ (Dr. T. K. Cheyne’s „The Reconciliation of Races and Religions“, p. 120.)
Göttliche Lebenskunst[Bearbeiten]
Aus den Schriften ‘Abdu’l-Bahá's (Fortsetzung)
Zusammengestellt von Mary M. Rabb (New York, Brentanos Publishers)
Übersetzung aus dem Englischen
7. Kapitel: Die Macht des Heiligen Geistes (Fortsetzung)
Kurz, die Lehren der Heiligen Bücher bedürfen göttlicher Macht zu ihrer Erfüllung in menschlichen Herzen. In Persien hat Bahá’u’lláh Seelen erzogen und gelehrt, ein Band der Angliederung um viele Völker geschlungen und voneinander abweichende religiöse Glaubensformen bis zu solchem Grade vereinigt, daß zwanzigtausend ergebene Nachfolger für die Sache Gottes in der glorreichen Einheit des Märtyrertums sich opferten. Keinerlei Unterschiede blieben zwischen diesen gesegneten Seelen bestehen; Christen, Juden, Mohammedaner, Zoroastrer waren vermischt und vereinigt, und alle stimmten zusammen durch die Macht dieser himmlischen Kräfte — nicht durch Worte allein, nicht durch den Spruch allein: „Einheit ist gut und Liebe ist des Preises wert.“
Bahá’u’lláh hat diese Einheit und Liebe nicht nur erklärt, er hat sie durch die Tat begründet. Als himmlischer Arzt hat er nicht nur Verordnungen gegen die Leiden der Uneinigkeit und des Hasses gegeben, sondern er vollbrachte wirkliche Heilung. Wir mögen in einem Medizinbuche lesen, daß eine gewisse Form von Krankheit solche und solche Heilmittel verlange. Wohl mag dies völlig richtig sein; aber das Heilmittel ist nutzlos, wenn nicht ein Wollen und eine Tatkraft vorhanden sind, sie auch anzuwenden. Jeder Soldat in der Armee des Königs kann einen Befehl aussprechen, aber erst wenn der König ihn gibt, wird er ausgeführt. Dieser oder jener mag sagen: „Geht und erobert dieses Land.“ Aber erst, wenn der König sagt: „Geht“, so zieht die Armee aus. Darum ist es klar, daß die Bestätigung des Heiligen Geistes und der antreibende Einfluß einer himmlischen Macht notwendig sind, um die göttlichen Absichten in den Herzen und Lebensformen der Menschen zur Ausführung zu bringen. Jesus Christus vollbrachte allein, als Einzelner und Einsamer, was alle Könige der Erde nicht hätten zustande bringen können. Wenn alle Königreiche und Nationen der Welt sich zusammengetan hätten, um das zu erreichen, es wäre ihnen doch nicht gelungen.
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Es gibt gewisse Mittel, die zu dem Ziele führen, daß die Menschheit erneut und wiederbelebt
wird in einer Neugeburt. Dies ist die „zweite Geburt“, welche in den himmlischen Büchern
erwähnt wird. Sie wird erlangt durch die wirkende Kraft des Wassers des Lebens. Dieses
Leben und diese Belebung bedeutet die Erneuerung der Erscheinungswelt. Nach dem Kommen
des geistigen Frühlings, dem Fallen der Frühlingsregen, dem Erstrahlen der Sonne der
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Wirklichkeit, dem Wehen der Winde der Vollkommenheit, werden alle Erscheinungen mit dem
Leben einer neuen Schöpfung erfüllt und werden neu belebt durch ein neues
Schöpfungsgeschehen. Denkt an den Frühling der Natur. Wenn der Winter kommt, stehen die Bäume
ohne Laub da, die Felder und Wiesen sind verödet, die Blumen sind zu Staub zerfallen. In
Wiesen, Bergen und Gärten ist keine Frische mehr, keine Schönheit ist sichtbar, keine grünen
Blätter sind zu sehen. Alles ist mit dem Gewande des Todes gekleidet. Wohin immer ihr
um euch blickt, findet ihr das Zeugnis des Todes und des Verfall. Wenn aber der Frühling
kommt und der Regen fällt, die Sonne die Wiesen und Ebenen mit Licht überflutet, werdet ihr
die Schöpfung in ein neues Gewand gekleidet sehen, das Neues zum Ausdruck bringt. Die
Regenschauer machten die Wiesen grün. Die warmen Winde ließen die Bäume ihr Blätterkleid
anlegen. Sie blühen und werden bald neue, frische und köstliche Früchte hervorbringen.
Alles scheint neu belebt, neues Leben und neuer Geist sind überall sichtbar. Der Frühling hat
alle diese Erscheinungen erweckt und hat die Erde mit Schönheit geschmückt nach seinem
Willen.
