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BAHÁ'I-
BRIEFE
BLÄTTER FÜR
WELTRELIGION UND
WELTBEWUSSTSEIN
AUS DEM INHALT:
Bahá’u’lláh: Frohe Botschaften
Weltreligionstag 1962 in Stuttgart
Der Hinduismus
Aus der Bahá’í-Geschichte
APRIL 1962 HEFT 8
Postverlagsort Frankfurt/Main
100000 Menschen besuchten „Muttertempel“ des Westens[Bearbeiten]
- Das Haus der Andacht der Bahá’í in Wilmette, an den Gestaden des Michigan-Sees nahe Chicago, hat im vergangenen Jahr seine Rolle als „stummer Lehrer“ glänzend bewältigt. Rund 100 000 Menschen besuchten 1961 den „Muttertempel“ des Westens, unter ihnen eine ganze Anzahl bedeutender Zeitgenossen, wie zum Beispiel der englische Historiker Arnold Toynbee. Aus insgesamt 82 Ländern der Welt kamen die Interessenten. Sehr häufig besuchen Mitglieder anderer religiöser Vereinigungen aus der näheren Umgebung Chicagos den Tempel. Groß ist auch die Zahl der Schüler- und Studentengruppen. Darüber hinaus ist das Interesse seitens der Architekten und Bauingenieure an dieser beispiellosen Konstruktion sehr beachtlich. — Unser Luftbild, das wir den „Bahá’í News“ der USA entnommen haben, zeigt den Tempel am Michigansee mit den jetzt fertiggestellten Anlagen rund um das Gebäude.
Bahá’u’lláhs Sendschreiben aus 'Akká[Bearbeiten]
Mit den „Frohen Botschaften“ beginnen wir den Abdruck von fünf der wichtigsten Sendschreiben Bahá’u’lláhs, die im Anschluß an das Kitáb-i-Aqdas, das „Buch der Gesetze“, in ‘Akká geoffenbart wurden und zu den ersten Seiner Schriften gehörten, die in westliche Sprachen übertragen wurden: Bereits 1912 erschienen sie auch in deutscher Sprache; 1921 kam die zweite Auflage heraus.
Über die einzigartige Bedeutung dieser Sendschreiben führt Shoghi Effendi aus („Gott geht vorüber“, Frankfurt 1954, S. 246 ff.):
„Der Formulierung, die Bahá’u’lláh in Seinem Kitáb-i-Aqdas den fundamentalen Gesetzen Seiner Sendung gab, folgte gegen Ende Seiner Mission noch die Darlegung gewisser Vorschriften und Prinzipien, die im Kernpunkt Seines Glaubens liegen. Er bekräftigt nochmals die Wahrheiten, die Er früher schon verkündigt hatte, vervollständigt und erläutert einige der Gesetze, die Er schon niedergelegt hatte, offenbart noch weitere Prophezeiungen und Warnungen und erläßt zusätzliche Weisungen als Ergänzung zu den Verordnungen Seines Heiligsten Buches. Diese wurden in unzähligen Tablets niedergelegt, die Er fortwährend bis in die letzten Tage Seines Lebens offenbarte. Zu ihnen gehören als die bemerkenswertesten das Tablet “Ishráqát“ (Pracht), „Bishárádt“ (Frohe Botschaften), „Tarázát“ (Ausschmückungen), „Tajallíyát“ (Strahlenglanz), „Kalimát-i-Firdawsíyyih“ (Worte des Paradieses), „Lawh-i-Aqdas“ (das Heiligste Tablet), „Lawh-i-Dunyá“ (Tablet über die Welt) und das „Lawh-i-Maqsúd“ (Tablet von Maqsúd). Diese Sendschreiben, die machtvollen letzten Ausgießungen Seiner unermüdlichen Feder, müssen zu den erlesensten Früchten gezählt werden, die Sein Geist hervorgebracht hat, und stellen die Vollendung Seines vierzig Jahre währenden Wirkens dar.
Von den in diesen Tablets enthaltenen Prinzipien ist das wesentlichste von allen das Prinzip der Einheit und Ganzheit des Menschengeschlechts, und man darf wohl gerade dieses als das Kennzeichen der Offenbarung Bahá’u’lláhs und den Angelpunkt Seiner Lehre betrachten... Er spricht von der Religion als einem „strahlenden Licht und einer uneinnehmbaren Feste für den Schutz und das Wohlergehen der Völker auf Erden“ und bezeichnet sie als „das wichtigste Werkzeug für die Begründung der Ordnung in der Welt.“... Er schreibt die „Halsstarrigkeit der Gottlosen“ ihrer „Abkehr von der Religion“ zu und verheißt so schwere „Erschütterungen“, daß „die Glieder der Menschen darob erzittern werden.“ ...
In Seiner majestätischen, bilderreichen Sprache stellt Bahá’u’lláh in diesen Tablets immer neue geistige, politische, soziale und wirtschaftliche Aspekte Seiner neuen Weltordnung in den Vordergrund. Was ‘Abdu’l-Bahá zu Beginn unseres Jahrhunderts auf Seinen Reisen in den Westen als die zwölf Prinzipien des Bahá’í-Glaubens formulierte, die Grundsätze, die Er in Seinem Testament für die Bahá’í-Verwaltungsordnung aufstellte — dies alles geht in großem Umfang auf diese Sendschreiben Bahá’u’lláhs zurück, die in den nächsten Nummern der „BAHA’I-BRIEFE“ dem Leser ins Bewußtsein gerufen werden.
- D. Red.
Bahá’u’lláh
Die frohen Botschaften[Bearbeiten]
Dies ist die Stimme Abhás, die sich am erhabenen Horizont erhob und aus dem Gefängnis von ‘Akká ertönt.
Er ist der Erklärer, der Kennende, der Allwissende!
Gott und das Erscheinen Seiner Namen und Eigenschaften bezeugen, daß diese Stimme und das erhabene Wort nur deshalb laut wurden, damit die Ohren der Völker der Welt durch den Kawthar1) der göttlichen Äußerung von falschen Darstellungen gereinigt und vorbereitet werden, auf das gesegnete, reine und erhabene Wort zu hören, das aus der Schatzkammer der Erkenntnis des Schöpfers von Himmeln und Namen hervorging. Gesegnet sind die, die gerecht sind!
O Volk der Erde!
- DIE ERSTE FROHE BOTSCHAFT,
die in dieser Größten Offenbarung durch das „Mutterbuch“ 2) dem ganzen Volk der Welt geschenkt wird, ist die Aufhebung der Verordnung über den Religionskrieg aus dem Buche. Erhaben ist der Wohltätige, der Besitzer großer Gaben, durch den das Tor der Gnade für alle im Himmel und auf Erden geöffnet ist!
- DIE ZWEITE FROHE BOTSCHAFT:
Es wird gutgeheißen, daß alle Völker der Welt in Freude und Wohlgeruch miteinander verkehren. O Menschenkinder! Stimmet in Freude und Wohlgeruch mit allen Religionen überein. Auf diese Weise sandte die Sonne der Erlaubnis und des Wunsches ihre Strahlen vom Himmelszelt des Gebotes Gottes, des Herrn der Geschöpfe, hernieder.
- DIE DRITTE FROHE BOTSCHAFT
betrifft das Erlernen von Sprachen. Dieses Gebot ist schon früher aus der Höchsten Feder geflossen. Die Könige — möge ihnen Gott beistehen! — oder die Verantwortlichen auf Erden müssen miteinander beraten und entweder eine der bestehenden Sprachen oder eine neue Sprache zur Weltsprache bestimmen. In dieser sind alsdann die Kinder in den Schulen der ganzen Welt zu unterrichten, und dasselbe hat auch hinsichtlich einer Weltschrift zu erfolgen. Dann endlich wird die Erde als eine Heimat angesehen werden. Gesegnet ist, wer auf diese Stimme hört und das erfüllt, was von Gott, dem Herrn des größten Thrones, befohlen wurde.
- DIE VIERTE FROHE BOTSCHAFT:
Alle Könige — möge Gott sie stärken! — sollen sich aufmachen, diese unterdrückte Gemeinschaft beschützen und ihr beistehen. Jeder muß den anderen im Dienen und Erweisen von Liebe zu übertreffen suchen. Dies ist allen zur Pflicht gemacht. Gesegnet sind die, die sie erfüllen!
- DIE FÜNFTE FROHE BOTSCHAFT:
In welchem Land oder unter welcher Regierung die Angehörigen dieser
Gemeinschaft auch leben mögen, der betreffenden Regierung gegenüber
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müssen sie sich stets ehrlich, vertrauensvoll und wahrhaftig verhalten.
Dies wurde aus der Gegenwart des ewigen Gebieters geoffenbart.
In jeder Hinsicht ist es den Menschen der Welt zur Pflicht gemacht,
diesen erhabensten Glauben, der aus dem Himmel des Willens Gottes, des
Immerbestehenden, herniederkam, zu unterstützen, damit so das Feuer
der Feindschaft, das in den Herzen einiger Völker lodert, durch das
Wasser der göttlichen Weisheit, durch himmlische Gebote und Ermahnungen
gelöscht werde und das Licht der Vereinigung und der Eintracht alle
Regionen der Erde erleuchte. Wir hoffen, daß die Kriegsrüstungen der Welt
durch die Hilfe der Träger der göttlichen Macht (der Könige und Regenten)
in Frieden verwandelt werden, und daß Entartung und Streit für
immer unter den Menschen verschwinden.
- DIE SECHSTE FROHE BOTSCHAFT
bezieht sich auf den Größten Frieden, dessen Bedeutung schon früher durch die Höchste Feder geoffenbart wurde. Wohl dem, der sich an ihn hält und das zur Ausführung bringt, was von Gott, dem Allwissenden, dem Weisen, befohlen wurde!
- DIE SIEBENTE FROHE BOTSCHAFT
läßt den Menschen in der Kleidung und in Schnitt und Form des Bartes freie Wahl. Aber hütet euch, o Menschenkinder, daß ihr euch nicht zum Gespött der Unwissenden macht!
