| SONNE DER WAHRHEIT | ||
| ORGAN DER DEUTSCHEN BAHAI | ||
| HEFT 2 | 14. JAHRGANG | APRIL 1934 |
Die Bahá’i-Lehre,[Bearbeiten]
die Lehre Bahá’u’lláhs erkennt in der Religion die höchste und reinste Quelle allen sittlichen Lebens.
Die Ausdrucksformen des religiösen Lebens des Einzelnen, ganzer Völker und Kulturkreise haben im Laufe der Geschichte entsprechend den jeweils anderen Verhältnissen und dem Wachstum des menschlichen Erkenntnisvermögens Wandlungen erfahren. Die äußeren Gesetze und Gebote aller Weltreligionen entsprachen immer den entwicklungsgeschichtlich gegebenen Erfordernissen in bezug auf den Einzelnen, die soziale Ordnung und das Verhältnis zwischen den Völkern. Alle Religionen beruhen aber auf einer gemeinsamen, geistigen Grundlage. „Diese Grundlage muß notwendigerweise die Wahrheit sein und kann nur eine Einheit, nicht eine Mehrheit bilden.“ ('Abdu'l-Bahá.) „Die Sonne der Wahrheit ist das Wort Gottes, von dem die Erziehung der Menschen im Reich der Gedanken abhängig ist.“ (Bahá’u’lláh.) Alle großen Religionsstifter waren Verkünder des Wortes Gottes entsprechend der Fassungskraft und Entwicklungsstufe der Menschen. Das Wesen der Religion liegt darin, im Bewußtwerden der Abhängigkeit des Menschen von der Wirklichkeit Gottes Seine Offenbarer anzuerkennen und nach Seinen durch sie übermittelten Geboten zu leben.
Die Bahá’i-Lehre bestätigt und vertieft den unverfälschten und unwandelbaren Sinn und Gehalt aller Religionen von neuem und zeigt darüber hinaus die kommende Weltordnung auf, welche die geistige Einheit der Menschheit zur Voraussetzung haben wird. Die in ihr zum Ausdruck kommende Weltanschauung steht mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausdrücklich in Einklang.
Die Lehre Bahá’u’lláhs enthält geistige Grundsätze und Richtlinien für eine harmonische Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung. Sie beruhen auf dem Gedanken der natürlich gewachsenen, organischen Einheit jedes Volkes und der das Völkische übergreifenden geistigen Einheit der Menschheit. Den Interessen der Volksgemeinschaft sind die Sonderinteressen des Einzelnen unterzuordnen, denn nur die Gesamtwohlfahrt verbürgt auch das Wohl des Einzelnen.
Wie jede Religion, so wendet sich auch die Bahá’i-Lehre an die Herzensgesinnung des Menschen, um die religiösen Kräfte in den Dienst wahren Menschentums zu stellen. Sie erstrebt die Höherentwicklung der Menschheit mehr durch die Selbsterziehung des Einzelnen als durch äußerlich-organisatorische Maßnahmen. Der Bahá’i hat sich daher über seine ernst aufgefaßten staatsbürgerlichen Pflichten hinaus nicht in die Politik einzumischen, sondern sich zum Träger der Ordnung und des Friedens im menschlichen Gemeinschaftsleben zu erheben. Bahá’u’lláhs Worte sind: „Es ist euch zur Pflicht gemacht, euch allen gerechten Regenten ergeben zu zeigen und jedem gerechten König eure Treue zu beweisen. Dienet den Herrschern der Welt mit der höchsten Wahrhaftigkeit und Treue. Zeiget ihnen Gehorsam und seid ihre wohlwollenden Freunde. Mischt euch nicht ohne ihre Erlaubnis und Zulassung in politische Dinge ein, denn Untreue gegenüber dem Herrscher ist Untreue gegenüber Gott selbst.“
Bahá’u’lláh weist den Weg zu einer befriedeten, im Geiste geeinigten Menschheit. Ein alle Staaten umfassender Bund in ihrer Eigenart entwickelter und unabhängiger Völker auf der Grundlage der Gleichberechtigung, ausgestattet mit völkerrechtlichen Vollmachten und Vollstreckungsgewalten gegenüber Friedensstörern, soll die übernationalen Interessen aller Völker der Erde in völliger Unparteilichkeit und höchster Verantwortung wahrnehmen. Zwischenstaatliche Konflikte sind durch einen von allen Staaten beschickten Weltschiedsgerichtshof auf friedlichem Wege beizulegen.
Die geistige Wesensgleichheit aller Menschen und Völker erheischt einen organischen Aufbau der sozialen Weltordnung, in der jedem seine einzigartige, besondere Eingliederung und Aufgabe zugewiesen ist. Die geographischen, biologischen und geschichtlichen Gegebenheiten bedürfen im Gemeinschaftsleben der Völker immer einer besonderen Beachtung, ohne die sie umschließende Einheit im Reiche des Geistes aus den Augen zu verlieren.
Die Lehre Bahá’u’lláhs „ist in ihrem Ursprung göttlich, in ihren Zielen allumfassend, in ihrem Ausblick weit, in ihrer Methode wissenschaftlich, in ihren Grundsätzen menschendienend und von kraftvollem Einfluß auf die Herzen und Gemüter der Menschen“.
| SONNE DER WAHRHEIT Organ der deutschen Bahá’í Verantwortlich für die Herausgabe: Dr. Eugen Schmidt, Stuttgart-W, Reinsburgerstraße 198 Schriftleitung: Dr. Adelbert Mühlschlegel, Dr. Eugen Schmidt, Alice Schwarz-Solivo Verwaltung: Paul Gollmer • Begründet von Alice Schwarz-Solivo Preis vierteljährlich 1.80 Reichsmark, im Ausland 2.– Reichsmark |
| Heft 2 | Stuttgart, im April 1934 Jal’al — Ruhm 91 |
14. Jahrgang |
Inhalt: Nabíl’s Erzählung. — Göttliche Lebenskunst. — Die Bahá’i-Sommerwoche 1933.
