Sonne der Wahrheit/Jahrgang 14/Heft 3/Text

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SONNE

DER

WAHRHEIT
 
ORGAN DER DEUTSCHEN BAHAI
 
HEFT 3 14. JAHRGANG MAI 1934
 


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Die Bahá’i-Lehre,[Bearbeiten]

die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.

Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.

Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.

Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.

Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“

Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.

Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.

Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.


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SONNE DER WAHRHEIT
Organ der deutschen Bahá’í
Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198
Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo
Verwaltung: Paul Gollmer Begründet von Alice Schwarz-Solivo
Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark, im Ausland 2.– Reichsmark
Heft 3 Stuttgart, im Mai 1934
Jamál — Schönheit 91
14. Jahrgang

Inhalt: Nabíl’s Erzählung: Der Báb erklärt Seine Sendung. — Die Bahá’i-Sommerwoche 1933. — Bericht über eine frühe Pilgerreise aus dem Jahr 1898.


Meine Ewigkeit ist Meine Schöpfung. Ich schuf sie für dich. Mache sie zum Gewand deines Tempels. Meine Einheit ist Mein Werk, für dich habe Ich sie bestimmt. Schmücke dich mit ihr, damit du in aller Ewigkeit die Offenbarung Meines ewigen Wesens wirst.

Verborgene Worte von Bahá’u’lláh



Nabíl’s Erzählung[Bearbeiten]

Übersetzung von Dr. E. Sch. aus „The Dawn-Breakers“, Nabíl’s Narrative of the early days of the Bahá’i Revelation, New York 1932

Nachdem in der vorausgegangenen Nummer zum besseren Verständnis dieses einzigartigen Geschichtswerks ein kurzer Überblick über die Vergangenheit und die allgemeinen Verhältnisse Persiens gegeben wurde, beginnen wir nun mit der Übertragung des 3. Kapitels ins Deutsche. Die große Bedeutung des Tages der Erklärung des Báb erhellt daraus, daß mit dem 23. Mai 1844 der Beginn des Bahá’i-Zyklus bezeichnet wird. Die Geburt ‘Abdu’l-Bahá’s in Tihrán fiel auf den gleichen Tag, so daß dieser Jahrestag zwei Bahá’i - Feste bringt.


Der Báb erklärt Seine Sendung

Siyyid Kázim’s Tod gab das Zeichen zu erneuter Tätigkeit auf seiten seiner Feinde. Das Verlangen nach Führerschaft, sein Hinscheiden und die dadurch unter seinen Nachfolgern hervorgerufene Bestürzung ermutigten seine Feinde, erneut ihre Ansprüche zu behaupten und Vorbereitungen zur Erreichung ihres Zieles zu treffen. Eine Zeitlang bemächtigte sich der Herzen der treuen Jünger Siyyid Kázim’s Furcht und Besorgnis, ihre Verdrießlichkeit wurde jedoch vertrieben, als Mullá-Husayn-i-Bushrú’í von der in hohem Maße erfolgreichen Mission zurückkehrte, mit welcher er von seinem Lehrer betraut worden war.

Es war am ersten Tag des Muharram, im Jahre 1260 A.H. (22. Januar 1844), als Mullá Husayn nach Karbilá zurückkehrte. Er tröstete die niedergeschlagenen Jünger seines geliebten Führers, munterte sie auf und erinnerte sie an dessen unfehlbare Verheißung. Er bat sie, in ihrer Wachsamkeit und ihrem unablässigen Bemühen auf der Suche nach dem verborgenen Geliebten nicht müde zu werden. Während er sich in der nächsten Umgebung des Hauses, in dem der Siyyid gewohnt hatte, aufhielt, war er drei Tage lang ständig durch Entgegennahme von Besuchen [Seite 18] einer großen Zahl von Trauernden in Anspruch genommen, welche ihm, als dem führenden Haupt der Jünger Siyyid’s, vor allem ihre Not und ihren Kummer zum Ausdruck brachten. Er ließ später eine Gruppe der besten und vertrautesten Anhänger zu sich kommen und befragte sie über die ausgesprochenen Wünsche und die letzten Ermahnungen ihres heimgegangenen Führers. Sie erzählten ihm wiederholt und ausdrücklich, daß Siyyid Kázim sie geheißen habe, ihr Heim zu verlassen, sich weithin zu zerstreuen, ihre Herzen von jedem eigennützigen Wunsch zu reinigen und sich der Suche nach ihm, auf dessen Kommen er so oft angespielt hatte, zuzuwenden. „Er sagte uns“, sprachen sie, „daß das Ziel unseres Suchens nunmehr geoffenbart sei. Die Schleier, welche zwischen euch und Ihm vorhanden sind, können nur durch euer ernstes Suchen entfernt werden. Nichts als andächtiges Bemühen, Reinheit der Gesinnung und Aufrichtigkeit des Gemüts wird euch die Kraft geben, euch voneinander zu trennen. Hat nicht Gott in Seinem Buche geoffenbart: ‚Wer sich so für Uns bemüht, den werden Wir auf Unseren Wegen führen‘?“ „Warum denn“, bemerkte Mullá Husayn, „habt ihr es vorgezogen, zögernd in Karbilá zu bleiben? Weshalb habt ihr euch nicht zerstreut und euch aufgemacht, um seiner strengen Weisung nachzukommen?“ „Wir sehen unsere Schwäche ein“, war ihre Erwiderung, „wir alle legen für deine Erhabenheit Zeugnis ab. Unser Vertrauen in dich ist so groß, daß, wenn du in Anspruch nimmst, der Verheißene zu sein, wir uns alle ohne Zögern und ohne Zweifel dir ergeben zeigen. Wir versichern dich hierin unserer Treue und unseres Gehorsams, was du uns auch bitten mögest, zu tun.“ „Gott behüte“, rief Mullá Husayn aus. „Es liege mir fern, bei Seiner Herrlichkeit, daß ich, der ich nur Staub bin, mit Ihm verglichen werden sollte, welcher der Herr der Herren ist! Wäret ihr mit der Stimme und Sprache von Siyyid Kazim vertraut gewesen, dann hättet ihr solche Worte niemals ausgesprochen. Eure erste Pflicht ist so gut wie die meinige, die Todesnachricht von unserem geliebten Haupt sowohl im Geist als auch durch das Wort hinauszutragen.“ Er erhob sich sofort von seinem Sitz und ging direkt zu Mirzá Hasan-i-Gawhar, Mírzá Muhít und anderen gutbekannten Persönlichkeiten unter den Anhängern des Siyyid Kázim. Allen und jedem gab er von dem Heimgang seines Hauptes unerschrocken Kenntnis, betonte die Dringlichkeit ihrer Pflicht und bat sie inständig, sich aufzumachen und sie zu erfüllen. Auf sein ernstes Bitten gaben sie ausweichende und unpassende Antworten. „Unsere Feinde“, bemerkte einer von ihnen, „sind gar viele und mächtige. Wir müssen in dieser Stadt verbleiben und den leeren Sitz unseres heimgegangenen Oberhauptes beschützen.“ Ein anderer äußerte: „Mir liegt es ob, da zu bleiben und für die Kinder zu sorgen, welche der Siyyid hinterließ.“ Mullá Husayn erkannte gleich die Nutzlosigkeit seiner Anstrengungen. Als er sich das Maß ihrer Torheit, ihrer Blindheit und Undankbarkeit vergegenwärtigte, sprach er nicht mehr zu ihnen. Er zog sich zurück und überließ sie ihrem vergeblichen Trachten.