- DIE ACHTE FROHE BOTSCHAFT:
Der frommen Übungen der Mönche und Priester im Volke Seiner Heiligkeit des Geistes (d. i. Christus) — der Friede und Ruhm Gottes ruhe auf Ihm — wird vor Gott gedacht; aber an diesem Tage müssen sie ihre Einsamkeit zugunsten der Öffentlichkeit aufgeben und sich mit dem beschäftigen, was ihnen selbst und anderen nützt. Wir haben allen die Ehe erlaubt, damit Kinder daraus hervorgehen mögen, die das Lob Gottes, des Herrn alles Sichtbaren und Unsichtbaren und des erhabenen Thrones, anstimmen.
- DIE NEUNTE FROHE BOTSCHAFT:
Wenn sich der Sünder in einem Zustand befindet, in dem er sich von allem außer Gott befreit und gelöst fühlt, muß er Gottes Vergebung und Verzeihung erbitten. Es ist nicht erlaubt, seine Sünden und Übertretungen vor irgend jemand auszusagen, weil dies Gottes Vergebung und Verzeihung nicht herbeiführt noch je herbeiführte. Diese Art des Bekennens der Sünden vor den Geschöpfen führt vielmehr zur Demütigung und Erniedrigung des Menschen, und Gott, erhaben in Seiner Herrlichkeit, wünscht die Erniedrigung Seiner Diener nicht. Wahrlich, Er ist der Mitleidvolle, der Wohltätige!
Allein mit Gott muß der Sünder um Gnade aus der See der Barmherzigkeit
flehen, Vergebung vom Himmel der Gnade erbitten und beten:
O mein Gott! O mein Gott! Bei dem Blut Deiner Geliebten, die von
Deinen lieblichen Worten derart hingerissen wurden, daß sie sich zu
der höchsten Höhe, dem Ort des erhabenen Märtyrertums, begaben,
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bei den Geheimnissen, die in Deiner Erkenntnis verborgen ruhen, und
bei den Perlen, die in der See Deiner Gaben liegen, bitte ich Dich:
Vergib mir, meinem Vater und meiner Mutter! Wahrlich, Du bist der
Barmherzigste der Barmherzigen! Es gibt keinen Gott außer Dir, dem
Vergebenden, dem Wohltätigen!
O mein Herr! Du siehst, wie dieser Irrende der See Deiner Gnade, dieser Schwache dem Reiche Deiner Macht, dieser Arme der Sonne Deines Reichtums zustrebt. O mein Herr! Versage ihm Deine Großmut und Barmherzigkeit nicht; beraube ihn nicht der Gnaden Deiner Tage und weise ihn nicht von Deiner Türe, die Du für alle in Deinem Himmel und auf Deiner Erde geöffnet hast.
Ach! Ach! Meine Übertretungen hinderten mich daran, mich dem Hofe Deiner Heiligkeit zu nähern, und meine Missetaten hielten mich davon ab, mich dem Zelte Deiner Herrlichkeit zu nahen. Ich habe in der Tat begangen, was Du mir verboten hast, und ich habe vernachlässigt, was Du mir zu tun befahlst. Bei dem König der Namen bitte ich Dich: Verordne für mich aus der Feder der Gnade und Barmherzigkeit, was mich näher zu Dir zieht und was mich von meinen Sünden, die sich zwischen mich und Deine Vergebung und Verzeihung drängten, reinigen wird. Wahrlich, Du bist der Mächtige, der Gütige! Es gibt keinen Gott außer Dir, dem Allmächtigen, dem Gnädigen!
- DIE ZEHNTE FROHE BOTSCHAFT:
Als eine besondere Gunst aus der Gegenwart Gottes, des Urhebers dieser großen Botschaft, haben Wir die Verordnung, wonach andere religiöse Bücher zu vernichten sind, aus den Episteln und Sendschreiben gelöscht.
- DIE ELFTE FROHE BOTSCHAFT:
Es ist gestattet, Wissenschaften und Künste aller Art zu studieren; doch sollten es nur solche Wissenschaften sein, die nutzbringend sind und zur Erhöhung der Menschheit beitragen. So wurde es von Gott, dem Gebieter, dem Weisen, bestimmt.
- DIE ZWÖLFTE FROHE BOTSCHAFT:
Jedem einzelnen von euch ist es zur Pflicht gemacht, sich in irgend einem Beruf — wie Künste, Gewerbe usw. — zu betätigen. Wir veranlaßten, daß die gewissenhafte Erfüllung eurer Berufspflichten dem Dienste Gottes, des Wahrhaftigen, gleich geachtet wird.
O Menschenkinder, denkt über die Barmherzigkeit und Gunstbeweise Gottes nach; alsdann dankt Ihm am Morgen und am Abend!
Vergeudet eure Zeit nicht mit Müßiggang und Trägheit, sondern beschäftigt
euch mit dem, was euch und anderen Nutzen bringt. Dies wurde
vom Horizont, von dem die Sonne der Weisheit und göttlichen Äußerungen
strahlt, in diesem Tablet verordnet. Der, der nur dasitzt und bettelt,
wird von Gott am meisten verabscheut. Haltet euch an das Seil der Mittel
und Wege; vollbringt eure Arbeit im Vertrauen auf Gott, den Schöpfer
aller Dinge! — Jeder Seele, die sich in einer Kunst oder einem Gewerbe
betätigt, wird dies vor Gott als eine gottesdienstliche Handlung
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angerechnet. Wahrlich, dies ist allein Seiner großen, überfließenden
Gunst zuzuschreiben.
- DIE DREIZEHNTE FROHE BOTSCHAFT:
Die Angelegenheiten des Volkes sind in die Hände der Männer (Mitglieder) des Hauses der Gerechtigkeit Gottes gelegt. Sie sind die Vertrauten Gottes unter Seinen Dienern und die Quellen des Gebotes in Seinen Ländern.
O Volk Gottes! Der Erzieher der Welt ist die Gerechtigkeit, denn sie besteht aus zwei Pfeilern: Belohnung und Vergeltung. Diese beiden Pfeiler sind zwei Quellen des Lebens für die Menschheit. Sofern für jeden Tag und für jede Zeit eine besondere Regelung oder Anordnung ratsam ist, sind die einzelnen Angelegenheiten den Mitgliedern des Hauses der Gerechtigkeit anvertraut, damit diese alsdann das ausführen, was ihnen zur gegebenen Zeit als geeignet erscheint. Die Seelen, die sich aufmachen, um Unserer Sache aufrichtig und Gott wohlgefällig zu dienen, werden (bei ihrem Dienst im Hause der Gerechtigkeit) durch die unsichtbaren göttlichen Eingebungen geführt. Ihnen zu gehorchen, ist allen zur Pflicht gemacht.
Die Verwaltungsgeschäfte unterstehen sämtlich dem Haus der Gerechtigkeit; aber in bezug auf gottesdienstliche Handlungen ist das zu beachten, was im Buch geoffenbart wurde.
O Volk Bahás! Ihr seid die Quellen der Liebe und die Aufgangsorte der Vorsehung Gottes! Befleckt die Zunge nicht mit Flüchen und Verwünschungen gegen irgend jemanden und behütet eure Augen vor dem, was unwürdig ist! Legt dar, was ihr besitzt! Wird es angenommen, so ist das Ziel erreicht; wenn nicht, so rechtet und streitet nicht mit denen, die es verwerfen, sondern überlaßt sie sich selbst und schreitet vorwärts, hin zu Gott, dem Beschützer, dem Selbstbestehenden!
Seid nicht die Ursache des Kummers oder gar des Aufruhrs und des Streites. Wir hoffen, daß ihr im Schatten des Baumes der göttlichen Vorsehung erzogen werdet und daß ihr euch in dem betätigt, was Gott von euch verlangt. Ihr seid alle die Blätter eines Baumes und die Tropfen eines Meeres.
- DIE VIERZEHNTE FROHE BOTSCHAFT:
Reisen zu unternehmen, um die Gräber der Verstorbenen zu besuchen, ist nicht notwendig. Wenn diejenigen, die die Mittel hierzu haben, den Betrag, den sie für eine solche Reise aufwenden würden, dem Haus der Gerechtigkeit geben, so wird dies vor Gott angenehm sein. Glücklich ist, wer dies tut.
- DIE FÜNFZEHNTE FROHE BOTSCHAFT:
Obgleich eine republikanische Regierungsform allen Völkern der Welt
nützt, so ist doch die Würde des Königtums eines der Zeichen Gottes. Wir
wünschen nicht, daß die Länder der Welt derselben beraubt werden. Wenn
die Staatsmänner diese zwei Regierungsformen in eine vereinen, wird
ihre Belohnung durch Gott groß sein. Entsprechend den Erfordernissen
früherer Zeiten bestimmten und befahlen frühere Religionen,
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Religionskriege zu führen. Sie untersagten jegliche Verbindung und jeden Verkehr
mit Andersgläubigen und verboten das Lesen gewisser Bücher. Aber in
dieser größten Offenbarung und höchsten Botschaft erstrecken sich die
Gunstbezeigungen und Gaben Gottes auf alle, und das unwiderlegliche
Gebot hierzu wurde schon in dem geoffenbart, was bereits vom Horizont
des Willens des urewigen Herrn ausging. Wir preisen Gott — erhaben und
verherrlicht ist Er! — für das, was Er an diesem gesegneten, mächtigen,
wunderbaren Tag geoffenbart hat.
Hätte jeder Mensch auf Erden hunderttausend Zungen, um Gott in alle Ewigkeit zu preisen und zu verherrlichen, so würde wahrlich sein Dank noch nicht für einen einzigen der in diesem Tablet erwähnten Gnadenbeweise genügen. Dies wird jeder mit Wissen und Erkenntnis, Weisheit und Verständnis ausgestattete Mensch bezeugen. Ich erbitte und erflehe von Gott — erhaben ist Er in Seiner Herrlichkeit — daß Er die Könige und Herrscher, die Aufgangsorte der Kraft und Quellen der Macht, befähigen möge, Seine Vorschriften und Gebote auszuführen.
Wahrlich, Er ist der Kraftvolle, der Mächtige, der alles Gewährende.
- --------
Deutsch aufgrund der englischen Übersetzung von ‘Ali Kuli Khán, Chicago 1917; vgl. „Bahá’í World Faith, Selected Writings of Bahá’u’lláh and ‘Abdu’l-Bahá“, Wilmette, Ill., 1943/1956, S. 191 ff.
- 1) Kawthar = arab. „Fülle, Überfluß“. Im Islám Name eines Sees oder Flusses im Paradies. Vgl. Qur‘án 108.