O Sohn des Geistes! Edel erschuf Ich dich, doch du hast dich selbst erniedrigt; erhebe dich also zu dem, wozu du erschaffen wurdest.
Verborgene Worte von Bahá’u’lláh
Nabíl’s Erzählung*)[Bearbeiten]
*) In dieser Verdeutschung gelangt zum erstenmal die langsam international sich durchsetzende und von Shoghi Effendi für die Bahá’i-Literatur der westlichen Sprachen allgemein angeordnete Umschrift arabisch-persischer Eigennamen zur Darstellung. Sie entspricht im allgemeinen der englischen Aussprache der lateinischen Schreibart.
Einleitung von Dr. A. M.
Mit der vorliegenden Nummer beginnen wir aus diesem bedeutsamen Werke Nabíl’s auszugsweise Übertragungen ins Deutsche zu bringen, nachdem Shoghi Effendi den ersten Teil dieser umfangreichen Arbeit aus dem Persischen ins Englische übersetzt und, mit einer ausführlichen Einleitung versehen, veröffentlicht hat. („The Dawn-Breakers“, Nabíl’s Narrative of the early days of the Bahá’i Revelation, Bahá’i-Publishing Commitee in New York 1932.) In der Einleitung schreibt Shoghi Effendi u. a.:
„Fast drei Geschlechter sind dahingegangen seit Beginn der Bewegung. Jeder ihrer ersten Anhänger, der dem Schwert und der Pfählung entronnen, hat schon längst der Natur ihren Tribut gezollt. Die Pforte zeitgenössischer Berichte über die beiden großen Führer und ihre heldenhaften Jünger hat sich für immer geschlossen. Die Chronik Nabíl’s aber, eine sorgsame Tatsachensammlung im Dienste der Wahrheit, zusammengestellt zu Lebzeiten Bahá’u’lláh’s, hat heute einzigartigen Wert.
Der Verfasser war dreizehn Jahre alt, als der Báb Sich erklärte; er war im Dorfe Zarand in Persien am 18. Ṣafar 1247 A.H. geboren. Sein ganzes Leben lang war er den Führern der Heiligen Sache eng verbunden. Obwohl damals erst ein Knabe, war er im Begriff, nach Shaykh Ṭabarsí zu reisen und sich zu der Schar Mullá Ḥusayn’s zu gesellen, als die Nachricht von der hinterlistigen Niedermetzelung der Bábi seine Absicht vereitelte. Er berichtet in seiner Erzählung, daß er in Ṭihrán Hájí Mírzá Siyyid ‘Alí, einen Bruder der Mutter des Báb, begegnete, der damals gerade auf der Rückkehr von einem Besuche des Báb in der Festung Chihríg war. Viele Jahre war er auch vertrauter Gefährte Mírzá Ahmad’s, des Sekretärs des Báb.
In die Gegenwart Bahá’u’lláh’s trat er in Kirmánsháh und Ṭihrán vor Seiner Verbannung
nach dem 'Iráq; später war er zu Seinen Diensten in Baghdád und Adrianopel wie auch in
der Gefängnisstadt ‘Akká. Mehr als einmal wurde er mit Aufträgen nach Persien gesandt,
um die Heilige Sache zu fördern und die
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erschütterten und verfolgten Gläubigen zu ermutigen. Er erlebte noch in ‘Akká das Hinscheiden
Bahá’u’lláh’s im Jahre 1892. Sein eigener Tod war pathetisch und beklagenswert, denn durch
den Tod des Großen Geliebten wurde er so furchtbar erschüttert, daß er, von Jammer überwältigt,
sich im Meer ertränkte. Sein toter Körper wurde ans Land gespült und nahe der Stadt
‘Akká aufgefunden.“
In seinem Werke wandte sich Nabíl nicht an den westlichen Leser: „Obwohl er sich dessen bewußt war, daß sein gesammeltes Material mehr als nur nationale oder islamische Bedeutung hat und daß es bald sich nach Osten und Westen und um den ganzen Erdball verbreiten würde, so war er eben doch ein Orientale, der in orientalischem Stile schrieb für Leser, die das gewohnt waren. Das einzigartige Werk, das er so gewissenhaft vollendet hat, war an sich schon eine große und mühsame Aufgabe.“
„Die Chronik hatte er 1888 begonnen, als er die persönliche Hilfe dabei genoß von Mírzá Músá, dem Bruder Bahá’u’lláh’s. Sie war in ungefähr eineinhalb Jahren beendet. Teile des Manuskripts wurden überprüft und gebilligt teils von Bahá’u’lláh, teils von ‘Abdu’l-Bahá.
Das ganze Werk bringt die Geschichte der Bewegung bis zum Tode Bahá’u’lláh’s im Jahre 1892. Die erste Hälfte dieser Erzählung, die mit der Vertreibung Bahá’u’lláh’s aus Persien abschließt, ist im vorliegenden Bande enthalten. Ihre Wichtigkeit liegt klar vor Augen. Sie wird weniger wegen der aufregenden Handlungen gelesen werden, die darin vorkommen, auch nicht so sehr wegen der vielen Denkmäler heldenhaften, unerschütterlichen Glaubens, als vielmehr wegen der überragenden Bedeutung jener Ereignisse, für die sie eine so einzigartige Urkunde ist.“
Jedoch ist es unmöglich, diese Chronik richtig zu verstehen, ohne die Vergangenheit und die allgemeinen Verhältnisse Persiens zusammenfassend zu betrachten:
Uralt und ehrwürdig ist die Geschichte Persiens, wild und schicksalsschwer. Eine lange Reihe von Werden und Vergehen durch zahllose Geschlechter hindurch bis zu den letzten Jahrhunderten, die die schmachvollsten, bis zu den letzten Jahrzehnten, die die bedeutsamsten geworden sind.