Da das Jahr 60, das Jahr, das zum Zeugen der Geburt der verheißenen Offenbarung wurde, eben über der Welt angebrochen war, wird es nicht unangebracht sein, an dieser Stelle von unserem Thema abzuschweifen und gewisse Überlieferungen von Muhammad und den Imámen des Glaubens zu erwähnen, welche sich speziell auf dieses Jahr beziehen. Als Imám Ja’far, der Sohn Muhammads, bezüglich des Jahres, in welchem der Qá’im geoffenbart werden sollte, befragt wurde, antwortete er folgendes: „Wahrlich, im Jahre 60 wird Seine Sache geoffenbart und Sein Name ausgerufen werden.“ In den Werken des gelehrten und weitberühmten Muhyi’d-Dín-i-'Arabi sind viele Stellen zu finden, die sich sowohl auf das Jahr des Erscheinens als auch auf den Namen der verheißenen Manifestation beziehen. Unter ihnen befindet sich die folgende: „Die Diener und Stützen Seines Glaubens werden aus dem persischen Volke kommen.“ „In Seinem Namen, der Name des Hüters (‘Alí) wird jenem des Propheten (Muhammad) vorgehen.“ „Das Jahr Seiner Offenbarung ist gleich der Hälfte jener Zahl, welche durch neun teilbar ist (2520). Mírzá Muhammad-i-Akhbári macht in seinen auf das Jahr der Manifestation bezüglichen Gedichten die folgende Prophezeiung: „In dem Jahre Ghars (die numerische Größe der Buchstaben desselben ist 1260) wird die Erde durch Sein Licht erleuchtet und in Gharasih (1265) wird die Welt mit Seiner Herrlichkeit überstrahlt werden. Wenn du bis zum Jahre Gharasí (1270) lebst, wirst du Zeuge dessen sein, wie die Nationen, die Herrscher, die Völker und der Glaube an Gott eine Erneuerung erfahren haben werden.“ In einer [Seite 19] Überlieferung, die dem Imám ‘Alí, dem Oberhaupte der Gläubigen, zugeschrieben wird, wird in gleicher Weise berichtet: „In Ghars wird der Baum der göttlichen Führung gepflanzt werden.“ Mullá Husayn, der sich der inneren Pflicht, seine Glaubensfreunde anzuspornen und zu ermuntern, entledigt hatte, begab sich von Karbilá nach Najaf. Muhammad-Hasan, sein Bruder, und Muhammad-Bágir, sein Neffe, welche ihn seit seinem Besuch in seiner Vaterstadt Bushrúyih in der Provinz Khurásán immer beide begleiteten, gingen mit ihm. Bei der Ankunft im Masjid-i-Kúfih faßte Mullá Husayn den Entschluß, vierzig Tage an diesem Ort zu verbringen, wo er ein Leben der Zurückgezogenheit und des Gebets führte. Durch sein Fasten und Wachen bereitete er sich für das heilige Erlebnis vor, das ihm bald widerfahren sollte. Während dieser gottesdienstlichen Handlungen war allein sein Bruder um ihn. Sein Neffe, welcher für ihre täglichen Bedürfnisse sorgte, beachtete das Fasten und vereinigte sich in seinen Mußestunden mit ihnen bei ihren Andachten. Diese klösterliche Ruhe, von der sie umgeben waren, wurde nach wenigen Tagen durch die Ankunft von Mullá ‘Alí'y-i-Bastámi, einem der ersten Nachfolger Siyyid Kázim’s, unerwarteterweise unterbrochen. Er kam zusammen mit zwölf anderen Begleitern im Masjid-i-Kúfih an, wo er seinen Glaubensgenossen Mullá Husayn in Gedanken und Gebet versunken antraf. Mullá ‘Alí war mit so umfassendem Wissen ausgestattet und mit den Lehren von Shaykh Ahmad so tief vertraut, daß manche ihn Mullá Husayn sogar überlegen glaubten. Bei verschiedenen Gelegenheiten versuchte er von Mullá Husayn zu erfahren, was dessen Bestimmung nach Beendigung seiner Zeit der Zurückgezogenheit sein würde. Zu welcher Zeit er sich ihm auch näherte, fand er ihn ins Gebet vertieft, so daß er es als ein unmögliches Wagnis ansehen mußte, eine Frage zu stellen. Er entschloß sich bald, sich gleich ihm vierzig Tage lang von der menschlichen Gesellschaft zurückzuziehen. Alle seine Begleiter folgten seinem Beispiel, mit Ausnahme von dreien, welche als ihre persönlichen Diener tätig waren.

