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BAHÁ'I-
BRIEFE
BLÄTTER FÜR
WELTRELIGION UND
WELTBEWUSSTSEIN
AUS DEM INHALT:
‘Abdu’l-Bahá: Das Geheimnis göttlicher Kultur
Bahá’u’lláhs Weltordnung — Weg zum Weltfrieden
Religion und die Sehnsucht nach Einheit
JANUAR 1962 HEFT 7
Postverlagsort Frankfurt/Main
Du sollst Gott so verehren, daß es keinen Einfluß hätte, wenn der Lohn für deine Anbetung das Feuer wäre.
Wenn ihr Gott aus Furcht anbetet, so ist dies der Schwelle der Heiligkeit Gottes unwürdig. Desgleichen auch, wenn euer Blick auf das Paradies gerichtet ist und wenn ihr Ihn in der Hoffnung darauf verehrt, denn dadurch stellt ihr Gott und Seine Schöpfung auf die gleiche Stufe.
- El Báb
‘Abdu‘l-Bahá:
Das Geheimnis göttlicher Kultur (IV)[Bearbeiten]
Der Niedergang Europas im Mittelalter
Als nun die Zeit herannahte, in der die strahlende Schönheit Muhammads über der Welt aufgehen sollte, fiel die Macht über die Christenheit unwissenden Priestern in die Hände. Der himmlische Hauch, der aus den Gefilden göttlicher Gnade strömte, verflog, und die Gesetze des erhabenen Evangeliums, der Felsgrund, auf dem die Kultur der Welt ruhte, zeitigten keine Erfolge mehr, weil sie mißbraucht wurden und weil gewisse Menschen, äußerlich vollkommen, in ihrem Innersten je- doch hohl und leer, gegen sie verstießen.
Europäische Geschichtsforscher von Rang und Namen berichten übereinstimmend, wenn sie die politischen und sittlichen Zustände, die Bildung und die Kultur des Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit in allen ihren Aspekten schildern, daß während der zehn Jahrhunderte des Mittelalters, vom Beginn des sechsten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung bis zum Ende des fünfzehnten, Europa in jeder Hinsicht und in höchstem Maße finster und barbarisch war. Der wichtigste Grund ist folgender: Die Mönche, von den europäischen Völkern als geistige und religiöse Führer angesehen, hatten den bleibenden Ruhm des Gehorsams gegen die heiligen Gebote und die himmlischen Lehren des Evangeliums aufgegeben und mit den vermessenen, tyrannischen Oberhäuptern der weltlichen Regierungen jener Zeit gemeinsame Sache gemacht. Ihre Augen hatten sie, die einen wie die anderen, abgekehrt von der Herrlichkeit des Ewigen und all ihr Streben darauf gerichtet, ihre weltlichen Interessen, ihren vergänglichen Nutzen zu verfolgen. Schließlich kam es so weit, daß die Massen hilflose Gefangene in den Händen dieser beiden Gruppen waren und das ganze Gefüge der Religion, Kultur, Wohlfahrt und Zivilisation der Völker Europas in die Brüche ging.
Ein neuer Impuls: Die Offenbarung Muhammads
Dieses würdelose Tun und Denken, dieses schimpfliche Streben der
Mächtigen brachte den süßen Hauch des Geistes Gottes (Jesu) zum Erliegen
und ließ ihn aufhören, die Erde zu umweben. Die Finsternis bigotter
Unwissenheit und gottloser Taten hielt die Erde umfangen. Da leuchtete
das Morgenlicht der Hoffnung wieder auf, und der göttliche Frühling
kehrte zurück; eine Wolke von Barmherzigkeit spannte sich über die Welt,
und aus den Gefilden der Gnade wehten die Winde der Fruchtbarkeit.
Im Zeichen Muhammads erhob sich die Sonne der Wahrheit über Yathrib
(Medina) und dem Hijáz; über das ganze Weltall ergoß sie das Licht ewiger
Herrlichkeit. Dies verwandelte den Baugrund menschlicher Möglichkeiten,
und die Worte: „Die Erde wird leuchten mit dem Lichte ihres Herrn“
(Qur’án 39:69) waren erfüllt. Die alte Welt wurde wieder neu, und ihr
toter Körper erwachte zu reichem Leben. Tyrannei und Unwissenheit
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wurden überwunden, und hoch ragten die Paläste der Erkenntnis und
Gerechtigkeit empor, die an ihrer Statt errichtet wurden. Ein Meer von
Aufklärung brandete heran, und die Wissenschaft goß ihre Strahlen über
alle Lande. Bevor die Flamme höchsten Prophetentums in der Lampe
von Mekka entzündet wurde, waren die wilden Stämme des Hijáz das
tierischste, finsterste Volk auf Erden. In allen Geschichtswerken werden
übereinstimmend ihre entartete, lasterhafte Lebensführung, ihre Wildheit,
ihre ständigen Fehden beschrieben. Damals betrachteten die zivilisierten
Völker der Welt die arabischen Stämme von Mekka und Medina
nicht einmal als menschliche Wesen. Aber als das Licht der Welt sich über
ihnen erhob, wurden sie — durch die Erziehung, die ihnen aus dieser
Schatzgrube der Vollkommenheiten, diesem Lichtquell der Offenbarung
zuteil wurde und durch die Segnungen des göttlichen Gesetzes — innerhalb
kürzester Frist unter dem Schutze des Grundsatzes der Einheit Gottes
vereinigt. Später erlangte dieses tierhafte Volk eine so hohe Stufe
menschlicher Vollkommenheit und Verfeinerung, daß alle Zeitgenossen
darüber erstaunten. Dieselben Völker, die bisher immer die Araber
verspottet und verlacht hatten, indem sie behaupteten, jene seien bar
jeglichen Urteilsvermögens — diese Völker suchten nun eifrig die
Gesellschaft der Araber und bereisten ihre Länder, um Bildung und Kultur,
technische Fertigkeiten und Staatsklugheit, Künste und Wissenschaften
zu erlernen.
Bedenket, welcher Einfluß auf die materiellen Verhältnisse von der Schulung durch den wahren Erzieher ausgeht! Hier waren Stämme, so unwissend und wild, daß sie in der Zeit der Jáhilíyya*) ihre siebenjährigen Töchter lebendig begruben — eine Tat, die selbst ein Tier, geschweige denn ein menschliches Wesen, verabscheuen und vor der es zurückschrecken würde, die aber jene Stämme in ihrer unbeschreiblichen Entartung als den höchsten Ausdruck der Ehrbarkeit und Sittentreue ansahen — aber dank der klaren Lehren jener großen Gestalt entwickelte sich dieses barbarische Volk in solchem Maße, daß es zunächst Ägypten, Syrien und dessen Hauptstadt Damaskus, Chaldäa, das Zweistromland und Iran eroberte und dann so weit kam, daß es jedes wichtige Problem in vier Hauptregionen des Erdballs aus eigener Kraft lösen konnte.
Die Araber übertrafen damals alle Völker der Welt in Kunst und Wissenschaft, Gewerbefleiß und Erfindergeist, Philosophie, Staatskunst und Gesittung. Und wahrlich, der Aufstieg dieser zügellosen, verachteten Horden zur höchsten Stufe menschlicher Vollkommenheit in solch einer kurzen Zeitspanne ist das größte Zeugnis für die Rechtmäßigkeit der Offenbarung Muhammads.
Islam — Grundlage der abendländischen Kultur
In der Frühzeit des Islam erwarben die Völker Europas die Wissenschaften
und Künste der Zivilisation vom Islam her, wie es die Einwohner
Andalusiens taten. Eine genaue und eingehende Untersuchung
der geschichtlichen Aufzeichnungen wird die Tatsache bekräftigen, daß
der Hauptteil der Zivilisation Europas auf den Islam zurückgeht; denn
alle Schriften der muslimischen Gelehrten, Theologen und Philosophen
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wurden nach und nach in Europa gesammelt, mit emsiger Sorgfalt geprüft,
in akademischen Versammlungen und in den Bildungszentren diskutiert,
worauf das, was als wertvoll erachtet wurde, Verwendung fand.
Heute sind zahlreiche Abschriften von Werken muslimischer Gelehrter,
die in den islamischen Ländern nicht mehr zu finden sind, in den
Bibliotheken Europas erhältlich. Auch die in allen europäischen Ländern
herrschenden Gesetze und Rechtsgrundsätze sind in beträchtlichem Maße,
genau genommen in ihrer Ganzheit, von den Werken muslimischer
Gottesgelehrter über Rechtsprechung und von ihren Urteilssprüchen
hergeleitet. Wäre nicht zu befürchten, daß sich diese Abhandlung
übermäßig in die Länge zieht, würden wir diese Entlehnungen eine
nach der anderen aufführen.
Die Anfänge der europäischen Zivilisation gehen auf das siebte Jahrhundert islamischer Zeitrechnung zurück. Die näheren Umstände waren folgende: Gegen Ende des fünften Jahrhunderts nach der Hijra erhob der Papst, das Oberhaupt der Christenheit, ein großes Zetern darüber, daß den Christen heilige Stätten, wie Jerusalem, Bethlehem und Nazareth, unter muslimische Herrschaft gefallen waren. Er stachelte die Könige und das Volk Europas auf zu einem Unternehmen, das er als heiligen Krieg ansah. Sein leidenschaftlicher Schrei der Entrüstung schwoll so an, daß ihn alle Länder Europas erwiderten, und an der Spitze endloser Heerscharen zogen kreuzfahrende Könige über das Marmarameer und bahnten sich ihren Weg in den asiatischen Kontinent. Damals herrschten die Kalifen aus dem Haus der Fatimiden über Ägypten und einige Länder im Westen der arabischen Welt, und die meiste Zeit waren ihnen auch die Seldschuken, die Könige Syriens, untertan. Kurz, die Könige des Westens fielen mit ihren unzähligen Truppen in Syrien und Ägypten ein, und während einer Zeitspanne von 203 Jahren war ständiger Kriegszustand zwischen den Herrschern Syriens und Europas. Fortgesetzt kamen Verstärkungen aus Europa herüber; immer wieder stürmten und bezwangen die westlichen Herrscher jede Burg in Syrien, aber genau so oft warfen die islamischen Könige sie wieder hinaus. Schließlich vertrieb Saladin im Jahr 693 n. H. die europäischen Könige und ihre Heere aus Ägypten und von der syrischen Küste. Hoffnungslos geschlagen, kehrten sie nach Europa zurück. Millionen Menschen kamen im Verlauf dieser Kreuzzüge ums Leben.
