Sonne der Wahrheit/Jahrgang 10/Heft 10/Text

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SONNE

DER

WAHRHEIT
 
ORGAN DER DEUTSCHEN BAHAI
 
HEFT 10 10. JAHRGANG DEZ. 1930
 


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Abdu’l-Bahás Erläuterung der Bahá’i-Prinzipien[Bearbeiten]

1. Die ganze Menschheit muss als Einheit betrachtet werden.


Bahá’u’lláh wandte Sich an die gesamte Menschheit mit den Worten: „Ihr seid alle die Blätter eines Zweigs und die Früchte eines Baumes“. Das heißt: die Menschheit gleicht einem Baum und die Nationen oder Völker gleichen den verschiedenen Aesten und Zweigen; die einzelnen Menschen aber gleichen den Blüten und Früchten dieses Baumes. In dieser Weise stellte Bahá’u’lláh das Prinzip der Einheit der Menschheit dar. Bahá’u’lláh verkündigte die Einheit der ganzen Menschheit, er versenkte sie alle im Meer der göttlichen Gnade.


2. Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen.

In religiösen Fragen sollte niemand blindlings seinen Eltern und Voreltern folgen. Jeder muß mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören und die Wahrheit suchen, denn die Religionen sind häufig nichts anderes als Nachahmungen des von den Eltern und Voreltern übernommenen Glaubens.


3. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage.

Alle göttlichen Verordnungen beruhen auf ein und derselben Wirklichkeit. Diese Grundlage ist die Wahrheit und bildet eine Einheit, nicht eine Mehrheit. Daher beruhen alle Religionen auf einer einheitlichen Grundlage. Im Laufe der Zeit sind gewisse Formen und Zeremonien der Religion beigefügt worden. Dieses bigotte menschliche Beiwerk ist unwesentlich und nebensächlich und verursacht die Abweichungen und Streitigkeiten unter den Religionen. Wenn wir aber diese äußere Form beiseite legen und die Wirklichkeit suchen, so zeigt sich, daß es nur eine göttliche Religion gibt.


4. Die Religion muss die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein.

Die Religion ist für die Menschheit die größte göttliche Gabe, die Ursache des wahren Lebens und hohen sittlichen Wertes; sie führt den Menschen zum ewigen Leben. Die Religion sollte weder Haß und Feindschaft noch Tyrannei und Ungerechtigkeiten verursachen. Gegenüber einer Religion, die zu Mißhelligkeit und Zwietracht, zu Spaltungen und Streitigkeiten führt, wäre Religionslosigkeit vorzuziehen. Die religiösen Lehren sind für die Seele das, was die Arznei für den Kranken ist. Wenn aber ein Heilmittel die Krankheit verschlimmert, so ist es besser, es nicht anzuwenden.


5. Die Religion muss mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen.

Die Religion muß mit der Wissenschaft übereinstimmen und der Vernunft entsprechen, so daß die Wissenschaft die Religion, die Religion die Wissenschaft stützt. Diese beiden müssen unauflöslich miteinander verbunden sein.


6. Mann und Frau haben gleiche Rechte.

Dies ist eine besondere Lehre Bahá’u’lláhs, denn die früheren Religionen stellen die Männer über die Frauen. Töchter und Söhne müssen gleichwertige Erziehung und Bildung genießen. Dies wird viel zum Fortschritt und zur Einigung der Menschheit beitragen.


7. Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.

Alle Propheten Gottes kamen, um die Menschen zu einigen, nicht um sie zu trennen. Sie kamen, um das Gesetz der Liebe zu verwirklichen, nicht um Feindschaft unter sie zu bringen. Daher müssen alle Vorurteile rassischer, völkischer, politischer oder religiöser Art abgelegt werden. Wir müssen zur Ursache der Einigung der ganzen Menschheit werden.


8. Der Weltfriede muss verwirklicht werden.

Alle Menschen und Nationen sollen sich bemühen, Frieden unter sich zu schließen. Sie sollen darnach streben, daß der universale Friede zwischen allen Regierungen, Religionen, Rassen und zwischen den Bewohnern der ganzen Welt verwirklicht wird. Die Errichtung des Weltfriedens ist heutzutage die wichtigste Angelegenheit. Die Verwirklichung dieses Prinzips ist eine schreiende Notwendigkeit unserer Zeit.


9. Beide Geschlechter sollen die beste geistige und sittliche Bildung und Erziehung geniessen.

Alle Menschen müssen erzogen und belehrt werden. Eine Forderung der Religion ist, daß jedermann erzogen werde und daß er die Möglichkeit habe, Wissen und Kenntnisse zu erwerben. Die Erziehung jedes Kindes ist unerläßliche Pflicht. Für Elternlose und Unbemittelte hat die Gemeinde zu sorgen.


10. Die soziale Frage muss gelöst werden.

Keiner der früheren Religionsstifter hat die soziale Frage in so umfassender, vergeistigter Weise gelöst wie Bahá’u’lláh. Er hat Anordnungen getroffen, welche die Wohlfahrt und das Glück der ganzen Menschheit sichern. Wenn sich der Reiche eines schönen, sorglosen Lebens erfreut, so hat auch der Arme ein Anrecht auf ein trautes Heim und ein sorgenfreies Dasein. Solange die bisherigen Verhältnisse dauern, wird kein wahrhaft glücklicher Zustand für den Menschen erreicht werden. Vor Gott sind alle Menschen gleich berechtigt, vor Ihm gibt es kein Ansehen der Person; alle stehen im Schutze seiner Gerechtigkeit.


11. Es muss eine Einheitssprache und Einheitsschrift eingeführt werden.

Bahá’u’lláh befahl die Einführung einer Welteinheitssprache. Es muß aus allen Ländern ein Ausschuß zusammentreten, der zur Erleichterung des internationalen Verkehrs entweder eine schon bestehende Sprache zur Weltsprache erklären oder eine neue Sprache als Weltsprache schaffen soll; diese Sprache muß in allen Schulen und Hochschulen der Welt gelehrt werden, damit dann niemand mehr nötig hat, außer dieser Sprache und seiner Muttersprache eine weitere zu erlernen.


12. Es muss ein Weltschiedsgerichtshof eingesetzt werden.

Nach dem Gebot Gottes soll durch das ernstliche Bestreben aller Menschen ein Weltschiedsgerichtshof geschaffen werden, der die Streitigkeiten aller Nationen schlichten soll und dessen Entscheidung sich jedermann unterzuordnen hat.

Vor mehr als 50 Jahren befahl Bahá’u’lláh der Menschheit, den Weltfrieden aufzurichten und rief alle Nationen zum „internationalen Ausgleich“, damit alle Grenzfragen sowie die Fragen nationaler Ehre, nationalen Eigentums und aller internationalen Lebensinteressen durch ein schiedsrichterliches „Haus der Gerechtigkeit" entschieden werden können.

Bahá’u’lláh verkündigte diese Prinzipien allen Herrschern der Welt. Sie sind der Geist und das Licht dieses Zeitalters. Von ihrer Verwirklichung hängt das Wohlergehen für unsere Zeit und das der gesamten Menschheit ab.


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SONNE DER WAHRHEIT
Organ der deutschen Bahá’i
Herausgegeben vom Verlag des deutschen Bahá’i-Bundes, Stuttgart
Verantwortliche Schriftleitung: Alice Schwarz-Solivo, Stuttgart, Alexanderstraße 3
Preis vierteljährlich 1.80 Goldmark, im Ausland 2.– Goldmark
Heft 10 Stuttgart, im Dezember 1930
Masá’il — (Fragen) 87
10. Jahrgang

Motto: Einheit der Menschheit — Universaler Friede — Universale Religion


Inhalt: ’Abdu’l-Bahá spricht zu uns. — Das Heilige Buch der Gewißheit. — Aus dem Schatz der Erinnerungen an Abbas Effendi, ’Abdu’l-Bahá. Haifa 1910. — An Ihn! — Ewigkeitsschau. — Der religiöse Gedanke in der Jugend. — Die Religion und der gesunde Menschenverstand. — Ein internationales Programm. — Der Gärtner. — Die unendliche Linie. — Schicksal und Willensfreiheit. — Gestern und heute. — Weihnacht.


'Abdu'l-Bahá spricht zu uns:[Bearbeiten]

.„Erkläret den Menschen: "Wahrlich, jetzt ist die Sonne mächtig aufgegangen, die Himmelskörper leuchten, die Sterne glitzern, die Gestirne erglühen, die Himmel sind aufgetan, die Meere sind vom Sturm gepeitscht, die Winde blasen, die Wolken ergießen sich, die Erde ist geschmückt, das Gezelt des Herrn stieg empor, die Rosengärten blühen, die Obstgärten stehen in üppigstem Wachstum, die Vöglein singen, die Blumen blühen, die Düfte verbreiten sich und die linden Lüfte wehen. Wie lange, wie lange schlaft ihr in den Gräbern eures Selbst und ruht auf dem Bette der Gleichgültigkeit? Wollt ihr nicht aus eurem Schlaf erwachen? Reinigt eure Augen, antwortet dem Ruf eures Herrn, des Allwissenden. Werdet glücklich durch die Gnade eures Herrn, des Barmherzigen. Lest die Verse, die Seine Gnade euch schenkt, und ehret die anbetungswürdige Wesenheit an diesem geoffenbarten Tage.

Eilet, eilet, o ihr Aufrichtigen! Eilet, eilet, o ihr Erweckten! Eilet, eilet, o ihr Harrenden! Eilet, eilet, o ihr Sehnsuchtsvollen! In kurzem werdet ihr das Banner der Führung erblicken, das vom Gipfel des höchsten Berges flattert; die Weisheit Gottes, welche diesen irdischen Erdball umgibt, und die Zeichen der Gnade eures Herrn, die sich auf allen Gebieten zeigt wie das Leuchten der Sonne am hellichten Tag. Heute sollen die Gläubigen in Freudenlieder ausbrechen. Die Völker sollen sich der Einigkeit freuen und die Herzen, die voll von Liebe des Lebendigen, des In-sich-selbst-Bestehenden sind, sollen weit werden. Die Achtlosen werden zu Schaden kommen, die Verletzer des Bündnisses werden in Betrübnis und die Rebellen in Entsetzen geraten.“


„Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler im Tempel meines Gottes und soll nicht mehr hinausgehen, und will auf ihn schreiben den Namen meines Gottes und den Namen des neuen Jerusalem, der Stadt meines Gottes, die vom Himmel hernieder kommt von meinem Gott, und meinen Namen, den neuen.“

Offb. Joh. 3, 12.