- 2) Mutterbuch = Kitáb-i-Aqdas, das „Buch der Gesetze“ Bahá’u’lláhs. Vgl. „Gott geht vorüber“ von Shoghi Effendi, Frankfurt 1954, S. 202 ff.
Religion ist der Sieg über die Furcht[Bearbeiten]
- Die Feier des Weltreligionstages 1962 in Stuttgart
Über Sinn und Ziel des Weltreligionstages, der heuer zum elften Male begangen wurde, haben wir in Heft 4 (April 1961) der „Bahá’í-Briefe", S. 84 ff., berichtet. Auch in diesem Jahr hatten die Bahá’í — in zahlreichen deutschen Städten wie in der ganzen Welt — wieder zu diesem feierlichen Bekenntnis der Einheit und Wesensgleichheit aller Offenbarungsreligionen aufgerufen.
„Religion ist der Sieg über die Furcht.“ Dieses Wort von Sarvepalli Radhakrishnan, dem indischen Religionsphilosophen und Staatsmann, stand als Motto über den Ansprachen der Feierstunden am 21. Januar 1962, mit denen sich in Hamburg, Hannover, Frankfurt, Heidelberg, Karlsruhe, Stuttgart, Nürnberg und andernorts Vertreter des Hinduismus, des Buddhismus, des Judentums, des Islams, verschiedener christlicher Bekenntnisse und der Bahá’í-Religion an die Öffentlichkeit wandten. Repräsentativ für diese Veranstaltungen, die in der Tagespresse ein durchweg positives Echo fanden, sei hier die Morgenfeier in Stuttgart geschildert.
- D. Red.
- *
Über 400 Menschen, Angehörige der verschiedensten Glaubensgemeinschaften,
hatten sich zu der vom Geistigen Rat der Bahá’í in Stuttgart im
Zusammenwirken mit der Überkonfessionellen Arbeitsgemeinschaft Stuttgart
veranstalteten Morgenfeier im großen Saal des Gustav-Siegle-Hauses
eingefunden. Ausgewählte Texte aus den Offenbarungsschriften aller
[Seite 184]
Hochreligionen und Klavierstücke alter Meister, die Karl Kleber zu
Gehör brachte, leiteten nach einführenden Worten von Dr. Adelheid
Schwarz zu den Ansprachen von Präsident J., Hoffmann,
Dr. O. A. Isbert, Professor D. Dr. Friedrich Heiler
und Dr. Eugen Schmidt über.
Präsident Hoffmann von der Tempelgesellschaft ging von der „Atomangst“ der heutigen Menschheit aus. Die wahren Gläubigen nicht nur der christlichen Bekenntnisse, sondern aller Religionen setzen diesem Zeitgefühl die Vorstellung von der Geborgenheit im Glauben entgegen, die ihnen zu einem wahren Sieg über alle irdische Furcht verhilft.
Dr. O. A. Isbert sprach als Kenner der indischen Religionen aus der Schau des Hinduismus heraus: Wenn die Materialisten behaupten, daß alle Religion aus der Furcht entsprungen sei, mag dies, vom Rein-Menschlichen her betrachtet, eine gewisse Berechtigung haben; aber es trifft nicht den Kern der Sache. Das Sanatana-dharma, das ewige religiöse Gesetz, begründet nach hinduistischer Lehre eine urewige geistige Bruderschaft aller Menschen in ihrem Streben nach Vervollkommnung. Yoga, der Weg der Gottesfurcht, und Bhakti, die reine Gottesliebe, die sich im Menschen verkörpert, sind die Mittel des Suchers, drei Grundforderungen für sein Erdendasein zu erfüllen: Freiheit von Begierde, Wahrhaftigkeit und Gewaltlosigkeit. Der so herangereifte Mensch hat dann, wie von selbst, auch alle Furcht überwunden.
Kosmische Christologie — Einheit aller Religionen
Professor D. Dr. Friedrich Heiler, Direktor der Religionskundlichen Sammlung der Universität Marburg, war in letzter Minute durch eine Erkrankung verhindert, an der Feierstunde teilzunehmen. Seinen Ausführungen, die verlesen wurden, entnehmen wir folgende Einzelheiten:
„In der heutigen Zeit hat die Christenheit in ungeahnter Weise die verschlossenen Türen zu den anderen Religionen aufgestoßen. Auf der Tagung in New Delhi im Dezember des letzten Jahres haben Vertreter der abendländischen wie der asiatisch-afrikanischen Kirchen nicht nur von den nichtchristlichen Brüdern gesprochen, die zur gleichen Menschheitsfamilie gehören, sondern feierlich erklärt, daß längst ehe die christlichen Boten von Jesus Christus Zeugnis abgelegt haben, dieser ihnen zu den nichtchristlichen Völkern vorausgeeilt sei, ja, selbst in dem dunkelsten Winkel der Erde habe längst vor dem Beginn christlicher Mission das Licht Christi geleuchtet. Ein lutherischer Professor aus Chicago hat — freilich unter dem Widerspruch deutscher Lutheraner — eine neue kosmische Christologie gefordert, wie das schon 1960 ein evangelischer Theologe auf dem 10. internationalen religionsgeschichtlichen Kongreß in Marburg getan hatte. Dieser sprach von dem ‚ungeheuerlichen‘ Wort des ‚größeren Christus‘, d.h. des Logos-Christus, dessen umfassendes Offenbarungswirken nicht nur die ganze vergangene, sondern auch heutige nichtchristliche Menschheit umfaßt. Ich erinnerte damals an das noch gewaltigere Wort Augustins von dem ‚ganzen Christus‘, dessen Wirken nicht auf seine irdische Erscheinung in Jesus von Nazareth beschränkt ist.
In dieselbe Richtung stieß auch der derzeitige Papst Johannes XXIII.
vor, als er bei der Weihe von 14 neuen Bischöfen für die Missionsländer
[Seite 185]
am Pfingstfest des vorigen Jahres im Petersdom zu Rom erklärte: ‚Diese
Länder, aus denen ihr kommt oder für die ihr geweiht werdet, bewahren
und verherrlichen mit Recht das väterliche Erbe uralter Kulturen, deren
heimliche Schönheiten, übersät von offenkundigen Spuren der geoffenbarten
Wahrheit, Gegenstand eines aufmerksameren Studiums werden
könnten und als höchst wertvoll sich erweisen für die monumentale
Sammlung und Erkenntnis des menschlichen Geisteslebens. Laßt uns
Gott dafür preisen, daß der Eintritt dieser Völker in die internationalen
Beziehungen auf breiter Ebene von allen ehrlichen und urteilsfähigen
Menschen als ein edler Ansporn aufgenommen wird für die Festigung der
übernationalen Gemeinschaften, die bestimmt sind zum gemeinsamen
Dienst an der Kultur, an der geistigen und leiblichen Wohlfahrt und am
Frieden.‘
Solche bahnbrechenden Bekenntnisse enthüllen uns die tiefste Einheit aller Religionen. Ein Beispiel für diese Einheit ist die Überwindung der Furcht durch die in der Religion siegenden Macht der Wahrheit und Liebe. Alle Religionen suchen die Furcht zu überwinden... Aus dieser dunklen Atmosphäre der Furcht haben die großen Gottesboten, die weisen Lehrer, die Mystiker und Propheten, in lichte Höhen sich erhoben... Dieser Aufruf zur Furchtlosigkeit geht aus dem Alten Testament ins Neue über, nur ertönt er hier noch lauter. Die Weihnachtsbotschaft des Engels beginnt mit dem Ruf: „Fürchtet euch nicht!“... Das Symbol für das Zurücktreten des zürnenden Gottes hinter dem liebenden ist das göttliche Kind in der Krippe. Mag der ‚absolute‘ oder ‚nackte‘ Gott, der ‚Gott an sich‘, ein Flammenmeer des Zornes sein, der ‚inkarnierte‘ Gott, der ‚mit einer so lieblichen Maske bekleidet‘ ist, ist ‚eitel lauter Liebe und Huld‘ — so belehrt uns Martin Luther...
Viele Menschen blicken heute mit Furcht in die Zukunft, Das große Schreckensgespenst des Krieges und der Atombombe läßt sie nicht zur Ruhe kommen. Wer aber im Ewigen verwurzelt ist, ist frei von Furcht. Das Ewige ist unzerstörbar; die menschliche Seele, die am Ewigen Anteil hat, kann von keiner Vernichtung betroffen werden. Und die Liebe, welche das Wesen des Ewigen ausmacht, die Kraft, welche nach Dantes Wort ‚die Sonn’ bewegt und alle Sterne’, ist unzerstörbar. So wenig der Ewige selbst sich fürchten kann, so wenig braucht der mit dem Ewigen Verbundene vor ihm oder vor irgend etwas sich zu fürchten. Und so wenig der liebende Gott sein Geschöpf fürchtet, so wenig braucht dieses Geschöpf seinen liebenden Schöpfer zu fürchten. Vor dem Mysterium der ewigen Liebe stehen wir in anbetender Ehrfurcht. Aber diese Ehrfurcht ist nicht Furcht, sondern grenzenloses Staunen, demütiges Sich-Beugen und brennende Sehnsucht nach liebendem Einswerden. In der Anbetung dieses Liebesmysteriums wollen wir Christen uns mit den Bekennern aller hohen Religionen vereinen und mit dem Apostel ihnen zurufen: ‚Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.‘ “
Einheitsbewußtsein überwindet die Furcht
Auch Dr. Eugen Schmidt ging von der allgemeinen Furcht aus, die
heute alles menschliche Leben überschattet: „Der Siegeszug der Wissenschaft
und der Technik, das Atomzeitalter, die beginnende Erschließung
des Weltraums — dieser epochale äußere Fortschritt der Menschheit
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wurde um den Preis der existentiellen Bedrohung unseres Planeten
erkauft... Frieden aus Furcht vor der Macht des anderen ist kein wahrer
Frieden und verursacht immer größere Unsicherheit und Verwirrung.
Die Zwielichtigkeit der Weltlage, die argwöhnische Entfremdung zwischen
den politischen Mächtegruppen, der Rüstungswettlauf lassen in
erschreckendem Maße die metaphysische Entwurzelung der
Welt erkennen.