Zusammenfassend kann gesagt werden, daß zwischen 490 und 693 n. H. Könige, Feldherren und andere Führer Europas ständig vom Westen nach Ägypten und Syrien kamen, und als sie schließlich alle heimkehrten, verbreiteten sie in Europa, was sie im Laufe von über 200 Jahren auf den Gebieten der Staatskunst, der sozialen Entwicklung und Bildung, des Volks- und Hochschulwesens und der Verfeinerung des Lebens in den islamischen Ländern kennengelernt hatten. Die Zivilisation Europas geht auf diese Zeit zurück.
Jene Gebildeten Europas, die über die Tatsachen der Geschichte des
Abendlands gut Bescheid wissen und sich durch Wahrheitsliebe und
Gerechtigkeitssinn auszeichnen, stimmen darin überein, daß die tragenden
Elemente ihrer Zivilisation in allen Einzelheiten vom Islam abgeleitet
sind. So hat zum Beispiel Draper2), ein bekannter europäischer
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Fachmann, dessen Genauigkeit, Fähigkeit und umfassende Bildung von allen
europäischen Gelehrten bestätigt wird, in einem seiner meistgelesenen
Werke: „Die geistige Entwicklung Europas“ (The Intellectual Development
of Europe) einen ausführlichen Bericht in dieser Hinsicht niedergelegt,
d. h. im Hinblick darauf, daß die Völker Europas die Grundlagen der
Zivilisation, des Fortschritts und der Wohlfahrt vom Islam
hergeleitet haben . . . Er untersucht einen dieser Beiträge nach dem
anderen und gibt an, wann sie jeweils vom Islam übernommen wurden.
So beschreibt er auch, wie die Araber in den Westen, ins heutige Spanien
kamen und wie sie dort eine hochentwickelte Zivilisation aufbauten,
welche hervorragende Stufe ihre Verwaltung und ihr Gelehrtenstand
erreichten und wie festgegründet und gut geleitet ihre Schulen und
Universitäten waren, in denen Wissenschaften und Philosophie, Kunst
und Technik gelehrt wurden; ferner, wie führend sie damals das
Kulturleben bestimmten und wie viele Jugendliche aus den maßgeblichen
Familien Europas an die Schulen von Cordoba und Granada, Sevilla und
Toledo gesandt wurden, um dort die Wissenschaften und Künste des
gehobenen Lebens zu erlernen. Er schildert sogar, daß ein Europäer
namens Gerbert sich an der Universität Cordoba im arabischen Land
immatrikulierte, um dort Künste und Wissenschaften zu studieren,
und wie er nach seiner Rückkehr in Europa solche Bedeutung erlangte,
daß er schließlich die Führerschaft in der katholischen Kirche
erlangte und Papst wurde (Sylvester II).
Gottesoffenbarung — Quelle aller Kultur
Der Zweck dieser Hinweise ist, die Tatsache zu untermauern, daß die Religionen Gottes die wahre Quelle der geistigen wie der materiellen Vollkommenheiten des Menschen sind, der Ursprung der Aufklärung und des nutzbringenden Wissens für alle Welt. Wer dies mit gerechtem Sinn erwägt, wird feststellen, daß alle Gesetze des öffentlichen Lebens in diesen wenigen heiligen Worten beschlossen sind:
„Und sie gebieten das Rechte und verbieten das Unrecht und beeilen
sich, gute Taten zu vollbringen. Dieses sind die Rechtschaffenen“. (Qur’án
3:110). Und wiederum: „. . . auf daß unter euch ein Volk sei, das zum
Guten auffordert, das Rechte befiehlt und das Unrecht verbietet. Dies
sind diejenigen, um die es gut bestellt sein soll.“ (Qur’án 3:100). Und
weiter: „Wahrlich, Gott gebietet Gerechtigkeit, rechtes Tun . . . und
er verbietet Schlechtigkeit und Unterdrückung. Er ermahnt euch, auf
daß ihr eingedenk seid.“ (Qur’án 16:92). Ferner, über die Verfeinerung
des menschlichen Betragens: „Laß Billigkeit walten und gebiete, was
rechtens ist, und halte dich fern von den Toren.“ (Qur’án 7:198). Und
gleicherweise: „. . . die ihren Zorn bezwingen und anderen verzeihen.
Gott liebt jene, die Gutes tun.“ (Qur’án 3:128). Und wieder: „Nicht
das ist Frömmigkeit, daß ihr (beim Beten) euer Gesicht nach Osten
wendet oder nach Westen; fromm ist vielmehr, wer an Gott glaubt,
an den Jüngsten Tag, an die Engel, an die Schrift und an die Propheten,
wer aus Liebe zu Gott seinen Besitz hingibt an Anverwandte, Waisen,
Arme, an Bittende und um Gefangene loszukaufen, wer das Gebet
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verrichtet, den Armenbeitrag zahlt, wer zu denen gehört, die ihre Verträge
einhalten, und wer geduldig ist in Drangsal, Unglück und Zeiten der Not.
Diese sind es, die rechtschaffen sind, diese sind die Gottesfürchtigen.“
(Qur’án 2:172). Und abermals: „Sie ziehen jene sich selber vor, auch
wenn Armut ihr eigenes Los ist.“ (Qur’án 59:9). — Seht, wie diese wenigen
heiligen Verse die höchste Ebene und den tiefsten Sinn der Kultur
umschließen und alle vortrefflichen Eigenschaften des menschlichen
Charakters in sich vereinen.
Bei Gott, dem Herrn — und es gibt keinen Gott außer Ihm! Selbst die winzigste Kleinigkeit des zivilisierten Lebens rührt von der Gnade der Offenbarer Gottes her. Welche Sache von Wert für die Menschheit ist jemals in Erscheinung getreten, ohne daß sie zuvor ausdrücklich oder mittelbar in den heiligen Schriften dargelegt worden wäre? Aber ach, was hilft dies alles! Sind die Waffen in den Händen von Feiglingen, dann ist keines Menschen Leben und Eigentum sicher, und die Diebe werden nur noch verwegener. Und desgleichen, wenn eine Priesterschaft, die alles andere als vollkommen ist, die Macht an sich reißt, dann steht sie wie ein eiserner Vorhang zwischen dem Volk und dem Licht des Glaubens.
Aufrichtigkeit ist der Grundstein des Glaubens. Das heißt, ein religiöser Mensch muß seine persönlichen Wünsche vergessen und danach streben, auf jede ihm mögliche Weise und von ganzem Herzen dem öffentlichen Wohl zu dienen. Andererseits ist es einem menschlichen Wesen nicht möglich, sich von seinem eigenen, selbstsüchtigen Nutzen abzuwenden und sein Wohl dem Wohl der Allgemeinheit zu opfern, es sei denn durch wahren religiösen Glauben. Denn Eigenliebe ist in jenen Klumpen Lehm, aus dem der Mensch gemacht ist, hineingeknetet, und ohne die Aussicht auf eine ansehnliche Belohnung wird keiner seinen handgreiflichen materiellen Nutzen hintanstellen. Ein Mensch aber, der an Gott und Sein Wort glaubt, wird um Gottes willen seinen eigenen Vorteil und seine Behaglichkeit aufgeben und sich mit Herz und Seele, aus freien Stücken, dem Allgemeinwohl weihen, weil er die Verheißung und die Gewißheit hat, daß ihn im nächsten Leben reicher Lohn erwartet, und weil ihm aller irdische Nutzen nichts bedeutet im Vergleich zu der immerwährenden Freude und Herrlichkeit künftiger Stufen des Seins. „Ein anderer aber ist unter den Menschen, der sein eigenes Selbst verkauft aus Verlangen nach dem Wohlgefallen Gottes.“ (Qur’án 2:203).
Gibt es ein angeborenes Rechtsempfinden?
Manche stellen sich vor, ein angeborener Sinn für seine Würde bewahre
den Menschen davor, Böses zu tun, und biete die Gewähr für seine
geistige und materielle Vervollkommnung. Dies soll besagen, daß ein
Mensch, den natürliche Intelligenz, hohe Entschlußkraft und edler
Eifer auszeichnen, nicht wegen zu erwartender schwerer Bestrafung
für ein Verbrechen oder einer reichen Belohnung für Redlichkeit, sondern
unbewußt davor zurückschreckt, seinen Mitmenschen Leid zuzufügen, und
danach hungert und dürstet, ihnen Gutes zu tun. Aber wenn wir über
die Lehren der Geschichte nachdenken, wird uns klar, daß dieser
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Sinn für Ehrbarkeit und Würde nichts anderes als eine der Wohltaten
ist, die von den Lehren der Propheten Gottes kommen. Auch nehmen
wir bei kleinen Kindern Anzeichen von Angriffslust und Zügellosigkeit
wahr; wenn ein Kind keine Anleitung durch einen Lehrer empfängt,
vermehren sich seine unerwünschten Eigenschaften von einer Stunde
zur andern. Zweifellos tritt deshalb dieser natürliche Sinn für
menschliche Würde als Folge der Erziehung auf. Zweitens: Selbst wenn
wir um der Beweisführung willen annehmen, daß unbewußte Einsicht und
angeborene Sittlichkeit Übeltaten verhindern, ist augenfällig, daß derart
begabte Menschen so selten wie der Stein der Weisen sind. Eine Annahme
dieser Art läßt sich nicht durch bloße Worte bekräftigen; sie muß
durch Tatsachen untermauert sein. Prüfen wir deshalb, welche Wirkkraft
in der Schöpfung die breiten Massen zu guten Vorsätzen und guten
Taten treibt! Übrigens wäre das Streben nach Rechtschaffenheit,
das solch ein seltener Mensch mit diesen Anlagen an den Tag legt,
sicherlich noch weit intensiver, wenn er darüber hinaus noch
Gottesfurcht in sich verkörperte.