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Das Heilige Buch der Gewißheit[Bearbeiten]

(Fortsetzung)

(Kitab-El-Iqan aus der Feder von Bahá’u’lláh)

Aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt von Dr. A. Mühlschlegel


Betrachtet nun ebenso dies: Ehe sie die Wohltaten der neuen und wundersamen göttlichen Vorsehung erlangt hatten, gaben sich diese Menschen tausend nichtigen Beschäftigungen hin und waren zur letzten Stufe der Feigheit herabgesunken. Sie stöhnten wegen eines Dornstiches und flohen vor einem Fuchs. Aber, nachdem sie die größte Wohltat der Vorsehung erlangt, hätten sie mit Freuden tausendmal ihr Leben dahingeopfert. Ihre Seele schmachtete in den Gefängnissen ihres Körpers und ihr Mut ließ einen einzigen unter ihnen gegen eine ganze Rotte kämpfen. — Wahrlich, diese Menschen hatten ganz und gar verwandelt werden müssen, um in ihrem Tun ihrem früheren Zustand und den Trieben ihrer Natur völlig entgegengesetzt zu sein. Es ist klar, daß ohne Gottes Werk nie und nimmer bei den gleichen Wesen ein solcher Wandel der Gemüter sich hätte zeigen können. Durch die Kraft des göttlichen Lebenswassers ward ihre Ruhelosigkeit in Ruhe, ihre Zweifel in Gewißheit, ihre Furcht in Mut verwandelt.

Manche glauben, Kupfer sei nichts denn Gold, das zu rasch erstarrt und darum nicht zu seiner ganzen Vollkommenheit gelangt ist, und wenn die Masse, welche Kupfer bildet, siebzigtausend Jahre lang vor der Erstarrung bewahrt werden könnte, so würde Gold aus ihr werden. Auf jeden Fall aber würde das ersehnte Elixir im Augenblick das Kupfer in Gold verwandeln, ohne daß siebzigtausend Jahre dazu nötig wären. Könnten wir dann, nach dieser Verwandlung, sagen, das Gold sei immer noch Kupfer, wo doch die Probe das Gegenteil uns beweisen würde?

So auch sind diese Menschen durch das göttliche Elixir in einem Augenblick der Welt des Staubes in jene Welt der Heiligkeit enthoben und sind mit einemmale aus ihrer Haft entsprungen in das Unendliche. Doch viel Mühe braucht es, dieses Elixir zu erlangen, das uns so plötzlich aus dem Westen des Unwissens in den Osten des Wissens hinüberleitet, das die finstere Nacht in lichten Tag wandelt, das zu den Quellen der Nähe und der Gewißheit führt den, der ferne in den Wüsten der Entfremdung weilt, und das die Toten in die Gärten der Unsterblichkeit gelangen läßt! O mein Bruder! Die Geheimnisse des neuen Lebens, der Wiederauferstehung, des Prophetentums, wirst du nun, ohne Schleier durch alle Ausdeutungen hindurch erschauen. Möge Gott durch Seine unsichtbare Segnung dich das alte Kleid abwerfen lassen und dir den neuen, unsterblichen Schmuck verleihen!

Von jenen, welche jeweils bei einer neuen Manifestation vor allen andern die herrliche Stufe des Glaubens erworben, das reine Wasser der Belehrung von der göttlichen Schönheit getrunken haben und zu der höchsten Stufe sittlicher Erziehung, Gewißheit und Loslösung gelangt sind, von jenen können wir sagen: sie sind dieselben wie die, welche bei früheren Manifestationen im gleichen Zustand waren: Sie tragen die gleichen Namen, vollbringen die gleichen Taten, arbeiten in der gleichen Sache; was den einen geschehen ist, geschieht auch den andern: Wenn so, zum Beispiel, ein Rosenstrauch im Westen steht und ein anderer im Osten, so erscheint er uns wie eine Blüte im Anblick und an Eigenschaften gleich und wir werden diese Blüte ebenso eine Rose nennen, ohne uns zu fragen, ob sie auf dem ersten Rosenstrauch wächst oder nicht. Denn wir werden nur des Duftes achten, der sich an beiden Büschen wiederfindet. Mache doch deine Augen frei von allen äußeren Schleiern, um die Menschen in ihrem Wesen zu schauen, und du wirst erfassen, was Wiedergeburt ist.

Sieh, wie die Jünger Muhammeds durch seinen Einfluß rein und heilig geworden sind, losgelöst von allen menschlichen Bedingungen und allen Sehnsüchten der Seele und wie vor allem anderen Volk der Erde sie Seine Begegnung erlangt haben, die jener Gottes gleich kommt! Man kann sie aus allen Völkern heraus erkennen durch die Begeisterung, mit der sie für Ihn ihr Leben geopfert haben. Heute finden sich das gleiche [Seite 139] unerschütterliche Verhalten, die gleiche Loslösung bei den Jüngern des Ersten Punktes des Beyan. Durch die wundersame Güte des Herrn haben sie die Fahne der Loslösung auf unerreichbaren Gipfeln gehißt!

(Fortsetzung folgt.)



Aus dem Schatz der Erinnerungen an Abbas Effendi, 'Abdu'l-Bahá. Haifa 1910.[Bearbeiten]

Von Fr. Dr.med. J. Fallscheer


Verehrte Freundin!

Die Begebenheit, für die Sie sich interessieren, trug sich folgendermaßen zu:

Als ich am 6. August 1910 gegen mittag von einer ärztlichen Visite auf dem Karmel nach Hause zurückkehrte, sagte mir unsere alte Dienerin Hadtschile: „Soeben war ein Diener von Abbas Effendi hier und richtete aus — die Hekime möchte um ‚Asser‘ (3 Uhr) im Haremlik (Frauengemächern) des Meisters vorsprechen, eine Dienerin habe einen sehr schlimmen Finger.“ — Es paßte mir wenig, am Samstag schon zur frühen Nachmittagsstunde meine ärztlichen Visiten zu beginnen. Da ich aber wußte, daß der Meister mich nie ohne dringlichen Grund außer der Zeit bemühte, beschloß ich pünktlich hinzugehen. Ich wußte bereits, daß die kleine Feride, eine Aushilfsmagd, an einem schlimmen Panaritium seit Wochen litt. Ich hatte ihr schon verschiedenemal zugeredet, es sich von mir aufschneiden zu lassen, aber sobald man nur vom Schneiden redete, hielt sie sich beide Ohren zu und schrie wie am Spieß. Sie behauptete, mit wechselnden Umschlägen von Zwiebeln, Tomatenmark und Hauswurzblättern (eine Kaktusart) sei das Übel bereits viel besser geworden. Nun schien sich der Meister mit einem Machtwort eingemischt zu haben und das eigensinnige, messerscheue Hasenherz mußte sich fügen. Als ih mich zur erbetenen Zeit auf den Weg machte, hatte ich alles bei mir, was ich für den kleinen Eingriff brauchen würde. Ich verfügte mich gleich in die hauswirtschaftlichen Räume des Erdgeschosses. Feride war wie ein Lamm, nur die verweinten Augen ließen auf einen vorausgegangenen Kampf und Unterwerfung schließen. Der Finger sah ungut aus und mußte ergiebig mit Messer und scharfem Löffel behandelt werden. Als alles vorbei war, Finger, Hand und Arm verbunden und in der Schlinge, sandte Behia Chanum die kleine Dulderin in ihr Bett und bat mich, mit ihnen, den Damen des Hauses, eine Erfrischung einzunehmen. Während wir noch Kaffee schlürften und türkisch parlierten, was mir geläufiger war als arabisch, kam eine Dienerin und sagte: „Abbas Effendi lasse die Hekime vor ihrem Weggang noch zu sich ins Selamlik (Empfangszimmer) heraufbitten. Behia Chanum führte mich bald darauf durch die innere Treppe hinauf in den ersten Stock, wo links von dem Haupteingang der größere Empfangsraum lag. Der Meister ließ sich von mir berichten, wie es jetzt mit dem Finger der Kleinen stehe und ob die Gefahr einer Blutvergiftung schon behoben sei. Ich konnte darüber beruhigende Auskunft erteilen. In diesem Augenblick betrat der Schwiegersohn (Mann der ältesten Tochter von Abbas Effendi) das Zimmer, um sich, wie es schien, vom Meister zu beurlauben. Zuerst hatte ich nicht bemerkt, daß hinter dem großen, stattlichen Manne dessen ältester Sohn, Shoghi Effendi, das Zimmer betrat und seinen ehrwürdigen Großvater mit dem orientalischen Handkuß begrüßte. Ich hatte das Kind schon einige Male flüchtig gesehen. Es war mir kürzlich von Behia Chanum mitgeteilt worden, daß dieser junge Knabe von vielleicht zwölf Jahren, der älteste direkte männliche Nachkomme dieser Prophetenfamilie, zum einstigen Nachfolger und Sachwalter (Wesir) des Meisters bestimmt sei. Während Abbas Effendi in persischer Sprache mit dem vor Ihm stehenden Abu Shoghi über etwas verhandelte, verharrte der Enkel in ehrfürchtiger Stellung nahe der Türe, nachdem er auch noch uns höflich begrüßt hatte, wobei er seiner Großtante den orientalischen Handkuß [Seite 140] ebenfalls gegeben hatte. Indessen betraten noch mehrere persische Effendis den Raum (eine Pilgergruppe, die eben nach Akka übersetzen wollte), es war wohl eine Viertelstunde lang ein Begrüßen und Abschiednehmen, ein Kommen und Gehen. Behia Chanum und ich hatten uns auf den abseitsgelegenen Fensterplatz rechts zurückgezogen und setzten in gedämpfter Sprache unsere türkische Unterhaltung fort. Dabei verwandte ich keinen Blick von dem noch sehr jugendlichen Enkel des Abbas Effendi. Er war in euröpäischer sommerlicher Kleidung, mit kurzen Hosen, aber langen Strümpfen über die Knie hinaus und kurzem Jackett. Der Größe und dem Körperbau nach hätte man ihn eher für dreizehn, ja vierzehn Jahre ansehen können, als etwa nur elf bis zwölf Jahre. In dem noch kindlichen Gesicht fielen mir sofort die dunkeln, frühreifen, ja melancholischen Augen auf. Der Knabe verharrte unbeweglich in seiner ergebenen und abwartenden Haltung und Stellung. Als sich nun sein Vater und dessen Begleiter von dem Meister verabschiedet hatten, flüsterte ihm sein Vater im Hinausgehen etwas zu, worauf der Junge langsam und gemessen, wie ein Erwachsener, auf seinen geliebten Großvater zuschritt, die Anrede abwartete, dann bescheiden auf Persisch etwas erwiderte, worauf er lächelnd. entlassen wurde, nicht ohne zum ehrfürchtigen Handkuß zugelassen worden zu sein. Es fiel mir auf, wie der Junge beim Hinausgehen rückwärts schritt und seine dunkeln, treuherzigen Augen keinen Augenblick von den blauen, magischen Blicken des Großvaters wegwandte.