Vor grauen Zeiten, als hochgewachsene, sieggewohnte arische Scharen sich mit den eingeborenen Stämmen stritten, wanderte durch die Hochtäler Irans ein gewaltiger Prophet: Zarathustra. Er lehrte seine große Lehre von Gut und Böse, von Licht und Finsternis, welche die Völker weit über Persiens Grenzen hinaus ergriff und die der geistige Kern wurde jenes ersten Weltreiches, das, von Cyrus begründet und von Darius ausgebaut, Vorderasien und Ägypten umspannte. Wohl brach es unter dem Ansturm Alexanders des Großen zusammen; aber aus seinen Trümmern erhoben sich nach mancherlei Wirren die lebenskräftigen Volksstämme des persischen Hochlandes aufs neue, in zähem Kampfe mit dem Römerreiche erstarkend.
Schon damals, zwei Jahrhunderte nach Christus, flammte zum erstenmal aus diesem Lande die Botschaft von der Einheit der Religionen auf in der hohen Lehre des Mani. Aber der nationale Gedanke lag seinen Zeitgenossen näher und die zoroastrische Kirche, eng und orthodox geworden, siegte: der Prophet starb als Märtyrer. Das zweite persische Weltreich entstand und erreichte mit der Dynastie der Sassaniden unter Chosru den Gipfel seiner Macht. Doch war es eine Macht ohne schöpferisches Geistesleben; die Zeit war reif für eine neue religiöse Offenbarung.
Und sie kam. Wie ein Sturm brauste die Sendung Muḥammads über Vorderasien dahin. Bei
dem Anprall der fanatischen Araber brach der persische Koloß in sich zusammen. Mit Feuer
und Blut wurden die Besiegten zum Islám bekehrt. Nur spärliche Reste der Zoroastrer retteten
sich ostwärts nach Indien, wo sie bis heute sich am Leben hielten. In Mesopotamien aber,
an der Grenzscheide persischen und arabischen Einflußgebietes, wuchs der neue Mittelpunkt des
Islám, die Residenz der Khalifen, Baghdád, zur glänzenden Weltstadt heran.
Die Araber hatten die neue Botschaft, den mitreißenden Glauben gebracht; die Perser waren
Hüter alter Kultur; dazu gruben emsige Gelehrte in den verschütteten Quellen Athens und
Alexandrias nach
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griechischer Weisheit: so blühte etwas Neues, Großes auf zu einer Zeit, als das christliche
Abendland im „finsteren Mittelalter“ mühsam eigenen Weg sich bahnte. Das geistige Zentrum dieser
großen Kulturepoche war von Muḥammad ausgestrahlt, ihre letzte Formvollendung aber verdankte
sie mehr als andern Völkern den Persern: Al Ghazzali war der große Theologe des
Islám, Avicenna der umfassende Gelehrte und Philosoph. Große Dichter, wie Firdusi und
Dschelaleddin Rumi, Saadi und zuletzt Hafis, woben um die Weisheit des Ostens jenen
unsterblichen Schönheitsschimmer, der seither durch die Jahrhunderte leuchtet und auch unsere
Kindheit mit „Märchen aus tausend und einer Nacht“ entzückt hat. Die Pracht des Khalífáts
von Baghdád war freilich bald zerfallen, Bruderkriege und Mongolenstürme verheerten die
Länder. Vom Westen her griffen die Kreuzritter an und schließlich riß der wilde Türke das Erbe
der Khalífen an sich. Als Herr von Konstantinopel kämpfte er mit Halbmond und Krummsäbel
für einen Glauben, dessen Blüte verwelkt war.
Persien lag darnieder. Wohl hatte nochmals Sháh ‘Abbás der Große im 17. Jahrhundert es vermocht, das Land zu einigen und zu festigen; aber unter seinen Nachfolgern siechte es wieder dahin, ein Schatten einstiger Herrlichkeit, schließlich nur noch Spielball der Großmächte Rußland und England. Jenes begann im Norden, dieses im Süden sich festzusetzen.
Die inneren staatlichen und kirchlichen Verhältnisse Persiens spotteten jeder Beschreibung. Die politische, wissenschaftliche und technische Entwicklung des Abendlandes ging bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein fast spurlos an ihm vorüber. Alle Fortschritte menschlicher Zivilisation waren erstarrt oder unterdrückt. Der Despotie des Sháh entsprach eine Despotie der Beamten; der Leidtragende war das Volk. Eine Unzahl von Verwaltungsstellen mit Adjutanten, Sekretären und Dienern waren für die Söhne der zahlreichen Frauen des Sháh geschaffen. So entstand das persische Sprichwort: „Kamele, Fliegen und Prinzen gibt es überall.“
Auch die Justiz war willkürlich, dem Sháh und seinen Bevollmächtigten unterworfen, zudem vom Zufall und von Bestechungen abhängig. Neben dem staatlichen Verwaltungs- und Rechtswesen bestand noch das kirchliche, das sich streng nach dem Qur’án richtete. Beider Kompetenzen flossen ineinander über. Anklagen auf Gotteslästerung gehörten in erster Linie dem Kirchenrecht zu.