Allein durch den wandelnden und erlösenden Geist der Religion läßt sich die Furcht vor einem Atomkrieg, der, wie Radhakrishnan in Frankfurt sagte, nur ‚in einer wilden Orgie der Zerstörung enden‘ kann 1), überwinden. Furcht und Angst sind für die ganze Menschheit unteilbar geworden. Wir stehen an einem Wendepunkt, in einer Wandlung des religiösen Bewußtseins: Der exklusive Absolutheitsanspruch der Weltreligionen muß im Blick auf ihren gemeinsamen Ursprung und auf die lebensnotwendige Einigung der Völker und Rassen unbedingt überwunden werden. Damit das Religiöse in der heutigen Weltlage als die einende, gemeinschaftsbildende, furchtüberwindende, friedenstiftende Kraft wirksam werden kann, gilt es zu erkennen, daß den geschichtlichen Erscheinungsformen der Hochreligionen letztlich die gleiche, unteilbare, göttliche Wahrheit als Wort und Wille Gottes in fortschreitender Offenbarung zugrundeliegt.
Bahá’u’lláh spricht: ‚Religion ist ein strahlendes Licht und eine uneinnehmbare Feste für den Schutz und das Wohlergehen der Völker der Welt; denn die Gottesfurcht treibt den Menschen an, sich an das festzuhalten, was gut ist, und alles Böse zu meiden. Sollte die Lampe der Religion verdunkelt werden, so werden Chaos und Verwirrung die Folge sein, und die Lichter der Ehrlichkeit, der Gerechtigkeit, der Ruhe und des Friedens werden zu scheinen aufhören... Das Wohlergehen der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, wofern nicht und ehe nicht ihre Einheit fest begründet ist... So mächtig ist das Licht der Einheit, daß es die ganze Erde erleuchten kann... Dieses Ziel überragt jedes andere Ziel, und dieses Streben ist der Fürst alles Strebens.‘ 2)
Aus der Einheit Gottes und Seiner Offenbarer, der transzendenten Einheit der geschichtlichen Religionen wird es uns zur Gewißheit, daß wir lernen müssen und lernen können, aus religiöser Überzeugung und aus ganzem Herzen uns in den Dienst der Menschheit als einer einzigen Familie zu stellen. Ebenso sicher, wie eine ausschließlich nationalstaatliche Geschichtsbetrachtung von einer planetaren Konzeption abgelöst werden muß, ist in diesem Umbruch der geistigen Entwicklung des Menschengeschlechts der göttliche Auftrag aller Weltreligionen, in wechselseitiger Achtung und Liebe aus letzter Verantwortung eine Weltgemeinschaft des Geistes, ein Menschheitsbewußtsein, zu begründen. Der Weltfriede kann dauerhaft nur durch die weltumfassende Verbundenheit der Herzen — der Wohnstätten Gottes — errichtet werden,
Die Wahrheitserkenntnis, die uns die Religion durch göttliche Führung, Liebe und Gnade in solcher Schau vermittelt, führt zum endgültigen Sieg über alle Furcht und Angst.“
- P.M.
- 1) vgl. „BAHA’I-BRIEFE“ Heft 7/Januar 1962, Seite 172 f.
- 2) vgl. Shoghi Effendi, „Die Entfaltung der neuen Weltzivilisation“, Stuttgart 1936, Ss. 32, 33 und 52.
‘Abdu’l-Bahá:
Gott und das Wesen der Natur[Bearbeiten]
Antwort auf Fragen von Shaykh ’Ali Akbar-i-Shahíd über einige Verse aus dem „Tablet der Weisheit” von Bahá’u’lláh 1)
O du Herold des Bundes!
Du hast zwei wichtige Fragen über die Auslegung zweier göttlicher Verse gestellt. Diese Verse bedürfen eigentlich einer ausführlichen Beschreibung in einem großen Buch. Aber ‘Abdu’l-Bahá fühlt sich nicht wohl und ist mit Arbeit überhäuft. Briefe kommen von Osten und Westen
- Bahá’í -Glaube wächst in Borneo
- Das ist eine Gruppe Bahá’í aus Ulu Limbang, im Norden von Borneo. Nord-Borneo ist derzeit in drei Staaten unterteilt. Die beiden größeren, Sarawak im Westen und Britisch Nord-Borneo im Osten, sind englische Kolonien. Brunei liegt in der Mitte und ist ein Sultanat unter britischem Hoheitsschutz. Der Bahá’í-Glaube wurde 1951 zum erstenmal in Sarawak gelehrt, 1954 in Brunei und 1960 in Nord-Borneo. Die Eingeborenen leben zum großen Teil noch unter äußerst primitiven Verhältnissen. Sie wohnen in Pfahlbauten ca. drei bis fünf Meter über dem Erdboden und ernähren sich vorwiegend vom Reisanbau und der Schweine- und Geflügelzucht. Als gebräuchlichstes Verkehrmittel dient das selbstgebaute Paddelboot, da große und kleine Flüsse sich weitverzweigt durch das Land schlängeln. Die Bahá’í sind im ganzen Land sehr aktiv. Die Zahl der Menschen, die sich zum Bahá’í-Glauben bekennen, nimmt ständig zu.
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wie der Regen vom Himmel; unzählige Fragen werden gestellt, und zahllose
allgemeine Anordnungen sind zu treffen. Wie kann Er da Zeit zur
ausführlichen Auslegung dieser beiden herrlichen Verse finden? Deshalb
nur eine kurze Erläuterung:
- „Was war, ist schon zuvor dagewesen, aber niemals so, wie du es heute siehst.“
Aus diesem gesegneten Vers geht klar und deutlich hervor, daß das Dasein im Fortschritt begriffen ist — wie es auch bei den Gelehrten und Philosophen des Volkes unbestritten ist, daß die Welt des Daseins sich entwickelt und fortschreitet, das heißt, von einem Zustand in einen andern übergegangen ist.
Manche europäische Philosophen haben sich aber die Entwicklung so gedacht, daß eine Art in die andere übergeht. Zum Beispiel sei das Tier fortgeschritten, bis es Mensch geworden sei. Aber nach den Propheten trifft diese Anschauung nicht zu, wie es auch in dem Buch „Beantwortete Fragen“ steht. Entwicklung und Fortschritt vollziehen sich vielmehr innerhalb der Art selbst. So durchläuft zum Beispiel der Same verschiedene Stufen in den vorembryonalen und embryonalen Welten; dann folgen die Welten des Säuglings, des Kindes, der Reife, des Erwachsenen. Hier ist die Art selbst fortgeschritten, das heißt, der Same, etwas Lebendiges, hat sich fortschreitend entwickelt, bis er die Stufe erreicht hat, die auf den „besten der Schöpfer“ 2) hinweist,
- „Und das, was existiert, entsteht aus der schaffenden Wärme.“
Das heißt: Die Materie und der Urstoff der Dinge sind Ätherenergie; diese ist unsichtbar und durch Erscheinungen beweisbar; zu den Erscheinungen gehören elektrische Kraft, Licht und Wärme, die Ätherwellen sind. Die Naturwissenschaft hat dies bestätigt und den „Ätherstoff“ genannt. Dieser „Ätherstoff“ ist aktiv und passiv wirksam, d. h. in der Welt der stofflichen Dinge ist er ein Zeichen des Urwillens: „Gott schuf die Menschen durch den Willen und den Willen durch Sich Selbst.“ Also wirkt jener „Ätherstoff“ auf der einen Seite aktiv, denn Licht, Wärme und elektrische Kraft sind seine Erscheinungen. Auf der anderen Seite ist er passiv wirksam, er wird wahrnehmbar. Zum Beispiel besteht das Licht aus Wellen, die im „Ätherstoff“ entstehen. Durch diese Wellen wird das Sehvermögen gereizt, und die Wirkung ist Sehen; genau so, wie in der Luft Wellen entstehen, durch die der Hörnerv gereizt wird; dieser Reiz ist ein Laut, und die Wirkung ist Hören.
- „Die Natur in ihrem Wesen ist die Offenbarung Meines erweckenden und gestaltenden Namens.“
Die Philosophen sind der Meinung, daß die allumfassende Natur nicht
wahrnehmbar und nicht erkennbar sei: Das Begriffsvermögen sei schwach,
und die Vernunft unzureichend. Aber das Geschehen in der Welt des
Daseins gehöre notwendig zum Wesen der Natur, wie etwa Schlaf,
Hunger und Durst zu den wesentlichen Notwendigkeiten des menschlichen
Körpers und das Brennen zum Wesen des Feuers gehören. Kurz,
die Philosophen beziehen alle Geschehnisse, alle Zufälligkeiten und
Vorgänge, ja sogar jede Bewegung innerhalb der Reiche der Schöpfung und
das Wachstum der Dinge auf die Natur, die als Urquell aller Dinge
aufgefaßt wird. Bahá’u’lláh meint: Diese Natur, die sie als Ursprung der
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Dinge und Quelle aller Formen des Daseins annehmen, ist der
Offenbarungsort Meines Namens, des „Erweckers“ und des „Gestalters“; das
heißt: der heiligen Wesenheit, die weder zu erkennen noch zu erfassen,
weder zu preisen noch zu beschreiben ist, die unvorstellbar ist und außerhalb
der Fassungskraft liegt, geheiligt über alle Attribute, über jeden Lobpreis
und jede Beschreibung, erhaben selbst über jeden Versuch, sie auch
mit dem Begriff „Ursache der Ursachen“ auszudrücken. Dies ist die Erste
Ursache, von der alle Dinge ausgehen, die Er (Bahá’u’lláh) als die
„allumfassende Natur“ bezeichnet; denn alle Wirklichkeiten und Geschehnisse,
welche die Philosophen der Natur zuschreiben, sind genau dieselben Kennzeichen
und Vollkommenheiten, mit denen in den Heiligen Büchern der Urwille
erklärt worden ist. Es ist klar, daß der Urwille der Offenbarungsort
des Namens „Gestalter“ ist.
- --------
Entnommen aus „Má’dih-Asamání“, Band 2, Seite 140-143 (Sammlung von Ishráqi-Khávarí).