Als seine vierzigtägige Zurückgezogenheit beendet war, reiste Mullá Husayn sogleich, zusammen mit seinen beiden Begleitern, nach Najaf ab. Er verließ Karbilá während der Nacht, besuchte auf seinem Weg die geheiligte Stätte in Najaf und ging direkt nach Búshihr am persischen Golf weiter, wo er sein heiliges Suchen nach dem Geliebten, seines Herzens Wunsch, begann. Hier nahm er zuerst den Wohlgeruch Desjenigen in sich auf, welcher während vier Jahren in dieser Stadt das Leben eines Kaufmanns und bescheidenen Bürgers führte. Hier nahm er die süßen Düfte der Frömmigkeit auf, mit welcher die unzähligen Anrufungen jenes Geliebten die Atmosphäre dieser Stadt so reichlich gesegnet hatten.

Er konnte jedoch nicht länger in Búshihr bleiben. Wie von einem Magneten angezogen, welcher ihn unwiderstehlich nach dem Norden zu ziehen schien, setzte er seinen Weg nach Shíráz fort. Als er am Tore dieser Stadt anlangte, gab er seinem Bruder und seinem Neffen Weisung, direkt zum Masjid-i-Ilkháni weiter zu gehen und dort bis zu seiner Ankunft zu bleiben. Er gab der Hoffnung Ausdruck, daß, so es Gott wolle, er in Bälde zu ihnen kommen würde, um sich mit ihnen beim Abendgebet zusammenzufinden.

Gerade an diesem Tage, wenige Stunden vor Sonnenuntergang, während er außerhalb des Tores der Stadt einherging, fielen seine Augen plötzlich auf einen jungen Menschen mit strahlendem Angesicht, der einen grünen Turban trug und ihn, als er auf ihn zu ging, mit einem Lächeln liebevollen Willkommenseins grüßte. Er umarmte Mullá Husayn mit gütiger Zuneigung, als ob er sein nächster und lebenslänglicher Freund gewesen wäre. Mullá Husayn hielt Ihn zuerst für einen Anhänger von Siyyid Kázim, der, von seinem Kommen nach Shíráz unterrichtet, aus der Stadt kam, um ihn willkommen zu heißen.

Mírzá Ahmad-i-Qazvíní, der Märtyrer, welcher bei verschiedenen Anlässen Mullá Husayn den ersten Gläubigen die Geschichte seiner Bewegung und seiner historischen Zusammenkunft mit dem Báb erzählen gehört hatte, berichtete mir das Folgende: „Ich habe Mullá Husayn wiederholt und lebendig-anschaulich die Umstände jener denkwürdigen Zusammenkunft wie folgt beschreiben hören: ‚Der junge Mensch, welcher mich außerhalb des Tores von Shíráz traf, überschüttete mich mit dem Ausdruck der Zuneigung und Herzensgüte. Er erwies mir die Gunst, mich auf das wärmste einzuladen, in Sein Heim zu kommen und mich dort nach den Anstrengungen meiner Reise zu erfrischen. Ich bat, mich zu entschuldigen, indem ich darlegte, daß meine beiden Begleiter für meinen [Seite 20] Aufenthalt in der Stadt bereits Vorkehrungen getroffen hätten und mich nun erwarten würden. „Vertraue sie der Obhut Gottes an“, war Seine Erwiderung, „Er wird sie sicherlich beschützen und über ihnen wachen.“ Als Er diese Worte ausgesprochen hatte, bat Er mich, Ihm zu folgen. Ich war tief beeindruckt von der vornehmen und doch zwingenden Art und Weise, in welcher dieser unbekannte junge Mensch zu mir sprach. Wie ich Ihm folgte, bewirkte Sein Gang, der Wohlklang Seiner Stimme und die Würde Seiner Haltung eine Vertiefung meiner ersten Eindrücke bei dieser unerwarteten Begegnung.“