- Allumfassende Wohltaten strömen aus der Gnadenfülle der göttlichen Religionen, denn sie führen die wahren Gläubigen zu aufrichtigen Absichten, edlen Zielen, Reinheit und makelloser Ehrbarkeit, umfassender Herzensgüte, Mitempfinden, Vertragstreue, Rücksichtnahme auf die Rechte anderer, Großzügigkeit, Gerechtigkeit in allen Lebenslagen, Menschlichkeit und Nächstenliebe, Tapferkeit und unermüdlichem Eifer im Dienst an der Menschheit. Mit einem Wort, es ist die Religion, die alle menschlichen Tugenden hervorbringt, und diese Tugenden sind das strahlende Licht der Kultur. Wenn ein Mensch diese hervorragenden Eigenschaften nicht aufweist, hat er sicherlich nie einen Tropfen aus dem unergründlichen Strom der Wasser des Lebens gekostet, die aus den Lehren der heiligen Bücher fluten, noch hat er den leisesten Hauch von den Duftwolken aus den Gärten Gottes verspürt; denn nichts auf Erden kann allein durch Worte belegt werden, und jede Ebene des Seins ist an ihren Zeichen und Symbolen erkennbar, jede Stufe menschlicher Entwicklung hat ihr besonderes Merkmal.
Der Sinn dieser Ausführungen ist, zur Genüge klar zu machen, daß die göttlichen Religionen, die heiligen Gebote und die himmlischen Lehren die unanfechtbare Grundlage menschlichen Glücks sind, und daß die Völker der Welt ohne dieses sichere Heilmittel auf keine wirkliche Linderung oder Erlösung von ihren Leiden hoffen können. Dieses Allheilmittel muß jedoch von einem weisen, erfahrenen Arzt angewandt werden, denn in den Händen eines Unbefugten könnten alle Heilweisen, die der Herr der Menschen jemals erschaffen hat, um den menschlichen Nöten abzuhelfen, keine Gesundung bringen, sondern würden im Gegenteil die hilflosen Opfer nur zugrunderichten und denen, die bereits krank sind, das Herz noch mehr beschweren.
Prüfet alles, und das Beste behaltet
Der Urquell göttlicher Weisheit, die Verkörperung umfassenden
Offenbarertums (Muhammad) hat die Menschheit angehalten, Künste,
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Wissenschaften und andere nutzbringende Kenntnisse zu erlernen und bis
in die hintersten Winkel Chinas danach zu suchen. Aber die unverständigen,
spitzfindigen Schriftgelehrten verbieten dies und rechtfertigen
sich mit dem Spruch: „Wer ein Volk nachahmt, ist einer davon.“
Sie haben nicht begriffen, was mit „Nachahmung“ in diesem Zitat gemeint
ist, geschweige denn, daß sie wüßten, wie die göttlichen Religionen
alle Gläubigen auffordern und ermuntern, sich Lebensgrundsätze anzueignen,
die zu ständigen Verbesserungen führen, und bei anderen Völkern Künste
und Wissenschaften zu erlernen. Wer sich für das Gegenteil
ausspricht, hat nie vom Nektar des Wissens getrunken, ist in seine
eigene Unkenntnis verstrickt und tappt den Trugbildern seiner
Begierden nach.
Urteilt gerecht: Welche der modernen Errungenschaften an sich, welche ihrer Anwendungsmöglichkeiten steht im Gegensatz zu den göttlichen Geboten? Denkt man an die Errichtung von Parlamenten, wird dies im Text des folgenden heiligen Verses ausdrücklich bestimmt: ». . . die ihre Angelegenheiten durch Beratung regeln . . .“ (Qur’án 42:36). Und an anderer Stelle werden die folgenden Worte an das Morgenlicht alles Wissens, die Quelle der Vollkommenheit Selbst (Muhammad), gerichtet, obwohl Er doch allumfassende Weisheit besaß: „. . . und berate Dich mit ihnen in dieser Angelegenheit.“ (Qur’án 3:153). Wie könnte angesichts dessen die Frage gegenseitiger Beratung im Widerspruch zum religiösen Gesetz stehen? Die großen Vorteile der Beratung können auch durch logische Beweisführung belegt werden.
Gibt es eine edlere Tat als den Dienst am Allgemeinwohl? Gibt es etwas Segensreicheres für einen Menschen, als daß er zur Quelle der Erziehung, des Fortschritts, der Wohlfahrt und der Ehre für seine Mitmenschen wird? Nein, bei Gott dem Herrn! Es ist die höchste Tugend für begnadete Seelen, hilflose Weggenossen bei der Hand zu nehmen und sie von ihrer Unwissenheit, Erniedrigung und Armut zu befreien, sich mit lauteren Beweggründen und aus reiner Liebe zu Gott aufzumachen und zielstrebig dem Dienst an den Massen zu weihen, dabei den eigenen weltlichen Nutzen zu vergessen und nur im Dienst am Allgemeinwohl zu wirken. „Sie ziehen jene sich selber vor, auch wenn Armut ihr eigenes Los ist.“ (Qur’án 59:9).
Weise Überlegung in der Entwicklungspolitik
Was jene betrifft, die der Ansicht sind, wir müßten bei der Durchführung notwendiger Reformen mit Überlegung vorgehen, wir müßten Geduld haben und die Ziele eines nach dem anderen zu erreichen suchen, so sei gefragt: Was meinen sie damit? Wenn sie sich mit „Überlegung“ auf die Umsicht beziehen, die in der Staatskunst erforderlich ist, hat ihr Gedanke Hand und Fuß und ist zeitgemäß. Sicherlich können gewichtige Vorhaben nicht in Eile zu einem erfolgreichen Abschluß gebracht werden; Übereilung würde in solchen Fällen nur Unheil anrichten.
Die politische Welt ist wie die des Menschen: Dieser ist am Anfang
nur Same und schreitet dann stufenweise zum Zustand des Embryo und
Foetus, wobei er ein Knochengerüst erhält, mit Fleisch umgeben wird
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und seine eigentliche Gestalt annimmt, bis er schließlich die Stufe
erreicht, auf der er schicklich das Wort erfüllt: „. . . der erhabenste
der Schöpfer.“ 3) Dies ist ein Erfordernis der Schöpfung und
in der Weisheit des Allumfassenden begründet. In gleicher Weise kann sich auch
die politische Welt nicht sofort vom Nadir der Zerrüttung zum Zenith
der Rechtlichkeit und Vollkommenheit entwickeln. Befähigte Persönlichkeiten
müssen sich vielmehr Tag und Nacht bemühen und alle Mittel, die
zum Fortschritt führen, anwenden, damit sich Regierung und Volk
Stufe um Stufe entwickeln, Tag für Tag, ja Stunde für Stunde.
Diese Welt des Staubes belebt sich, wenn durch Gottes Segen drei Dinge auf Erden wirken; dann erstrahlt sie wundersam geschmückt und voller Anmut. Dies sind erstens die befruchtenden Frühlingswinde, zweitens die strömende Fülle der Frühlingswolken und drittens die Wärme der Sonnenstrahlen. Wenn diese drei von den zahllosen Gaben Gottes zusammenkommen, dann werden nach Seinem Willen langsam dürre Bäume und Zweige wieder frisch und grün und schmücken sich mit vielen Formen von Blüten und Früchten. Genau so ist es, wenn die reinen Absichten und die Redlichkeit des Herrschers, die Weisheit, vollendete Geschicklichkeit und Staatsklugheit der Verwaltungsbehörden und die entschlossenen, unermüdlichen Bemühungen des Volkes zusammentreffen: Die Erfolge des Fortschritts, der weitreichenden Reformen, des Blühens und Gedeihens von Regierung und Volk werden Tag für Tag klar und offenbar.
Falls jene Leute aber mit Überlegung, Aufschub und Verzögerung ausdrücken wollen, daß man sich in jedem Menschenalter nur mit einem verschwindenden Teil jener notwendigen Reformen befassen sollte, dann ist dies nichts als Trägheit und Teilnahmslosigkeit, und ihr Verhalten würde zu keinem anderen Ergebnis führen als der endlosen Wiederholung leerer Worte. Übereilung ist schädlich, aber Trägheit und Teilnahmslosigkeit sind tausendmal schlimmer. Der Mittelweg ist der beste, wie geschrieben steht: „Es obliegt dir, Gutes zu tun zwischen den beiden Übeln,“ wobei sich dies auf die goldene Mitte zwischen zwei Extremen bezieht. „Und lasse deine Hand nicht am Nacken gefesselt sein, und weite sie auch nicht in voller Ausdehnung ... Suche zwischen diesem einen Mittelweg!“ (Qur’án 17:31 u. 110).
Erziehung — die wichtigste Aufgabe
Die erste und dringendste Notwendigkeit ist die Förderung der Erziehung. Man kann sich nicht denken, daß ein Volk zu Wohlstand und Erfolg kommt, ohne daß diese ausschlaggebende, grundlegende Frage vorangetrieben wird. Die Hauptursache für den Niedergang und Verfall der Völker ist Unwissenheit.
Es ist deshalb dringend nötig, daß brauchbare Aufsätze und Bücher
geschrieben werden, die klar und bündig darlegen, wessen das Volk
heutzutage bedarf und was dem Glück und dem Fortschritt der
Gesellschaft dienlich ist. Die Veröffentlichung edler Gedanken ist die
dynamische Kraft in den Schlagadern des Lebens, ja die Seele der
Menschenwelt. Die Gedanken sind unendlich wie das Meer, während die
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Auswirkungen und die wechselnden Umstände des Daseins den Wellen in
ihrer unterschiedlichen Gestalt und räumlichen Begrenzung gleichen;
erst wenn das Meer wogt, steigen die Wellen an und tragen die Perlen
der Erkenntnis ans Ufer des Lebens.