Ebenso ist der geistige Frühling, wenn er erscheint. Wenn die heiligen, göttlichen Offenbarer oder Propheten in der Welt erscheinen, dann dämmert in der Welt ein Zyklus des Glanzes auf, ein Zeitalter der Gnade. Alles erneut sich. Geist, Herz und alle menschlichen Kräfte werden neu gebildet, Vollkommenheiten leben auf, Wissenschaften, Entdeckungen und Forschungen erhalten frischen Antrieb und alles, was zu den Tugenden der Menschenwelt gehört, empfängt neues Leben.
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Das Allerwichtigste ist das, was durch den Geist kommt — der Atem des Heiligen Geistes. Die Seele kann durch den Geist das Königreich erfassen. Die Seele kann die Liebe Gottes erkennen und fühlen. Entfernung kann den Empfang der geistigen Gaben nicht hindern. Hügel und Berge können sie nicht aufhalten. Warum? Weil es für den Geist keine Ketten und Fesseln gibt. Die Sonne ist weit entfernt, sie steht in der höchsten Höhe, — es ist eine große Entfernung zwischen der Erde und der Sonne, und doch können Weite und Entfernung die Strahlen nicht hindern zu scheinen.
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Der Heilige Geist ist die einzige Macht, welche schließlich die Rassen und Nationen der Welt miteinander vereinigen und in Harmonie bringen wird. Die Sache Gottes ist das einzige Wundermittel, welches für alle kommenden Zeiten die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krankheiten der Menschheit heilen wird. Die Offenbarung Bahá’u’lláh’s ist der Baum, dessen weitgreifende Äste alle Länder beschatten werden, und unter seinem Schutz werden sich alle religiösen Sekten versammeln, um sich zu verbrüdern und sich zu vereinigen. Die Welt ist von vielen Gedanken erfüllt, aber sie sind entweder vergänglich oder nutzlos oder undurchführbar oder begrenzt in ihrem Einfluß oder auf einen kleinen Gesichtskreis beschränkt. Die Strahlenwellen aus dem Lichte kosmischer Ideale müssen die Menschenherzen durchdringen und die Macht des Heiligen Geistes ist notwendig, um die edlen Gedanken dieses Zeitalters zur Ausführung zu bringen. Menschliche Kraft ist beschränkt in ihrem Einfluß. Sie kann zwei Menschen vereinigen oder zwei Stämme oder zwei Gemeinschaften oder höchstens zwei Völker. Zugleich aber zeigt sich, daß diese Einheit zeitlich ist; sie kann durch die Laune einer der beiden vertraglich verpflichteten Parteien aufgehoben werden.
Aber die göttliche Macht vereint Nationen und Völker und schmiedet sie zusammen mit dem Bande der Brüderlichkeit und des Friedens, für Zeiten und Zeitalter. Christus war ein einzelner Mensch, ohne irgend welche weltliche Hilfe und ohne Beistand; aber durch das Wirken des Heiligen Geistes war er befähigt, viele Völker und Religionen unter der Fahne des Christentums zu vereinigen. Ähnlich hat Mohammed die wilden, grausamen Stämme der Araber vereinigt und aus ihnen die Eroberer Asiens gemacht. Demnach ist göttliche Macht notwendig, um dieses allumfassende Ziel zu erreichen. Menschliche Macht versagt bei solchem Unternehmen.
Die Worte jener Seelen, welche das Wesen der Loslösung sind, welche in äußerster Heiligkeit
und Reinheit leben, werden Einfluß haben auf die Herzen der Menschen; und die Folge
werden Einheit und gute Kameradschaft sein. Ohne diese wird eine vorbildliche Verbindung
zwischen den Menschenkindern nicht möglich sein. Sie mögen eine zeitliche Vereinigung für
einige Jahre erreichen. Die Menschen können verschiedene Bestandteile so untereinander
mengen, daß sie unterschiedslos vermischt werden.
[Seite 7]Liebe und Gebet
Aber es ist ein Mittel zur vollkommenen Vermischung und Vereinigung notwendig. In der
menschlichen Welt ist dieses Mittel die Macht des Heiligen Geistes, welcher die verschiedenen
Wesensteile und Elemente, aus denen sich die vielerlei Nationen, Religionen und Sekten
zusammensetzen, durch und durch verbinden und vermischen wird. Ich hoffe, die Freunde Gottes
werden „die Fahne des Weltfriedens“ entfalten, weil ihr Ziel selbstlos ist und sie durch die
Bestätigungen des Heiligen Geistes unterstützt werden.