„‚Wir standen bald vor dem Eingang eines einfachen Hauses. Er klopfte an die Türe, die von einem äthiopischen Diener rasch geöffnet wurde. „Tritt hier in Frieden und Ruhe ein“, waren Seine Worte, als Er über die Türschwelle trat und mich aufforderte, Ihm zu folgen. Seine mit Macht und Erhabenheit ausgesprochene Einladung durchdrang meine Seele. Ich sah eine gute Vorbedeutung darin, solche Worte an mich gerichtet zu wissen, während ich an der Schwelle des ersten Hauses stand, das ich in Shíráz betrat, einer Stadt, deren ganze Atmosphäre auf mich bereits einen unbeschreiblichen Einfluß ausgeübt hatte. Könnte nicht mein Besuch in diesem Hause, dachte ich bei mir selbst, mich dem Ziele meines Suchens näher bringen? Könnte er nicht dazu beitragen, die Zeit heißesten Verlangens, unermüdlichen Suchens und wachsender Unruhe, welche ein solch Suchen mit sich bringen, zu verkürzen? Als ich das Haus betrat und meinem Gastgeber in Sein Zimmer folgte, überkam mich eine unaussprechliche Freude. Gleich nachdem wir uns gesetzt hatten, ließ Er eine Wasserkanne kommen und bat mich, von meinen Händen und Füßen den Schmutz der Reise zu waschen. Ich bat um die Erlaubnis, mich von Seiner Gegenwart zurückziehen und meine Abwaschungen in einem Nebenraum verrichten zu dürfen. Er lehnte es ab, meine Bitte zu gewähren und goß das Wasser über meine Hände. Er reichte mir dann ein erfrischendes Getränk, worauf Er um den Samowar (russische Teemaschine) bat, den Tee selbst zubereitete und ihn mir anbot.

„‚Von Seinem äußerst gütigen Verhalten überwältigt, erhob ich mich, um mich zu verabschieden. „Die Stunde zum Abendgebet rückt näher“, erlaubte ich mir zu bemerken. „Ich habe meinen Freunden versprochen, mit ihnen im Masjid-i-Ilkháni zu dieser Stunde zusammenzutreffen.“

Mit besonderer Höflichkeit und Ruhe antwortete Er: „du hättest die Stunde deiner Rückkehr sicher von dem Willen und Gefallen Gottes abhängig machen müssen. Es scheint, daß Sein Wille es anders bestimmt hat. Du brauchst nicht zu befürchten, dein Versprechen gebrochen zu haben.“ Seine Würde und Zuversichtlichkeit beruhigte mich. Ich nahm meine Waschungen wieder auf und bereitete mich auf das Gebet vor. Er stand nahe bei mir und betete. Während des Gebets befreite ich mein Herz von der Last, die mich sowohl durch das Geheimnis dieser Begegnung als auch durch die Anstrengung und Gewalt meines Suchens bedrückte. Ich sprach leise dieses Gebet: „Ich habe mich mit ganzer Seele bemüht, o mein Gott, und bis jetzt ist es mir nicht gelungen, Deinen verheißenen Verkünder zu finden. Ich bezeuge, daß Dein Wort nicht irrt und daß Deine Verheißung gewiß ist.“

„‚Diese Nacht, diese denkwürdige Nacht war der Vorabend des fünften Tages des Jamádíyu’l-Avval im Jahre 1260 A.H. (dem Abend des 22. Mai 1844 A.D. entsprechend; der 23. Mai fiel auf einen Donnerstag). Es war ungefähr eine Stunde nach Sonnenuntergang, als mein jugendlicher Gastgeber sich mit mir zu unterhalten begann. „Wen siehst du nach Siyyid Kázim als dessen Nachfolger und deinen Führer an?“ fragte Er mich. „In seiner Todesstunde“, antwortete ich, „ermahnte uns unser heimgegangener Lehrer mit besonderem Nachdruck, unsere Wohnungen aufzugeben, um uns auf der Suche nach dem verheißenen Geliebten weit und breit zu zerstreuen. Ich bin infolgedessen nach Persien gereist, habe mich aufgemacht, seinen Willen zu erfüllen, und bin noch dabei, zu suchen.“ „Hat euer Lehrer“, fragte Er weiter, „auch irgendwelche nähere Angaben über das Besondere der äußeren Erscheinung des Verheißenen gemacht?“ „Ja“, sagte ich, „er kommt aus einem reinen Geschlecht, ist von hoher Abstammung und aus dem Stamm der Fátimih. Sein Alter bewegt sich zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Er ist mit angeborenem Wissen ausgestattet, ist von mittlerer Gestalt, enthält sich des Rauchens und hat keinen körperlichen Fehler.“ Er schwieg eine Zeitlang und erklärte dann mit bebender Stimme: „Siehe, alle diese Zeichen sind in Mir offenbar!“ Er wies auf jedes der erwähnten Kennzeichen besonders hin und legte überzeugend dar, daß jedes und alle auf Seine Person anwendbar wären.

(Fortsetzung folgt.)


[Seite 21]Die Bahá’i-Sommerwoche 1933


Die Bahá’i-Sommerwoche 1933[Bearbeiten]

In Fortsetzung der kurz zusammenfassenden Behandlung des der Eßlinger Bahá’i-Sommerwoche 1933 zugrunde gelegenen Leitthemas „Das Leben des Menschen im Lichte der Bahá’i-Lehre" wird im folgenden das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Mitmenschen beleuchtet.


Kurs II: Das Leben und mein Nächster.

Von Dr. E. Sch.