Abbas Effendi erhob Sich und kam zu uns herüber, wir standen sofort auf, aber der Meister nötigte uns auf die Sitze zurück und setzte Sich selbst zwanglos auf ein persisches Taburett neben uns, oder besser seitlich zu uns. Wie üblich erwarteten wir schweigsam Seine Anrede, die auch alsbald erfolgte: „Nun, meine Tochter“, hub der Meister an, „wie gefällt dir Shoghi Effendi, mein künftiger Elisa?" (Altes Testament, 2 Könige, 2. Kap., Vers 13) „Meister, wenn ich offen reden darf, so muß ich sagen, in seinem Knabenantlitz stehen die dunkeln Augen eines Leidenden, eines, der viel leiden wird!“ — Nachdenklich blickte der Meister über uns weg in eine weite Ferne, nach langer Zeit erst kehrte Sein Blick auf uns zurück und Er sagte: „Mein Enkel hat nicht die Augen eines Wegbereiters, eines Kämpfers, eines Siegers, aber in seinen Augen, in seinen Blicken liegt ein Abgrund (= Tiefe) von Treue, Ausdauer und Gewissenhaftigkeit. Und weißt du, meine Tochter, warum gerade er zu dem schweren Erbe meines Wesirs (Minister, Träger der Amtsgeschäfte) bestimmt wurde?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, mehr auf Seine liebe Schwester blickend als auf mich, als ob Er meine Gegenwart vergessen hätte, fuhr Er weiter: „Bahá’u’lláh, die große Vollkommenheit — gesegnet seien Seine Worte — ehedem und heute und immerdar — hatte meine Wenigkeit zum Nachfolger bestimmt, nicht etwa weil ich der Erstgeborene war, sondern weil Sein innerer Blick schon früher auf meiner Stirn das Siegel Gottes erschaute.

Vor Seiner Heimfahrt ins ewige Licht ermahnte mich die gesegnete Manifestation, daß auch ich einst, ohne Rücksicht auf das Erstgeburtsrecht, auf das Alter — unter meinen Söhnen und Enkeln Ausschau halten soll, wen Gott für Sein Amt zeichnen würde. Meine Söhne versanken in die Ewigkeit im zartesten Alter, unter meiner Sippe und Blutsverwandtschaft trägt nur der kleine Shoghi die Schatten einer großen Berufung im Grunde seiner Augen.“ Wieder folgte eine lange Pause, dann wendete sich der Meister wieder zu mir und sagte: „Zur Zeit ist das britische Weltreich das größte und noch im Aufstiege, seine Sprache ist eine Weltsprache. Mein künftiger ‚Wesir‘ soll die Ausbildung für sein schweres Amt in England selbst erhalten, nachdem er die Grundlage für die orientalischen Sprachen und für die Weisheit des Ostens — hier in Palästina erhalten hat.“ Hierauf wagte ich den Einwurf: „Wird nicht die westliche Erziehung, das englische Training sein Wesen ummodeln, seinen beweglichen Geist in starre, intellektuelle Banden fesseln, seine orientalische Irrationalität und Intuition ersticken in Dogma, Konventionalität, so daß er nicht mehr ein Diener des Allerhöchsten, [Seite 141]




Der einstige Lieblingsplatz Bahá’u’lláh’s. Piniengruppe am Berg Carmel

Nach einem Aquarell


sondern ein Sklave der Zweckmäßigkeit des westlichen Opportunismus und der seichten Alltäglichkeit wird?“ Lange Pause! — Dann erhebt sich Abbas Effendi-‘Abdu’l-Bahá und sagt mit fester Stimme in feierlichem Tone: „Ich gebe meinen Elisa nicht den Briten zur Erziehung, ich weihe und übergebe ihn dem Allerhöchsten. Gottes [Seite 142] Augen wachen auch in Oxford über meinem Kinde. — Inschallah!“

Ohne Abschiedsgruß, ohne jedes weitere Wort wandelte der Meister hinaus.

Ich verabschiedete mich von Behia Chanum und sah noch im Fortgehen den Meister im Garten stehen, wo Er augenscheinlich in tiefen Gedanken versunken einen früchtebeladenen Feigenbaum betrachtete.

November 1921, als ich, in Lugano weilend, vom Hinscheiden Abbas Effendi-'Abdu’lBahás in Haifa erfuhr, wanderte meine Erinnerung und mein Gedenken zurück zu der schon weit abgelegenen Stunde im August 1910 und ich wünschte in Gedanken dem Elisa-Shoghi alles Gute und alles Heil.

Inschallah. —



An Ihn![Bearbeiten]

Von M.L.Fack, Stuttgart


Feuer, Wasser, Luft und Erde

Künden Deinen heil’gen Namen,

Der Du zu dem kleinen Samen

Sprachst das große Wort: „Es werde“.


Gott im Himmel sieh, wir preisen

Deine wundertät’gen Hände,

Die da schufen ohne Ende

Licht und Wachstum, uns zu speisen.


Mach uns würdig Deiner Gaben,

Hilf uns, groß wie Du im Schenken,

Liebreich auch an die zu denken,

Die im Leben Mangel haben.


Herr, und laß in unsere Seelen

Licht von Deinem Lichte fließen,

Weil wir sonst verkümmern müssen

Und den rechten Weg verfehlen.


Laß die Suchenden Dich finden!

Gib uns Kraft, uns zu erheben.

Geist und Körper sollen leben,

Deine Liebe zu verkünden.


Feuer, Wasser, Luft und Erde

Künden Deinen heil’gen Namen

Und die Menschheit jauchzt beseligt

Vater Du, im Himmel. Amen.



Ewigkeitsschau[Bearbeiten]

Von Helmel, Passau


Tiefinnerst liegt ein stiller, stiller See, die Farbe des Wassers wechselt, bald tiefblau, dann wieder schwarz wie die Nacht, dunkel, dräuend, unheilschwanger, dann wieder smaragden, grün wie das Auge einer Sphinx, ist es so hell und licht, so lebensfroh und leicht und die Wasserrosen leuchten uns so hell, warm und klar.

Oh, wäre es immerzu so klar und licht in unseren Gedanken, es bräuchten sich die Wasser nicht zu verdunkeln und nicht zu verdüstern; auch das, was um uns, scheint so düster und grau. Wir aber haben das Klarsehen verlernt, darum ist uns so vieles so düster, so grau in grau. Der graue Schleier der Sorge läßt uns alles so scheinen. Wir sind abgekommen vom klaren Wasser, von den lichten Sternen in uns. Zu sehr auf unser endliches, vergängliches „Ich“ konzentriert, haben wir vergessen, daß noch ein anderes ist in uns. Als Kind sehen wir oft noch mehr, da ist noch Innenschau, da ist noch Zwiesprache mit dem Wesentlichen, mit dem von drüben. Wir sehen noch die Lotosblume im klarsten Licht, das helle, frohe „Ja“ des Lebens. Erziehung, äußere Verhältnisse, Sorgen, Kümmernisse, Haß und Neid legen Reis um Reis auf unsern See im Innersten und nicht mehr leuchten uns die lebendigen Rosen des Lebens und nur wie durch ein Gitter sehen wir dann und wann noch hinein in die klaren, lebendigen Wasser, hinab auf den kleinen, stillen See mit seinem urigen, wahrheitsgetränkten Schweigen. Und Ewigkeitsschau ist es dann, wenn wir einmal so ganz still in uns versunken hineinblicken können in die weiten, stillen Tiefen, die uns hinübertragen in das Meer des göttlich Unendlichen. [Seite 143] Kein Ufer hält uns mehr, nur immer weiter und weiter wird unser kleiner, stiller See. Wir sind zu stark verwurzelt am Erdhaften, am Faßbaren, und weil wir das sind, darum finden wir alles so unfaßbar, so unglaublich, was nicht in die Reichweiten unserer physischen Sinne gelegen, darum dünkt uns das Denken und Verweilen im Ewigen so zeitraubend, so hemmend für unser täglich Leben. Wir meinen etwas zu verlieren oder gar uns selbst zu verlieren, wenn wir uns mit dem Ewigen befassen. Und doch, wenn die Menschen wüßten, wie wichtig, ja notwendig „Not-wendend“ diese Beschäftigung für sie ist, sie würden gerne hineinlauschen in das geheimnisvolle Raunen werdender Geschehnisse, und sie würden zurückkehren wie aus einem herrlichen, kraftspendenden Ausflug. Viele scheuen zurück vor einem Ausflug ins Uferlose, nie zu Betretende, nie zu Ergründende, sie fürchten für sich Unangenehmes zu schauen oder fürchten gar den Untergang in den Tiefen des Sees. Unergründliches ist nicht die Sache der Schwachen. Es gehört Rückgrat und ein fester Wille dazu, sich loszutrennen vom Endlichen. Klingt das nicht paradox. Rückgrat zur Tiefenschau? Und doch es ist so, wer nicht das geistige Rückgrat hat, das ihm das Stehen im Mittelpunkt verleiht, der wird nie vordringen zu den Angelpunkten alles Seins. Wer Anklammerungspunkte braucht fürs Leben, dem wird’s immer auch schwer fallen ruhig — hinüber — oder in die Tiefe zu schauen, er wird stets das Gefühl des „Verlierens“ haben und davor scheuen die vielen ja zurück. Sie wollen nicht verloren gehen, wollen sein mit allem, was da ist: endlichkeitsverhaftet, Sklaven der Umgebung, der Verhältnisse, Dinge und Umstände. Sich von einem geliebten Gegenstand, von einem lieben Menschen trennen, wie fürchterlich, wir verlieren etwas. Was? Ein Etwas von uns, das wir in dasselbe hineingelegt, ein Stück von uns selbst. Wir trauern darum. Warum? Ein Etwas, das uns ans Herz gewachsen, sollen wir weggeben und uns davon trennen. Trennen wir uns wirklich davon? Wohl, wir trennen uns vom Daseienden, vom Endlichen, trennen wir uns damit auch vom Ewigen in ihm? Nein! Das heißt, wir tun es meist doch, weil wir allzuoft nur das Endliche von dem geliebten Gegenstand, das Körperhafte als das Wirkliche betrachten. Würden wir tiefer gehen, hineindringen in das Wesentliche, Ewige, dann müßte uns Klarheit werden darüber, daß wir mit dem Ewigen, dem Wesentlichen immer und stets in Verbindung bleiben und kommen könnten, so oft wir nur wollten.

Sehen wir den Gedanken? Rein physisch gedacht, nein. Aber wir wissen, daß er da ist und durch Arbeit und Schaffen auch physisch gestaltet werden kann. Wenn aber etwas da ist, das wir körperhaft noch nicht sehen, ehvor wir nicht Hand anlegen zum Gestalten, dann dürfte es nicht absurd sein, anzunehmen, daß es auch da sein wird, wenn von ihm das Körperhafte wieder genommen ist oder sich in dieser Form von uns trennt.