Das persische Glaubensbekenntnis ist das schi’itische, wogegen in allen übrigen Ländern des Islám das sunnitische Glaubensbekenntnis herrscht. Diese Spaltung des Islám in Shí'ih und Sunní’ reicht auf die erste Zeit nach Muḥammad zurück. Ursprünglich wohl im persönlichen und theologischen Gegensatz zwischen ‘Alí, dem Schwiegersohn des Propheten, und ‘Umár, dem kriegerischen Khalífen, begründet, erhielt er sich besonders durch die persische Eigenart und kulturelle Überlegenheit den anderen Gläubigen gegenüber. Der Unterschied beider Konfessionen tritt hauptsächlich in der Lehre von den Imámen und in der Auffassung des Khalífáts zutage. Beiden gemeinsam aber ist die Erwartung einer zweifachen neuen Gottesoffenbarung. Shoghi Effendi erklärt diese Verhältnisse in seiner Einleitung zu „Nabíl’s Erzählung“ folgendermaßen:
„Die Schi’iten, aus deren Lehren heraus die Bewegung des Bábismus’ sich erhob, halten daran
fest, daß nach dem Hingang des Hohen Propheten Muḥammad Er in einer Reihe von zwölf
Imámen Seine Nachfolger hatte. Jeder von diesen, so sagen sie, war von Gott mit geistigen
Gaben und Kräften besonders ausgestattet und hatte den vollkommenen Gehorsam der Gläubigen
zu beanspruchen. Jeder eignete seine Berufung nicht durch die Stimme des Volkes zu,
sondern durch seine Ernennung durch seinen Vorgänger. Der zwölfte und letzte dieser
inspirierten Führer war Muḥammad, von den Schi’iten ‚Imám-Mihdí‘, Hujjatu’lláh (der
Gottesbeweis), Bagíyyatu’lláh (das von Gott Zurückgebliebene) und Qá’im-i-Ál-i-Muḥammad
(Er, der sich aus der Familie Muḥammads erheben wird) genannt. Er übernahm das Amt des Imáms
im Jahre 260 der Hegira (sprich: Hedschra), aber verschwand plötzlich aus den Augen und
blieb mit seinen
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Anhängern nur durch einen gewissen erwählten Mittler, als ‚Tor‘ bekannt, in Verbindung. Vier
dieser Tore folgten einander, ein jeder von seinen Vorgängern mit Billigung des Imám ernannt.
Aber als der Vierte, Abu’l-Ḥasan-‘Alí, vor seinem Tode durch die Gläubigen gebeten
wurde, seinen Nachfolger zu nennen, lehnte er ab. Er sagte, Gott habe einen andern Plan. So
hörte von seinem Tode ab alle Verbindung zwischen dem Imám und seiner Kirche auf. Und
doch soll er noch, umgeben von einer Schar von Anhängern, leben und in geheimnisvoller
Verborgenheit warten. Er wird nicht wieder den Weg zu seinem Volke nehmen, bis daß er in
Macht erscheinen wird, um das tausendjährige Reich auf der Welt zu errichten.
Die Sunniten andrerseits haben von dem Amte der Nachfolger des Hohen Propheten eine nicht so erhabene Auffassung. Sie betrachten diese Statthalterschaft weniger als geistige denn als praktische Angelegenheit. Der Khalíf ist in ihren Augen der Verteidiger des Glaubens und hat diese Bestimmung der Wahl und dem Beifall des Volkes zu verdanken.
So wichtig diese Unterschiede sind, darin stimmen allerdings beide Teile überein, daß sie eine zweifache Gottesoffenbarung erwarten. Die Schi’iten schauen nach dem Qá’im aus, der kom- men wird, wenn die Zeit erfüllt ist, und ebenso nach der Wiederkunft des Imám Ḥusayn. Die Sunniten erwarten das Erscheinen des Mihdí und außerdem ‚die Wiederkunft Jesu Christi‘. Als zu Beginn seiner Sendung der Báb, der schi'itischen Überlieferung folgend, Seine Berufung unter dem doppelten Titel verkündete — erstens als Qá’im und zweitens als ‚Tor‘ oder Báb —, mißverstanden manche Muhammadaner den Sinn des Letzteren. Sie dachten, Er wolle damit bedeuten, daß Er das fünfte Tor als Nachfolger von Abu’l-Ḥasan-‘Alí wäre. Der wahre Sinn davon war jedoch, wie Er selbst klar verkündete, ein ganz andrer. Er war der Qá’im; aber der Qá’im, wenngleich ein Hoher Prophet, bezog sich auf eine nachfolgende und größere Gottesoffenbarung, wie einstens Johannes der Täufer auf Christus. Er war der Vorläufer des Einen noch Mächtigeren als Er selbst. Er mußte abnehmen, der Eine Mächtige mußte zunehmen. Und wie Johannes der Täufer der Herold oder das Tor Christi war, so war der Báb der Herold oder das ‚Tor‘ von Bahá’u’lláh.“
Auch darin wurde der Báb nicht verstanden, daß seine Berechtigung, die Gesetze des Islám abzuändern, schon in den heiligen Schriften des Islám zum Ausdruck kommt. So gingen die geistlichen Machthaber seiner Zeit mit den gleichen Gründen gegen ihn vor, wie seinerzeit die Pharisäer gegen Christus.
So war also im Islám von jeher eine Erwartung zweier Gottgesandten lebendig. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war dieses heimlich Harren und Hoffen in Persien stärker als je. Shaykh Aḥmad von Aḥsá verhalf dieser Sehnsucht in der nach ihm benannten Glaubensrichtung des Scheichismus zu Klarheit, Form und Durchbruch. Er fühlte und wußte, daß es seine Sendung war, die Menschen auf den Verheißenen vorzubereiten. Er lehrte zunächst in Najaf und Karbilá, dem theologischen Zentrum der Schiiten, reiste dann aber jahrelang durch Persien, selbst von Fath ‘Alí Sháh (regierte 1798-1834) hochgeehrt. Überall gewann er Anhänger, ohne in schärferen Gegensatz zu der Geistlichkeit zu geraten. Sein heiliges Leben beschloß er in Arabien.