Die dreifache Bezogenheit alles menschlichen Seins — auf das persönliche Selbst, auf den Mitmenschen und auf Gott (Schöpfer) — führt zu drei verschiedenen Betrachtungsweisen des menschlichen Lebens. Erst die synthetische Zusammenschau dieses gleichsam dreifachen Standortes des Menschen führt zu dem Erlebnis und der Erkenntnis der Einheit und Ganzheit aller Lebensgebiete.

Hier soll versucht werden, die wesentlichen Gedanken herauszustellen, die dem unter obigem Hauptthema gestandenen Kurs der Sommerwoche zugrunde lagen. Die Fragestellungen ergeben sich bei unserer Betrachtungsweise, immer auf dem Boden der Sendung Bahá’u’lláh’s, durch die mannigfaltigen Beziehungsverhältnisse des einzelnen Menschen zum Mitmenschen und zu den menschlichen Gemeinschaftsgebilden. Der Ausgangspunkt ist die Feststellung, daß das Leben des Einzelnen weitgehend durch seine Einordnung im menschlichen Gemeinschaftsleben mitbestimmt wird. Bildlich gesprochen, wächst der Einzelne in konzentrisch ihn umgebende Kreise natürlich-organischer Sozialbildung (Familie, Sippe, Gemeinde, Berufsgemeinschaft, Glaubensgemeinschaft, Land, Volk, überstaatliche Verbände) hinein. So gesehen, ist der Mensch zugleich Individualität und Glied eines Ganzen (soziale Polarität). Scheler spricht von „individueller und Gliedwirklichkeit“. Die erwiesene soziale Naturanlage des Menschen zeigt, daß das absolute Individuum eine Täuschung ist. Aber auch die Gemeinschaft ist nicht zu verabsolutieren. Der Kern aller Sozialgebilde ist das Individuum. „Das Wesen des Menschen ist in seiner Individualität verborgen, welche durch die Veredlung der Erziehung zum Vorschein kommen muß. Diese ist des Menschen Ruhm und alles andere, was von äußeren Dingen abhängt, ist nicht ein Teil vom Menschen selbst.“ Bahá’u’lláh.

Geistig-religiöse Beleuchtung gesellschaftlicher Probleme hat also von der grundlegenden Erkenntnis auszugehen, daß einerseits der Wert aller Gemeinschaftsgebilde daran zu messen ist, wieweit diese zur Entfaltung und Vollendung des Einzelnen beitragen und daß andererseits die geistige Stufe des Menschen mit von seinem sozialen Verantwortungsbewußtsein (Gesinnung und sittliche Tat) abhängt.

Bahá’u’lláh spricht: „... ihr wurdet für die Liebe und das Wohlwollen erschaffen, nicht für den Haß und Hochmut! In der Selbstliebe liegt für euch keinerlei Verdienst: nur aus der Liebe zu euresgleichen wird euch Ruhm erstehen.“ Das Gebot der Nächstenliebe zieht sich wie ein goldener Faden durch alle Weltreligionen hindurch. Dieses „allererste Gesetz“, „daß allen Gliedern der menschlichen Gesellschaft die größten Werke der Nächstenliebe erwiesen werden“ (‘Abdu’l-Bahá), haben wir allen Fragen des Verhältnisses des Menschen zu seiner Umwelt voranzustellen. Jeden Menschen sollen wir als „ein Zeichen Gottes“ betrachten lernen, der auf unsere Liebe Anspruch hat. „Weil Wir euch alle aus dem selben Stoff erschufen, müßt ihr sein wie eine Seele, wandeln mit denselben Füßen, essen mit einem Munde und leben in einem Lande, damit ihr aus eurem innersten Wesen durch eure Taten und Handlungen die Zeichen der Einheit und das Wesen der Loslösung offenbart.“ Bahá’u’lláh. Die Hauptprinzipien eines harmonischen und kulturell aufbauenden Zusammenlebens der Menschen und Völker sind daher gegenseitiges Verantwortungsbewußtsein und dienende Zusammenarbeit. 'Abdu'l-Bahá benützt das sinnreiche Beispiel des menschlichen Organismus, wo jedes Organ dem Ganzen, der „Einheit“ dienend, seine besondere Aufgabe erfüllt. Dieser Lebenszusammenhang ist für das Gemeinschaftsleben der Menschen wegweisend, nicht die rohen Formen des Kampfes ums Dasein, die dem Tierreich, jedoch nicht der Menschenstufe gemäß sind. Der Mensch ist mit göttlichen Kräften ausgestattet, welche ihn die unumschränkte Wirksamkeit der Naturbedingungen überwinden läßt. Freilich macht die Unvollkommenheit des Menschen zur Gewährleistung der sozialen Ordnung auch äußere Mittel und Einrichtungen notwendig. Sie allein verbürgen aber nie und nimmer den Fortschritt des Menschen zu göttlicher Ebenbildlichkeit. „Die Gesellschaftsordnung ruht auf den Grundlagen der Religion und des bürgerlichen [Seite 22] Gesetzes. Alle zwei garantieren Glück und Bewahrung der Ehre und Wohlfahrt der Gesellschaft.“ 'Abdu'l-Bahá. Daraus erhellt die nicht zu überschätzende Bedeutung der Religion für alle Fragen des Gemeinschaftslebens.