Immer nur die stoffliche Anschauung ist es, die uns die meisten Übel und Qualen beschert. Immer nur das endlichkeitsverhaftete „Ich“ hat Verluste zu befürchten, weil es Anklammerungspunkte braucht, besser gesagt, sucht, um sich selbst zu fühlen. Es ist gut, wenn sich der Mensch fühlt, aber es ist ungut, wenn er sich verliert und meint, das Endliche sei allein alles und jedes. Jeder, der sich verliert, ob an einem geliebten Wesen, Gegenstand oder Umstand, wird unglücklich, ist oder wird krank, krank am ersten an seiner Seele, seinem Gemüt, dem Geist und auch am Körper. Es fehlt eben etwas, eben das, was er verloren, sein ureigenstes Selbst, sein ewiges, immerseiendes „Ich“ hat er gekettet an ein Endliches, er fühlt sich deshalb geteilt, aufgeteilt, er gehört sich nicht mehr selbst, sondern dem endlichen, vergänglichen Gegenstand, dem Ding an sich. Ja, der Mensch kann sich sogar an seinem eigenen Körper verlieren, wenn er immer nur diesen beobachtet und all seine gesunden und kranken Erscheinungen und Regungen mit ängstlicher Sorge registriert. Sklaven des äußeren „Ichs“, Menschen, denen der Stoff über den Geist, denen das Endliche an ihnen über das Ewige, Unendliche in ihnen hinausgewachsen ist. Ein unglückliches Sein, ein solches Da-sein. Da-sein heißt im Leben sein, im dies- wie jenseitigen. Ja, Leben überhaupt ist nur eines und das ist das Ewige. Und in dem Maße nun wie wir von diesem Leben abgeben, das endliche Dasein [Seite 144] mehr betonen, in dem Maße kommt Leid über uns. Unsere Klarsicht ist gehemmt, gebunden am Stoff, durch den Stoff, unser Geist eingeengt in Attrappen des Vergänglichen., Klarheit kommt nur aus Ewigkeitsschau und damit die Überwindung alles Übels, alles Leidens und Krankseins. Je klarer wir sehen, um so klarer wird uns der Weg, den wir schreiten müssen, wollen wir zum Glück, zur Gesundheit an Leib und Geist kommen, wollen wir den stillen, unergründlichen See mit seinen leuchtenden Blüten in uns wiederfinden. Und was führt uns am ersten und sichersten zu diesen unerschöpflichen, kräftelösenden Quell? Die Liebe, die aus dem Kosmischen, Ewigen quillt, die den Ursprung hat in diesem Quell lebendigen Wassers. Es ist die Hingabe endlichen, vergänglichen Scheins und eingetauscht wird dafür unendliches, ewiges Sein.

Wer über sein endliches „Ich“ zu schreiten vermag in Hingabe und Liebe, ganz aufgetan dem Einströmen urewig wirkender Kraft, alles umfassender Liebe, der hat sich den Quell ewigen Lebens erschlossen. Dem ist auch Liebe und Ewigkeit kein Buch mit sieben Siegeln mehr, er steht in ihnen mit einem Herzen voll Gold, Klarheit und Licht.



Der religiöse Gedanke in der Jugend[Bearbeiten]

Von Eugen Schmidt, Stuttgart


Mit diesem Thema wird man, gerade in unseren Tagen der vielen Krisen, Gärungen und sozialen Spannungen, leicht falsch verstanden, da wir es hier mit letzten Dingen zu tun haben, die mit verständlicher, logischer Betrachtungsweise nicht ganz zu erschließen sind. Der religiöse Gedanke will mehr vom Herzen geschaut als vom Intellekt begriffen werden.

Was soll nun unter dem religiösen Gedanken gemeint sein? Lagarde spricht von der Religion als dem Bewußtsein von der plan- und zielmäßigen Erziehung der einzelnen Menschen, der Völker und des menschlichen Geschlechts. Ja, unter dem religiösen Gedanken ist die Beziehung des Menschen zu Gott, d. h. der Erkenntnisweg des Menschen zur göttlichen Wahrheit und ihre Verwirklichung auf Erden zu verstehen. Da nun die Einstellung des Menschen zu dieser Frage schlechthin sein ganzes Leben bestimmt und somit die religiöse Idee die Ganzheit des Lebens umspannt, mag daraus erhellen, welche unabschätzbare Bedeutung die uns beschäftigende Frage vor allem für den jungen Menschen hat, der noch Suchender und Tastender ist.

Da es nun leider in unserer Zeit im allgemeinen im Wesen des Jungseins liegt, ohne eigene Prüfung dem Traditionsglauben und den doktrinären Unterweisungen der älteren Generation zu verfallen (die Jugendbewegung ist auszunehmen, worauf ich noch zurückkomme), so möchte ich noch einige Sätze Lagardes anführen, die seinem Aufsatz über „Das Verhältnis des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und Religion“ entnommen und m. E. wie für die Jugend geschrieben sind, Sie lauten: „Es ist nicht Religion, sondern Sentimentalität, sich in Gewesenes zu versenken, und das Bewußtsein von dem immanenten Leben ewiger Gestalten in der Zeit, schwindet in dem Maße, in welchem die von Jahr zu Jahr schwächer werdende Erinnerung an uralte, sich nicht erneuernde Tatsachen als Religion angepriesen wird. Daher ist uns die Religion ein Meinen, ein Dafürhalten, ein Glauben, ein Vorstellen, statt ein Leben zu sein und ehe wir diese grundgiftige Anschauung nicht aufgeben, ist irgendeine Besserung unserer Zustände gar nicht möglich. Wir brauchen die Gegenwart Gottes und des Göttlichen, nicht seine Vergangenheit.“

So stellt sich die Frage: „Was führt uns zum Erlebnis Gottes, wie wird uns sein Wille offenbar?“ Wir kennen die Versuche auf den Wegen der Wissenschaft, der Kunst, der Sozialpolitik, die Menschheit zu erlösen. Sie sind in jedem Falle mißglückt. Weder wissenschaftliche Erkenntnis allein, noch Kunst, noch Schaffen besserer Verhältnisse durch Organisationen, Einrichtungen, Systeme u. dgl. werden den Menschen aus [Seite 145] seiner inneren und äußeren Not befreien. Wissenschaftliche Einseitigkeit führte uns zum Materialismus, die Technik wird uns eine ernste Lebensgefahr, die sozialen Kämpfe vergiften unser Wirtschafts- und Kulturleben. Ein böser Feind droht uns im Westen den Weg zurück zu Gott zu versperren. Der Verstand ist es, den Bô Yin Râ den furchtbarsten unserer Feinde nennt. Ja, um was geht es uns beim Erleben der Gegenwart Gottes?. Nicht um Hirn, um Intellekt, sondern um Allertiefstes in uns, um unsere Seele, um unser Gewissen, um dessen Erleuchtung. Ist es nicht wahr, wenn Bô Yin Râ sagt: „Die Erkenntnisse der Seele wollen nicht ‚verstanden‘, sie wollen geschaut,b erfühlt, erlebt und erobert werden.“ — Das liegt aber außerhalb des Bereichs des Verstandes, der nur ein Werkzeug des Lebens, allerdings ein gutes und absolut zuverlässiges ist, wenn am rechten Platze angewendet. So verstehen wir den Dichter Werfel in seinen Worten, wenn er ausruft: „Die Fessel des Verstandes fiel, und mein Geist ist eine einzige Riesenempfindung.“

Unsere heilige Pflicht ist demnach, in uns selbst hineinzuhorchen, uns innerlich und äußerlich von allen Verkrampfungen frei zu machen, uns selbst zu erkennen, um unsere Eigengesetzlichkeit zu erforschen. Sind wir rein und demütig genug, dann wird uns Gott begegnen. Wir wissen, es geht um ein Geheimnis, vor dem unsere Worte verstummen müssen. Doch ist uns der Weg zu diesem aufgezeigt. Gott offenbarte Sich in Seinen Propheten, Seinen Gesandten und es liegt nur an uns, ihre Gebote zu befolgen, die den geoffenbarten Willen des göttlichen Geistes verkörpern. Hier ist es nicht von Belang, ob wir Protestanten oder Katholiken, ob wir Juden, Muhammedaner, Zoroastrier oder anderer Glaubensart sind: Es muß uns allen um die Gemeinschaft mit Gott zu tun sein und dieses Hochziel muß uns alle, vor allem aber uns junge Menschen, die äußerlichen Gegensätze in Weg und Mitteln überbrücken lassen! Der Jugend ist es vorbehalten, aus ihrer ursprünglichen, wurzelhaften, unmittelbaren Lebenstiefe heraus sich von den nur von Menschen geschaffenen, blutleeren Organisationen und Gesetzen zu befreien, die u.a. die religiöse Frage zu einem Teilgebiet des Lebens werden ließen. Der Versuch, ewige umfassende Wahrheit dogmatisch in Formeln und, Bekenntnisse einzuzwängen, machte es möglich, daß die Kirchen sich feindlich gegenüberstehen, was ihre Abkehr von ihrem anfänglichen wahren Sinn zur Folge hatte. Die Kirchen sind nicht mehr eines der Mittel; den Menschen im tiefsten Sinne zu Gott zu führen, sondern sie nahmen größtenteils den Charakter weltlicher Zweckverbände an, so daß ihr Schicksal Verflachung des Lebens wurde. — Das Leben ist eine organische Einheit und läßt sich nicht organisieren und schematisieren. Nur seine letzte Bezogenheit auf den göttlichen Urgrund verbürgt seine völlige, gesunde Entfaltung.

Damit komme ich auf die schon kurz vor dem Weltkrieg eingesetzte Jugendbewegung zu sprechen.

In ihr tut sich eine neue, religiöse Triebkraft kund, wenn sie auch von mancher Seite nicht sofort als solche erkannt wird. Wie die unter dem Namen „Romantik“ bekannte, im Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland aufgetretene geistige und literarische Richtung sich gegen die Hierarchie des Verstandes auflehnte und eine Verinnerlichung anstrebte, so bedeutet die Jugendbewegung in unserem Volke ein öffentlicher Protest gegen die Erstarrung des Lebens, gegen das Konventionelle und Traditionelle, gegen alles „Gemachte“, gegen alle zwangsweise erwirkte Erziehung. Sie will nicht mehr durch Schule und Kirche zur Annahme einer fertigen Weltanschauung vergewaltigt werden, nein, sie will ihren Weg zum sinnerfüllten Leben aus der Totalität, aus der Ganzheit ihres Seins heraus erobern. Sie ringt um die unmittelbare Beziehung zum Weltenurgrund. Die Jugendbewegung läßt uns wieder erkennen, was wahres, echtes Jungsein ist. Es ist Leben aus Ganzheit und Ursprünglichkeit, es ist rhythmisch flutende, frohe und kraftvolle Bewegung aus Erdgebundenbeit zum Licht. Die bewegte Jugend hat die Hohlheit der Formen und ihren krassen Widerspruch zum täglichen Leben aufgedeckt. Sie findet in unseren Kirchen nicht mehr die heilige Andacht vor dem Letzten, dem Göttlichen, und wandert deshalb in die Natur hinaus. Hier erlebt sie wieder Gott in frohem [Seite 146] Singen und Spielen, am stillen Feuer, wenn es als Symbol ihrer Sehnsucht zu den Sternen hinauflodert. Hier findet sie wieder Gemeinschaft aus tiefster Wahrhaftigkeit heraus.