- 1) Bahá’u’lláh, „Tablet der Weisheit“, 19-Tagebrief 9/15 vom 20. 8. 58, S. 3 und 4
- 2) vgl. Qur'án 23:14
Religionswissenschaflliche Kurzinformationen (III)[Bearbeiten]
Der Hinduismus
Man spricht vom Hinduismus oft als von einer „gewordenen“, nicht „gestifteten“ Religion. Dem Namen nach bedeutet Hinduismus: die Religion des vom Fluß Indus durchzogenen Landes; mit anderen Worten: die „indische“ Religion. Der Name des Flusses Indus (Hindu) ist in dieser Form nicht indisch, sonder persisch; der entsprechende altindische Name ist Sindhu. Es handelt sich daher um eine nationale, in gewissem Sinne der alten römisch-griechischen ähnliche Religion. Man kann nicht Hindu werden, man wird als Hindu geboren. So ist der Hinduismus typologisch als eine archaische, von den neueren, prophetisch gestifteten, fast immer übernationalen Religionen grundverschiedene Religion zu betrachten. Wir sollten uns auch der Antwort erinnern, die ‘Abdu’l-Bahá auf die Frage einer amerikanischen Bahá’í gab, als er sagte, Buddha und Konfuzius seien geistige Könige in alten Epochen gewesen; ihr Zyklus sei nun vollendet. Und Bahá’u’lláh spricht vom „Jubelfest“ der überkommenen Religionen durch Seine Sendung.
Das hohe Alter solcher „gewordenen“ Religionen bedeutet aber nicht,
daß sie keine Stifter oder Offenbarer kennen würden. Auch die Wissenschaft
vermutet, daß am Anfang dieser typologisch ahistorischen Religionen,
im Nebel der Urwelt, gewisse Offenbarerpersönlichkeiten gestanden
haben. Traditionell betrachten manche Hindus Krishna (der Schwarze)
als den Stifter ihrer Religion. Es handelt sich aber um eine Persönlichkeit,
von der wir geschichtlich nichts wissen — um ein übernatürliches
Wesen. H. von Glasenapp sagt: „Der indische Geist hat weder das Bedürfnis,
alle Glaubensinhalte zu einem starren System zusammenzufassen, noch die
Erinnerung an die Persönlichkeiten, welche sie schufen,
festzuhalten.“ („Die fünf großen Religionen“, Düsseldorf/Köln, 1951/52,
S. 39). Es ist deshalb wissenschaftlich äußerst schwierig, jetzt festzustellen,
wer diese Persönlichkeiten gewesen sind, und wann sie gelebt
haben. Es gilt, sich vor Augen zu halten, daß der Hinduismus keine
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einheitlich und logisch organisierte Religion ist, sondern eine Menge
verschiedener theologischer und philosophischer Schulen, die vom Atheismus
bis zum persönlichen Theismus reichen. Das Gemeinsame ist lediglich
das Bewußtsein der Hindus, einer Nation und einer Religion von Menschen
anzugehören, welche die alten Riten und Gebräuche entweder befolgen
oder — im Falle der modernen, „aufgeklärten“ Hindus — als historisch
wertvolle, menschlich-heilige Traditionen betrachten.
Nach den Bahá’í-Lehren haben alle Gottesoffenbarer ein Bündnis mit der Menschheit oder mit einer Nation geschlossen. Welches ist das Bündnis von Krishna, wenn wir ihn als den göttlichen Stifter der Hindu-Religion betrachten wollen? Die Bhagavadgita, der von den modernen Hindus vielleicht am höchsten verehrte Grundriß der Hindulehren, zeigt uns in schöner Sanskritdichtung Krishna als Propheten der Unsterblichkeit der Seele, als Helfer der Menschheit. „Er (der Geist) wird nicht geboren und stirbt nie... Der Ungeborene, Ewige, Unsterbliche, Uralte wird nicht getötet, wenn der Körper getötet wird... Nicht ihn durchbohren die Waffen, nicht ihn verbrennt das Feuer, nicht ihn machen die Wasser naß, nicht ihn dörren die Winde aus!“ (Bhagavadgita, II, 20, 23). „Wenn immer die Gerechtigkeit verfällt und die Ungerechtigkeit triumphiert, offenbare Ich Mich wieder, um die Guten zu beschützen, um die Unheilvollen zu zerstören, um die Richtigkeit fest wiederherzustellen in jedem Weltalter, werde Ich geboren.“ (Bhagavadgita, IV, 7, 8).
Das Wiederkommen der Avatara (Offenbarungen) der höchsten Gottheit (Krishna wird als ein Avatara von Gott Vishnu verehrt) in jedem Weltzyklus ist einer der Grundbegriffe der Hindureligion. Gott verläßt die Welt nie. In diesem Sinne wird Bahá’u’lláh von den zahlreich Bahá’í gewordenen Hindus als der moderne Avatara von Krishna-Vishnu betrachtet.
„Die Gottheit“, haben wir gesagt. Aber welche? Indra, Vishnu, Brahma,
Shiva? Oder ein unpersönliches abstraktes „Göttliches“? Diese Frage, die
von den verschiedenen hinduistischen Schulen verschieden gelöst wurde,
zeigt, daß der Hinduismus als Religion vom Hinduismus
als Philosophie ganz verschieden ist. Diesen Unterschied
zu verkennen, kann zu Mißverständnissen führen. Manche moderne Bewunderer
des Hinduismus begehen diesen Fehler, gleichsam als ob sie, von den Lehren eines Plato,
Aristoteles, Epikur oder Seneca bezaubert, uns überzeugen wollten, daß
die altgriechische oder die altrömische Religion eine der höchsten
Religionen wäre. Tatsächlich ist der Hinduismus als Religion eine
ziemlich primitive, einer archaischen Epoche der Entwicklung des
Menschengeistes entsprungene Religion. Gott ist nicht ein höchstes
ethisches Prinzip, sondern vielmehr eine die ganze Welt durchfließende
Naturkraft, die sich in zahlreichen Göttern offenbart. Aus diesem Grund
konnte sich einerseits eine tiefsinnige, tendenziös monistische Philosophie,
andererseits aber auch ein wildes Wirrwarr von Göttern, Symbolen, mehr oder
weniger magischen Riten und Formeln entwickeln. Dogmen im westlichen
Sinne des Wortes kennt der Hinduismus nicht; er hat aber sehr strenge
soziale Gebräuche und ein striktes Kastenwesen. Als Grundbegriffe des
Hinduismus werden auch zwei halb philosophische, halb religiöse Lehren,
die untereinander sehr eng zusammenhängen, betrachtet: die des
Karma („Tat“) und die der Seelenwanderung.
Die guten oder bösen Taten
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schaffen — mehr metaphysisch als ethisch — ein Schicksal, einen Körper,
und zwingen zu unendlichen, guten oder bösen Wiedergeburten (samsara
= „Schicksalskette“). Endziel der Seele ist das Freiwerden (moksha)
von dieser Kette, damit sie unpersönlich und endgültig in das Absolute
eintreten kann. Diese Lehre, die zum erstenmal in den Upanishaden klar
ausgedrückt wird, könnte wohl die philosophische Umdeutung einer
älteren, einfacheren und rein ethischen Lehre von der Belohnung der
Taten im Jenseits sein.
Die Texte, die für die Hindus als von Gott (oder von den die absolute Gottheit vertretenden Göttern und archaischen Propheten, rishi) geoffenbart gelten, sind hauptsächlich die vier Veden (Rig-, Sama-, Yahur- und Atharvaveda). Veda heißt die „Weisheit“; Rig = „Hymne“, Yajur = „Opferformel“, Ssama = „Melodie“, Atharva = „Priester“. Der Rigveda ist der älteste dieser Texte (sein Kern entstand um 1500 v. Chr.); die anderen wurden in sehr verschiedenen Zeiten verfaßt (bis ungefähr 1500 n. Chr.). Die eigentlichen Veden enthalten Hymnen und für den Kultus geeignete Formeln und Lieder; zu diesen vier Vedas gehören auch drei Arten von Schriften anderen Charakters, nämlich Brahmanas (Opfertexte), in welchen die heiligen Handlungen beschrieben und erklärt werden, Aranyakas („anachoretische Texte“), welche die heiligen Riten mystisch-theoretisch behandeln, und die Upanishaden (philosophische Traktate). Alle diese Texte werden als Shruti („das Gehörte“, Offenbarung) betrachtet. Außerdem gibt es eine ungeheure Menge von Texten, die als Smriti („das Erinnerte“, Überlieferung) verehrt werden. Der berühmteste dieser Texte ist die schon zitierte Bhagavadgita. Der Grundgedanke der sekundären Shruti-Texte (Brahmanas, Aranyakas, Upanishaden) ist die äußerst sorgfältige
- Gebet für die Menschheit
- O Du mitleidvoller Herr, der Du großmütig und hilfsbereit bist! Wir sind Deine Diener und suchen Schutz in Deiner Vorsehung. Gieße Deine Gunst über uns aus, verleihe unseren Augen Licht, unseren Ohren Hörvermögen, und senke Liebe und Verständnis in unsere Herzen. Laß uns freudig und glücklich werden durch Deine Frohen Botschaften. O Herr! Zeige uns den Pfad zu Deinem Reich und belebe uns mit dem Hauch des Heiligen Geistes. Schenke uns ewiges Leben und verleihe uns immerwährende Ehre. Einige die Menschheit und erleuchte den Menschengeist. Laß uns alle Deinen Weg beschreiten, nach Deinem Wohlgefallen trachten und die Geheimnisse Deines Reiches suchen. O Gott! Einige uns und verknüpfe unsere Herzen mit Deinen unzertrennlichen Banden. Du bist wahrlich der Geber, Du bist der Gütige und Du bist der Allmächtige!
- ‘Abdu’l-Bahá
- (Bahá’í Prayers No. 31, Wilmette 1957)
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Regelung der Riten, besonders des Opfers (brahman), und eine
tendenziell pantheistische Interpretation des Opfers selbst und seiner magischen
Kraft. Tat tvam asi („Das bist du“) ist die Grundlehre der
Upanishaden — in anderen Worten: Du (Dein intimster Geist, atman)
bist das höchste Prinzip, das die Welt belebt und regiert (brahman,
das als magisches Weltprinzip betrachtete Opfer).