Im folgenden sollen nun die einzelnen Beziehungsverhältnisse untersucht werden, wie sie sich im Sinne der konzentrisch um den Menschen sich bildenden Lebenskreise ergeben. Aus räumlichen Gründen müssen wir von Einzelheiten absehen und uns auf die Darstellung der Grundgedanken im Lichte der Lehren Bahá’u’lláh’s beschränken.

Bei den menschlichen Beziehungsverhältnissen ist der grundlegende Unterschied zu beachten, der im Verhalten gegenüber dem Einzelnen einerseits und gegenüber den Sozialgebilden wie Gemeinde, Volk und Staat andererseits liegt. Alle persönlichen Beziehungen des Einzelnen zum Mitmenschen, wie sie vor allem dem Familien- und Eheleben, Freundschaften, wie überhaupt dem Privatleben zugrunde liegen, sollen unter dem größten Gebot der Nächstenliebe stehen. Im Bahá’i-Glauben wird das persönliche Beziehungsverhältnis zum Mitmenschen durch die Liebe als selbstloser, uneigennütziger Dienst am Nächsten gekennzeichnet. „Derjenige ist Mensch, welcher seine eigenen Interessen um anderer Willen vergißt.“ 'Abdu'l-Bahá. Liebe, Wahrhaftigkeit und Selbstverleugnung müssen die Triebkräfte aller persönlichen Menschenbeziehungen sein. Der Grundsatz der Vergeltung hat in diesen keinen Raum. Die Worte Bahá’u’lláh’s und 'Abdu'l-Bahá’s führen hier zu einem vertieften Verständnis der Bergpredigt Christi, die sich im besonderen auf das Verhalten von Mensch zu Mensch bezieht. „Verkehret mit allen Menschen in Liebe und Eintracht. Eine freundschaftliche Gesinnung ist die Ursache der Einigkeit und Einigkeit ist die Quelle der Ordnung in der Welt.“ Bahá’u’lláh.

Die Ordnung und Sicherheit der menschlichen Gesellschaft erheischen neben der oben bezeichneten Verhaltungsweise von Mensch zu Mensch (Liebe) die Wirksamkeit rechtlich ausgleichender Grundsätze, die auf Gerechtigkeit aufgebaut sein müssen. So sind die Grundpfeiler der staatlichen Ordnung, juristisch betrachtet, Strafe und Belohnung im Rahmen der Gerechtigkeit. Die Strafe ist vor allem unter dem Gesichtspunkt der Züchtigung (Vergeltung), nicht der Rache, zu betrachten. Die Strafe darf nur seitens des Gemeinwesens als Rechtshüter verhängt werden. Dem Wesen dieser Strafe liegen noch folgende Gedanken zugrunde: Verwarnung, Abschreckung, Schutz der Gemeinschaft, Gegenmaßnahme gegen Rechtsbrecher. Das öffentliche Interesse der Gesamtheit verbietet es deshalb, bei Delikten der Menschen den Grundsatz der Vergebung anzuwenden. Persönliche Verbindungen des Menschen stehen demgegenüber unter grundlegend anderen Gesetzen als sein Verhältnis zu den ihm übergeordneten Gemeinschaftsformen.

Zu den persönlichen Menschenbeziehungen zählt vor allem die Familie als die Urzelle aller Gemeinschaftsformen. Sie ist nicht nur von großer biologischer und bevölkerungspolitischer, sondern auch von tiefer geistig-seelischer Bedeutung für das menschliche Gemeinschaftsleben, dessen Wurzeln in der Familie liegen. Daher legt Bahá’u’lláh so überaus großen Wert auf die beste Erziehung und Ausbildung der Kinder beiderlei Geschlechts. — „Die Heirat von Bahá’i bedeutet, daß Mann und Frau geistig und physisch eins werden müssen, damit sie ewig geeinigt sind in allen göttlichen Welten und einander im geistigen Leben vervollkommnen. Dies ist die Bahá’i-Ehe.“ ‘Abdu’l-Bahá.

Aus dem Gedanken der gemeinsamen geistigen Grundlage aller Religionen ergibt sich das Bahá’i-Gebot, mit den Anhängern aller Religionen und Bekenntnisse „in Freude und Wohlgeruch“ zu verkehren. Zwischen allen wahrhaft „Gläubigen“ besteht eine geistige Einheit. Demgegenüber soll der religiöse Mensch eine enge Gemeinschaft mit dem Gott bewußt Abgewandten meiden, soweit dadurch sein Inneres gefährdet wird.

Jeder Mensch gehört in der Regel einem Dorf, einer Stadt bzw. einem lokalen Gemeinwesen an. Diese tragen, geschichtlich betrachtet, den Charakter organischer Gemeinschaftsbildung. Erst die auf weitgehender Arbeitsteilung beruhenden Wirtschaftsformen neuerer Zeit führten zu einer Schwächung des Bewußtseins der Schicksalsgemeinschaft örtlich zusammenlebender Menschen. Gemäß dem Gedanken sozialer Verantwortung sollen alle Beteiligten gemeinnützig interessiert werden. Im Sinne gemeindlicher Selbstverwaltung sollen einzelne Gemeindeglieder mit der besten moralisch-sittlichen und fachlichen Fähigkeit in höchster Verantwortung vor Gott die Interessen des Gemeinwesens wahrnehmen. Über Dorf und Stadt hinaus soll sich der Einzelne «dienend in das [Seite 23] Volksganze einordnen. Das Bewußtsein seiner Verbundenheit mit der Volksgemeinschaft und damit seiner Schicksalsgemeinschaft muß den Einzelnen in seinem ganzen Handeln ethisch-sittlich bestimmen. Die weiter oben erwähnte Notwendigkeit staatlicher Gesetze macht eine Unterordnung und Beschränkung der äußeren Freiheit des Einzelnen im Interesse des Gemeinwohls unerläßlich. Mitverantwortlichkeit, Loyalität und Treue gegenüber der gerechten Regierung sind für den Staatsbürger hohe Pflicht. „... Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.” Bahá’u’lláh. Jede Geringschätzung staatsbürgerlicher Pflichten ist also nach dem Bahá’i-Glauben unzulässig.