(Fortsetzung folgt.)
Liebe und Gebet[Bearbeiten]
Von Erna Schmidt
Die Erkenntnis Gottes, die wir Menschen nur durch die Offenbarung Seiner Manifestationen erlangen können, muß sich in der Liebe zu Gott äußern. „Liebe Mich, damit Ich dich liebe, wenn du Mich nicht liebst, kann Meine Liebe niemals zu dir gelangen1).“ Wenn es unser Wunsch ist, daß die Liebe Gottes zu uns gelangen soll, so müssen wir die Tore unseres Herzens in Liebe und Sehnsucht für Ihn, den Herrlichsten, weit öffnen. Nur wenn unser Herz so geöffnet ist, kann die Liebe Gottes darin einziehen. Ist die Türe verschlossen, d. h. hat sich der Mensch von Gott abgewendet, so ist es unmöglich, daß die Liebe Gottes den Menschen erleuchtet und beglückt. Weiter sagt Bahá’u’lláh: „Dein Herz ist Meine Wohnstätte, heilige es für Mein Kommen. Dein Geist ist Mein Ausblick, reinige ihn für Meine Offenbarung.“ „Wenn du Mich liebst, dann wende dich ab von dir selbst, wenn du Mir wohlgefallen willst, dann sieh nicht auf das, was dir gefällt, damit du in Mir stirbst, und Ich ewig in dir lebe2).“ Liebe zu Gott ist die restlose Hingebung, dieses „Stirb“ des eigenen Selbst und das „Werde“ in Gott. Um aber zu bezeugen, daß wir Gott lieben, müssen wir Seine Geschöpfe, unsere Mitmenschen, lieben. „Wenn du Gott lieben willst, so liebe deine Mitmenschen. In ihnen kannst du das Bildnis und Gleichnis Gottes sehen. Wenn du Gott dienen willst, so diene der Menschheit. Entsage deinem Selbst im Wesen Gottes3).“ Christus sagt: „Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte, dies ist das größte und vornehmste Gebot, das andere aber ist ihm gleich, du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Die Nächstenliebe soll daher so stark und tief wie die Selbstliebe sein. Und der Mensch, der sich im wahren Sinne selbst, d. h. als Geschöpf Gottes liebt, wird auch in gleicher Weise seine Mitmenschen, die alle Geschöpfe Gottes sind, lieben. Von der Selbstliebe sagt 'Abdu'l-Bahá, daß auch sie zur Höherentwicklung führen kann, wenn sie erkennt, daß der Mensch ein Geschöpf Gottes ist.
Es gibt also zwei Arten von Selbstliebe, diejenige, die nur auf das persönliche Ich, auf das eigene Wohlergehen gerichtet ist, und die immer den Stillstand oder Niedergang des Menschen bestimmt und ihn wahrer Entwicklung beraubt, und die andere Selbstliebe, die, wie 'Abdu'l-Bahá sagt, sich als Geschöpf Gottes erkennt, und dadurch auch auf das Wohlergehen seiner Mitmenschen als dieselben erschaffenen Wesen des großen Schöpfers bedacht ist. Der Maßstab zur Nächstenliebe kann demnach. die Selbstliebe sein, denn es heißt „was ihr wünscht, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch“.
Die Liebe zu unserem Nächsten kann sich auf die mannigfachste Art äußern. Viele kleine
Dinge im täglichen Leben erfordern von uns eine liebevolle Grundeinstellung, die in höherer
Entwicklung sich in äußerster Selbstlosigkeit und Selbstverleugnung zeigt. Wir dürfen nicht
Gleiches mit Gleichem vergelten. Liebevoll und gütig sollen wir zu allen Menschen, ob Freund oder
Feind, sein. Freunde zu lieben und ihnen Gutes zu tun ist nicht schwer, doch die Feindesliebe
bedarf oft größter Überwindung des eigenen Ichs. „Wir müssen unsere Feinde um Gottes willen
lieben und weil Er sie erschaffen hat, wir müssen sie lieben, wenn wir sie auch nicht um
ihrer eigenen Person willen lieben?“ Unser Verhalten zum Nächsten sei daher gütig und
verzeihend, immer von Liebe getragen. In dem
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Verhalten des Ich zum Du darf der Grundsatz der Vergeltung in keinem Falle Anwendung
finden. Dieser ist aber ein notwendiger Bestandteil der Gerechtigkeit.
Liebe und Gerechtigkeit, dies sind die beiden Grundpfeiler im menschlichen Leben. Liebe, wie schon ausgeführt, in der Beziehung von Mensch zu Mensch, Gerechtigkeit dagegen im Verhältnis des einzelnen zur Gemeinschaft wie Familie, Volk usw. Christus sagt: „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit.“ Worte Bahá’u’lláh’s hierüber sind:
- O Sohn des Geistes!