Die öffentliche Meinung muß auf das gelenkt werden, was dieses Tages würdig ist. Dies ist jedoch nur möglich durch angemessene Argumente und durch klar verständliche, schlüssige Beweise. Zweifellos suchen die Massen nach ihrem Glück und sehnen sich danach, aber wie ein dichter Schleier trennt sie ihre Unwissenheit davon.
Überleget, wie sehr der Mangel an Erziehungsmöglichkeiten ein Volk schwächt und erniedrigt. Gemessen an der Bevölkerungszahl ist heute (1875) China mit seinen über 400 Millionen Einwohnern die größte Nation der Welt. Demnach sollte die Regierung Chinas die hervorragendste auf Erden sein und sein Volk das berühmteste von allen. Aber ganz im Gegenteil handelt es sich, aus Mangel an kultureller und zivilisatorischer Erziehung, um die ohnmächtigste und hilfloseste aller schwachen Nationen. Vor kurzem zog ein kleines Kontingent englischer und französischer Truppen gegen China zu Feld und besiegte dieses Land so gründlich, daß sogar die Hauptstadt Peking eingenommen wurde. Hätten Chinas Regierung und Volk mit den Fortschritten der Wissenschaft in unseren Tagen Schritt gehalten, wären sie in der Kunst und Technik der modernen Zivilisation bewandert, dann hätten alle Völker der Erde zusammen sie nicht zu überwinden vermocht.
Noch erstaunlicher als dieses Ereignis der Zeitgeschichte ist die
Tatsache, daß die Regierung Japans ursprünglich unter der
Schutzherrschaft Chinas stand, und die Art und Weise, wie Japan vor ein
paar Jahren erwachte und sich die Technik des modernen Fortschritts und
der Zivilisation zu eigen machte. Wissenschaften und Industriezweige,
die dem öffentlichen Wohl dienen, wurden gefördert, und die Regierung
setzte alles daran, was in ihrer Macht und ihren Kräften stand, um die
öffentliche Meinung auf notwendige Reformen zu lenken. Diese Regierung
ist jetzt so vorangekommen, daß sie kürzlich der chinesischen
Staatsführung gegenüber eine herausfordernde Haltung einnehmen konnte,
obwohl die japanische Bevölkerung nur ein Sechstel oder ein Zehntel
der chinesischen ausmacht. Beachte deshalb, wie das Bildungswesen und
die Zivilisation einer Regierung und ihrem Volk zu Ehre, Wohlstand,
Unabhängigkeit und Freiheit gereichen.
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Es ist überdies eine unumgängliche Notwendigkeit, in ganz Persien, selbst in den kleinsten Landstädten und auf den Dörfern, Schulen einzurichten und das Volk auf jede nur mögliche Weise anzuhalten, daß es die Kinder lesen und schreiben lernen läßt. Notfalls sollte die Schulerziehung sogar zwangsweise eingeführt werden. Solange nicht die Nervenstränge und Blutadern der Nation von neuem Leben durchpulst werden, wird sich jedes in Angriff genommene Vorhaben als fruchtlos erweisen; denn das Volk ist wie ein menschlicher Körper, die Entschlossenheit und der Wille, sich durchzusetzen, sind wie die Seele, aber ein seelenloser Körper bewegt sich nicht. Diese dynamische Kraft ist in höchstem Maße im Wesenskern des persischen Volkes beschlossen; die Vertiefung des Erziehungswesens wird sie zutage fördern...
O Volk Persiens! Das Herz ist ein göttliches Pfand. Reinige es vom Makel der Eigenliebe und schmücke es mit der Krone reiner Absicht, auf daß die heilige Ehre, die immerwährende Größe dieser erlauchten Nation über der Welt erstrahle wie das Morgenlicht von einem glückverheißenden Himmel.
Glücklich der Mensch, der sein eigenes Wohl außer acht läßt und wie die Erwählten Gottes mit seinen Weggenossen wetteifert im Dienst am Wohle aller, bis er, gefestigt durch den Segen und die unablässige Bestätigung Gottes, die Kraft erwirbt, diese machtvolle Nation erneut zu den ehrwürdigen Gipfeln ihres Ruhmes zu führen, dieses verdorrte Land mit köstlichem neuem Leben zu durchfluten und wie ein geistiger Frühling jene Bäume, die das menschliche Leben verkörpern, zu schmücken mit frischen Blättern und Blüten und mit den Früchten heiliger Glückseligkeit.
„Das Geheimnis göttlicher Kultur“ ist eine Stellungnahme ‘Abdu’l-Bahás aus dem
Jahre 1875 zu Reformversuchen, die unter Sháh Násiri’d-Din in Iran unternommen
wurden. Deutsche Übersetzung nach der englischen Fassung "The Secret of Divine
Civilization“, translated from the original Persian text by Marzieh Gail, Bahá’í
Publishing Trust, Wilmette, Illinois, USA, 1957. Die Überschriften wurden von der
Redaktion eingesetzt.
- 1) Jáhilíyya, „das Zeitalter der Unwissenheit“ vor der Offenbarung Muhammads in Arabien.
- 2) Draper, im persischen Text als „Draybár“ wiedergegeben. Offensichtlich bezieht sich hier ‘Abdu’l-Bahá auf John William Draper, 1811—1882, einen bekannten Chemiker und Geschichtsforscher, dessen Werke in viele Sprachen übersetzt wurden, Ausführliches Material über die Beiträge der Muslime zur Kultur des Westens und über Gerbert (Papst Sylvester II) finden sich im zweiten Band des zitierten Buches. Über einige der Entlehnungen des Westens vom Islam, die systematisch verschwiegen werden, schreibt der Verfasser: „Ein Unrecht, das auf religiösem Haß und nationaler Eitelkeit beruht, kann nicht in alle Ewigkeit fortgesetzt werden.“ (Band II, S. 42 der revidierten Ausgabe).
- 3) Qur’án 23:14: „Verherrlicht sei deshalb Gott, der Erhabenste der Schöpfer!“
Bahá’u’lláhs Weltordnung - Weg zum Weltfrieden[Bearbeiten]
Der Leser wird schon aus der Beleuchtung und Beantwortung der Lebensfrage „Geht die Menschheit ins Ungewisse“? in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift entnommen haben, daß wir den Angelpunkt des Weltfriedens in der geistigen Einigung der Kontinente und ihrer Völker im Sinne der Sendung Bahá’u’lláhs erblicken. Wir haben im vorgenannten Beitrag versucht, sowohl die geistige, als auch die existentiell alternative Situation der Menschheit von heute kurz zu kennzeichnen. Seit Bahá’u’lláh, der heutige Künder des Willens Gottes, diese Erde verließ (1892), sind viele Seiner prophetischen Warnungen bereits geschichtliche Wirklichkeit geworden. 100 Jahre Bahá’í-Geschichte, wie sie Shoghi Effendi, der erste Hüter der Bahá’í-Religion, in seinem Werk „Gott geht vorüber“ 1) aufgezeichnet hat, spiegeln zugleich die schicksalhafte Wirkungsmacht der Offenbarung Bahá’u’lláhs unter den Völkern und Kulturen dieses Zeitabschnitts eindrucksvoll wider.
Zerfall und keimhafte Ordnungskräfte
Sobald man versucht, anstelle einer vordergründigen, flüchtigen
Betrachtungsweise unseres Zeitgeschehens die tieferen, geistig bestimmten
Zusammenhänge aufzuspüren, vorgefaßte Meinungen gegen selbständige
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und vorurteilslose Einsichten einzutauschen, wird der ernste
Weltkrisencharakter sichtbar. Die Gespaltenheit der Welt, die
furchtverbreitende Macht der Atombombe, die geistige Heimatlosigkeit des
Menschen, seine innere Zerrissenheit, der Verlust seiner inneren Lebensmitte
und Geborgenheit, die Fragwürdigkeit der heutigen Lebens- und Staatsordnungen
infolge der weitgreifenden Erschütterung des moralisch-sittlichen Gefüges
der menschlichen Gesellschaft sind Zerfallserscheinungen, die ihre
tiefste Ursache in der menschheitlichen Orientierungs- und
Führungslosigkeit haben. Vom Blickpunkt der Bahá’í-Religion aus erkennt
man neben dem Prozeß der Auflösung der alten politischen, sozialen
und religiösen Institutionen einen schöpferisch-aufbauenden Vorgang,
der nach der Verheißung Bahá’u’lláhs auf eine neue, göttlich bestimmte
Weltordnung abzielt, die Shoghi Effendi als die „Arche der
Menschheitserrettung“ bezeichnete.
„Durch den zeugenden Einfluß des von Bahá’u’lláh verkündeten Glaubens ist, so kann man sagen, diese neue Weltordnung empfangen worden. Wir können im gegenwärtigen Augenblick ihre Bewegungen im Mutterleibe einer in Kindesnöten befindlichen Zeit wahrnehmen — einer Zeit, die auf die festgesetzte Stunde wartet, in welcher sie ihre Last abwerfen und ihre schönste Frucht tragen kann.“2)
Über diese weltgeschichtliche Krisenentwicklung schrieb Shoghi Effendi bereits im Dezember 1938 u. a. folgendes:
- „Die Gleichzeitigkeit solcher welterschütternder Krisen und die fortschreitende Entfaltung und Wahrnehmung ihrer göttlich bestimmten Aufgabe ist selbst das Werk der Vorsehung, der Plan einer unerforschlichen Weisheit und das Ziel eines allesbezwingenden Willens, eines Willens, der auf seine eigene geheimnisvolle Weise sowohl das Geschick des Glaubens, als auch das Schicksal der Menschen leitet und kontrolliert. Solche simultane Prozesse des Aufstiegs und Zerfalls, der Integration und Auflösung, der Ordnung und des Chaos, mit ihren fortgesetzten und wechselseitigen Reaktionen, sind nur Aspekte eines größeren Planes, eines einzigen und unteilbaren, dessen Quelle Gott ist, dessen Urheber Bahá’u’lláh, das Schauspiel, dessen Bühne der ganze Planet und dessen Endziel die Einheit der menschlichen Rasse und der Frieden der ganzen Menschheit sind.“ 3)
Die Zwielichtigkeit dieser planetaren Krise, der Frieden aus Furcht vor der Macht des anderen, die apokalyptischen Zukunftsbilder, die immer häufiger heraufbeschworen werden, scheinen den Glauben an eine sinnvolle höhere Entwicklung der Erdenbewohner radikal in Frage zu stellen. Andererseits mehren sich die Stimmen, welche die Abwendung der drohenden Gefahren allein aus einer weltweiten und tiefgreifenden religiösen Erneuerung des Menschen erhoffen.