Die Geschichte der Hindureligion pflegt man in drei Perioden einzuteilen: die vedische Periode (2. Jahrtausend v. Chr. bis ungefähr 800 v. Chr.), in der eine Naturreligion herrschte; die klassische Zeit (800 v. Chr. bis 1000 n. Chr.), als die elastische Form der alten Naturreligionen eine Fülle neuer Anschauungen und Bräuche in sich aufnahm. Dieses Neue spiegelt sich in den großen Epen Mahabharata und Ramayana, in den 18 Puranas und den zahlreichen Lehr- und Gesetzbüchern wieder. In dieser Epoche sind zwei große „Häresien“ des Hinduismus, die buddhistische (Gautama Buddha, 560-480 v. Chr.) und die jainistische (Jaina Mahavira, 549-477 v. Chr.) zu unabhängigen Religionen geworden. Der Jainismus, eine streng asketische und vegetarische Heilslehre, blieb aber auf einige Gebiete Indiens beschränkt. Die neuere Periode (von. 1000 n. Chr. bis auf unsere Zeit) weist — auch unter dem Einfluß des fast acht Jahrhunderte lang Indien beherrschenden Islams — theistische Tendenzen auf: bhakti, die persönliche Verehrung einer bestimmten, als einzigen Gott betrachteten Gottheit, insbesondere Vishnu und Shivas, und die Befreiung vom Samsara durch diese persönliche Verehrung und Liebe. Besonders unter dem Einfluß des übernationalen, gegen die Kastenordnung gerichteten Islams und später des Christentums traten im modernen Indien Bewegungen hervor, welche dem Hinduismus einen über die Grenzen Indiens hinausreichenden universalen Charakter geben wollten, wie die Brahmo-Samaj („Gemeinde der Gottesgläubigen“, Raja Rammohun Roy, Calcutta, 1828) oder die Ramakrishna-Mission (Ramakrishna, der letzte der großen Hindu-Heiligen, starb 1886). Stark nationalistischen Charakter weist dagegen die Arya-Samaj („Gemeinde der Arier“, Dayanand Sarasvati, 1875) auf.
Es ist für uns Bahá’í kein Zufall, daß diese Reinigungsversuche des Hinduismus mehr oder weniger mit dem Kommen der Bahá’í-Offenbarung zusammenfallen. Die zahlreichen modernen Hindus, welche den erstarrten, veralteten Aberglauben ihrer Religion und ihr äußerst konservativ-reaktionäres soziales System nicht mehr als geistig lebendige, für unsere Zeit gültige Kraft betrachten, welche aber die ewigen religiösen Werte der frommen Haltung des Hinduvolkes und der großartigen menschlichen Hinduphilosophie nicht verwerfen wollen, finden in Bahá’u’lláh als letztem, modernem „Avatara“ Gottes die Vollendung auch ihrer Religion. Sind nicht die ethischen Grundlehren der Bahá’í-Religion in einem Spruch des unter islamischem Einfluß stehenden großen Hindu-Dichters Kabir (1440-1518) glänzend ausgedrückt?
- „Ramas Haus, das steht im Osten,
- Allah nahm im Westen Wohnung.
- Schau’ in die Herzen, suche darin
- und du wirst sie beide finden.“
- Professor Dr. A. Bausani, Rom.
In Memoriam[Bearbeiten]
Amelia Collins
Amelia Collins, Hand der Sache Gottes, von so vielen Bahá’í in der weiten Welt gekannt, verehrt und geliebt, ist am 1. Januar 1962 aus dieser sichtbaren Welt aufgestiegen in das geistige Reich, dem sie auf Erden so lange in treuer Hingebung gedient hatte.
Sie wurde am 7. Juni 1873 in Pittsburgh geboren. Ihr Vater war ein lutherischer Pastor gewesen, ein Emigrant aus Deutschland. 1919 fand sie den Weg zum Bahá’í-Glauben. 1923 machte sie mit ihrem Gatten die erste Pilgerreise nach Haifa. Fast vier Jahrzehnte ihres gesegneten Lebens wurden durch unermüdliche Tätigkeit für ihren geliebten Glauben geadelt: in örtlichen Geistigen Räten in Kalifornien und in Illinois, seit 1924 auch im Nationalen Geistigen Rat der Bahá’í in den Vereinigten Staaten und Kanada, auf ausgedehnten Lehrreisen, die sie zu fast allen Bahá’í-Zentren in Nordamerika und später auch in Lateinamerika führten, häufig im ausdrücklichen Auftrag des geliebten Hüters. Sie war es auch, die als erste den Indianern Nordamerikas die Botschaft brachte und weitere Lehrer dorthin aussandte. Zahllos waren ihre Spenden, die vielen Unternehmungen der örtlichen, nationalen und internationalen Institutionen des Glaubens zugute kamen.
1937 war sie ein zweites Mal als Pilgerin in Haifa gewesen, nunmehr soeben zur Witwe geworden. Und nach dem zweiten Weltkrieg hatte sie als eine der ersten Bahá’í-Freunde aus der weiten Welt mehrere Länder Europas besucht, darunter auch Deutschland.
All diese so verschiedenartigen Verdienste würdigte der Hüter 1951, als
er Amelia Collins zum Mitglied und zur stellvertretenden Vorsitzenden
des damals ins Leben gerufenen Internationalen Bahá’í-Rates, des
Vorläufers des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, ernannte, und im
Dezember des gleichen Jahres zur Hand der Sache Gottes. So verlegte sie
nun ihren Wohnsitz nach Haifa. Noch zu des Hüters Lebzeiten war sie
von ihm zu seiner Vertreterin auf der Internationalen Bahá’í-Konferenz
1958 in Frankfurt bestimmt worden. Und noch einmal war sie dort
gewesen zur Grundsteinlegung des Hauses der Andacht bei Langenhain
am 20. November 1960.
[Seite 194]
Viele von uns haben sie dort kennenlernen dürfen, trotz des hohen Alters und der so schmerzhaften Gelenkversteifungen, die sie quälten, eine unermüdliche Dienerin Bahá’u’lláhs, ein unvergeßliches Bild strahlender Würde, Güte und Ergebenheit, eine Siegerin über die Leiden des Körpers, eine getreue Pilgerin auf dem Pfade zur Erfüllung der Worte, die der Meister in Seinem Tablet vom 6. Dezember 1919 ihr zusandte: „... mögest du täglich fortschreiten im Königreich, ein himmlischer Engel werden, bestätigt durch den Hauch des Heiligen Geistes, und einen Bau errichten, der in alle Ewigkeit fest und unerschütterlich bleiben wird.“
- B.A/Dr, A.M.
Aus der Bahá’í-Geschichte[Bearbeiten]
Der „König der Märtyrer” und der „Geliebte der Märtyrer“
Wenn man die Geschichte der beiden Brüder erzählen will, die
Bahá’u’lláh den „Geliebten“ und den „König der Märtyrer“ genannt hat,
kommt man unwillkürlich darauf, daß das Leben und die Taten dieser
beiden hervorragenden Männer die Krönung einer nicht alltäglichen
Familiengeschichte darstellen.
Die Überlieferung führt uns zwei Generationen zurück zu einem, wie es heißt, rechtschaffenen, gottesfürchtigen Manne, geboren und aufgewachsen in der Nähe von Isfáhán, mit Namen Hájí Siyyid Muhammad Hindí. (Hájí ist ein Beiname, den jeder Muslim führen darf, nachdem er eine Pilgerreise nach Mekka gemacht hat; Siyyiden heißen alle Nachkommen aus der Familie Muhammads.)
Dieser Mann wanderte aus nach Indien und erhielt deswegen den Beinamen Hindí. Er brachte es dort zu Reichtum und Ansehen und gewann die Tochter eines indischen Prinzen zur Frau. Nun war es bis in die jüngste Zeit im Orient üblich — besonders in reichen Familien — hin und wieder einen mehr oder weniger berühmten Astrologen über das Schicksal und die Zukunft zu befragen. Hájí Siyyid Muhammad Hindí hielt es nicht anders; und so wurde ihm eine seltsame Weissagung. Der Spruch lautete, seine späteren Nachkommen seien ausersehen, sich für den Verheißenen, den „Mahdí“, der in Bälde sich offenbaren werde, zu opfern. Siyyid Muhammad war von dieser Vorhersage so tief beeindruckt, daß er alsbald sein Testament änderte und bestimmte, daß ein Drittel seines Gesamtvermögens dem verheißenen Mahdí, sobald er erscheine, und dem Dienst an seiner Sache zufallen müsse. Hájí Siyyid Muhammad Hindí wurde der Stammvater einer Familie, die in eine glanzvolle, ruhmreiche Geschichte eingehen sollte. Er war der Urgroßvater nicht nur der beiden Märtyrer Mírzá Husayn und Mírzá Hasan, sondern auch der Gattin ‘Abdu’l-Bahás, der Bahá’u’lláh den Namen Munirih verlieh (das heißt: die Leuchtende).
Schon der Sohn dieses Siyyid Muhammad zeigte nicht alltägliche Taten.
Nach dem Tode seines Vaters hatte er sich entschlossen, nach Persien
[Seite 195]
zurückzukehren, in die Heimat seines Vaters, nach Isfáhán. Es fügte sich
jedoch, daß sich ihm unterwegs günstige Gelegenheit bot, Grundstücke
und ein Geschäft zu kaufen. So kam es, daß er sich in Najaf, unweit von
Karbilá, niederließ und bald darauf heiratete. Es dauerte nicht lange,
und er hatte sich nicht nur Wohlhabenheit, sondern auch hohes Ansehen
in der ganzen Stadt erworben, denn unter seiner Führung und finanziellen
Hilfe wurde die Wasserversorgung der Stadt erheblich verbessert,
und da er einen neuen Kanal baute, gab man ihm den Beinamen „Nahrí“
(nahr = Bach, Fluß).
Nach der Geburt seines ersten Sohnes — Ibráhím — hatte seine Frau einen Traum, der wiederum dahin gedeutet wurde, ihre Nachkommen sollten in der Sache des Verheißenen Großes wirken, und sie werde noch zwei Söhne gebären. Sie bekamen tatsächlich noch zwei Söhne, die eine ganz besondere Aufgabe haben sollten. Dies sind die drei Söhne: 1. Mírzá Ibráhím Nahrí = Vater des „Geliebten“ und des „Königs der Märtyrer“; 2. Mírzá Muhammad-‘Alí Nahrí = Vater der Munirih, der Gattin ‘Abdu’l-Bahás; 3. Mírzá Hádí Nahrí = Märtyrer des Báb, Vater der Gattin des „Königs der Märtyrer“. Der Titel „Mírzá “ am Anfang des Namens weist darauf hin, daß alle drei wenn nicht gelehrt, so doch überdurchschnittlich gebildet waren.