Doch muß man fragen: erschöpft sich darin der Sinn der Jugendbewegung, der Jugend überhaupt? Man sagt den betreffenden Kreisen und Gruppen oft Lebensfremdheit nach, weil die meisten von ihnen immer noch abseits der konkreten Lebensprobleme stehen. Man bezweifelt, ob hier wirklich mehr ist als bloße Auflehnung gegen das Überlieferte, mehr als bloße Anklage unserer jetzigen Zustände vorliegt. Die Zweifel sind leider nicht ganz unbegründet. Auch die Jugendbewegung läuft Gefahr, einer Veräußerlichung und Versickerung im breiten Leben anheimzufallen. Es wird viel geredet, viel „gemacht“, ohne sich rechte Geltung im öffentlichen Leben zu verschaffen. Wir wissen wohl, daß der Begriff „Jugend“ einen Reifeprozeß, somit ein Durchgangsstadium in sich schließt, aber eben darum muß die reifende Jugend ihre Sendung ins reifere Alter hinübertragen. Was wir künftighin unter Jugend verstehen wollen, kann nicht auf unbekümmerter Fröhlichkeit und freier, gesunder Lebensgestaltung nur im engeren Lebenskreise beschränkt bleiben, sie muß vielmehr zum Verantwortlichkeitsbewußtsein für das Ergehen der Brudermenschen heranreifen und so wird ihr Handeln aus Gegensätzlichkeit zur religiös erlebten Pflicht der Verantwortlichkeit für das Sein der Welt werden. Dies setzt aber voraus, daß wir in der Verschiedenartigkeit der vielen Bewegungen, vom Wesentlichen aus betrachtet, keine Trennungsgründe erblicken. Der Geist, der sie alle letztlich beseelt, ist derselbe: es ist der ewig schaffende, die Menschen wieder neu ergreifende Geist Gottes. (Siehe auch das neue Oktoberheft der „Kommenden Gemeinde“ über „Die religiöse Krise der Gegenwart und die Kirche“, herausgegeben von J. W. Hauer, Tübingen; Verlag Hirschfeld, Leipzig.) Darum ist es die vornehmste und heiligste Aufgabe der Jugend und im besonderen der Jugendbewegung, über die Verschiedenartigkeit der Formen hinweg den Weg zum anderen Menschenbruder zu finden, darnach zu trachten, die Sprache des auf anderen Wegen zum Lichte strebenden Bruders zu übersetzen und sie zu verstehen lernen. So müssen wir auch innerhalb des Christentums einen Weg finden, der den Protestanten und den Katholiken wieder zu gemeinsam strebenden Menschen werden läßt.

Nur vom religiösen Gedanken her wird uns die Erfüllung dieser Gegenwartsaufgabe möglich werden und die Jugend ist vorzugsweise dazu berufen. Wir sind alle die Kinder eines Vaters, der uns täglich Seine große Liebe zuteil werden läßt. Bahá’u’lláh sagte von uns Menschen: „Ihr seid alle die Früchte eines Baumes, die Blätter eines Zweiges und die Tropfen eines Meeres. Ruhm gebührt dem, der die Menschen liebt und nicht dem, der nur Liebe für die Seinigen hat. Verkehret mit allen Menschen der Welt, mit den Anhängern aller Religionen in Eintracht und Harmonie, ja im Geiste der vollkommenen Freude und des reinsten Wohlgeruchs. Erinnert sie auch an das, was für alle von Nutzen ist, aber hütet euch, das Wort Gottes zur Ursache des Widerstreits und des Anstoßes oder zur Quelle des Hasses unter euch zu machen. Wenn ihr wisset, was der andere nicht weiß, so sagt es mit der Sprache der Liebe und Güte. Nimmt er es an und auf, dann ist das Ziel erreicht; wenn nicht, dann überlasset ihn sich selbst und betet für ihn: hütet euch aber, ihn zu belästigen.“

Das ist die Lebenshaltung, die uns dem Ziele näherbringen wird. Nur diese Einstellung wird auch der Jugend es möglich werden lassen, den immer noch gefährlichere Formen annehmenden Klassengegensatz zu überwinden. Ja, wir dürfen an den Grenzpfählen unseres engeren Vaterlandes nicht halt machen, auch die Menschen jenseits dieser sind unsere Brüder, auch sie gilt es in unsere Lebensgemeinschaft einzubeziehen. Uns wird es damit zur tiefsten Gewißheit, daß nur eine umfassende, religiöse Durchdringung des ganzen Lebens imstande sein wird, das Antlitz unserer Erde zu verändern.

Wenn aber die Jugend der Träger der Zukunft ist, so tut ihr eine religiöse Erneuerung zuerst not. Es steht ihr jetzt nicht zu, über Fragen formaler Art, wie z. B. über Konfession, Bekenntnis, Riten, Zeremonien, Äußerlichkeiten, Geltungsfragen u. dgl. zu debattieren; es geht um die Wiedergeburt des [Seite 147] Herzens, die intensivste Arbeit jedes einzelnen an sich selbst. Da hilft es zunächst nichts, wenn man mit größter Betriebsamkeit verheißungsvoll klingende Programme und Systerne aufstellt und diskutiert, wie man es im Parteileben sieht, sondern darauf kommt es letzten Endes an, daß wir uns bedingungslos dem Ewigen, Gott verhaften und durch Verwirklichung der uns von Ihm durch Seine Gottgesandte gegebenen Lehren die Wirklichkeit Seines Reiches auf Erden ermöglichen.

Wo ist der Schlüssel zu diesem umfassenden Gelingen? In der Liebe. Das oberste Gesetz im Kosmos ist die Liebe. Warum schlugen alle bis jetzt geschaffenen Systeme politischer, wirtschaftlicher und sozialer Art fehl? Weil sie des obersten Gesetzes, der Liebe, entbehren. In den Psalmen von Bô Yin Râ heißt es: „Letzter Antrieb zu allem Tun muß in der Liebe gründen, soll eurer Tat die hohe Hilfe werden!“

Hier ist uns das Geheimnis der wahren Lebensentfaltung gegeben. Christus gab es uns in Seinem ganzen Leben. Er, der auf Golgatha starb, war bis Bahá’u’lláh das vollkommenste Gefäß jener Liebe, die hier gemeint ist, der Liebe, die unendlich und allumfassend der Atem Gottes ist. So wurde uns von Christus das Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Durch die Bahá’i-Lehre ruft es uns verstärkt auf: „Liebe deinen Nächsten mehr als dich selbst!“

Wenn nun die Jugend und die aus ihr herausgewachsene Freiheitsbewegung angesichts der ihr von der älteren Generation in einer Überfülle angepriesenen neuen Geistesrichtungen und Problemlösungen einen sicheren Weg zu der Einbeziehung des ganzen, vielgestaltigen Lebens in ihr Hochziel erobern will, so mögen uns vorstehende Ausführungen sinnfällig aufgezeigt haben, daß allein der religiöse Gedanke der Jugend die wahre, zum Licht führende Leitidee sein kann. Wenn uns heute das Leben noch viele scheinbar unlösbare Aufgaben stellt, dann muß es uns zur unumstößlichen Wahrheit werden, daß es nur der in Gott wiedergeborene, lichtgläubige Mensch sein wird, dem die nachhaltige Neugestaltung unseres Lebens vorbehalten bleibt. So ist der religiöse Gedanke mit der wahren Sendung der heutigen Jugend unauflöslich verbunden.



Die Religion und der gesunde Menschenverstand[Bearbeiten]

Eine objektive Betrachtung von Herbert v. Bomsdorff-Bergen-Fürstenfeld-Bruck bei München

„Gehe hin, dein Glaube hat dir geholfen!“ (Jesus Christus.)

Liebe, Religion, Kunst, Wissenschaft sind in ihren höchsten und reinsten Erscheinungsformen eins: Weisheit. Die Weisheit befähigt, auf allen Gebieten das Rechte zu tun, das Zweckmäßige, das für den Augenblick wichtigste.

Die Weisheit manifestiert sich durch einen klaren, objektiv eingestellten Verstand.

Der Weise erkennt der Liebe wahres Wesen, den Sinn der Religion, somit auch die Kulturaufgaben von Kunst und Wissenschaft.

‘Abdu’l-Bahá hat den Sinn der Religion mit beispielloser Klarheit erfaßt. Er sagt: „Alle Menschen sollen die Wahrheit selbständig erforschen. Religion muß die Ursache der Eintracht unter den Menschen sein. Die Religion muß mit Wissenschaft und Vernunft übereinstimmen! Vorurteile jeglicher Art müssen abgelegt werden.“

Nehmen wir zunächst einmal das Christentum und machen wir die Probe aufs Exempel.

Das Christentum steht und fällt mit der Taterkenntnis der Wahrheit der Bergpredigt und der Gebote: Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst! — Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen. Zu diesen Geboten kommt die unzweideutige Erklärung Jesu: Wer mich liebt, hält meine Gebote! Meine Gebote sind nicht schwer. Liebet einander, wie ich euch geliebt habe (und liebe!), daran (allein!) will ich erkennen, daß ihr meine Jünger (also tatsächliche Christen) seid! —

Man sollte meinen, jeder zu logischem Denken Befähigte — dies behaupten sehr viele zu sein — müßte somit wissen, wer ein Recht hat, sich Christ zu nennen — und wer es nicht hat.

Logisches Denken setzt einen gesunden, einen klaren Verstand, ein unverbildetes Gemüt voraus. Verstand ist kein akademischer Begriff. Ihn hat nicht die Schulwissenschaft geprägt. Er ist geistiges Gemeingut aller, die ehrlichen Willens sind, die Wahrheit zu erkennen, die uns frei [Seite 148] macht und uns in erster Linie vom Irrtum befreit — somit von wissentlicher und unwissentlicher Sünde. — Die Taterkenntnis der Wahrheit hat die Vergebung, die Vernichtung des Unrechts zur Folge. Nichts anderes bewirkt diese Befreiung. Keine noch so feierliche, priesterliche Handlung kann den Menschen von einer kontrahierten Schuld befreien. — In Jesu Christi reiner Lehre ist nichts enthalten, das mit einer klaren, gesunden Logik, mit dem unverbildeten Menschenverstand auch nur im leisesten Widerspruch stehen könnte.

Der wahrhaft christliche Glaube ist kein „Fürwahrhalten“, ist nicht der Versuch, sich eine Vorstellung von etwas zu machen, das nicht sichtbar ist, sondern ein ganz bestimmtes, klares Wissen. Es ist gleichgültig, welche Erscheinungsformen die Geschehnisse zu Jesu Lebzeiten auf Erden hatten. Das Wesentliche ist die klare Erkenntnis, das unbedingte Wissen um die Wahrheit der Lehren Jesu Christi. Diese Wahrheit ist nur in der selbstvollbrachten, christlichen Tat zu erkennen, also: durch die Probe aufs Exempel. Ein Lehrsatz in der Mathematik ist ebenfalls nicht anders zu beweisen, eine Rechenaufgabe ist nicht anders zu lösen. Der Mensch kann niemals von Gott wissen, wenn er Gott nicht erlebt. Christ ist nicht etwa der, der da glaubt, daß Jesus gelebt hat und am Kreuz gestorben ist, sondern der, der es für selbstverständlich ansieht, zu tun, was Jesus vom Menschen verlangte. Aber nicht verlangte um Seinet- oder Gotteswillen, sondern um des Menschen willen.