Sein Nachfolger war Siyyid Káẓim (sprich: Sajid Kásim) aus Rasht in Nordpersien, der einzige, den er tiefer in die Geheimnisse seiner Mystik einweihen konnte. Dieser hatte seinen Meister auf dessen Reisen durch Persien kennengelernt, schlug dann aber früh seinen dauernden Wohnsitz in Karbilá auf. Seine Weisheit machte ihn weithin berühmt; unermüdlich bereitete er seinen Schülerkreis auf das nahe Kommen des Verheißenen vor. Er selbst durfte ihn noch mit eigenen Augen schauen: einige Jahre vor Seiner Erklärung weilte der Báb als Jüngling kurze Zeit in Karbilá. Siyyid Káẓim erkannte ihn schon damals und erwies ihm die tiefste Ehrerbietung in aller Stille, die liebevoll belohnt wurde. Aber auch heftige Angriffe und Beleidigungen von seiten seiner Gegner blieben Siyyid Káẓim nicht erspart. Seinen hoffnungsvollsten Schüler, Mullá Ḥusayn, sandte er mit wichtigen Aufträgen nach Persien. So war dieser nicht zugegen, als Ende 1845 Siyyid Káẓim von seinem gesegneten Erdendasein schied.
(Fortsetzung folgt.)
Göttliche Lebenskunst[Bearbeiten]
Aus den Schriften von ‘Abdu’l-Bahá (Fortsetzung)
Zusammengestellt von Mary M. Rabb (New York, Brentanos Publishers)
Übersetzt von Johanna von Werthern-Stuttgart
5. Kapitel: Liebe
Die Welt ist dunkel; die göttlichen Gaben sind leuchtend. Diese Dunkelheit muß in Licht gewandelt werden, und die enge, dunkle Atmosphäre muß in eine weite, unbegrenzte Welt von Erleuchtung umgestaltet werden. Der Körper der Welt ist wie ein Leichnam; er muß zum Leben erweckt werden. Er ist welk; er muß frisch und blühend gemacht werden. Er ist erloschen, er muß wieder entzündet werden. Er ist der Schauplatz für den Ausdruck von Feindseligkeiten; er muß zum Dämmerungsplatz der Liebe und Kameradschaft werden. Er ist der Ort der Haderquellen; wir müssen ihn zu einem Mittelpunkt machen, um welchen Einheit kreist. Er ist der Ausdruck niedriger Eigenschaften, welche zu ewigem Unheil führen, wir müssen ihn zum Aufgangsort für die leuchtenden Strahlen des immerwährenden Ruhmes machen. Die Fremden müssen unterwiesen werden in freundnachbarlicher Gesinnung, die Achtlosen geweckt, die Feinde geliebt, und den Haßerfüllten muß Güte erzeigt werden. Wir müssen flammende Fackeln werden und das brennende Feuer Gottes. Wir müssen diese Welt bewegen und diesen dunkeln Erdball erleuchten. All dies hängt von der Anstrengung der Freunde und dem Opfer der Geliebten ab.
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Strahle das Licht der Liebe Gottes in solcher Weise aus, daß du fähig wirst, Trübsinn und Dunkelheit des Hasses, der Bigotterie und Feindseligkeit aus der Menschheit wegzubringen. Betrachte alle Menschen aller Nationen, Religionen und Stämme als deine Freunde und Verwandte. Suche deinen Lohn bei Ihm und nicht bei ihnen. Betrachte die Alten als deine Väter, die Jünglinge als deine Brüder und die Kinder als deine eigenen. Gleichviel, welcher Mangel an Höflichkeit, oder welch heftige Verfolgung oder welch grausamen Haß und unergründliche Feindschaft du erfährst, du darfst keine Entschuldigungen haben wie diese: „Der und der hat häßlich über mich gesprochen“, — „Der und der tat mir Unrecht“, — nein, du sollst lieber keine Entschuldigung haben, sondern nach den göttlichen Lehren leben, ob die Menschen angenehm oder unangenehm gegen dich sind, ob sie dich empfangen oder ausstoßen, — damit du vielleicht dabei unterstützt werdest, die Flagge des Friedens zu hissen und die Hütte der Einheit und Rechtsgemeinschaft unter der Menschheit aufzuschlagen, damit dies zeitliche Leben endlich in das ewige Leben eingehe und diese Dunkelheit der Unwissenheit, welche sich über die ganze Welt erstreckt, in Erleuchtung und Führung verwandelt werde.
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Wenn sich ein Mensch Gott zuwendet, findet er überall Sonnenschein. Alle Menschen sind seine Brüder. Lasset euch nicht durch herkömmliche Gewohnheiten dazu bestimmen, kalt und unfreundlich zu sein, wenn ihr fremden Menschen aus anderen Ländern begegnet. Betrachtet sie nicht, als ob ihr sie für Übeltäter oder für Wilde hieltet, oder als ob ihr auf der Hut sein müßtet vor der Gefahr, mit solchen, möglicherweise unerfreulichen Menschen in Berührung zu kommen.
Ich bitte euch, nicht nur an euch selbst zu denken. Seid gütig gegen alle Fremden, ob sie von der Türkei, von Japan, Persien, Rußland, China oder von irgend einem anderen Lande der Welt kommen.
Helft ihnen, sich zu Hause zu fühlen; erkundigt euch, wo sie wohnen; fragt sie, ob ihr ihnen behilflich sein könnt; versucht, ihr Leben ein wenig glücklicher zu machen.
Selbst wenn ihr dabei — zuweilen — erfahren solltet, daß wahr sein sollte, was ihr anfangs befürchtet habt, lasset nicht ab, gütig zu sein gegen die Fremden — diese Güte wird ihnen helfen, besser zu werden.