Nur auf dieser gleichzeitig Freiheit und höhere Bindung schaffenden
Grundlage wird es schließlich gelingen, eine gerechte und befriedete
Weltordnung aufzubauen. Sie muß unabdingbar die Erkenntnis der
geistigen Einheit der Menschheit als höchste organische Ganzheit zum
Ausgangspunkt wählen. Toynbee schrieb einmal, daß, wenn es für das Problem
der Welteinheit eine Patentlösung gäbe, wir unsere Gelehrten dafür
bezahlen könnten, sie
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zu finden. „Wenn diese Aufgabe aber — wie es in Wirklichkeit der
Fall ist — einen inneren Wandel des modernen Menschen erfordert,
dann können wir sie nicht irgendwelchen Fachleuten übertragen.
Jeder einzelne von uns muß die Arbeit selber leisten ... . Die großen
geschichtlichen Entscheidungen sind immer sittlich fundiert.“
S. Radhakrishnan sagt in seiner Arbeit „Die
Gemeinschaft des Geistes“: „Wenn die Quellen des Geistes, aus denen
schöpferisches, individuelles und soziales Leben fließt, versiegen, brechen
intellektuelle, moralische und soziale Krankheiten aller Art aus. . . . Weder
wirtschaftliche Pläne noch politische Vereinbarungen können uns den
Frieden auf Erden bringen. Nur Menschen reinen Herzens können in der
Aufrechterhaltung des mystischen Akkords der Seelen Gerechtigkeit
und Liebe aufrichten.“4)
Religion — aufbauende Ordnungsmacht
Der Begründer der Bahá’í-Religion, Bahá’u’lláh, schrieb über die zentrale Bedeutung der Religion für das Zusammenleben der Menschen und Völker: „Religion ist das vorzüglichste aller Mittel zur Begründung von Ordnung in der Welt und zur friedlichen Begnügung aller, die darin wohnen. Die Schwächung der Pfeiler der Religion hat die Unwissenden gestärkt und sie kühn und anmaßend gemacht. Wahrlich, Ich sage, was immer die erhabene Stufe der Religion erniedrigt hat, das hat die Widerspenstigkeit der Gottlosen vermehrt, und das Ergebnis kann nur Gesetzlosigkeit sein. . . Religion ist ein strahlendes Licht und eine uneinnehmbare Feste für den Schutz und das Wohlergehen der Völker der Welt, denn die Gottesfurcht treibt den Menschen an, sich an das festzuhalten, was gut ist, und alles Böse zu meiden. Sollte die Lampe der Religion verdunkelt werden, so werden Chaos und Verwirrung die Folge sein, und die Lichter der Ehrlichkeit, der Gerechtigkeit, der Ruhe und des Friedens werden zu scheinen aufhören.“ — „Wisse, daß die, welche wahrlich weise sind, die Welt mit dem menschlichen Tempel verglichen haben. Wie der Körper des Menschen eines Gewandes bedarf, um sich zu bekleiden, so muß der Körper der Menschheit mit dem Mantel der Gerechtigkeit und Weisheit geschmückt sein. Ihr Prachtgewand ist die Offenbarung, die ihr von Gott verliehen worden ist.5)
Die Religion ist ihrem Wesen nach dynamisch, schöpferisch und
fortschreitend. Im Lichte der Einheit der göttlichen Wahrheit und ihrer
Offenbarer und im Hinblick auf die unbestreitbare geistige Verworrenheit
der Weltlage wird die weltgeschichtliche Sendung Bahá’u’lláhs
jedem wachsamen und aufgeschlossenen Menschen erkennbar. Nach
göttlichem Willen wies Er uns den Weg über alle vermeintlichen
Grenzen hinaus zu einer universalen Verständigung und einem neuen
Menschheitsbewußtsein. Folgende Worte Bahá’u’lláhs verdeutlichen dies:
„Es steht dem nicht zu, sich zu brüsten, der sein eigenes Land liebt,
sondern eher dem, der die ganze Welt liebt. Die Erde ist nur ein
Heimatland und die Menschheit ihre Bürger... Der, wahrlich, ist ein Mensch,
der sich heute dem Dienste am ganzen Menschengeschlecht weiht.“6)
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Mancher mag einwenden, die Unterschiede und Gegensätze zwischen den Völkern und Rassen seien unüberbrückbar. Völkerkundliche, kulturgeschichtliche, psychologische, religionswissenschaftliche und andere Untersuchungen haben erwiesen, daß der Mensch als Geschöpf und Zeichen Gottes in seinen Grundanlagen ungeachtet seiner unterschiedlichen Lebens- und Haltungstypen entscheidende Gemeinsamkeiten mit seinesgleichen hat. Der Biologe und Philosoph Hans Driesch schrieb in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts, es sei einfach nicht wahr, daß die verschiedenen Völker sich grundsätzlich nicht „verstehen“ könnten. Er sagt mit Recht, „daß grundsätzliche Verschiedenheiten der seelischen Struktur bei den Völkern nicht vorlägen, sondern nur Einseitigkeiten des Gesichtsfeldes und Unterschiede in der kritischen Höhe der Ausbildung des Weltbildes.“ 7) Die Neubildung afrikanischer und asiatischer Staaten und ihre Aufnahme in die Vereinten Nationen liefern anschauliche Beispiele für die Verstehbarkeit der Menschengrundrechte in den sogenannten Entwicklungsländern und für die entscheidende Bedeutung der Erziehung und Aufklärung. Eine der grundlegenden Forderungen Bahá’u’lláhs für die Verwirklichung Seiner Weltordnung ist die von Staats wegen sicherzustellende gleichberechtigte Erziehung und Ausbildung beider Geschlechter aller Völker.
Neues Geschichtsbewußtsein
Es ist, geschichtlich betrachtet, verständlich, daß sich die Emanzipation der afrikanischen und asiatischen Stämme und Völker meist noch in rassisch-nationalistischen Formen vollzieht. Es sind dies nicht zuletzt Spätfolgen falsch verstandener Kolonialpolitik. Hier kommt den Vereinten Nationen keine leichte Aufgabe zu. Gerade dieser Prozeß der Neuentstehung von Nationen zeigt deutlich, daß es mit wirtschaftlicher und sozialer Hilfe allein nicht getan ist.
Die Lehren seit der Französischen Revolution bis heute sind für die Neuorientierung der Völker und Staaten so eindringlich, daß es eigentlich keines Beweises bedarf für die Notwendigkeit, sich von einer nationalstaatlichen Denkweise ab- und einer weltgeschichtlichen Betrachtungsweise zuzuwenden. „Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Zeit einer ausschließlich nationalstaatlichen Geschichtsbetrachtung vorbei ist. Die Geschichtswissenschaft muß den Sprung in die planetarische Zukunft wagen, auch in der Erfassung der Vergangenheit. Sie wird den Nationalstaat als geschichtliche Wirklichkeit, aber nicht mehr als letzten Sinn der Geschichte begreifen.“ 8)
Die Menschheit als Ganzes steht an einem einschneidenden Wendepunkt ihres Schicksals. Den von ihr so sehr ersehnten Weltfrieden wird sie nur durch eine föderative Weltordnung erringen, die Freiheit, Vertrauenswürdigkeit, Gerechtigkeit und Einheit im Sinne ihrer göttlichen Bestimmung verbürgt. Die Bahá’í-Religion vermittelt in großer und überzeugender Klarheit den Weg zur Begründung dieser Einheit der Menschheit. Darüber schrieb Shoghi Effendi:
„Die Offenbarung Bahá’u’lláhs, deren höchste Sendung keine andere
ist als die Vollendung dieser organischen und geistigen Einheit
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der ganzen Körperschaft der Nationen, sollte, wenn wir gegen deren
Folgerungen ehrlich sind, so betrachtet werden, als kündige sie durch
ihre Herabkunft das Kommen des Zeitalters der ganzen Menschenrasse
an. Sie sollte nicht nur als noch eine weitere geistige Wiederbelebung in
den immer wechselnden Geschicken der Menschheit betrachtet werden,
nicht nur als eine weitere Stufe in einer Reihenfolge fortschreitender
Offenbarungen, noch selbst nur als der Höhepunkt in einer Reihe
wiederkehrender prophetischer Zyklen, sondern vielmehr als ein Markstein
der letzten und höchsten Stufe in der erstaunlichen Entwicklung des
menschlichen Gesamtlebens auf diesem Planeten. Die dringende
Notwendigkeit einer Weltgemeinschaft, das Bewußtsein eines
Weltbürgertums, die Begründung einer Weltzivilisation und -kultur — die
alle mit den Anfangsstadien der Entfaltung des goldenen Zeitalters der
Bahá’í-Ara zusammenfallen müssen — sollten in ihrer wahren Natur, soweit
dieses planetarische Leben in Betracht kommt, als die äußersten Grenzen
in dem Bau der menschlichen Gesellschaft betrachtet werden, wenn auch
der Mensch als Einzelwesen in der Tat als Ergebnis solcher Vollendung
unbegrenzt weiter fortschreiten und sich entwickeln wird, ja muß...
- Zum Gedenken an ‘Abdu’l-Bahá
- Vor kurzem jährte sich zum 50. Male der Tag, an dem ‘Abdu’l-Bahá auf Seiner ersten Reise in den Westen in Paris eintraf. Dies nahmen die Pariser Bahá’í zum Anlaß einer Gedenkfeier, zu der sich 150 Freunde und Gäste am 1. Dezember 1961 im Hotel Lutetia im 7. Arrondissement zusammenfanden. Louis Henuzet sprach über die Grundlagen der künftigen Gemeinschaftsordnung, Lucienne Migette gab einen Überblick über die Geschichte der Bahá’í-Religion, und Professor A. Tamenne referierte über die Ansprachen, die ‘Abdu’l-Bahá seinerzeit in Paris hielt. Unser Bild zeigt (v. l.) Louis Henuzet, Professor Tamenne und Fräulein Migette während der Feierstunde.