Die Bergpredigt enthält nur klare Gedanken aus reiner Höhe, damit auch tiefe Weisheit. Sie wendet sich gegen die drei Grundübel: Lüge, Haß, Habsucht. Aus diesen drei Bazillen entstehen alle Kulturkrankheiten: Verbrechen, Kriege, alles, was die Begriffe Kultursünde, Betrug, Täuschung, Unreinheit und Zwangausübung umfaßt. Jedenfalls ist es sehr weise gehandelt, alle Übel bei der Wurzel zu fassen und auszurotten. Das Übel kann nur dann aus der Welt geschafft werden, wenn seine Ursache beseitigt wird. Eine Krankheit ist nicht durch das Vernichten der Symptome zu heilen. Ein Übel unterdrücken, einkerkern, heißt: das Übel stärken. Parasiten totschlagen; aber ihr Lebenselement, den Schmutz, bestehen zu lassen, ist ein Narrenspiel und ein Unrecht dazu. Solange der Schmutz besteht, hat alles, was zum Parasitentum gehört, naturgesetzlich verbürgte Daseinsrechte. — Wahre Religion ist mit jedem Naturgesetz zu vereinbaren. Wer das bestreitet, kennt weder Wesen, Zweck, Ziel der Religion, noch den Sinn und den Wesenskern der Naturgesetze. Gott ist alles in allem, auf welchem Wege er auch von Gott suchenden Menschen seelisch-geistig erlebt wird. Und im Erleben nur ist Gott zu verstehen.

Das Leben ist ewig und durch das Leben allein im Erleben kann der Ewige erkannt werden.

Unser Erdenleben ist an sich noch nicht einmal der Bruchteil eines Augenblicks der unendlichen Zeitlosigkeit. An sich ist ein Menschenleben nichts —, doch in sich von denkbar größten Ausmaßen. Das klingt paradox, wird aber sofort verständlich durch die Erkenntnis: In Gott leben, weben und sind wir.

Die Forderung: Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen, enthält nichts weiter als die Mahnung: klug und gerecht in allen Dingen des Lebens zu sein, klug nicht um eines einseitigen Vorteils, um der Gerechtigkeit willen.

Das Trachten nach dem göttlichen Königreich der Himmel, um Berechtigung zu erlangen, in den Besitz aller notwendigen irdischen Güter zu kommen, als natürliche Folge der Gottverbundenheit, ist nichts anderes, als das nie aufhörende Verlangen, weise zu werden, um recht denken und recht handeln zu können. Es ist ein Arbeiten und kein: Hände-in-den-Schoß-legen. Gott kann nur wirken in der Arbeit des Menschen, denn der Mensch ist Seine Widerspiegelung.

Der gottverbundene Geist regiert den Körper so, daß er die Arbeit tut, die für den Menschen und für die Menschheit zweckmäßig ist. Zweckmäßig nicht im Sinne des materiellen Nützlichkeitsstandpunktes, sondern im Sinne von Kultur. Kultur bedeutet: geistiger Fortschritt, nicht technische Errungenschaft. Geistiger Fortschritt ist zugleich materielle Höherentwicklung, denn der Geist bildet die Erscheinungsform des Seins. Nur, wo ein gottverbundener Geist das materielle Leben gestaltet, wird tatsächliche Kulturarbeit vollbracht und es gibt da weder Entartung noch Verirrung, nur vollwertige Leistungen.

Es ist ein Näherkommen unserem Menschheitsziel, das Jesus mit den Worten kennzeichnet: „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Die Vollkommenheit soll für den Menschen nicht das Unerreichbare sein, sondern das Selbstverständliche werden. Und die so unchristliche Redensart: Ich elender Wurm, ich Nichts, steht im schreienden Widerspruch zu jeder wahren Religion.

Die sich heutzutage in so übler Form bemerkbar machende Unfähigkeit: ein praktisches Christentum zu leben, überhaupt ein religiöses [Seite 149] Leben zu führen, hat ihre Ursache nicht in den Schwierigkeiten, die die Religionen durch ihre Forderungen, scheinbar, verursachen, sondern in unserem falschen und damit auch unpraktischen Denken, das uns naturgemäß in Irrtümer führen muß. Die Schwierigkeiten liegen in uns selbst. Wer eine falsche Richtung eingeschlagen hat, kann logischerweise nicht an das Ziel kommen, zu dem der rechte Weg führt. Wer aber den irrtümlich eingeschlagenen Weg verläßt und den rechten Pfad betritt, der muß an das Ziel kommen, zu dem alle rechten Wege führen.

Die Eitelkeit ist ein böser Schädling, sie ist dem Eingeständnis des Irrtums im Wege. Sie entsteht aus dem Aberglauben an eine (eingebildete!) eigene Vortrefflichkeit. Der Egoismus an sich ist eine Ironie. Wer sich selbst am meisten liebt, dem müßte es eigentlich am besten ergehen. Gewöhnlich ist es aber so, daß Eigenliebe und Selbstbetrug identisch sind. Wer sich selbst — wirklich — liebt, der liebt Gott und seinen Nächsten in demselben Maße. Dadurch stellt er eine innere Harmonie dar. Hierin beruht das Geheimnis des Gleichgewichtes der Seele.

Der Egoist ist in Wirklichkeit gar kein Egoist. Warum? — Weil er sein wahres Ego gar nicht kennt. Egoismus ist nicht nur Selbstironie, es ist Feindschaft gegen das beste in sich selbst.

Wahrer Egoismus ist der weitestgehende, von Weisheit geleitete Altruismus. — Denn — der Tod nimmt dem Menschen alles, was ihm nicht gehört; er kann ihm aber kein Stück von tatsächlichem Eigentum, von ewigen Gütern nehmen, aus denen der Geist den höheren Körper baut. So wird es klar verständlich, daß Jesus und alle anderen großen Religionsstifter, die eigentlich gar keine Religionsstifter waren, sondern nur göttliche Wahrheiten auf ihre Art offenbarten, das Haften an irdischen Gütern, das Jagen nach materiellen Gewinnen auf Kosten des geistigen Fortschrittes, also der wahren Entwicklung, als Unsinn und als verderblich bezeichnen. Alle Religionen haben eine gemeinsame Grundlage. Wird diese erkannt, so muß auch die Religion die Ursache der Einigkeit und Eintracht unter den Menschen sein und damit auch die Harmonie in jeder einzelnen Seele bewirken. Menschen, die die Wahrheit selbständig erforschen, müssen zu der Erkenntnis kommen, daß die ganze Menschheit eine Einheit ist. Hieraus folgt, daß Mann und Weib gleich Rechte haben, daß ein Vorurteil immer eine Torheit ist, daß der Weltfriede Selbstverständlichkeit wird. Ist die Menschheit als Einheit erkannt, so wird man auch beiden Geschlechtern die beste und die gleiche sittliche Bildung und Erziehung angedeihen lassen. Damit wird jede soziale Frage gelöst und die Erlösung der Menschheit erscheint uns nicht mehr als ein unlösbares Problem.



Ein internationales Programm[Bearbeiten]

Von Dr. August Forel-Ivorne

Der Auszug aus einem Artikel von Dr. Auguste Forel, der im „Pax International“, dem offiziellen Organ der „Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“ erschienen ist:

„Im Jahre 1926 prophezeite ich, daß das Jahr 2001 zum Jahre 1 werden wird. Ohne mich als Prophet aufspielen zu wollen, habe ich ein gewisses Vorgefühl von dem, was in den nächsten 70 Jahren geschehen wird, und zwar ist es die Verwirklichung etwa folgender Fortschritte:

1. Sozialer Internationalismus, Stärkung und Verbesserung des Völkerbundes, der aus einem Bund der Staaten in einen wahren Bund der Völker umgewandelt wird.

2. Langsamer Sieg der Weltreligion der Bahá’i, ohne Dogmen und Priester, aber auch ohne Vorurteil gegen Freidenker und Monisten.

3. Sieg einer internationalen Weltsprache gegenseitiger Verständigung (Esperanto), mit einigen Verbesserungen durch eine Völkerbundakademie.

4. Fortschreitende Abrüstung der gegenwärtigen Staaten und die Verdrängung ihrer Heere durch eine internationale Polizei unter der Kontrolle des Völkerbundes. Die moderne Kriegsführung mit ihren Giftgasen, ihren Flugzeugen und Unterseebooten hat sich selbst das Todesurteil gesprochen.

5. Allgemeines Verbot alkoholischer Getränke und anderer gefährlicher Rauschgifte. Die Entwicklung der Eugenik (Volksgesundheit).

6. Freihandel. Abschaffung aller Zölle und Pässe.

7. Allmähliche Verdrängung des Kapitalismus durch eine feste und sichere Währung.

8. Neuzeitliche Schulreform nach dem Muster des heute in Österreich in den öffentlichen Schulen angewandten Systems.

9. Zivildienst für beide Geschlechter, der allmählich an die Stelle des Militärdienstes tritt.

10. Frauenstimmrecht überall.

[Seite 150] 11. Vereinfachte Lebensführung. Abschaffung der Pariser Moden und des übertriebenen Luxus.

12. Erziehung der Jugend überall zu obligatorischer Arbeit als soziale Ehrenpflicht.

Ich schlage vor, nach dem Jahre 2000 eine neue Zeitrechnung zu beginnen und unser Jahr 2001 das Jahr 1 zu nennen. Niemand sollte sich darüber lustig machen, denn die Utopien von heute sind oftmals die Selbstverständlichkeiten von morgen.

Die Schule und die Eltern schaffen fortwährend neue Vorurteile, indem sie gleichzeitig auch noch die meisten der alten Traditionen beibehalten, mehr oder weniger gemäßigt. Trotz alledem ändern sich die Zeiten. Die „Neuen Schulen“, frei, aber kostspielig, haben schon einen bisher nie geahnten Aufschwung genommen, indem sie das Kind von der von alters hergebrachten Tyrannei seiner „Lehrer“ befreit und ihm gelehrt haben, sich selbst zu erziehen, indem es sich seine Führer selbst unter seinen Kameraden auswählt.

Eine neue Zukunft voller Hoffnung für die Schule sowohl wie auch für das übrige Leben eröffnet sich hier dem Blick, Vorurteile bekämpfend, uralte Traditionen umstoßend und eine Veredlung unserer Rasse durch sozialen und humanitären Internationalismus bewirkend.“



Der Gärtner.[Bearbeiten]

Von E.M. Großmann-Hamburg

Wie ein gefangener Vogel flatterte meine Seele im Gefängnis ihres Selbst, oder wiederum war sie ein Gärtner, der das Unkraut in seinem Garten jätete, der die Sträucher und Bäume darin emsiglich beschnitt und doch nicht erlebte, daß sie Blumen und kostbare Früchte trugen. War es ihm aber einmal vergönnt, den Garten vom wuchernden Unkraut zu säubern und von seinen Obstbäumen doch einen kärglichen Ertrag zu erzielen, dann saß er nach vollbrachter Arbeit auf der Bank seines Gartens und blähte sich stolz: „Sieh hier, das Werk meiner Hände!“ Und wenn er es sich nicht mit lauter Stimme verkündete, so sagte er es doch in seinem Herzen und dachte, daß es eine süße Melodie wäre, die wunderbar klänge.