Warum sollten auch irgend welche Ausländer wie Fremdlinge behandelt werden?..... Begnügt euch nicht, Freundschaft nur in Worten zu erzeigen; euer Herz muß brennen in liebender Güte für alle, die euren Weg kreuzen.
O ihr Kinder westlicher Völker! Seid gütig gegen jene, welche vom Osten kommen, um
unter euch zu weilen. Vergeßt eure herkömmlichen Gewohnheiten, wenn ihr mit ihnen
sprecht; sie sind nicht an solche gewohnt. Östlichen Menschen erscheint solche Haltung kalt
und unfreundlich. Bringt ihnen vielmehr mitfühlende Lebensart entgegen. Laßt sie sehen und
fühlen, daß ihr mit umfassender Liebe erfüllt seid. Wenn ihr einen Perser oder einen andern
Ausländer trefft, so sprecht mit ihm wie mit einem Freund; scheint er einsam zu sein,
versucht ihm zu helfen; seid immer bereit, ihm
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Gefälligkeiten zu erweisen; ist er traurig, so tröstet ihn; ist er arm, so unterstützt ihn; ist er
bedrückt, so befreit ihn; lebt er im Elend, schafft ihm Bequemlichkeit. Tut ihr dies, so
bezeugt ihr nicht nur in Worten, sondern in Taten und in der Wirklichkeit, daß ihr alle Menschen
als eure Brüder betrachtet.
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All die zahllosen Lebewesen existieren durch das Gesetz wechselseitiger Tätigkeit und Hilfe. Sollte dieses Gesetz des gemeinsamen Austausches der Kräfte von dem Schauplatz des Lebens verschwinden, so würde alles Dasein zerstört werden.
Wenn wir scharf über den Zusammenhang und die gegenseitige Abhängigkeit aller Wesen nachdenken, erkennen wir klar, daß das Leben eines jeden Geschöpfes durch all die unzähligen anderen Existenzen Nutzen hat und Lebenskraft gewinnt. Diese gegenseitige Hilfe wirkt sich entweder direkt oder durch Vermittelung aus, und wenn ein lebendes Wesen auch nur für einen Augenblick ohne diese Stärkung und Hilfe bleiben müßte, würde es vernichtet, denn alle bestehenden Dinge sind miteinander verkettet und stützen sich gegenseitig. Darum ist die wichtigste Grundlage der Welt des Daseins dieses Zusammenwirken und diese Gegenseitigkeit und dieser Austausch der Kräfte.
Vergleiche die Welt des Daseins mit dem Tempel (Körper) des Menschen. Alle Glieder helfen einander; darum kann das Leben bestehen. Wenn in diesem wunderbaren Organismus eine Störung entsteht, wird aus Leben Tod und die einzelnen Teile des Körpers zerfallen. Gleicherweise besteht ein wunderbarer Zusammenhang und Kräfteaustausch zwischen den Teilen der Welt des Daseins, welche die Ursache des Lebens der Welt und des Fortbestehens dieser unzählbaren Erscheinungen sind.
Wer die lebenden Wesen und die Pflanzen betrachtet, erkennt, daß Tiere und Menschen das Leben durch die Einatmung der Emanation der Pflanzenwelt erhalten, und dieses feurige Element wird Sauerstoff genannt. Auch die Pflanzenwelt gewinnt Leben durch Tiere und Menschen in der Substanz, welche Kohlenstoff genannt wird. In Kürze: alle empfindenden Geschöpfe erlangen Leben durch die Pflanzenwelt, und ebenso erlangen die Pflanzen Leben durch die empfindenden Geschöpfe. Darum ist dieser Austausch der Kräfte und diese gegenseitige Beziehung fortwährend und ununterbrochen.
Aus diesem Bild können wir sehen, daß die Grundlage des Lebens diese gegenseitige Hilfe und Hilfsbereitschaft ist, und es wäre die Ursache der Zerstörung und der Nichtexistenz, wenn diese gegenseitige Hilfe unterbrochen würde. Je mehr die Welt zur Kultur aufsteigt, desto mehr wird die höchst wichtige Sache des Zusammenwirkens und der Hilfe offenbar. Darum sehen wir in der Welt der Menschheit diese Hilfsbereitschaft einen hohen Grad von Wirksamkeit erreichen, in solchem Maße, daß die Fortdauer der Menschheit völlig auf dieser wechselseitigen Verbindung beruht.
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Wenn du Gott lieben willst, so liebe deine Mitmenschen. In ihnen kannst du das Bildnis und Gleichnis Gottes sehen. Wenn du Gott dienen willst, so diene der Menschheit. Entsage deinem Selbst im Wesen Gottes. Wenn der Flieger in seinem Flugzeug himmelwärts fliegt, werden Mißklang und Mißverhältnisse der materiellen Welt allmählich für ihn verschwinden und unter seinen erstaunten Augen liegt das wundervolle Bild von Gottes Schöpfung ausgebreitet. Gleicherweise, wenn der Strebende auf dem Pfade der Wirklichkeit den hehren Gipfel göttlicher Liebe erreicht hat, wird er die Häßlichkeit und Jämmerlichkeit der Menschheit nicht mehr sehen; er wird die krassen Unterschiede nicht mehr bemerken; er wird keine Rassen- und politischen Unterschiede mehr sehen; aber er wird die Menschheit mit dem verklärten Auge des Sehers und Propheten schauen. Laßt uns alle darnach streben, diesen erhabenen Gipfel des höchstvollendeten und geistigen Lebens zu erreichen.