Vereinigung der ganzen Menschheit ist der Stempel der Stufe, welcher sich die menschliche Gesellschaft jetzt nähert. Die Einheit der Familie, der Sippe, des Kleinstaates und der Nation ist nacheinander versucht und völlig erreicht worden. Welteinheit ist das Ziel, dem eine gequälte Menschheit zustrebt. Das Werden von Nationen ist zu einem Ende gekommen. Die einer staatlichen Herrschaft anhaftende Gesetzlosigkeit nähert sich dem Höhepunkt. Eine Welt, die zur Reife heranwächst, muß diesen Fetisch aufgeben, die Einheit und Ganzheit der menschlichen Beziehungen erkennen und ein für allemal das Räderwerk aufbauen, das diesen Hauptgrundsatz ihres Daseins am besten verkörpern kann.“ 9)
Der mächtige schon vor nahezu 100 Jahren ergangene Ruf Bahá’u’lláhs an die Staatsmänner, geistlichen Würdenträger, Philosophen, Wissenschaftler und an alle Völker, Rassen und Menschen zu dieser aussöhnenden und aufrichtigen Vereinigung zu einer Völkerfamilie in einem Glauben und im Gehorsam gegenüber dem einen und einzigen Gott zieht sich wie ein goldener Faden durch Seine Sendschreiben und umfangreichen Schriften, die auszugsweise in mehr als 250 Ländern in über 270 Sprachen verbreitet sind.
So wendet sich Bahá’u’lláh u. a. mit folgenden Worten an uns: „O ihr Menschenkinder, die Grundabsicht, die den Gottesglauben und Seine Religion beseelt, ist, das Wohl des Menschengeschlechts zu schützen und seine Einheit zu fördern . . . Dies ist der gerade Weg, die festgesetzte und unbewegliche Grundlage. Was auch immer auf dieser Grundlage errichtet ist, dessen Stärke kann Wechsel und Wandel der Welt nie beeinträchtigen, noch wird der Umschwung unzähliger Jahrhunderte dessen Bau untergraben.“ — „Das Wohlergehen der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit sind unerreichbar, sofern nicht und ehe nicht ihre Einheit fest begründet ist . . . Dieses Ziel überragt jedes andere Ziel, und dieses Streben ist der Fürst alles Strebens.“ 10)
Die Gesetze für organische Körper liegen nach den Lehren der Bahá’í-Religion
im übertragenen Sinne auch den Gemeinschaftsgebilden der Menschen zugrunde.
Krankheitsbilder lassen sich daher auch auf die
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menschlichen Gesellschafts- und Staatsformen anwenden. Spannungen
und Gegensätzlichkeiten in den menschlichen und zwischenstaatlichen
Beziehungen haben in ihren organfeindlichen Störungen und
Ordnungswidrigkeiten immer geistige Gründe. So verstehen wir auch heute die
religiösen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen, die mehr und
mehr alle Kontinente und Völker ergriffen haben. Die Überwindung dieser
globalen Krisen übersteigt offensichtlich menschliches Vermögen. Um
im Bilde zu bleiben, ist der Menschheitskörper als Ganzes lebensgefährlich
erkrankt. Bahá’u’lláh spricht davon, daß nur Er als der göttliche Arzt
Heilung bringen könne. Die heilenden Kräfte strömen aus dem Geiste
Seiner Offenbarung. Der Heilprozeß erfordert, wie schon gesagt, sowohl
die geistige Wandlung und Erneuerung des einzelnen Menschen, als die
Verwirklichung Seines Heilsplanes für die ganze Menschheit, der
dokumentarisch und authentisch in der von Ihm niedergelegten, göttlich
bestimmten Welt- und Gemeinschaftsordnung seinen einzigartigen Niederschlag
gefunden hat. Diese durch ‘Abdu’l-Bahá im einzelnen autoritativ
erläuterte Weltordnung verbürgt in ihrem Aufbau soziale Gerechtigkeit,
treuhänderische, beratende und übernationale Zusammenarbeit im
Bewußtsein wahrer und weltoffener Bruderschaft.
Ausgehend von der tragenden Idee der geistigen Einheit der Menschheit zielt die Weltordnung auf die Bildung eines föderativen Weltgemeinwesens (Weltbundesstaat) ab, das als wesentliche Einrichtung eine Weltregierung, ein Weltparlament, ein Weltschiedsgericht und eine Weltexekutive haben wird. Eine Welthilfssprache, eine Weltschrift, ein welteinheitliches Währungs-, Gewichts- und Maßsystem sollen den Verkehr und die Verständigung unter den Nationen und Rassen aller Kontinente vereinfachen und erleichtern.
Die durch Gottes „unwandelbaren Plan“ für die Menschheit vorbestimmte Weltordnung ist in der Bahá’í-Weltgemeinschaft nach den geistigen Prinzipien Bahá’u’lláhs und den Anleitungen ‘Abdu’l-Bahás keimhaft als praktisches Vorbild in einer weltweiten Entwicklung und sinnvollen Anwendung begriffen. ‘Abdu’l-Bahás religionsgeschichtlich einmalige Stellung als der von Bahá’u’lláh testamentarisch eingesetzte „Mittelpunkt des Bundes“ und als Ausleger des Wortes Gottes verbürgt den Schutz der Bahá’í-Religion vor einer Spaltung. Die geistige Einheit und Unveränderlichkeit der Wahrheit des Wortes Gottes in der Offenbarung Bahá’u’lláhs einerseits und die administrativ örtlich, national und übernational verankerte Bahá’í-Weltgemeinschaft ruhen auf den Zwillingspfeilern des Hütertums und des Universalen Hauses der Gerechtigkeit.
Wie Shoghi Effendi schrieb, „verschmilzt (die Gemeinschaftsordnung Bahá’u’lláhs), wie keine von sterblicher Hand geformte Herrschaft es seither vollbracht hat, die zweifellos in jedem“ der bisherigen Regierungssysteme „enthaltenen gesunden Bestandteile und bringt sie miteinander in Einklang, ohne die Reinheit jener gottgegebenen Wahrheiten, auf die sie sich letzten Endes gründet, zu verfälschen.“
Die neue Gemeinschaftsordnung
Nachstehend wird versucht, die wesentlichen Leitsätze der von Bahá’u’lláh
aufgestellten Gemeinschaftsordnung in kurzgefaßter Form wiederzugeben.
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1. Die Mitverantwortung jedes einzelnen ist durch seine aktiven und passiven Wahlrechte in organischem Aufbau an der Gemeinschaft einer gegliederten örtlichen, nationalen, überrassischen, übernationalen und interreligiösen Ordnung sicherzustellen.
2. Das Wahlrecht ist durch geheime Persönlichkeitswahl ohne Wahlvorschläge unabhängig in eigener Gewissenserforschung vornehmlich nach Würdigkeitsgesichtspunkten und ungeachtet des Ranges und der Stellung der zu wählenden Mitglieder auszuüben.
3. Den periodisch zu wählenden Treuhändern der erforderlichen Einrichtungen kommt volle Autorität und Unabhängigkeit gegenüber ihren Wählern in höchster Verantwortung vor Gott zu.
4. Die Mitglieder der Treuhandgemeinschaften (Geistige Räte) müssen „in Gebetsstimmung den Vorschriften und Eingebungen ihres Gewissens folgen“ (Shoghi Effendi). Nach gewissenhaftem Vertrautsein mit dem Einzelfall steht der Institution das Recht freier Entscheidung nach der erforderlichen Beratung und auf Grund ordentlicher Beschlußfassung zu.
5. Die Freihaltung von Vorurteilen jeglicher Art ist ein wesentliches Gebot. Die unheilvollen Folgen von Vorurteilen politischer, religiöser, ständischer, rassischer und anderer Natur sind hinreichend bekannt.
6. Die Führung ist immer in die Hände eines gewählten Gremiums zu legen, das jegliche diktatorische oder persönliche Machtausübung ausschließt.
7. In allen Institutionen für gemeinschaftliche Belange ist stets das grundlegende Prinzip der freimütigen und harmonischen Beratung hochzuhalten.
8. Allen Beratungen und Lösungen liegt der Leitgedanke der Förderung und Erhaltung der geistigen Einheit der Menschheit als das oberste Gemeinwesen zugrunde.
9. Für den Geist aller Gemeinschaftsformen ist die Einheit der göttlichen Offenbarungswahrheiten und der wissenschaftlichen Erfahrungswahrheiten der tragende Grund. Insbesondere gilt dies auch für die Begegnung der Religionen und die Förderung der Völkerverständigung.
10. Die Lösung der sozialen Fragen als Grundbedingung für die Befriedigung der Welt beruht auf der Grundlage der wechselseitigen Abhängigkeit von Kapital und Arbeit einerseits und einer gerechten Begrenzung von Reichtum und Armut unter Wahrung des Leistungsprinzips und gerechter Entlohnung andererseits. Jede Arbeit, die menschendienend ist, trägt gottesdienstlichen Charakter. Arbeit ist soziale Verpflichtung des einzelnen. Gerechte Steuer- und Erbgesetzgebung ist Bestandteil der sozialen Gebote der Bahá’í-Religion. Die sozialen Probleme erfahren durch diese eine umfassende Lösung.
11. Die Verankerung der Menschenrechte und -pflichten soll in einer von allen
Staaten aus freiem Entschluß anzunehmenden Weltverfassung vollzogen und einheitlich
in die nationalstaatlichen Verfassungen eingebaut werden.
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12. Mitentscheidend wurzelt die Bahá’í-Weltordnung in der religiösen Wiedergeburt des einzelnen als Zellträger jeder Gemeinschaft und in der Verwirklichung der Religion als die schöpferische Lebensmitte und gemeinschaftsbildende Kraft zur Aussöhnung und Einigung der Völker und Rassen.