Mírzá Ibráhím wurde ein reicher und angesehener Mann in Isfáhán und alleiniger Verwalter der Güter und Obliegenheiten des Imám-Jum’ih der Stadt. Ein Imám-Jum’ih ist ein hoher Geistlicher, dessen besondere Aufgabe und Vorrecht es ist, an Freitagen in der Moschee das Gebet zu leiten; außerdem obliegt ihm die Verwaltung der monatlichen Opfergaben der Gläubigen. Auch die beiden anderen Brüder waren im kaufmännischen Beruf tätig; sie neigten jedoch mehr zu religiösem, geistigem Studium, und so kam es, daß die Söhne Mírzá Ibráhíms, die späteren großen Märtyrer, besonders stark von ihren Onkeln beeinflußt waren und viel von ihnen hörten und lernten.
So hatte Muhammad-‘Ali, der eine Onkel, schon in seiner Jugend sich immer wieder mit den heiligen Schriften befaßt, ebenso wie der andere, Mírzá Hádí. Es war demnach nur natürlich, daß die beiden Onkel eines Tages die Niederlassung des Familienunternehmens in Baghdád übernahmen, um Gelegenheit zu haben, im nahen Karbilá ihren Wissensdurst zu stillen und theologische Studien zu treiben.
In Karbilá setzten die wunderbaren, längst prophezeiten Ereignisse ein. Denn ihr Aufenthalt dort traf gerade noch in den letzten Abschnitt der Zeit der Shaykhiyyih, d. h. jener Gelehrten, die das baldige Kommen des verheißenden Mahdí in ihren Schulen lehrten und allmählich immer mehr Beachtung und Bedeutung gewonnen hatten.
- *
Die Brüder hatten nun das Glück, einige Zeit Schüler von Siyyid
Kázim-i-Rashtí zu sein, dem zweiten Vorläufer und Verkünder des Báb.
In den Stunden bei Siyyid Kázim-i-Rashtí war es auch, daß sie den Báb
das erste Mal erblickten, der einige Male dort anwesend war. Und schon
damals war ihnen, wie erzählt wird, das Außergewöhnliche Seiner
[Seite 196]
Gestalt und Seines Wesens aufgefallen. Nicht lange danach, im Jahre 1843
(1259 n. d. Hijra) verstarb Siyyid Kazim, und schon ein Jahr später drang
die Kunde von der Offenbarung des Báb in Shíráz nach Karbilá. Kaum
hatten die Brüder diesen Ruf vernommen, als sie unverzüglich in Richtung
Isfáhán aufbrachen. Dort trafen sie mit ihrem Bruder Ibráhim und
mit Mullá Husayn, dem Bábu’l-Báb (= Tor des Báb), zusammen. Sein
Wort und seine Belehrung besiegelten endgültig ihren Glauben an den
Báb, und auch Mírzá Ibráhím, der älteste der Brüder, erklärte sich
schließlich als Gläubiger. Obwohl in religiösen Dingen weniger bewandert
als seine Brüder, war es vielleicht gerade Mírzá Ibráhím, der Vater
der beiden großen Märtyrer, der eine wichtige Schlüsselfigur werden
sollte; denn im Laufe der Jahre hatte sich seine geschäftliche Beziehung
zu dem Imám-Jum’ih zu einem freundschaftlichen Verhältnis ausgedehnt.
Erinnern wir uns nur, daß dem Báb nicht lange nach seiner Erklärung nahegelegt wurde, Shíráz zu verlassen; daß er unterwegs einen Boten an den Gouverneur von Isfahán (übrigens ein ehemaliger Christ, der zum Islám übergetreten war) sandte mit der Aufforderung, für Ihn eine Unterkunft zu bereiten — und daß der Gouverneur wiederum Ihn ausgerechnet als Gast in das Haus eben jenes Imám-Jum’ih vermittelte, bei dem er dann auch vierzig Tage verbrachte — dann haben wir sofort die Verbindung zu den drei Brüdern, und zwar besonders durch Mírzá Ibráhím. Und dann kam ein Tag, an dem Mírzá Ibráhím zu Ehren des Báb in seinem eigenen Hause ein Fest gab. Seine beiden jungen Söhne, Husayn und Hasan, damals etwa zehn und elf Jahre alt, gingen zwischen den Gästen hin und her und bedienten auch voller Ehrfurcht den Báb.
Neigten die Söhne Ibráhíms schon von Kind an besonders zu ihren Onkeln Hádi und Muhammad ‘Alí, so zeigte sich in der Folge dieser Einfiuß noch viel ausgeprägter. Mírzá Hádi war auf der Rückreise von der bekannten Bábi-Konferenz in Badasht 1848 den Feinden des Glaubens als Märtyrer zum Opfer gefallen. Als Muhammad ‘Alí wieder einmal nach Baghdád reiste zu Bahá’u’lláh, durften Husayn und Hasan ihn begleiten. Sie standen nun im Jünglingsalter, und man erzählte von ihnen, sie seien an Wuchs und Gestalt von außergewöhnlicher Schönheit und Reinheit gewesen.
Diese Reise fiel in die Zeit nach dem Märtyrertod des Báb, aber noch vor die Erklärung Bahá’u’lláhs, und sie wurde für Husayn und Hasan zu einem unvergeßlichen, entscheidenden Erlebnis. Sie hatten nach den lebhaften und ausführlichen Erzählungen ihres Onkels der Begegnung mit diesem Husayn ‘Alí — in dem sich Bahá’u’lláh, die „Herrlichkeit Gottes“, noch verbarg — voll Spannung entgegengefiebert; sie waren daher nicht nur erstaunt, sondern erschrocken, als sie sehen mußten, wie Muhammad ‘Alí, der Oheim, vom ersten bis zum letzten Augenblick seines Besuches kein einziges Wort hervorbrachte, vielmehr stumm und taub schien und nur immer wieder, wie verwundert, Bahá’u’lláh scheu ins Antlitz schaute. Sie waren mit warmer Herzlichkeit empfangen worden, und nach einiger Zeit trat Bahá’u’lláh selber zu dem Sprachlosen: „Wir waren doch so gute Freunde — warum, lieber Freund, bist du so schweigsam?“
Aber Muhammad ‘Alí blieb stumm, als wäre er gelähmt, noch während
der ganzen Rückreise. — Was seine Zunge, ja sein ganzes Wesen gelähmt
[Seite 197]
hatte, erzählte er später folgendermaßen: Im ersten Augenblick seiner
Ankunft in Baghdád hatte er, der Bahá’u’lláh bisher als einem hoch
verehrten Menschen, aber doch als einem Freund begegnet war, eine
durchgreifende Veränderung an Ihm wahrgenommen — und wie in einem
Blitzstrahl des Erkennens sah er Ihn in Seiner erhabenen Wirklichkeit.
Diese Erkenntnis, dieses Gesicht, wirkte schockartig; es war zu
unvermutet und überstieg sein Fassungsvermögen — und er war zum
Schweigen gezwungen.
Eine solche Begebenheit ist nicht weiter verwunderlich oder mysteriös, wenn man bedenkt, wie verschwindend wenig Menschen fähig waren, auch nur einen Lichtstrahl dieser Sonne zu ertragen. Nicht umsonst war die erste Offenbarung Bahá’u’lláhs heimlich und nur für ‘Abdu’l-Bahá bestimmt.
- *
Aber auch in Husayn und Hasan entzündete sich bei diesem Besuch allein an der Gegenwart Bahá’u’lláhs ein Feuer der Begeisterung, Liebe und Hingabe, das nie mehr erlöschen, sondern in der Flamme des Märtyrertums auflodern sollte. Als Mírzá Ibráhím Nahrí, ihr Vater, gestorben war, übernahmen Husayn und Hasan ein großes Vermögen. Die Brüder waren von Kind an dadurch aufgefallen, daß sie immer zusammen und eng miteinander verbunden waren, und auch jetzt taten sie nichts ohne gegenseitiges Einverständnis. Ihr ganzes Leben blieb eine einzige Harmonie und Einigkeit, bis zum gemeinsamen Tode.
Der Historiker schreibt von ihnen: „Ihr Haus stand stets für Freund und Feind offen, und ihr Reichtum hinderte sie keineswegs, jedem Notleidenden mit warmer Liebe zu helfen, ja dies ging so weit, daß man sagen kann, ihr Vermögen war für alle verfügbar. Jeder Reisende und Vorübergehende wurde von ihnen aufgenommen und bewirtet, Jeder Mensch war für sie ein Freund und Bruder. Kam aber einmal jemand von Bahá’u’lláh, dann waren sie seine ergebensten Diener und stolz darauf, ihn eigenhändig bewirten zu dürfen. Man brauchte nur den Namen des Geliebten (Bahá’u’lláhs) zu nennen, so glänzten ihre Augen in Freude und Liebe.“
Es gab Tausende glühender Anhänger Bahá’u’lláhs, und Tausende gaben auch ihr Leben für Seine Sache; dennoch hat Er Husayn den „König“ und Hasan den „Geliebten der Märtyrer“ genannt — sicher nicht allein deswegen, weil sie frohen Herzens ihr Leben opferten, sondern weil sie schon in all den Jahren ihres Lebens nichts anderes im Auge hatten, als mit äußerster Reinheit, Hingabe und Liebe ausnahmslos allen Menschen und damit ihrem Herrn zu dienen, weil sie sich in jeder Sekunde des wahren Lebens bewußt waren, das nicht an diese irdische Hülle gebunden ist, und weil ihr Leben, was sie auch taten, ein Dienst an jener Welt des Geistes war. — Kurz, sie lebten ein Bahá’í-Leben im wahrsten Sinne.
Als im Jahre 1872 eine schlimme Hungerzeit über Persien hereinbrach,
machten sich die Brüder auf, überall zu helfen, wo es ging, bis sie ihr
ganzes Vermögen ausgegeben hatten. Sie pflegten Muslim, Juden, Zoroastrier
und Armenier ohne Unterschied und eroberten dadurch die
Herzen der Gläubigen aller Religionen. Schließlich kam es so weit, daß
[Seite 198]
sie selber vor dem Nichts standen. Aber der göttliche Vers: „Jedes Darlehen,
aus Güte gegeben auf dem Pfade Gottes, vergilt Er mit dem Zehnfachen“ erfüllte
sich hier wunderbar. Der Handel blühte binnen kurzem
wieder auf und brachte in kurzer Zeit ein Vielfaches des Ausgegebenen
ein, so daß sie bald wieder als die „reichen Brüder“ bekannt waren.