Die Bedeutung der Religion für Gesellschafts- und Staatsordnung liegt vor allem darin, daß sie den Menschen innerlich, gesinnungsmäßig stark verpflichtet. So bezeichnet Bahá’u’lláh die Gottesfurcht als den „wahren Hüter und den idealen Beschützer der Gesellschaft“.

„Die Grundlagen der ganzen sozialen Zustände sind geistiger Natur, sie haben es mit dem Reiche des Geistes und des Herzens zu tun.“ 'Abdu'l-Bahá. Dies gilt auch für den Bereich der Wirtschaft, wo heute so viele Interessenverflechtungen vorliegen. Bahá’u’lláh’s Wirtschaftsethos hat die Wohlfahrt der Gesamtheit zum Ziel, aus der sich die Wohlfahrt des Einzelnen ergibt. Der Bahá’i-Glauben strebt mit neuen Mitteln eine ethisch-sittliche Fundamentierung wirtschaftlichen Strebens und Handelns an, wobei die Würde und Vollendung des Menschen sowie die Belange der Gesamtwohlfahrt im Mittelpunkt der Weisungen stehen. Die menschliche Arbeit als Ehrenpflicht und -recht wird zur höchsten Form des Gottesdienstes, wenn sie zur Wohlfahrt der Mitmenschen beiträgt. Die Läuterung der wirtschaftlichen Beweggründe verleiht der Arbeit und seinem Träger Adel und Würde. Der Grundsatz gerechter Entlohnung im Sinne ihrer Bemessung nach der Leistung wird zum sozialen Gebot. Der Arbeiter soll in Ansehung seiner Arbeit durch prozentuale Gewinnbeteiligung persönlich am Gedeihen des Unternehmens interessiert werden. Den sozialen Ausgleich ohne Gleichmachung oder Aufhebung von Privateigentum sieht Bahá’u’lláh in der Begrenzung sowohl des Reichtums als auch der Armut (freiwillige Vermögensabgaben und weise Steuer- und Erbgesetzgebung).

Das Verhältnis zwischen den Völkern und Staaten stellt Bahá’u’lláh unter den Schlüsselgedanken der geistigen Verbundenheit der Menschen und Völker, welche sie zu einer Einheit im metaphvsischen Sinne des Wortes macht. Die geistige Einheit der Menschheit, in dieser Richtung verstanden, schließt die größte Mannigfaltigkeit und Buntheit des Völkerlebens nicht nur nicht aus, sondern beweist die tausendfältigen Ausprägeformen des Geistes. Nur ein gerechter durch gegenseitige Vereinbarungen geschaffener Weltfrieden kann allen Völkern und Nationen ihr volles Lebensrecht als gleichberechtigtes Glied in der Völkergemeinschaft verbürgen. In Form eines alle Staaten umfassenden Bundes, mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern ausgestattet, sollen die übernationalen Interessen aller Völker in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung vor Gott wahrgenommen werden. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen. Jedem Volk ist eine besondere und einzigartige, geographisch und biologisch mitbegründete Aufgabe im Erdenkreis zugewiesen. Sie in den Dienst am Ganzen zu stellen, führt zu der Einheit der Völker im Reiche des Geistes.

(Fortsetzung folgt.)



Bericht über eine frühe Pilgerreise aus dem Jahr 1898[Bearbeiten]

Von May Maxwell (Fortsetzung)


Wir trafen uns alle wieder beim Mittagessen, und als wir uns zu unserem ersten Mahl bei der heiligen Familie niedersetzten, kam eine große Erleuchtung über uns. Der Meister sprach: „Gesegnet ist, wer Brot essen wird im Königreich Gottes!“ Dann sagte Er, daß die Prophezeiung Christi nun erfüllt sei und daß wir Gott unaufhörlich und von ganzem Herzen danken sollten für diesen großen Segen, der weit über unser jetziges Fassungsvermögen hinausgehe. Er sagte uns, daß das Mahl aus zwei Teilen bestünde: einem geistigen und einem materiellen. Daß die materielle Speise von keinerlei Wichtigkeit sei und ihre Wirkung nur 24 Stunden währe, daß [Seite 24] aber die geistige Nahrung das Leben für die Seele bedeute und daß die Wirkung dieses geistigen Mahles, das wir soeben einnehmen, immer und ewig fortdauern werde. Über die Mahlzeit sprach unser Meister zu uns und lehrte uns. Sich auf Christus beziehend, führte Er Seine Worte und Prophezeiungen an, wobei Er immer mit einer Klarheit und Einfachheit sprach, daß Ihn jedes Kind hätte verstehen können. Jedoch Seine Symbole und Seine Beispiele, die Er immer der Natur entnahm, verkörperten jene Essenz der Weisheit und Wahrheit, die die Gelehrten und Großen verwirrt. Unser Meister beantwortete immer alle Fragen, wie unwichtig sie auch sein mochten, mit der größten Höflichkeit und nahm mit der Ihm eigenen Genialität jeden Gesprächsstoff auf. Wir erkannten aber, daß Er auch den alltäglichsten Dingen eine höhere Deutung gab und materielle Dinge in geistige Wirklichkeiten umformte. Als z. B. jemand die Vorzüglichkeit der Speisen erwähnte, lächelte Er dem Sprechenden freundlich zu und sagte: „Das kommt daher, weil dein Herz voll Liebe ist; wenn das Herz von Liebe erfüllt ist, so erscheint uns alles schön und köstlich.“