Die Sehnsucht des Menschen nach Frieden und Freiheit, nach Herausführung
aus Furcht und Unsicherheit findet Antwort in dem verheißungsvollen Plan
Gottes für die Zukunft der Menschheit. In unendlicher Liebe und Gnade für
Seine Geschöpfe hat Gott in Erneuerung Seines Bündnisses durch Bahá’u’lláh
den Heilsweg gewiesen. An uns Menschen liegt es heute, gläubig, zuversichtlich
und entschlossen diesen Weg zu beschreiten.
- Dr. Eugen Schmidt
- 1) George Ronald Verlag, Oxford, deutsche Ausgabe, 1954
- 2) Shoghi Effendi, „Die Entfaltung der neuen Weltzivilisation“, Stuttgart, 1936, S. 12.
- 3) „The Advent of Divine Justice“, New York, 1939, S. 60.
- 4) Holle Verlag, Sonderausgabe Europäischer Buchklub, S. 370 und 371,
- 5) Die Entfaltung der göttlichen Weltzivilisation, S. 32/33.
- 6) ebenda, S. 47.
- 7) „Die sittliche Tat“, 1927, S. 145.
- 8) Prof. Dr. Hermann Heimpel, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 1959, Nr. 71, S. 9.
- 9) Die Entfaltung, S. 5 und 51.
- 10) ebenda, S. 52.
Religion und die Sehnsucht nach Einheit[Bearbeiten]
Die Ansprache des indischen Vizepräsidenten Sarvepalli Radhakrishnan anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels
- Am 22. Oktober vergangenen Jahres wurde dem indischen Vizepräsidenten und Religionsphilosophen, Sarvepalli Radhakrishnan, in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Es war in mehrfacher Hinsicht ein bedeutsames Ereignis; nicht nur, daß dieser Preis erstmals an eine Persönlichkeit außerhalb des christlichen Kulturkreises vergeben worden ist — der Träger des Preises hat in seiner Ansprache auch Gedanken entwickelt, die in dieser Prägnanz hierzulande selten zu hören sind, zumindest kaum in einer so weiten Öffentlichkeit. (Die Verleihung wurde vom Deutschen Fernsehen übertragen.) Sarvepalli Radhakrishnan hob vor allem auf die Einheit der Religionen ab und auf ihre gemeinsame Quelle, Gott. In der Würdigung der Person Radhakrishnans hatte zuvor der Marburger Theologie-Professor D. Dr. Ernst Benz u.a. gesagt, Sarvepalli Radhakrishnan habe mit seinen Werken eine neue Periode geistiger Begegnung der großen Weltreligionen und der durch sie geprägten Kulturen eröffnet. Mit der Erkenntnis der Pluralität der Weltreligionen sei eine gründliche Veränderung in der Struktur des religiösen Bewußtseins des heutigen Menschen eingetreten, betonte Professor Dr. Benz in seiner „Laudatio“. — Die Redaktion der „Bahá’í-Briefe“ veröffentlicht im folgenden den Wortlaut der Ansprache von Sarvepalli Radhakrishnan, der, und das ist sicherlich von Interesse, die Lehren Bahá’u’lláhs, des Begründers der Bahá’í-Religion, sehr gut kennt.
Ich danke dem Vorsteher und den Mitgliedern des Vorstandes des
Deutschen Buchhandels für Ihren freundlichen Vorschlag, mich für den
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Friedenspreis 1961 auszuwählen. Es ist eine wirkliche Auszeichnung für
mich, zu denen gezählt zu werden, die ihr ganzes Leben und ihre Schriften
in den Dienst des Friedens gestellt haben, und ich würdige dies
ganz besonders. Wenn meine Schriften und anderen Werke der Welt
etwas Wertvolles geben konnten, dann vielleicht deshalb, weil ich tief
an das menschliche Wesen und an den freien Geist des Menschen glaube.
Die Auszeichnung für jemanden, der nicht der traditionellen Kultur Europas
und Amerikas angehört, kennzeichnet ihren internationalen Charakter.
Professor Dr. Benz war in der Würdigung meines Werkes außerordentlich großzügig. Er bezog sich auf die hervorragenden Beiträge, die deutsche Indologen, deutsche Forscher und deutsche Verleger für das Studium des indischen Denkens geleistet haben. Wir stehen Ihnen gegenüber in tiefer Dankesschuld. Als Mensch, der sich sein Leben lang dem Studium der Philosophie und der Religion gewidmet hat, glaube ich ein feines Empfinden für die metaphysischen Nuancen und mystischen Feinheiten Ihrer klassischen Denker und Ihrer betrachtenden Propheten zu besitzen.
Herr Professor Benz bezog sich auf eine Erklärung, die ich 1947 in Delhi abgegeben habe. Ich darf sagen, daß sich diese Worte auf die gegenwärtige Lage in Deutschland anwenden lassen. Politik als Ganzes mag nicht existieren, aber Geschichte als Ganzes lebt, unabhängig davon, wie weit der Geist fehlt, ob von sich selbst getrennt und ob unbewußt ihrer eigenen Existenz. Der Weg zum Ziel mag lang und anstrengend sein, er mag voller Mühsal und Leiden sein, aber es wird schließlich erreicht.
In einer Zeit, in der sich neue Wege der Einrichtung menschlichen Lebens zu behaupten beginnen, werden Schriftsteller auf den Plan gerufen, die eine Verpflichtung für die menschliche Wohlfahrt fühlen, um die neuen Ideale konstruktiv anzupacken und um sich mit Begeisterung und Hingabe ihrer Darstellung zu widmen.
Dieses Gebäude war das Symbol deutscher liberaler Bestrebungen seit dem ersten vereinten Parlament, das sich hier 1848 versammelte. Es ist eine Mahnung für uns, in dieser schweren Stunde menschlicher Geschichte die Notwendigkeit für moralische und geistige Werte klar zu erkennen.
In materieller Hinsicht haben sich die Bedingungen, unter denen wir leben, in wenigen Jahrzehnten radikaler geändert als im Zeitraum von Jahrhunderten der Vergangenheit. Das Maß und die Schnelligkeit dieser Veränderungen schließen einen radikalen Bruch mit früheren Bedingungen ein. Die rasche Vereinigung der Welt, die jetzt durch moderne Methoden des Verkehrs und der Nachrichtenverbindungen stattfindet, ist die wirksamste und weitreichendste, die wir bisher gekannt haben. Führende Menschen der Zivilisationen und Propheten der Religionen träumten von einer einzigen Welt, aber ihr Ideal konnte zu ihrer Zeit nicht erfüllt werden. Heute sind alle Teile der menschlichen Rasse miteinander in Kontakt. Wenn wir in Frieden leben wollen, können wir nicht auf halbem Wege zur vollständigen Vereinigung stehenbleiben.
Die Sache ist dringend geworden, da wir militärische Waffen mit
Atomkraft herstellen. Jeder Atomkrieg kann nur in einer wilden Orgie
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der Zerstörung enden. Wir haben zwischen zwei Alternativen zu wählen:
uns zu zerstören oder zu lernen, als Mitglieder einer einzigen Familie
zu leben.
Wenn die menschliche Rasse überleben soll, müssen wir den Nationalstolz dem internationalen Denken unterordnen. Eine Nation hat ihren Platz in der internationalen Ordnung, aber wenn sie ihre eigenen Interessen über die der menschlichen Gemeinschaft stellt, wird es gefährlich. Die Geschichte ist voll von Konflikten — Persien und Griechenland, Karthago und Rom, die Christenheit und der Islam, die Achse und die alliierten Mächte Heute haben wir gespannte Beziehungen zwischen den großen Gruppen, die von den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion geführt werden. Es ist notwendig, daß diese sich nicht in passiver, bewaffneter Koexistenz lösen, sondern in tätiger Zusammenarbeit, um daraus eine menschliche Gesellschaft zu entwickeln, die sich auf eine Gemeinsamkeit von Idealen und Zielen gründet. Überzeugung und Zusammenarbeit sind moralische Imperative geworden.
- In Stuttgart wurde Sarvepalli Radhakrishnan (mit Schriftstück) von Professor Theodor Heuß (rechts) empfangen.
Wenn die gegenwärtige Situation nicht im Chaos enden soll, müssen wir
uns bemühen, eine weitaus bessere Welt zu bauen als die, die jemals zuvor
bestand. Es liegt an uns zu wählen. Wir sollten nicht glauben, daß
alles durch die rein physische Kette der Ereignisse bestimmt ist. Wenn
wir die menschliche Freiheit verwerfen und glauben, daß wir vom Strudel
der Ereignisse mitgerissen werden und daß dieser Strom uns in ein Chaos
schwemmt, dann wird das auch geschehen, und wir werden verantwortlich
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dafür sein. Wenn wir auf die Torheiten, Verbrechen und die Massaker
der Geschichte schauen, dann finden wir, daß sie möglich waren, weil
die Menschen die Stimme ihres Gewissens unterdrückten, unter dem Gesetz
des Staates Schutz suchten und ihre Freiheit der Masse überantworteten.
Einige Führer der Religionen und Nationen töteten die öffentliche Meinung
ab und kontrollierten sie durch Massenpropaganda, Gehirnwäsche usw., bis
ihre Nachfolger aufhörten, sich für ihre Handlungen verantwortlich zu fühlen.
Sie wurden Bündel von Vorurteilen und Feindschaften, engherzigen
Treuegefühlen und geistiger Verwirrung. Dieses unnatürliche Abschütteln
menschlicher Verantwortung findet sich sehr
klar in dem Epigramm: „Es war nicht Adams Schuld; es war nicht Evas
Schuld, es war nicht die Schuld der Schlange; schuld war der Apfel“.