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‘Abdu’l-Bahá sagte, ein sehr dünnes Stück Papier vor seine Augen haltend: „Sehet, welch ein unbedeutendes Ding das Sehen der Augen unmöglich macht; so wird eine kleine Indiskretion, ein ungeschicktes Wort, ein feindseliges Urteil das empfindliche geistige Sehen unmöglich machen.“
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Frage: „Wie kann man seine Feinde lieben? Es ist so schwer!“
Antwort: „Es gibt zwei Arten von Liebe: eine ist unmittelbare Liebe, welche von einem Menschen zum andern entsteht; die andere ist mittelbar, d. h. etwas lieben um eines anderen willen. Wir müssen unsere Feinde um Gottes willen lieben, und weil Er sie erschaffen hat; wir müssen sie lieben, wenn wir sie auch nicht um ihrer eigenen Person willen lieben. Zum Beispiel: Wenn dir die liebste Frau eine Rose sendet, so wirst du diese Blume sehr hoch schätzen, wirst sie küssen und sie ist dir wertvoll. Diese Liebe betrifft nicht die Rose selbst, sondern sie gilt der Einen, welche sie dir sandte. Wir müssen das Haus um des Eigentümers willen lieben.
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Behandle die Sünder, die Tyrannen und blutdürstigen Feinde wie treue Freunde und Vertraute
des Herzens. Du mußt in Wahrheit die Verkörperung der Güte und der Ausdruck der
Liebenswürdigkeit werden. Sieh nicht auf „Verdienst“ und „Wert“ der Menschen. In früheren
Zeitaltern und Perioden wurde das Gebot der Liebe und des Sich-Nicht-Widersetzens gegeben.
Aber die Menschen fanden einen Vorwand dagegen — „Wert“ und „Unwert“. Sie konnten
sagen, dieser Mensch ist halsstarrig und heuchlerisch, und jener ist blutdürstig und grausam.
Und wenn einer Verzeihung übte, so wurde dies Verzeihen mit Tadel und Vorwurf gerügt. Aber
in dieser neuen Offenbarung sind alle diese Vorwände zerstört, und wirkliche Liebe und
Güte, aus ganzer Seele und ganzem Herzen, zu allen Völkern der Welt, sind das unbedingte
Gesetz ...
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Christus kam, um das Gesetz der Liebe zu verkünden; alle Propheten wurden gesandt, alle Heiligen Bücher wurden geoffenbart, damit das Gesetz der Liebe verkündet werde. Aber selbstsüchtige Menschen zerstörten die ursprünglichen Ziele der Religion, verfälschten ihren reinen Strom und machten ein Werkzeug des Hasses, der Erbitterung, des Streites und des Aufruhrs aus ihr. Warum sollten wir die Anhänger anderer Religionsgemeinschaften hassen? Warum sollten wir einander nicht lieben?
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Als die Araber Muhammads Barmherzigkeit gegen die Waisen und Schutzlosen sahen, und seine große Reinheit und volkstümliche Haltung gegen alle Menschen, pflegten sie zu sagen: „Er liebt seinen Schöpfer.“ Einer der Aussprüche des Propheten Muhammad ist: „Liebst du deinen Schöpfer? So liebe erst deine Mitmenschen.“ An anderer Stelle sagt er: „Der Mensch, der am rücksichtsvollsten ist gegen seinesgleichen, ist der Begünstigtste vor Gott.“ Und an anderer Stelle: „Wie denkst du, daß Gott dich anerkennen wird, wenn du vor ihn trittst? Durch deine Liebe zu deinen Kindern, zu deiner Familie, zu deinen Nachbarn, zu deinen Mitmenschen.“
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Bahá’u’lláh befiehlt uns, allen Gemeinschaften beizustehen, ohne irgend eine Ausnahme. Wir sollen nicht nur ihre Taten und Handlungen betrachten. Wir sollen die Tatsache nicht außer Augen lassen, daß die Glieder der ganzen Menschheit Gottes Kinder sind und ihre Mängel gelindert werden müssen, ohne Ansehen der Rasse und Religion.
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In jeder Offenbarung Gottes wurde der Ruf zur Freundschaft erhoben und das Gesetz der Liebe aufgestellt, aber sie wurden beschränkt auf einen Kreis gleichdenkender Freunde, und die andersgläubigen Feinde wurden ausgeschlossen. Gelobt sei Gott, daß in diesem wunderbaren Zeitalter die Gesetze Gottes nicht durch irgend welche Begrenzung eingeschränkt sind, noch sollen sie gegen eine bestimmte Gemeinschaft unter Ausschluß einer anderen angewandt werden. Er hat allen Freunden befohlen, Liebe, Freundschaft, Güte und gutes Einvernehmen allen Völkern der Welt zu erzeigen.
(Forts. folgt.)
Die Bahá’í-Sommerwoche 1933*)[Bearbeiten]
*) Die Eßlinger Bahá’i-Sommerwoche 1933 hatte „Das Leben des Menschen im Lichte der Bahá’i-Lehre“ zum Gegenstand. Die Referenten faßten die drei Kurse für unsere Zeitschrift kurz zusammen. Diesen lag jeweils eine besondere Betrachtungsweise des Hauptthemas zugrunde, wie es die Kursthemen verdeutlichen.
Kurs I: Das Leben und ich
Von Dr. A. M.
Jeder Mensch ist einzigartig und geht deshalb seinen einzigartigen Weg zur Vervollkommnung. Keiner ist aber einzeln da, sondern jeder steht in absoluter Abhängigkeit von Gott und in relativer von den Mitmenschen. Der Weg zur Vollkommenheit, sein Lebensweg, ist für jeden Menschen nur in der Einheit der Liebe zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst begehbar.
Wir betrachten hier unser Leben unter dem einen dieser drei Gesichtswinkel: das Leben und wir selbst.