Dann erzählte Er uns die Geschichte des Einsiedlers: „Als einst die Gesegnete Vollkommenheit (Bahá’u’lláh) mit Seinen Anhängern von einem Ort zum andern reiste, kam Er durch eine einsame Gegend, in der, kurz entfernt von der Verkehrsstraße, ein Eremit in einer Höhle einsam hauste. Er galt als ein Heiliger, und da er gehört hatte, daß Unser Herr, Bahá’u’lláh, diesen Weg nehmen würde, wartete er sehnsüchtig auf Sein Nahen. Als die Manifestation an jene Stelle kam, warf sich der Einsiedler vor Ihm nieder, küßte den Staub zu Seinen Füßen und sagte zu Ihm: ‚O, mein Herr, ich bin nur ein armer Mann und lebe in der Nähe in einer Höhle, doch von nun an werde ich mich zu den Glücklichsten auf Erden zählen, wenn Du auch nur für einen Augenblick meine Höhle betreten und sie durch Deine Gegenwart segnen wirst.‘ Da sagte ihm Bahá’u’lláh, daß Er kommen werde, aber nicht nur für einen Augenblick, sondern für drei Tage, und Er gebot Seinen Nachfolgern, ihre Zelte aufzuschlagen und Seine Rückkehr abzuwarten. Der arme Mann war so überglüklich und dankbar und zeigte, keines Wortes mächtig, den Weg in demütigem Schweigen zu seiner armen Behausung in einer Felshöhle. Dort setzte Sich der Erhabene nieder, sprach zu dem Eremiten und lehrte ihn. Gegen Abend fiel dem Manne ein, daß er seinem hohen Gaste nichts anzubieten hatte als etwas gedörrtes Fleisch, ein wenig Schwarzbrot und Wasser von einer nahen Quelle. Ganz ratlos warf er sich zu Füßen seines Herrn und gestand seine Verlegenheit. Bahá’u’lláh tröstete ihn mit einem Wort und bat ihn, das Fleisch, Brot und Wasser zu holen. Dann nahm der Herr des Universums an diesem einfachen Mahl mit Freude und Wohlgefallen teil, als ob es ein Festmahl gewesen wäre, und in den drei Tagen Seines Besuches nahmen sie nur von diesen Speisen, die nun dem Eremiten das Köstlichste dünkten, was er jemals zu sich genommen hatte. Bahá’u’lláh erklärte, daß Er niemals vornehmer unterhalten, noch größere Gastfreundschaft und Liebe genossen hätte als hier.“ —

Als der Meister mit der Erzählung zu Ende war, rief Er aus: „Dies zeigt uns, wie wenig der Mensch bedarf, wenn er von der köstlichsten Nahrung — der Liebe Gottes — genährt wird!“

Am Ende der Mahlzeit brachte ein indischer Diener einen Korb mit Blumen, die Abdu’l-Rasim, der Gärtner des Ridwán, geschickt hatte. Der Meister hatte Seine Freude daran, barg Sein Antlitz in den Blumen und reichte einem jeden der Gläubigen eine solche. Des öftern gab Er gelegentlich einem von uns einen Strauß von blauen Hyazinthen, als Symbol der Weisheit und der Kenntnis, die im Garten El Abhá’s erblühen. Wir hatten erlebt, daß, bei ‘Abdu’l-Bahá zu sein, alles Leben Freude und Gesegnetsein bedeutet. Wir durften auch erfahren, daß Seine Gegenwart ein läuterndes Feuer ist und daß die Pilgerfahrt nach der hl. Stadt nichts anderes als ein Schmelzofen ist, in dem die Seelen geprüft, das Gold geläutert und die Schlacken verzehrt werden. Es schien mir nicht möglich, daß etwas anderes als Liebe jemals wieder unsere Worte und Handlungen bestimmen könnte.

(Fortsetzung folgt.)


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Verborgene Worte.. Worte der Weisheit und Gebete. Geschrieben während seiner Verbannung in Bagdad 1857/58 . . . kart. —.80

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Buch der Gewißheit oder Kitábu’l-Iqán. Eine Auseinandersetzung mit theologischen Fragen verschiedener Religionen, geschrieben in Bagdad um 1862. Ist fortsetzungsweise in den beiden Jahrgängen X und XI unserer Zeitschrift „Sonne der Wahrheit“ enthalten.

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Das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahás ("The Passing of 'Abdu'l-Bahá") . . . -.30

Sonne der Wahrheit. Bahá'i-Monatszeitschrift.

Jahrgang III - IX gebunden je 3.--
Jahrgang X - XII gebunden je 6.--