Wieder einmal, wie so oft in der Geschichte, zeigen sich in Zeiten großer Gefahr Möglichkeiten eines Auswegs. Vielleicht langsam, Schritt für Schritt, unmerklich, ungeachtet all dessen, was die geistige Wiedergeburt der Menschen dafür aufwendet. Denkende Menschen leiden unter der Unordnung, sie leiden unter einer schweren Last von Schuld. Sie fühlen sich zutiefst gedemütigt. Sie beginnen, an sich selbst und ihrem Wert zu zweifeln. Ihr Vertrauen ist erschüttert, wenn sie sich darüber klar werden, daß wir, menschliche Wesen, die Anspruch darauf erheben, zivilisiert zu sein, im letzten Krieg unfaßbare Grausamkeiten begingen und dies sogar jetzt noch in manchen Teilen der Welt tun. Sie fühlen, daß ihre Hoffnungen zerstoben sind und ihre Träume entwertet. Sie sind darüber besorgt, daß unsere Führer wieder den Kopf verlieren könnten und uns durch Mißbrauch von Atomkraft vernichten. Sie sind zornig über den offensichtlichen Zynismus, die Heuchelei und Ziellosigkeit einer Generation, zu der sie keine Sympathie haben. Sie protestieren gegen die Gemeinheit und Niedrigkeit des Lebens. Dennoch leben sie in Hoffnung. Es ist eine grundlegende menschliche Forderung, mit den Dingen, so wie sie sind, unzufrieden zu sein, nach etwas Besserem zu verlangen als dem, was ist.
Ihre großen Denker verstehen die gegenwärtige Situation, die geistige Gefahr der menschlichen Persönlichkeit, die ein Zahn in der sozialen Maschine wird und damit ihre Substanz, ihre Freiheit, ihre Eigenart verliert. Sie versuchen, die Freiheit und die Eigenart zu erhalten. Es gibt eine geheimnisvolle Schicht in unserem Ich, die nicht von äußerlichen Prozessen berührt wird, ein Element, das uns befähigt, Qualen auszuhalten und Druck zu widerstehen. Der Mensch ist kein Automat, der mit vorherzusagenden Antworten auf äußere Reizeinwirkungen reagiert. Er hat eine Dimension der Tiefe. Er lebt auf der Oberfläche, wenn er sich mit Äußerlichkeiten begnügt. Aber es gibt eine reinere Freude, die der innersten Tiefe seines Wesens thront, die ihm in all ihrer Majestät bewußt wird, wenn er auf seine eigennützigen Begierden und seinen äußerlichen Besitz verzichtet — eine Freude, die nicht einmal der Tod stören kann.
Wir machen heute Geschichte. Durch die Wahl, die wir treffen, können
wir den Strom der Ereignisse verändern. Wir können dies nur tun,
wenn wir das individuelle Gewissen bewahren. Wir müssen den Nationenstaat
der Aura des Absoluten entkleiden und das individuelle
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Gewissen wieder auf seinen zentralen Platz setzen. Wir müssen aufhören,
Menschen anderer Nationen als Fremde oder Feinde anzusehen, sondern
müssen sie wie menschliche Wesen unserer eigenen Art behandeln. Wir
müssen uns an der Rückkehr zu den Prinzipien individueller Freiheit
und der Weltfreundschaft begeistern. Dies ist keine Zeit für Zorn,
sondern für Demut, für Sorge, für Anstrengungen, für Erneuerung.
Was uns hilft, Herren unserer selbst zu werden, ist die Religion. Doch sie ist leider auf einem Tiefstand angelangt. Ihre Erfolge liegen auf der Hand, aber die Massen der Menschen in vielen Ländern sind ihrem wirklichen Geist entfremdet. Man muß scharf unterscheiden zwischen philosophischem Verstehen und Befreiung von der Tyrannei der Begierden. Ein orthodoxer Christ wurde gefragt, was nach seiner Ansicht mit ihm geschehen würde, wenn er stürbe, und er antwortete: „Ich glaube, ich werde in einen Zustand ewiger Wonne eintreten, aber ich wünschte, Sie würden nicht über solche niederdrückenden Dinge sprechen.“ Intellektuelle Wahrnehmung unterscheidet sich vom gefühlsmäßigen Begreifen. In den Tiefen seiner Natur sehnt sich der Mensch nach einem umfassenden Bewußtsein der Wirklichkeit, in der er lebt und sich bewegt. Über den Sorgen, Verwirrungen und Enttäuschungen, die den Menschen belagern, strahlt in der Welt die geistige Macht, die, wie in allen Dingen der Schöpfung, in der Seele des Menschen wohnt. Diese geistige Macht beleuchtet seinen Weg zum wahren Leben. Das Ziel aller Glaubensbekenntnisse liegt darin, im einzelnen Menschen das Bewußtsein für das Königreich des Lichts in sich selbst zu wecken.
Das Licht zu sehen, im Geiste wiedergeboren zu werden, ist die hohe Mission, zu der wir alle berufen sind. Wenn Religion als innerer Wandel und Selbstreinigung verstanden wird, werden ihre Triumphe entscheidend sein. Sie wird mit neuer Kraft strahlen, und eine neue Macht wird von ihr ausgehen. Wenn wir unter Religion persönliche Begegnung mit dem Höchsten verstehen, dann werden wir auch demütig sein in der Beschreibung der Natur des Wirklichen. Im Geiste der Upanischaden und Buddhas sagte Goethe: „Gott wird ihnen, besonders den Geistlichen, die ihn täglich im Mund führen, zu einer Phrase, zu einem bloßen Namen wobei sie sich auch gar nichts denken. Wären sie aber durchdrungen von seiner Größe, sie würden verstummen und ihn vor Verehrung nicht nennen mögen.“ Jede Religion hat ihre Priester, Philosophen und Propheten. Eine Religion lebt durch ihre Begnadeten, die Heiligen, die Seher und Propheten. Darf ich William Penn zitieren: „Die demütigen, sanftmütigen, dankbaren, gerechten, frommen und ergebenen Seelen sind überall von der gleichen Religion. Wenn der Tod die Maske abgenommen hat, dann werden sie einander kennen, trotz der verschiedenen Gewänder, die sie hier tragen und die sie hier voneinander unterscheiden.“
Professor Benz hat das Zusammentreffen der Religionen im Laufe der
Geschichte aufgezeigt. Der Westen ist sich seit langem der drei großen
Religionen Judaismus, Christentum und Islam bewußt. Im 19. Jahrhundert
wuchs die Kenntnis vom Hinduismus, Buddhismus und anderen asiatischen
Religionen, und dies beeinflußte das religiöse Denken des Westens.
Er bezog sich auf Schopenhauers Führerrolle auf diesem Gebiet. Heute
wirken christliche und nichtchristliche Religionen wie nie zuvor
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gegenseitig aufeinander ein. Lassen Sie mich klar sagen, daß ich nicht von
der Notwendigkeit eines Weltglaubens überzeugt bin, einer Auslese, die
die wertvollen Elemente aller Religionen vereint. Jeder Versuch, eine
Religion zu schaffen, die doch nicht eine Religion im besonderen ist,
muß ebenso unhaltbar sein wie der Versuch zu sprechen, ohne eine
bestimmte Sprache zu reden. Wir anerkennen die verschiedenen Religionen,
aber erkennen die Einheit, die ihnen zugrunde liegt. Wir wollen
nicht die Vielfalt verflachen oder Gleichförmigkeit auferlegen.
Verschiedenheit bedeutet nicht Teilung, ebenso wie Vielfalt nicht Zwietracht
bedeutet. Jede Religion wird es lernen, unter Aufrechterhaltung ihrer
Individualität, die Werte der anderen anzuerkennen. Wir glauben nicht
an irgendwelche begünstigten Rassen oder auserwählte Menschen oder
ausschließliche Wahrheiten. Unsere Seher boten allen Glaubensbekenntnissen
Gastfreundschaft und verkündeten, daß „er allein sieht, der alle
Lebewesen in sich selbst sieht“. Die verschiedenen Glaubensbekenntnisse
sind wie die verschiedenen Finger der liebenden Hand des Höchsten.
Sie wenden sich an alle und bieten Vollkommenheit des Seins für
alle.
Im nächsten Monat wird der Weltkirchenrat seine dritte Versammlung in Neu-Delhi abhalten. (Das war im November 1961. D. Red.) Die Mitglieder der verschiedenen nicht-römischen christlichen Bekenntnisse bemühen sich um Verständnis untereinander und Zusammenarbeit miteinander. Der Besuch Dr. Fishers, noch in seiner Eigenschaft als Erzbischof von Canterbury, beim Vatikan ist ein Zeichen der Zeit, ein Ausdruck der Sehnsucht nach Einheit. Die gleiche Annäherung kann auch zu den nicht-christlichen Religionen gefunden werden. William Penn sagte: „Es wäre besser, zu gar keiner Kirche zu gehören, als irgendeine zu hassen.“ Wir werden durch eine lebendige Verbindung des Geistes und des Herzens, durch einen gemeinsamen Sinn für das letzte Geheimnis der Gottheit, eine geistige Haltung entwickeln, ein intellektuelles Maß, das Rassenstolz und religiöse Anmaßung entmutigt. Es ist unsere Hoffnung, daß Religionen nicht nur passive Koexistenz entwickeln, sondern aktive Zusammenarbeit, und zwar nicht durch Gewalt oder Kompromiß, sondern durch Selbstkritik und Selbsteroberung.
Ein alter Upanischad-Text sagt: „Er, der der Eine ist, der keine Unterschiede der Rasse kennt, der über den angeborenen Bedürfnissen der Menschen aller Farben steht, der alle Dinge vom Anfang bis zum Ende zusammenfaßt — möge er uns miteinander vereinen in der Weisheit, die das Gute schafft.“
Die „BAHA’I-BRIEFE“ werden vierteljährlich herausgegeben vom Nationalen Geistigen Rat der Baha’i in Deutschland e. V., Frankfurt/Main, Westendstraße 24. Alle namentlich gezeichneten Beiträge stellen nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers oder der Redaktion dar.
Redaktion: Dipl.-Volksw. Peter A. Mühlschlegel, Leinfelden/Württ., Jahnstraße 8, Telefon (07 11) 79 16 74, und Dieter Schubert, Leinfelden/Württ., Fliederweg 3, Telefon (07 11) 795 35.
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