Wie ihr Vater seinerzeit, so besorgten sie immer noch neben ihrem
Handel die Vermögensverwaltung für den neuen Imám-Jum’ih. Ausgerechnet
dieser Dienst sollte zur Ursache ihres Martyriums werden. Verstehen
kann man dies allerdings nur einerseits aus der Machtstellung der
Priester im Orient und ihrem unabschätzbaren Einfluß auf das Volk, und
zum andern aus der besonders gespannten Situation, die gerade damals
durch die Bewegung des Báb und später Bahá’u’lláhs entstanden war,
wodurch ein Weiterbestehen dieser Vormachtstellung ernstlich gefährdet
war. Kurz und gut, der äußere Anlaß der nachfolgenden erschütternden
und tragischen Ereignisse war eine einfache finanzielle
Auseinandersetzung,
- *
Die Brüder hatten eines Tages feststellen müssen, daß sie mehr als 18 000 Túmán aus ihrer eigenen Tasche für die Auslagen des Imám-Jum’ih bezahlt hatten. In unserer heutigen Sprache würden wir sagen: Der Imám-Jum’ih hatte sein Konto um 18000 Túmán überzogen... Das sind nach heutigem Wert 9000 DM und für die damaligen Verhältnisse fast ein Vermögen. Selbstverständlich verlangten sie das vorgestreckte Geld zurück und stellten alle weiteren Zahlungen ein, denn sie waren Kaufleute und sahen ein, daß auf diese Weise leicht allmählich ihr ganzer Besitz zum Imám-Jum’ih überwechseln konnte. Mit dieser entschiedenen Haltung kamen die Brüder aber nicht gut an. Keine Rede davon, daß der Würdenträger eine Anstrengung gemacht hätte, seine Schuld abzutragen — das wenigste, was man von einem Menschen in seiner Stellung erwartet hätte; vielmehr tat er sich mit einem Freund und Kollegen, ebenfalls ein hoher Geistlicher, zusammen und brachte die Geschichte vor den kaiserlichen Gouverneur von Isfáhán, damals Zillu’s-Sultán, der Sohn des Sháhs Násiri’d-Dín.
Was nun folgte, kann man sich beim besten Willen nicht anders erklären, als daß die Geistlichen, da der Imám-Jum’ih ohnehin nicht willens oder in der Lage war, seine Schuld zu begleichen, es zielbewußt darauf anlegten, nun auch vollends den ganzen Besitz der beiden an sich zu bringen. Die Brüder waren reich — und der Gouverneur, wenn er dem Spiel seine Hand lieh, würde selbst als Dritter im Bunde nicht schlecht wegkommen. Zudem gab es noch einen besonderen wunden Punkt, der diesen Beherrschern des öffentlichen Lebens schon lange ein Dorn im Auge war: Die Brüder waren nicht nur reich, sondern geehrt, geschätzt und geliebt, durch ihr strahlendes Wesen und ihre hervorragenden Taten mehr geliebt als irgendwer in der Stadt. Ob nicht zu befürchten war, daß durch all dies eines Tages ihr eigener Einfluß, der Einfluß der oberen Schicht, die Macht der Geistlichkeit untergraben würde?
Alle diese Vorzüge konnte man ihnen, zusammen mit dem Gelde, auf
einen Schlag abnehmen. Denn einen „Fehler“ konnte man, wenn man nur
wollte, ohne sonderliche Mühe nachweisen und benützen: Sie waren
Bahá’í!
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Waren Husayn und Hasan bis dahin als große Gläubige, als gütige und religiöse Menschen angeblich geschätzt und geachtet, so hießen sie jetzt plötzlich Gottesleugner, Atheisten und Verleumder. Zillu’s-Sultán hatte einen Grund, die Brüder fürs erste einmal ins Gefängnis setzen zu lassen, und von diesem Augenblick an waren sie auch nicht mehr ihres Lebens sicher, denn der Haß der Geistlichkeit war nun unersättlich, und mit einer Gefangennahme gaben sie sich keineswegs zufrieden. Dem Zillu’s-Sultán hingegen war es mehr um das Geld und weniger um Leben oder Tod der Brüder zu tun, und so griff er zu einer List, um mit „reinen Händen“ aus der Geschichte herauszukommen: Er begab sich am Vorabend des entscheidenden Verhörs persönlich in den Kerker zu Husayn und Hasan und riet ihnen, beim Verhör der Sache des Báb und Bahá’u’lláhs abzuschwören und sie zu leugnen. Die Haltung der Brüder war zu seinem großen Erstaunen ruhig und gefaßt: „Eher wollen wir sterben als der Sache Gottes untreu werden.“ Mit dieser klaren und unmißverständlichen Antwort mußte der Gouverneur abziehen.
Zillu’s-Sultán war von der Standhaftigkeit und Würde dieser Menschen so beeindruckt, daß er öfters gesagt haben soll: „Was mag es nur sein, was diese Menschen geschaut haben, daß sie so unbeugsam geworden sind? Mit einem einzigen Wort könnten sie sich retten — und sie lehnen es ab! Die Größten unter unseren Gelehrten und Geistlichen brauchen nur ein wenig Angst um ihr Wohlbefinden zu bekommen, und schon leugnen sie ohne weiteres, was sie eben noch beschworen; diese hier, die zu den Bahá’í gehören, scheuen keine Gefahr, selbst nicht den Tod, und leugnen kein einziges Wort!“
Noch einmal neigte sich das Zünglein an der Waage zwischen Leben und Tod dem Leben zu, denn unerwartet kam ein Befehl des Sháhs, die Gefangenen nach Tihrán zu schicken. In einer Familienchronik wird erzählt, daß diese Maßnahme des Sháhs beeinflußt war durch Briefe von zahlreichen, im ganzen Lande bekannten und hoch geachteten Kaufleuten, Freunden und Geschäftspartnern der Brüder. In Isfáhán indessen wollte man es nicht soweit kommen lassen, daß der Fall in Tihrán verhandelt würde — aus gutem Grunde, wie sich leicht denken läßt. Zudem aber hatte sich der Imám-Jum’ih samt Geistlichkeit nicht nur der Hilfe des Zillu’s-Sultán versichert; in ihrer Macht lag es ja auch, das Volk aufzuwiegeln und für ihre Zwecke zu benützen, so daß bald ein schneller Prozeß gerechtfertigt erschien.
Als man dann nach Tagen der Ungewißheit Husayn und Hasan zum
„Sháh-Platz“ führte, um sie angesichts des Volkes zu enthaupten, gab es
dennoch nicht allein jene Gruppe der Einwohner Isfáháns, die nach dem
Bericht des Historikers unter Schmähungen die leblosen Körper mit Steinen
bewarfen, sondern eine große Anzahl von Menschen, die diesen Doppelmord
als größte Schande und Erniedrigung und als menschenunwürdig
ablehnten und bittere Tränen vergossen. Ein christlicher Priester aus dem
armenischen Nachbardorf Julfá weinte laut und tadelte heftig und mit
erhobener Stimme diese Tat der Muslim und rief: „Von keinem noch so
niedrigen Menschen hätte man sich denken können, daß er imstande
wäre, solch hochgesinnte Männer umzubringen!“
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Bahá’u’lláh war durch den Tod der beiden in tiefste Trauer versetzt. Man erzählt, daß Er, als die Nachricht vom Tode dieser auserwählten Seelen zu Ihm gelangte, an jenem Abend kein Licht angezündet, sondern allein und sinnend im Dunkel gesessen habe. Bahá’u’lláh selber war es auch, der Husayn und Hasan in einem besonderen Nachruf, der an ihrem Grabe gelesen wurde, ein unsterbliches Denkmal gesetzt hat, und in Sendschreiben würdigte Er sie mit Worten höchster Wertschätzung. So schreibt Er im Kitábu’l-Sidq: „...Diesem Diener (Bahá’u’lláh) sind von Anfang an bis jetzt alle Einzelheiten der Angelegenheiten dieser beiden strahlenden Sterne bekannt; sie waren beide begnadet, im Iráq den Heiligen Hof zu erreichen. Es wurde ihnen die größte Gnade erwiesen. Dies geschah, obwohl manche Menschen das Gegenteil erwarteten. Aber die mächtige Hand Gottes hat sie erhöht, bis sie die Stufe erreichten, die du gesehen und von der du gehört hast. Nachdem sie vom Heiligen Hofe ins Land Sád (Isfáhán) zurückgekehrt waren, haben sie zwei Briefe an Uns geschrieben und haben, was ihnen geschehen ist, mit höchster Bitte und Demut von Gott erfleht... Du hast gesehen, was die Feder des Höchsten über sie niedergesandt hat. Ich schwöre bei Gott: Über das, was auf sie gekommen ist, wehklagten alle Dinge, schrie der Fels und weinten die Bewohner des Paradieses. Wenn jemand die ganze Welt besäße und alles opfern würde, könnte er diese Stufe nicht erreichen, und das ist die Stufe, die alle Propheten und Gottnahen erfleht haben und noch erflehen. Bis jetzt sind beinahe hundert Tablets über dieses tragische Ereignis herniedergesandt worden...“
Und in einem Tablet an Varqá steht: „Der Reichtum hat sie von der Nähe Gottes nicht abgehalten, und Pracht und Ansehen nicht von dem Opfer von Besitz und Leben... Preis sei Gott! Der Verstand des Menschen geriet darüber in Staunen... All das, was sie besaßen, hat sie nicht abgehalten von dem, was Gott besitzt!“
- Helga Ahmedzadeh
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Geschichtliche Quellen: Eine Familienchronik der Hindí Nahrí „Kavák'i-bul-Durríyyih“ — Geschichte der Bahá’í-Bewegung in Persien (Avárih).
Tablets von Bahá’u’lláh: entnommen aus der Sammlung von Mádih-Asamání von ’Ishráqi-Khávarí, Band 4, S. 302 ff.
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