Einst lehnte meine Seele am Gitter ihres Gartens und schaute, wie im Nachbargarten eine andere Seele sich in gleicher Arbeit emsig mühte. Aber es war etwas Seltsames um jene Seele. Auch in ihrem Garten wucherte das Unkraut und in ihren Bäumen saß manch trockenes Stück Holz. Aber, wenn sie nach getaner Arbeit auf der Bank ihres Gartens saß, dann spielte ein glückliches Lächeln um ihre Lippen und ihre Blicke waren zur Erde gesenkt.

Meine Seele erwartete mit ängstlicher Scheu den Tag, an dem auch jene Seele, noch keuchend unter der Last vollbrachter Arbeit, sich ihrer Taten rühmen würde. Aber jener Tag blieb aus. Und als die Zeit der Ernte kam und drüben die Bäume sich beugten unter der Pracht der goldenen Früchte, da schlich meine Seele hinüber in des Nachbarn Haus. Mit gesenktem Haupte stand sie an der Pforte und bat: „Sag mir das Geheimnis, das in deinem Garten lebt!“ Da reichte die Schwesterseele ihr leise die Hand und sagte: „Da du selber kamst, um zu bitten, siehe, wird dir geholfen!“

Und als am nächsten Morgen meine Seele zu ihrem Garten trat, sah sie über der Pforte die Worte leuchten in goldener Schrift:

„Wahrlich, durch Demut

wird der Mensch

zum Himmel des Ruhmes und der Macht

emporgehoben,

durch Stolz dagegen

wird er zur niedrigsten Stufe

herabgewürdigt.


Besitze ein reines, gütiges und strahlendes Herz, damit du eine Herrschaft erlangst, die himmlisch, ewig und unvergänglich ist.“



Die unendliche Linie.[Bearbeiten]

Von Dietrich.

Die unendliche Linie ging unserm Leben fast verloren. — Kinder und Dichter finden sie noch manchmal. Sie beherrscht das Gefühl des Ostens. Während wir das Wesenhafte in Begriff, Technik und Physik bannen, ohne darauf zu achten, wie es uns dabei durch zahllose unauflösbare Bruchteile der Rechnung entwischt, läßt der Asiate sich von der unendlichen Linie tragen. Die Fiktion eines Zieles verlegt er ins Zeit-, Raum- und Namenlose. Fragt ein Kind: wohin? oder warum?, wenn Götter, Dämonen, Geister, Drachen, Wolken, Wellen, Vögel und unzählige Blumen solcher Fragestellung jede Ursache nehmen?

Wir sandten Missionare und forderten westlichen „Glauben“. Neben Tee und Spielzeug [Seite 151] erhielten wir die Weisheit Kongfutses, Laotses, des Buddha. Der erobernden Mission nach dem Osten antwortete die stillere, unsichtbare, deren Vorhandensein seit über einem Jahrtausend uns erst heute aufgeht. Immerhin erzählten die Geschichten aus tausend und einer Nacht schon weit östliche Dinge. Das Rokoko in Europa ist ohne die „Chinoiserien“ kaum zu denken. Als die Sehnsucht nach dem Porzellan es bei uns wiederschuf, kopierte man kühn und liebenswürdig zugleich in Meißen die alten, chinesischen Drachenmuster. Aber die Figuren der Porzellankunst, wie die Märchen der tausend und einen Nächte, suchen vor allem die unendliche Linie aus dem Osten, die die Varianten liebt, sich durch sie gewissermaßen neu belebt. Auch die Arabeske ist nur eine abstrakte Rekonstruktion dieser unendlichen Linie, die noch das ärmste Leben eines Ostasiaten, eines Chinesen zumal, durch die Varianten seiner Gefühle als in Geistern, Drachen, Wolken- und Wellenbildungen, Vögeln und unzähligen Blüten spazierenführt. Es bedarf ja nicht gleich des ruhelos rasenden Kreises. (Auch er allerdings ist ohne ein außer ihm liegendes Ziel.)

Die Jagd nach dem Erfolg, der Pointe oder dem Effekt in unserem Sinne liegt dem Menschen des Ostens nicht am Herzen. Das gehört zu uns, und ist für Amerika, für diese Treibhauszüchtung Europas, geradezu schon der „Sinn des Lebens“. Mag es nun bei dem einzelnen liegen, ob ihm Europa noch eine Halbinsel Asiens oder schon eine zukünftige Kolonie Amerikas bedeutet. Das Spiel des Lebens als der Sinn des Lebens, dieses lächelnde Sichverlieren im Unendlichen ist immer wieder die Erlösung von unserem zielstrebigen Ich-Starrsinn. Ist das der ganzen Menschheit eigene Urheimatgefühl im Osten.



Schicksal und Willensfreiheit[Bearbeiten]

Von Paul Häcker, Stuttgart


Schicksal ist Lebenstragik und Lebensgestaltung.

“Des Menschen Schicksal ist abgrundtief in sein Leben hinein verankert. Niemals kann etwas Fruchtbares werden und reifen, es muß zuvor im Schmelzofen des Schicksals schlackenrein, wie leuchtendes Gold zubereitet werden.

Das Schicksal steht niemals außerhalb des Lebens. Was wir Schicksal nennen ist der Inbegriff des Lebens selbst. Schicksalhaft gestaltet sich unser Leben, aber nicht von außen her, sondern von den Urgründen unseres Seins ausgehend. Dort im Urkeim, im wesentlichsten ruht nur latent schlummernd der Determinismus für unsere Lebensrichtung und Zielsetzung. Von dort her gestaltet sich unser eigenes Schicksal ins Leben herein. Die Grundbedingungen für unser Schicksal liegen somit in uns selbst. Nicht von außen kommend, von innen her wird das Finale, das Vergängliche und zeitlich Begrenzte aufgezeigt und weitet sich von da aus zum Infinalen — zum Unvergänglichen. Wem nun gelingt, sein Lebensfinale in den Dienst des Infinalen zu stellen, der wird auch der Meister seines Schicksals sein.

Aber eines fehlt noch in unserm Bild. Das Leid als den großen Lehrmeister des Lebens. Nur wer tief zu erkennen und zu erleben vermag, was das Leid in seiner mannigfachen Gestalt im Leben des einzelnen für eine maßgebende Rolle spielt, kann auf den Grund seines Schicksals gelangen und sein Leben leben, wie es sich eben für ihn gestaltet hat.

Im Grunde jedoch und hinter dem letzten Sinn aber steht eine tragische Erkenntnis, daß man sich selber sein Schicksal gewünscht und gestaltet hat, nach den urewigen Gesetzen einer weisen Gottesordnung, die hinter allen Dingen steht und jedem Menschen freie Wahl läßt zur etwaigen Gestaltung seines Lebensbildes. Und aus diesem Grunde hat der Mensch kein Recht über sein Schicksal zu klagen, es sei denn, er klagt sich selber an. Doch aus der Selbstanklage kann auch nicht der Sinn und die Ordnung des Lebens geändert werden. Eine durchgreifende Zieländerung wird nur dann erzielt, wenn man sein Schicksalsbündel trägt als gegebene und gewollte Aufgabe. Dann aber vermag man sich selber im Tiefsten zu finden, und das bedeutet, die bewußte Hinwendung zum Leben oder zu Gott. Leben und Gott sind nicht zwei Begriffe. Einer geht im andern auf und deckt sich vollkommen mit dem andern. Wenn man Leben sagt, es erlebt und erfaßt, ist es zugleich im tiefsten Grunde Heimkehr zu Gott. Können wir unser Schicksal nun so gestalten, daß es sich mit diesen beiden Begriffen, die vollkommen in sich eins sind, deckt, dann sehen wir unser Schicksal nicht mehr als dunkle, dämonische Macht an, sondern wir wissen nun, daß alles Leid doch letzten Endes in dem doppelsinnigen Begriff Schicksal eins ist mit dem Leben, das wir leben wollen und gestalten sollen, in freier Willensentfaltung, aus zeitlich begrenztem Sein, in die Helle, lichte Ewigkeit. -

[Seite 152]



Gestern und heute[Bearbeiten]

„Von jedem Gesichtspunkt aus steht die Welt der Menschheit im Zeichen der Umwälzung. Die Gesetze früherer Regierungen und der Gesittungen stehen im Prozeß der Verbesserung; wissenschaftliche Ideen und Theorien entwickeln sich und durchlaufen nun eine neue Phase der Erscheinungen, Erfindungen und Entdeckungen bisher unbekannter Gebiete, sie eröffnen neue Wunder und bislang verborgene Geheimnisse der Materie im Universum. Industrien haben bedeutende Ausdehnung und Erzeugnisse erfahren. Überall liegt die Welt der Menschheit im schweren Ringen der Entfaltung. Sie zeigen das Verschwinden früherer Zustände an und erreichen ein neues Zeitalter der Umgestaltung. — Alte Bäume tragen keine Früchte mehr, veraltete Anschauungen und Maßnahmen sind jetzt abgetan und wertlos. Ansichten der Ethik, moralische Vorschriften und Anwendungen aus dem Leben der Vergangenheit genügen heute nicht mehr für das neue Zeitalter des Fortschritts und der Entwicklung.

Da dies zutreffend und augenscheinlich ist, so ist es ebenso klar, daß der Herr der Welt unendliche Gnade der Menschheit in diesem Zeitalter der Reife und der Vollendung verlieh. Der Ozean der göttlichen Gnade wogt, der Tauregen fällt, die Sonne der Wirklichkeit leuchtet strahlend. Himmlische Lehren, dem Fortschritt der menschlichen Entwicklung entsprechend, sind in diesem Zeitalter der Gnade geoffenbart. Diese Umgestaltung und Erneuerung der fundamentalen Wirklichkeit der Religion enthält den wahren und auswirkenden Geist der Neuzeit, das unfehlbare Licht der Welt, die wahrnehmbare Ausstrahlung des Wortes Gottes, den göttlichen Heiltrank für alles das, woran die Menschheit krankt, und die Gnade des ewiger Lebens für alle Menschen!“

‘Abdu’l-Bahá.



Weihnacht.[Bearbeiten]

von Ernst v. Wildenbruch.


Die Welt wird kalt, die Welt wird stumm,

der Wintertod geht schweigend um;

er zieht das Leilach weiß und dicht

der Erde übers Angesicht. -

Schlafe — schlafe.


Du breitgewölbte Erdenbrust,

du Stätte aller Lebenslust,

hast Duft genug im Lenz gesprüht,

im Sommer heiß genug geglüht,

nun komme ich, nun bist du mein,

gefesselt nun im engen Schrein -

Schlafe — schlafe.


Die Winternacht hängt schwarz und schwer,

ihr Mantel fegt die Erde leer,

die Erde wird ein schweigend Grab,

ein Ton geht zitternd auf und ab!

Sterben — sterben.