Ähnlich wie uralte, in Abarten in der Weltgeschichte immer wiederkehrende Weisheit uns
kündet, so lehrt auch die Bahá’i-Lehre verschiedene Wirkungsstufen des Geistigen: im
Mineralisch-Pflanzlichen bringt es Anziehung und Abstoßung der Elemente bzw. Wachstum und
Zerfall der Körper hervor; im Tierischen wirkt es im Trieb- und Empfindungsleben; auf der
Ebene des Menschengeistes wirkt es als denkende Seele; auf der Stufe des göttlichen Geistes
offenbaren sich die göttlichen Eigenschaften des Menschen; im höchsten Bereiche, dem des
Heiligen Geistes, wirkt das Geistige in nicht mehr vorstellbarer Fülle und Vollkommenheit
neuschöpferisch und umgestaltend. Der Mensch umfaßt alle diese Daseinsstufen. Die meisten
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Menschen sind sich freilich nur der drei unteren bewußt. Der Menschenkörper besteht aus den
chemischen Stoffen und hat die auch den Pflanzen und Tieren gemeinsame Fähigkeit des
Wachstums; er besitzt außerdem das nur noch den Tieren eigene Trieb- und Empfindungsleben;
ferner hat er, im Unterschied zum Tiere, eine Seele, die logisch und abstrakt zu denken
vermag. Dies fühlen oder wissen alle Menschen. Ein großer Teil der Menschen aber fühlt, weiß
oder anerkennt nicht, daß der Mensch zu noch höheren Entwicklungsstufen berufen ist. Sie sind
tot und müssen erweckt werden, oder unwissend und müssen belehrt werden, oder verstockt und
verstrickt und müssen erlöst werden. Nur durch vollkommene Menschen kann die Welt vollkommen
werden. Dazu will den Menschen und die Menschheit die Religion führen. ‘Abdu’l-Bahá
lehrt, daß die Fähigkeiten der „göttlichen Seele“ das geistige Wahrnehmungsvermögen, das
geistige Unterscheidungsvermögen, die geistige Urteilskraft und der freie Wille sind. Eine
entwickelt sich auf der andern; Liebe, Glaube, Gerechtigkeit, Erkenntnis beschleunigen diese
Entwicklung und sind auch gleichzeitig deren Ziel in jeweils immer höherem Erleben dieser
Begriffe. Ist dann der Mensch erlöst von anderem Wollen als dem Göttlichen, dann hat er den
wahren „Freien Willen“ erlangt und wird mehr und mehr der Segnungen der höchsten Stufe
teilhaftig.
Der Körper des Menschen ist von den Eltern gezeugt. Die Seele des Menschen aber ist keimhaft schon in ihrem Vordasein da; sie entwickelt sich im Körper. Beide beeinflussen einander: die Seele will den Körper zu ihrem „Gleichnis“ machen, der Körper ist der Seele der Vermittler der Erfahrungen des irdischen Lebens. So stellt der Reifezustand des Körpers viele seelische Entwicklungsprobleme, je jünger er ist um so mehr. In den ersten Lebensjahren entfaltet sich das Prinzip des „Pflanzengeistes“ (Wachstum), später mehr das des „Tiergeistes“ (Trieb- und Empfindungswesen), später erst das des „Menschengeistes“ (Denken), noch später erst das Erlösende des „Göttlichen Geistes“. Je älter der Mensch wird, um so mehr tritt das Körpergestaltende des Seelischen in den Vordergrund. Der Anblick des Kindes verrät mehr Fehler oder Vollkommenheit der Eltern, der Anblick des alternden Menschen mehr eigene Fehler oder Vollkommenheit. Im Fortleben nach dem Tode ist unser Zustand vollends das Ergebnis unsres Erdenlebens.
So ist Schicksal und freier Wille unser Teil. „Es gibt zweierlei Arten von Schicksal, erstens das bestimmte, zweitens das abhängige oder bewegliche Schicksal“ (‘Abdu’l-Bahá). Das bestimmte Schicksal ruht teilweise in der Eigenart unsres Seelenkeimes, teilweise in der Vererbung von den Eltern und teilweise in äußeren Einflüssen, so wie es z. B. das bestimmte Schicksal des Pflanzensamens ist, ein ganz bestimmter Baum zu werden, bedingt durch Keimanlage des Samens, durch den mütterlichen Erdboden und durch äußere Einflüsse. Das bewegliche Schicksal aber hängt von unserem freien Willen ab, der um so mächtiger ist, je mehr wir geistig entwickelt sind. Um so weniger freilich wird er dann noch „unser“ freier Wille sein: er wird eins mit dem göttlichen Willen.
Beiderlei Schicksal bewegt sich dauernd im Wechsel von Disharmonie und Harmonie, Krankheit und Gesundheit, Irrtum und Erkenntnis, Schuld und Gerechtigkeit, Armut und Reichtum. „Sei nicht verzagt, wenn du in Armut bist, noch fühle dich sicher im Reichtum; denn der Armut folgt Reichtum und dem Reichtum folgt Armut. Aber arm zu sein in allem außer in Gott ist eine herrliche Gabe . . .“ (Bahá’u’lláh). So ist auch Arzt, Erzieher und Priester im Letzten wesenseins.
Hier auf die einzelnen Arten von Disharmonie („Krankheit“ im weitesten Sinne) einzugehen, ist räumlich unmöglich; auch spottet das bunte Leben der Theorie. Mannigfaltig wie die Krankheiten sind auch die Heilmittel; auf allen Ebenen des Daseins gibt es sie in Fülle: materielle und seelische Heilmethoden, ferner das Gebet, dessen Wirkung vom Glauben des Kranken abhängt; und als höchste Heilkraft der Heilige Geist, dessen Wirkung unbegrenzt ist.
Der Sinn der Krankheit ist, das Fehlerhafte erkennen zu lernen, das Vergängliche überwinden zu lernen. Erst wenn dieser Sinn erfüllt ist, wird die Heilung zur Heiligung, und diese zur Selbsterlösung (Erlösung vom Selbst).
(Fortsetzung folgt.)
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