- Die Gerechtigkeit ist in Meinen Augen vor allem andern das Köstlichste. Wenn du nach Mir verlangst, dann wende dich nicht von ihr ab und vernachlässige sie nicht, damit Ich dir Mein Vertrauen schenke. Mit Hilfe der Gerechtigkeit wirst du mit deinen eigenen Augen und nicht mit den Augen anderer sehen, du wirst alles mit deinem eigenen. Verständnis erkennen und nicht mit dem deines Nebenmenschen. Erwäge in deinem Herzen wie du sein solltest. Wahrlich die Gerechtigkeit ist Meine Gabe für dich; sie ist das Zeichen Meiner liebevollen Güte zu dir, deshalb halte sie dir stets vor Augen5).
Die Gerechtigkeit ist ein Ausdruck der Liebe Gottes zu den Menschen. Gerechtigkeit ist die göttliche Ordnung, die uns durch Seine Manifestationen der Entwicklungsstufe der Menschheit entsprechend verkündigt wird. Wenn die Gerechtigkeit, so wie sie verkündet wurde, das Fundament in der menschlichen Gesellschaft werden wird, so wird das Reich Gottes auf Erden errichtet sein. Wie Bahá’u’lláh sagt, muß die wahre Gerechtigkeit auf Strafe und Belohnung aufgebaut sein, was sich in der notwendigen Einordnung des einzelnen ins Ganze, nämlich in die Gemeinschaft, ergibt. Voraussetzung der Verwirklichung von Liebe und Gerechtigkeit durch die Menschen, so wie Gott es uns verkündet hat, ist die Höherentwicklung und Veredlung des Menschen. Jeder einzelne Mensch hat die Pflicht, darnach zu streben und sich edle Eigenschaften zu erringen. Um aber dies zu erreichen, müssen wir uns an eine Kraftquelle wenden, die dem ernstlich Suchenden immer fließen wird. Diese Kraftquelle ist Gott, und wir können aus ihr trinken, wenn wir uns Ihm ganz zuwenden. Diese Zuwendung liegt in der Verbindung durch das Gebet. ‘Abdu’l-Bahá sagt über das Gebet: „Wende dein Antlitz ernstlich zu Gott, trenne dich von allem außer Ihm, sei entflammt vom Feuer der Liebe zu Gott; sei rein und geheiligt und bete und flehe zu Gott. Wahrlich, Er antwortet denen, die zu Ihm flehen, und Er ist denen nahe, die zu Ihm beten. Und Er ist dein Gefährte in jeder Einsamkeit und erweist dir Freundschaft in jeder Verbannung. ... Wisse, daß nichts in der Welt dich wirklich fördern kann, als Flehen und Rufen zu Gott, als Arbeit in Seinem Weinberg und Ihm in steter Dienstbarkeit mit einem Herzen voller Liebe zu leben. ... Nähere dich Gott und beharre in der Verbindung mit deinem Herrn, damit das Feuer der Liebe Gottes heller in deinem Herzen brennen und sein Glühen stärker werden und deiner Welt Wärme geben, und der Widerhall dieser Liebe sich bis zu den höchsten Heerscharen aufschwingen möge.6)“
Das Maß unserer Liebe zum Mitmenschen wird sich immer aus dem Grad unserer Verbundenheit mit Gott ergeben, deshalb ist das Gebet einerseits das kraftempfangende und andererseits das kraftspendende Mittel, um unseren Glauben und unsere Erkenntnis in überzeugende Tat umzusetzen.
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„Mache dich frei von den Fesseln dieser Welt und entfliehe dem Gefängnis des Selbst. Würdige den Wert der Zeit, denn du wirst sie niemals wieder erleben noch eine ähnliche Gelegenheit finden.“7)
Bahá’u’lláh
1) Bahá’u’lláh, Verborgene Worte arab. (5).
2) Ebenda (58, 7).
3) 'Abdu'l-Bahá, Göttliche Lebenskunst, Kap. 5 („Sonne der Wahrheit“ XIV, S. 14).
4) 'Abdu'l-Bahá, Göttliche Lebenskunst, Kap. 5 („Sonne der Wahrheit", XIV, S. 14).
5) Bahá’u’lláh, Verborgene Worte arab. (2).
6) Göttliche Lebenskunst, Kap. 3 („Sonne der Wahrheit", XIII).
7) Entnommen und ins Deutsche übertragen aus Bahá’í Magazine, Band 25, Januar 1935, Nr. 10, S. 318.
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