Da horch — im totenstillen Wald

was für ein süßer Ton erschallt?

Da sieh — in tiefer, dunkler Nacht

was für ein süßes Licht erwacht?

Als wie von Kinderlippen klingt's,

von Ast zu Ast wie Flammen springt's,

vom Himmel kommt’s wie Engelsang,

ein Flöten- und Schalmeienklang:

Weihnacht! Weihnacht!


Und siehe — welch ein Wundertraum:

Es wird lebendig Baum an Baum,

der Wald steht auf, der ganze Hain

zieht wandelnd in die Stadt hinein,

mit grünen Zweigen pocht es an:

„Tut auf, die sel’ge Zeit begann,

Weihnacht! Weihnacht!“


Da gehen Tür und Tore auf,

da kommt der Kinder Jubelhauf,

aus Türen und aus Fenstern bricht

der Kerzen warmes Lebenslicht.

Bezwungen ist die tote Nacht,

zum Leben ist die Lieb erwacht,

der alte Gott blickt lächelnd drein,

des laßt uns froh und fröhlich sein!

Weihnacht! Weihnacht!



In der Sonne der Wahrheit finden nur solche Manuskripte Veröffentlichung, bezüglich deren Weiterverbreitung keine Vorbehalte gemacht werden. — Anfragen, schriftliche Beiträge und alle die Schriftleitung betreffenden Zuschriften beliebe man an die Schriftleitung: Stuttgart, Alexanderstr. 3 zu senden. — Bestellungen von Abonnements, Büchern und Broschüren sowie Geldsendungen sind an den Verlag des deutschen Bahá’i-Bundes G.m.b.H., Stuttgart, Alexanderstr. 3, Nebengebäude, zu richten.


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Geschichte und Bedeutung der Bahá’i-Lehre[Bearbeiten]

Die Bahá’i-Bewegung tritt vor allem ein für die „Universale Religion" und den „Universalen Frieden“ — die Hoffnung aller Zeitalter. Sie zeigt den Weg und die Mittel, die zur Einigung der Menschheit unter dem hohen Banner der Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit führen. Sie ist göttlich ihrem Ursprung nach, menschlich in ihrer Darstellung, praktisch für jede Lebenslage. In Glaubenssachen gilt bei ihr nichts als die Wahrheit, in den Handlungen nichts als das Gute, in ihren Beziehungen zu den Menschen nichts als liebevoller Dienst.

Zur Aufklärung für diejenigen, die noch wenig oder nichts von der Bahá’i-Bewegung wissen, führen wir hier Folgendes an: „Die Bahá’i-Religion ging aus dem Babismus hervor. Sie ist die Religion der Nachfolger Bahá’u’lláhs. Mirza Hussein Ali Nuri (welches sein eigentlicher Name war) wurde im Jahre 1817 in Teheran (Persien) geboren. Vom Jahr 1844 an war er einer der angesehensten Anhänger des Bab und widmete sich der Verbreitung seiner Lehren in Persien. Nach dem Märtyrertod des Bab wurde er mit den Hauptanhängern desselben von der türkischen Regierung nach Bagdad und später nach Konstantinopel und Adrianopel verbannt. In Bagdad verkündete er seine göttliche Sendung (als „Der, den Gott offenbaren werde") und erklärte, daß er der sei, den der Bab in seinen Schriften als die „Große Manifestation", die in den letzten Tagen kommen werde, angekündigt und verheißen hatte. In seinen Briefen an die Regenten der bedeutendsten Staaten Europas forderte er diese auf, sie möchten ihm bei der Hochhaltung der Religion und bei der Einführung des universalen Friedens beistehen. Nach dem öffentlichen Hervortreten Bahá’u’lláhs wurden seine Anhänger, die ihn als den Verheißenen anerkannten, Bahá’i (Kinder des Lichts) genannt. Im Jahr 1868 wurde Bahá’u’lláh vom Sultan der Türkei nach Akka in Syrien verbannt, wo er den größten Teil seiner lehrreichen Werke verfaßte und wo er am 28. Mai 1892 starb. Zuvor übertrug er seinem Sohn Abbas Effendi ('Abdu'l-Bahá) die Verbreitung seiner Lehre und bestimmte ihn zum Mittelpunkt und Lehrer für alle Bahá’i der Welt.

Es gibt nicht nur in den mohammedanischen Ländern Bahá’i, sondern auch in allen Ländern Europas, sowie in Amerika, Japan, Indien, China usw. Dies kommt daher, daß Bahá’u’lláh den Babismus, der mehr nationale Bedeutung hatte, in eine universale Religion umwandelte, die als die Erfüllung und Vollendung aller bisherigen Religionen gelten kann. Die Juden erwarten den Messias, die Christen das Wiederkommen Christi, die Mohammedaner den Mahdi, die Buddhisten den fünften Buddha, die Zoroastrier den Schah Bahram, die Hindus die Wiederverkörperung Krischnas und die Atheisten — eine bessere soziale Organisation.

In Bahá’u’lláh sind alle diese Erwartungen erfüllt. Seine Lehre beseitigt alle Eifersucht und Feindseligkeit, die zwischen den verschiedenen Religionen besteht; sie befreit die Religionen von ihren Verfälschungen, die im Lauf der Zeit durch Einführung von Dogmen und Riten entstanden und bringt sie alle durch Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Reinheit in Einklang. Das einzige Dogma der Lehre ist der Glaube an den einigen Gott und an seine Manifestationen (Zoroaster, Buddha, Mose, Jesus, Mohammed, Bahá’u’lláh).

Die Hauptschriften Bahá’u’lláhs sind der Kitab el Iqhan (Buch der Gewißheit), der Kitab el Akdas (Buch der Gesetze), der Kitab el Ahd (Buch des Bundes) und zahlreiche Sendschreiben, genannt „Tablets“, die er an die wichtigsten Herrscher oder an Privatpersonen richtete. Rituale haben keinen Platz in dieser Religion; letztere muß vielmehr in allen Handlungen des Lebens zum Ausdruck kommen und in wahrer Gottes- und Nächstenliebe gipfeln. Jedermann muß einen Beruf haben und ihn ausüben. Gute Erziehung der Kinder ist zur Pflicht gemacht und geregelt.

Streitfragen, welche nicht anders beigelegt werden können, sind der Entscheidung des Zivilgesetzes jeden Landes und dem Bait’ul’Adl oder „Haus der Gerechtigkeit“, das durch Bahá’u’lláh eingesetzt wurde, unterworfen. Achtung gegenüber jeder Regierungs- und Staatseinrichtung ist als einem Teil der Achtung, die wir Gott schulden, gefordert. Um die Kriege aus der Welt zu schaffen, ist ein internationaler Schiedsgerichtshof zu errichten. Auch soll neben der Muttersprache eine universale Einheits-Sprache eingeführt werden. „Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die Tropfen eines Meeres“ sagt Bahá’u’lláh.

Es ist also weniger die Einführung einer neuen Religion, als die Erneuerung und Vereinigung aller Religionen, was heute von 'Abdu'l-Bahá erstrebt wird. (Vgl. Nouveau, Larousse, illustré supplement, Seite 66.)


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Verlag des Deutschen Bahá’i-Bundes G.m.b.H., Stuttgart

Fernsprecher Nr. 26168 — — Postscheckkonto 25419 Stuttgart — — Alexanderstr. 3, Nebengebäude

In unserem Verlag sind erschienen:


Bücher:

Verborgene Worte von Bahá’u’lláh. Deutsch von A. Schwarz und W. Herrigel, 1924 1.--

Bahá’u’lláh, Frohe Botschaften, Worte des Paradieses, Tablet Tarasat, Tablet Taschalliat, Tablet Ischrakat. Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1921, in Halbleinen gebunden . . . 2.50

in feinstem Ganzleinen gebunden . . . . . 3.--

'Abdu'l-Bahá Abbas, Ansprachen über die Bahá’i-Lehre. Deutsch von W. Herrigel, 1921, in Halbleinen gebunden . . . . . 3.00

in festem Ganzleinen gebunden . . . . . 3.50

Geschichte und Wahrheitsbeweise der Bahá’i-Religion, von Mirza Abul Fazl. Deutsch von W. Herrigel, 1919, in Halbleinen geb. . . . . 4.50

In Ganzleinen gebunden . . . . 5.--

'Abdu'l-Bahá Abbas’ Leben und Lehren, von Myron H. Phelps. Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1922, in Ganzleinen gebunden . . . . 4.--

Die Bahá’i-Offenbarung, ein Lehrbuch von Thornton Chase, deutsch von W. Herrigel, 1925, kartoniert M. 4.--, in Halbleinen gebunden . . . . 4.60

Bahá’u’lláh und das neue Zeitalter, ein Lehrbuch von Dr. J. E. Esslemont, deutsch von W. Herrigel und H. Küstner. 1927. In Ganzleinen gebunden . . . . . 4.50

Beantwortete Fragen 'Abdu'l-Bahá Abbas', gesammelt und in englischer Sprache herausgegeben von L. Clifford Barney, deutsche Übersetzung von W. Herrigel, 1929 . . . . . 5.--


Broschüren:

Bahá’i-Perlen, Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1922 . . . . -.20

Ehe Abraham war, war Ich, v. Thornton Chase. Deutsch v. W.Herrigel, 1911 . . . . -.20

Die Universale Weltreligion, Ein Blick in die Bahai-Lehre von A. T. Schwarz, 1919. . . . -.50

Die Offenbarung Bahá’u’lláhs, von J.D. Brittingham. Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1910 . . . -.50

Einheitsreligion. Ihre Wirkung auf Staat, Erziehung, Sozialpolitik, Frauenrechte und die einzelne Persönlichkeit, von Dr. jur. H. Dreyfus, Deutsch von Wilhelm Herrigel. 2. Auflage 1920 . . . -.50

Die Bahá’i-Bewegung im allgemeinen und ihre großen Wirkungen in Indien, nach Berichten eines Amerikaners zusammengestellt und mit Vorwort versehen von Wilhelm Herrigel, Stuttgart 1922 . . . . -.50

Eine Botschaft an die Juden, von Abdul Baha Abbas. Deutsch v. W. Herrigel, 1912 . . . -.20


Das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahás, ("The Passing of 'Abdu'l-Bahá") Deutsch von Alice T. Schwarz, 1922 . . . -.50

Das neue Zeitalter von Ch. M. Remey. Deutsch von Wilhelm Herrigel, 1923 . . . . —.50

Die soziale Frage und ihre Lösung im Sinne der Bahá’i-Lehre von Dr. Hermann Grossmann, Hamburg 1923 . . . . —.20

Religiöse Lichtblicke, Einige Erläuterungen zur Bahá’i-Botschaft, aus dem Französ. übersetzt von Albert Renftle, 2. erweiterte Auflage, 1928 . . . . --.30

Die Bahá’i-Bewegung, Geschichte, Lehren und Bedeutung. von Dr. Hermann Großmann-Wandsbek . . . . . --.20

Sonne der Wahrheit, Jahrgang 3 - 8 in Halbleinen gebunden je . . . . 9.--

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